Wiseman, Kate Gangster School

PIPER

you-ivi_Logo.jpg Bücher für coole Mädchen.

www.piper.de/youandivi

Für Frank und Harry

Übersetzung aus dem Englischen von Michaela Link

ISBN 978-3-492-97880-4

Oktober 2017

© you-ivi_Logo.jpg, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Titel der englischen Originalausgabe: »Gangster School«

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Kapitel 1

»Du weißt schon, dass du gerade beklaut wirst, oder?«

Charlie sah von dem Spiel auf, das auf seinem Handy lief. Vor ihm hatte sich ein dunkelhaariges Mädchen aufgebaut. Es schien ungefähr so alt zu sein wie er, also zwölf, hatte eine Hand energisch in die Hüfte gestemmt und schwang eine zusammengerollte Zeitschrift. Das Mädchen war hübsch auf eine Leg dich bloß nicht mit mir an-Art. Daran änderte auch nichts, dass es einen ganzen Kopf kleiner war als er.

Die Zeitschrift war der Leitfaden von Blaggard’s, erkannte Charlie. Darin stand alles, was man über seine neue Schule wissen musste. Charlie hatte in sein Exemplar kaum hineingesehen. Es musste noch zu Hause auf dem Küchentisch liegen.

»Hä?« Charlie zog die Kopfhörer heraus, die sich dabei in seinen Haaren verfingen.

»Verschwinde«, rief das Mädchen, jedoch nicht zu ihm. Sie schoss an Charlie vorbei und schlug einer Sechsjährigen mit der Zeitschrift auf die Hand. Charlie hatte gar nicht mitbekommen, dass die Kleine sich hinter ihn geschlichen hatte. Sie zog die Hand von Charlies Laptoptasche zurück, starrte beide zornig an und stapfte enttäuscht davon. Dann lief sie zu ihren Eltern, die das Geschehen mit gespanntem Lächeln verfolgt hatten. »Ein guter Versuch«, hörte Charlie den Vater sagen, »ich bin stolz auf dich. Aus dir wird mal eine große Diebin.« Die Kleine streckte Charlie die Zunge heraus, dann versteckte sie sich hinter den Beinen ihrer Mutter.

»Mann! Danke.« Charlie lächelte seiner Retterin zu. »Ich sollte wohl besser auf meine Sachen aufpassen.«

»Klar. Das ist Blaggard’s, schon vergessen? Und noch was.« Das Mädchen hielt ihm den Leitfaden hin. »Das solltest du lesen, bevor die Schule beginnt. Und dein Hund auch.«

Charlie sah sie verständnislos an, daher blätterte das Mädchen das Heft auf. »Ist dir klar, dass er nicht mit rein darf? Hier steht es: Die Haltung von Haustieren in Blaggard’s ist strengstens untersagt. Meisterverbrecher sind herzlose Einzelgänger und vermeiden es, flauschige Kätzchen zu knuddeln. So jagt man niemandem Angst ein.«

Charlie blickte den Hund an, der ihm am Bein zu kleben schien. Er hatte lockiges, helles Fell und roch, freundlich ausgedrückt, ziemlich streng. Das Tier wimmerte leise und wandte den Blick keinen Moment von Charlies Gesicht ab. »Klar. Das weißt du ganz genau, Gruffel, oder? Auch wenn du nicht besonders froh darüber bist.«

»Gruffel? Toller Name … ist er ein Pudel?« Das Mädchen besah sich den Hund.

»Nein. Er ist ein, äh, so genau weiß ich das gar nicht.« Charlie runzelte nachdenklich die Stirn und betrachtete sein Haustier. »Könnte eine Mischung aus Spaniel und Beagle sein.«

»Ein Spangle also! Das erklärt seine Flecken. Ein gefleckter Pudel kam mir gleich komisch vor.«

Es folgte ein kurzes Schweigen, während beide den Hund musterten. »Er hat eigentlich gar keine Flecken. Er ist ganz weiß. Das ist Matsch … hoffe ich.«

Das Mädchen rümpfte die Nase. Charlie wedelte mit der Hand vorm Gesicht. Dann mussten beide lachen. »Es tut mir leid, dass er so übel riecht. Aber das ist eine lange Geschichte«, sagte Charlie.

»Vielleicht erzählst du sie mir mal irgendwann«, lächelte sie. »Ich bin Milly.«

»Klar, vielleicht«, gab er zurück. »Ich bin Charlie. Und das da drüben sind meine Eltern.«

Er zeigte auf eine zierliche Frau in einem edlen, weißen Kostüm und ihren viel größeren Ehemann, der ebenso fein und makellos gekleidet war. Sie standen in einer Gruppe Erwachsener vor dem großen Doppeltor.

Dem herrschaftlichen Eingang zu Blaggard’s.

Auf den ersten Blick sah das Tor aus wie aufgerichtete metallene Spaghetti, aber wenn man genauer hinschaute, erkannte man darin Formen. Zähnefletschende Bärenköpfe ragten aus Blättern giftigen Efeus hervor. Was sich darum rankte, sah nach kunstvoll gestalteten Brennnesseln aus.

Eine Glocke auf dem Schulgelände läutete und das Tor begann, sich summend zu öffnen.

Neun Uhr.

Die Gespräche verstummten und aller Augen richteten sich auf das Tor. Als der letzte Glockenschlag verklang, erschien eine hochgewachsene Frau in einem grauen Hosenanzug. Sie kam den baumgesäumten Weg im Innern des Schulgeländes entlang. Die Torflügel glitten vollständig auseinander, stählern und unnachgiebig wie die wachsamen Augen der Frau. Ihr glänzendes, braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Sie schritt anmutig vor die Menge der Wartenden und genoss den spontan aufkommenden Beifall.

»Danke. Willkommen, liebe Eltern, und willkommen, neue Schüler. Willkommen in Blaggard’s Schule für Große Gangster.« Sie sprach entschlossen, aber nicht unfreundlich. »Ich bin Griselda Martinet, die Direktorin. Ihr habt zweifellos bereits von mir gehört.« Sie blickte in die Runde. »Nun, es ist Zeit, dass ihr den ersten Schritt durch unser berüchtigtes Verschlungenes Tor tut. Ich werde euch vor dem Schulgebäude erwarten. Also verabschiedet euch jetzt bitte von euren Familien und folgt mir. Euer neues Leben beginnt.«

Sie trat durch das Tor, blieb in einem Fleckchen Sonnenlicht stehen und streckte sich kurz in der Wärme. Sie erinnert mich an eine Katze, dachte Milly.

Charlie umarmte seine Eltern so kurz wie möglich und seinen Hund ein wenig länger. Er und das Mädchen schlossen sich der Menge an, die sich durch das Verschlungene Tor drängte.

Gruffels Heulen begleitete sie.

Vor ihnen lag ein dichter Wald, durch den der Weg zu einem ein Stück entfernten Gebäude führte. Dessen langgestrecktes Strohdach überragte die Bäume.

Charlie fragte: »Und deine Eltern? Sind sie gar nicht hier?«

»Nein. Eigentlich wollten sie kommen, aber ich dachte, der Abschied würde zu schlimm für sie werden, vor allem für Dad.« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ich gehöre zur Dillane-Familie. Und du bist Charlie Partridge, nicht?«

»Wie hast du …? Das ist ja unheimlich!« Charlie sah an sich hinab. »Oh. Das Namensschild an meiner Laptoptasche. Und ich dachte schon, du könntest hellsehen!«

»Wenn ich das könnte, wäre ich nicht hier«, erwiderte Milly trocken. Als sie bei Miss Martinet ankamen, drang immer noch das Jaulen von Gruffel zu ihnen herüber, entfernt, aber eindringlich.

Die Direktorin lächelte. »Hunde! Wie anhänglich die armen Tiere doch sind! Irgendwann wird er darüber hinwegkommen. Doch nun zu wichtigen Dingen …« Sie musterte die erwartungsvollen Neuankömmlinge. »Erstens: Wenn ihr euch außerhalb des Schulgeländes bewegt und über Blaggard’s sprecht, benutzt ihr die Tarnidentität der Schule.«

»Die was?«, fragte ein Junge und kassierte dafür einen abschätzigen Blick.

»Den anderen Namen: Constance Bottomley’s Akademie für Ländliche Landwirtschaft. Die Öffentlichkeit, all diese ahnungslosen, langweiligen, gesetzestreuen Bürger, dürfen unter keinen Umständen unsere wahre Identität erfahren. Von jetzt an gilt: Je weniger ihr mit den Ahnungslosen zu tun habt, umso besser. Und noch ein paar Worte zur Schuluniform. Sicherlich könnt ihr es gar nicht erwarten, hineinzuschlüpfen. Es gibt gestreifte Einbrecher-Hoodies und sogar eine schwarze Maske für besonders förmliche Anlässe! Ja, ihr werdet zum ersten Mal in eurem Leben wie wahre Verbrecher aussehen. Also, wer brennt darauf, die Uniform anzuziehen?«

Ein Dutzend eifriger Hände schoss in die Höhe. Miss Martinet nickte. »Wunderbar! Ich bin mir sicher, ihr werdet großartig darin aussehen. ABER! Ihr dürft eure Uniform niemals, ich wiederhole, niemals außerhalb des Schulgeländes tragen. Der Grund sollte auf der Hand liegen: Die Ahnungslosen. Habe ich mich ab-so-lut klar ausgedrückt?« Von einem Lächeln war jetzt keine Spur mehr zu sehen. Ihre Augen waren schmal geworden und glitzerten wie Eiszapfen im Wintersonnenschein.

Milly und Charlie traten unwillkürlich einen Schritt zurück. Miss Martinet öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch im gleichen Moment kam eine Frau aus dem Wald geeilt. Sie blieb mit dem Fuß an einer Baumwurzel hängen und stolperte. Ihr Gesicht lief rot an. Sie war ein gutes Stück jünger als Miss Martinet und trug ein helles Kleid. Ihr Haar war so straff zu einem Knoten gebunden, dass es aussah, als würden ihr dadurch die Augen aus den Höhlen springen.

»Frau Direktorin, ich würde mich für diese Störung entschuldigen, wenn genug Zeit dafür wäre. Da dies nicht der Fall ist, sage ich schlicht, dass Ihre Anwesenheit unverzüglich erforderlich ist.«

»Was gibt es denn, Miss Vipond?«

Die Frau sah die erwartungsvollen Blicke aller und fuhr dann fort: »Eine Gruppe Neuntklässler hat Mr Molesworthy gefangen genommen. Sie haben ihn in den Safe gesperrt, der für das Bankraub-Training benutzt wird, und wollen ihn erst freilassen, wenn er ihnen die Kombination für den Schrank mit den Verbotenen Werkzeugen verrät.«

»Das wird er niemals tun, wenn ihm das Leben lieb ist. Aber was ist das Problem?«

»Nun, äh, in dem Safe gibt es nicht besonders viel Sauerstoff.«

Miss Martinet seufzte. »Na gut, Miss Vipond. Schüler, wartet hier. Ich bin so schnell wie möglich zurück. Bleibt wachsam und denkt an das aktuelle Infoblatt, das dem Leitfaden beiliegt …« Sie eilte davon, und die jüngere Lehrerin hastete hinter ihr her.

Die neuen Schüler rückten näher zusammen und spähten durch die düsteren Bäume. »Was nützt ein Infoblatt in einem Leitfaden, der zu Hause liegt?«, seufzte Charlie.

Milly blätterte durch die Seiten ihres Exemplars. Ein kleiner Zettel flatterte zu Boden. Sie hob ihn auf, kniff die Augen zusammen und las laut vor.

Kette

Seid auf der Hut! In Blaggard’s ist es Tradition, dass die Achtklässler die neuen Siebtklässler in einen Hinterhalt locken, um sie zu bestehlen. Meist geschieht dies binnen der ersten Stunde nach Eintreffen der Neuen. Neuen Schülern wird daher geraten, ihre Wertsachen wie Laptops, Handys etc. vorab an die Schule zu schicken und nicht bei sich zu tragen.

Kette

Charlie sah auf seine Laptoptasche, während sie sprach. Und Millys letzte Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Lärm unter. Johlend und brüllend stürzte eine Horde Wilder mit schwarzen Masken und gestreiften Hoodies hinter den Bäumen hervor. »Großartig«, stöhnte Charlie. »Fünf Minuten in Blaggard’s und schon sind wir erledigt.«

Kapitel 2

Die triumphierenden Achtklässler stießen ihre Gefangenen auf einem gewundenen Pfad durch den Wald. Dann stellten sie sie an einer alten weißen Mauer auf. »Das muss die Rückseite des Hauptgebäudes sein«, flüsterte Milly Charlie zu.

Als hätten sie es von langer Hand geplant, teilten die Achtklässler sich in zwei Gruppen. Der größere Teil der Bande bewachte die Gefangenen und knurrte sie immer wieder an, um sie einzuschüchtern. Der Rest machte sich daran, den Neuen alles abzunehmen, was teuer war oder so aussah. Milly stand am Ende der Reihe. Sie zog die Augenbrauen hoch, als Charlie so unauffällig wie möglich das Handy in seine linke Socke schob und sich dann an seine Laptoptasche klammerte, als gehe es um sein Leben. Schon waren zwei Maskierte heran, um sie ihm zu entreißen.

Ein kleiner stämmiger Junge mit Sommersprossen versuchte, mit den Räubern zu verhandeln. »Leute, denkt doch mal darüber nach, was ihr hier tut. Ist euch klar, dass diese Sache für euch böse enden könnte? Wenn wir zusammenarbeiten würden, wäre es vielleicht …«

Milly sparte sich den Atem und scannte die Umgebung. Dann hatte sie eine Idee.

»Alle mir nach!«, rief sie plötzlich und stieß die beiden nächsten Achtklässler zurück. Ihre Tasche fest an sich gedrückt, rannte Milly los.

Die anderen Siebtklässler zögerten kurz, dann folgten ihr die meisten, vielleicht dreißig Jungen und Mädchen. Milly blickte über die Schulter und sah, dass Charlie ihr stirnrunzelnd hinterherblickte. Dann gab auch er sich einen Ruck und flüchtete. Die Räuber sahen einander überrascht an, bevor sie die Verfolgung aufnahmen. Ein paar von ihnen blieben bei den Nachzüglern zurück, um sie zu bewachen.

Die Siebtklässler hasteten um eine Ecke und fanden sich vor einer langen Mauer wieder. Milly überlegte. In die Mauer waren fünf gleiche Türen eingelassen. Jede endete oben in einem altmodischen Bogen und hatte rostige Angeln und schwere Knäufe. Milly rechnete schnell nach und riskierte einen weiteren Blick zurück. Bislang hatten die Verfolger sie noch nicht eingeholt. Sie lief bis zur Tür auf der äußeren linken Seite und stieß fest dagegen. Die Tür gab ein trotziges Knarren von sich, rührte sich aber nicht.

»Und was jetzt?«, fragte ein Mädchen verzweifelt.

»Charlie! Ich brauche dich«, rief Milly nach hinten. Im Nu war er neben ihr. Gemeinsam warfen sie sich gegen die Tür. Diese gab mit einem langen S-t-ö-h-n-e-n nach. Die beiden flitzten hindurch und blieben dann stehen, vorübergehend blind in der unerwarteten Finsternis.

Sie waren in einem düsteren Gang, an dessen Ende sich eine geriffelte Glastür befand. Milly spähte hindurch. Hinter der Tür lag ein Raum. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie – durch das Glas verzerrt – lange dunkle Tische und regalgesäumte Wände. Der Geruch von Chemikalien drang in ihre Nasen.

»Toll! Kommt mit«, rief Milly. Sie stieß die Tür auf und schickte die Siebtklässler hinein. Am anderen Ende des Ganges flog die Außentür mit einem Knall wieder auf. Achtklässler strömten hindurch. Doch auch sie mussten kurz innehalten, während ihre Augen sich an die Dunkelheit anpassten.

Milly sah sich in dem hinteren Raum um. An einer Seite waren Skelette aufgereiht, der Größe nach, angefangen von einer zierlichen Fledermaus bis hin zu einem kräftigen Rhinozeros.

Entlang der Rückwand standen Chemikaliengläser. Die meisten davon waren grün oder blau oder braun, aber auf dem obersten Regal drängten sich schwarze Flaschen mit roten, grinsenden Totenschädeln, die in das Glas geprägt waren. Millys Blick glitt über sie hinweg bis zu einem Poster. Kennt ihr das? »Schlafenszeit«, »Ab ins Bett«? – Schluss damit! Betäubt Eure Eltern!

Sie zog eine Augenbraue hoch.

Neben dem Plakat hingen gelbe Schutzanzüge an den Haken wie eine Armee schlafender Außerirdischer. Wieder wanderte Millys Blick weiter. Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte – auf einem hohen Regal, in einer Ecke dichtgedrängt, lagerte eine Handvoll Sprühdosen. Sie lief hinüber und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Etiketten zu lesen. »Charlie, komm her! Ich bin zu klein. Lies vor, was da draufsteht.«

Charlie hörte, dass ihre Verfolger durch die Labortür stürmten, räusperte sich und fragte lächelnd: »Und woran ist Ihr letzter Sklave gestorben, Miss Dillane?«

Dann griff er nach der ersten Dose. »Diese hier enthält Blitzeis-Spray. Nur für die Verwendung im Freien geeignet«, las er vor. »Wir könnten wegrennen und alles hinter uns in eine Rutschbahn verwandeln.«

Milly schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Es könnten auch welche von uns ausrutschen. Gibt’s noch was anderes? Schnell!«

Er ließ die Dose fallen und griff nach der nächsten. »Kunstblut. Sprühen Sie es auf verletzungsfreie Stellen und stöhnen Sie laut.« Er warf sie beiseite und schnappte sich eine andere. »Kurzzeit-Lähmungsgas. Nur bei Ahnungslosen anwenden und ausschließlich während krimineller Unternehmungen. Nach dem Sprühen nicht vergessen, dreißig Sekunden die Luft anzuhalten

Milly riss die Faust hoch. »Das ist es! Gib her.« Sie schüttelte die Sprühdose. »So ein Mist! Sie ist halb leer. Sind da noch mehr?«

»Eine ist noch da, die genauso aussieht.«

»Super, gib her!«

»Aber das Etikett ist ab«, gab Charlie zu bedenken. »Das könnte alles Mögliche sein.«

»Ach Quatsch, das wird schon richtig sein. Alle mal herhören, haltet die Luft an. Bleibt zusammen. Ihr atmet erst wieder, wenn wir draußen sind, o. k.?«

Milly zielte mit der etikettlosen Sprühdose auf die heranstürmenden Achtklässler. Sie trat einen Schritt zurück und drückte auf die Düse. Eine zischende violette Wolke hüllte die Angreifer ein. Für einen Moment herrschte Stille. Dann, erkannten Milly und Charlie mit Schrecken, fing die Räuberbande an zu lachen. Die Achtklässler wieherten und johlten. Sie konnten nicht mehr. Sie klammerten sich an Tische oder aneinander, um nicht zusammenzubrechen.

»Lachgas! Das wird sie nicht lange aufhalten.« Milly warf die Dose beiseite, schnappte sich die andere, schüttelte sie kurz und sprühte die gackernden Achtklässler auch noch mit gelbem Dampf ein. Sofort erstarrten die Verfolger mitten in ihrem Gelächter, die Gesichter zu komischen Grimassen verzerrt. Es war ein verrückter Anblick – als seien sie in einen Dornröschenschlaf gefallen.

»Ich wünschte, wir hätten Zeit, ein paar Fotos zu machen, um sie auf Gangstagram zu posten«, keuchte Milly, als sie sich wieder traute, zu atmen, »aber wir brauchen frische Luft.« Sie trieb die hustenden Siebtklässler, denen die Tränen in den Augen standen, hinaus in den Sonnenschein.

»Das war toll, Milly.« Charlie stand vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, und sog hastig die Luft ein. »Aber woher hast du gewusst, wo das wissenschaftliche Labor ist? Du bist doch genau so neu hier wie wir alle.«

Milly zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich habe ich mir als Einzige heute Morgen im Leitfaden die Karte der Schule angesehen. Das hier ist Blaggard’s. Hier passieren komische Dinge. Ich dachte mir, darauf muss man vorbereitet sein.« Sie sah ihn lächelnd an.

In diesem Moment kehrte Miss Martinet zurück. Charlie hätte erwartet, dass sie schockiert darüber war, wie zerzaust und erschöpft die neuen Blaggardianer auf einmal aussahen. Aber sie warf ihnen nur einen wissenden Blick zu.

»Soso. Ihr habt also die Achtklässler getroffen. Und offenbar habt ihr sie abgewehrt. Gut gemacht. Eure weniger erfolgreichen Klassenkameraden dürften inzwischen freigelassen worden sein. Sie werden am Haupteingang auf uns warten.« Sie schob die Schüler weiter vor sich her.

»Ach übrigens. Kommt bitte nicht auf die Idee, euch zu rächen«, warnte sie. »In Blaggard’s herrscht ein strenger Ehrenkodex. Wir tolerieren den Streich der Achtklässler, weil er eine jahrhundertealte Tradition ist, aber das ist auch schon alles. Es sind ab-so-lut keine anderen kriminellen Aktivitäten gegen Mitschüler gestattet.« Sie funkelte die Siebtklässler mit ihrem stählernen Blick an. »Verstanden?«

Alle nickten eifrig, jedenfalls die, die bereits wieder die Kraft dazu hatten.

»Gut. Und jetzt folgt mir«, schnurrte sie katzenhaft.

Kapitel 3

Wo der Wald endete, begann eine sorgsam gepflegte Rasenfläche, auf der sich sechs Nebengebäude befanden. Manche sahen aus wie Schuppen, während andere Vorhänge und bunt gestrichene Türen wie Ferienhäuser hatten. Nur dass sie weitaus größer waren. Das mussten die Schlafräume sein, dachte Milly. Aber ihr Blick wurde vom Hauptgebäude angezogen. Es bestand aus Fachwerk wie ein malerisches Landhaus, besaß jedoch ebenfalls enorme Ausmaße und breitete sich nach oben und zur Seite in alle Richtungen aus. Wie eine Mischung zwischen einem alten Wirtshaus und einem Präsidentenpalast.

An den Ecken des Strohdachs erhoben sich Tierfiguren, die ebenfalls aus Stroh gefertigt waren. Beim näheren Hinsehen erkannte Charlie, dass sie Bären darstellten.

»Komisch, das ganze Stroh. Ich hatte mir eigentlich ein altes Ziegeldach vorgestellt«, sagte Charlie.

»Tarnung!«, erinnerte ihn Milly.

»Ach ja, Akademie für Ländliche Landwirtschaft.«

Milly dachte, dass nur noch eine grasende Schafherde fehlte, um das Bild ländlicher Glückseligkeit zu vollenden. Da fiel ein Strahl der Septembersonne auf einen roten Punkt – nein, auf zwei rote Punkte – im Gesicht des Bären, der ihnen am nächsten war. Sie stieß Charlie unauffällig an.

»Hast du das gesehen? Der Bär hat rote Augen.«

Charlie sah aus den Augenwinkeln nach oben. »Oh, ja. Überwachungskameras.«

»Bist du sicher?«

»Klar. Zu Hause haben wir die auch, nur nicht als Bären. Ich wette, ihre Köpfe können sich drehen, sodass sie das ganze Gelände abdecken können.«

»So etwas habe ich noch nie gesehen!«, schauderte Milly.

Charlie zuckte die Achseln und wandte sich der gewaltigen, mit Eisennägeln beschlagenen Tür des Haupteingangs zu. »Die sieht aus wie aus einem Gespensterschloss. Oder als sei sie aus dem Tower von London geklaut worden.«

»Ist sie vielleicht auch. Hast du es nicht gelesen? Sir Thomas Blaggard – der Gründer der Schule – war berühmt dafür, dass er kein Geld für eine Sache verschwendete, die er ebenso gut stehlen konnte«, erklärte Milly. Dann dachte sie darüber nach und fügte hinzu: »Außerdem wollte er wahrscheinlich ein gutes Beispiel geben. Ich meine eine schlechtes. Du weißt, was ich meine.«

Beide mussten lächeln.

Wie die Direktorin Miss Martinet vorausgesagt hatte, wartete der Rest der Siebtklässler am Eingang. Es war ein halbes Dutzend Kinder. Einige von ihnen ließen die Schultern hängen oder traten gegen das Holz, wütend über ihre Niederlage. Miss Martinet bedachte sie mit einem mitfühlenden Lächeln.

Sie setzte einen Fuß auf die schmalen Treppenstufen, die zur Tür hinaufführten. »Bevor wir über die Schwelle von Blaggard’s treten, müsst ihr euch über etwas Wichtiges im Klaren sein. In unserem Leitfaden geben wir ein einfaches Versprechen: Große Gangster garantiert. Das heißt, wir verpflichten uns, euch zu berüchtigten Schurken zu machen. Jeder Schüler, der nicht bereit oder imstande ist, diesem Ziel gerecht zu werden, wird schneller der Schule verwiesen, als ein Handarbeitslehrer euch eine Ausrede basteln kann.

Übrigens: Die verwiesenen Schüler von Blaggard’s landen an Crumley’s Schule für Kleine Kriminelle, wo sie sich nicht lange halten. Crumley’s kann sich damit rühmen, eine Schmiede für die armseligsten und bemitleidenswertesten Straftäter der Welt zu sein. Die Erfolgsrate der Crumleyaner im späteren Berufsleben liegt bei weniger als zehn Prozent. Aber sorgt euch nicht darum, denn mehr als die Hälfte der Schüler schafft es gar nicht bis dahin, überhaupt einen Beruf anzutreten.«

Milly und Charlie warteten auf eine Erklärung, was damit gemeint war, aber die Direktorin fuhr fort: »Also seid fleißig und denkt wie Verbrecher, dann werdet ihr zu dieser erbärmlichen Statistik nicht beitragen.«

Die Siebtklässler waren dichter zusammengerückt und tuschelten angsterfüllt. Charlie beugte sich vor und flüsterte Milly zu: »O Mann! Nach Crumley’s geschickt zu werden ist schlimmer als der Tod. Alles, nur das nicht!«

»Ja, da hast du …«

Miss Martinet unterbrach sie. »Und ihr beiden da – die Kleine mit dem großen Mundwerk und der Große ohne Hund – ich bin normalerweise sehr dafür, dass ihr dazwischenredet, während ein Lehrer spricht. Das ist eine Fertigkeit, die jeder Schüler erlernen sollte. Solange es sich bei dem Lehrer nicht um mich handelt. Da Letzteres jedoch der Fall ist, möchte ich vorschlagen, dass ihr die KLAPPE HALTET UND AUFPASST! … Danke. Jetzt kommt herein.«

Während sie sprach, hatte sie ein Tastenfeld neben der schweren, altmodischen Tür bedient. Diese schwang jedoch nicht knarrend auf, wie Milly erwartet hatte; stattdessen glitt sie elegant und beinahe geräuschlos zur Seite und verschwand in der Wand.

Der Empfangsbereich von Blaggard’s war eine große ovale Halle. Scheinwerfer waren zwischen Holzbalken in die Decke eingelassen. An einer Wand stand eine Reihe rot gepolsterter Sessel, gegenüber einer Vitrine, die mit Pokalen und Urkunden gefüllt war.

Milly betrachtete interessiert das runde Fußbodenmosaik, das aus winzigen schwarzen, weißen, silbernen und goldfarbenen Steinchen zusammengesetzt war. Es sah aus, als sei jahrhundertelang daran gearbeitet worden.

Die Mitte des Mosaiks schien der älteste Teil des Bildes zu sein. Er stellte mittelalterliche Blaggardianer in gestreiften Wämsern und Spitzenkrägen dar, die an Seilen Burgmauern hinaufkletterten und Ritter ihrer Rüstungen und Pferde beraubten. Um sie herum sah man viktorianische Blaggardianer in schwarzweißen Gehröcken, die Dynamitstangen an Tresoren befestigten oder Dampfzüge überfielen. Andere verfrachteten Opfer in geschlossene Kutschen. Der Rand des Mosaiks bildete den jüngsten Teil der Darstellung. Dort trugen die Blaggardianer moderne Uniformen und arbeiteten an Computern, stahlen Raketen oder zerrten ihre Feinde in Autos und andere gepanzerte Fahrzeuge.

An der schwarzen Empfangstheke betrachtete ein vornehm gekleideter Pförtner konzentriert eine gewaltige Anzahl von Video-Monitoren, die Milly sich genauso gut in der Sicherheitszentrale der Bank von England hätte vorstellen können. Neben der Theke stand eine hohe Vase mit einem Strauß Blumen. Nun ja, erkannte sie, als sie näher trat, es waren Stechpalmenzweige und ein tödliches Nachtschattengewächs.

Rings um die Empfangshalle hing eine Anzahl ungewöhnlicher Porträts. Den Ehrenplatz an der Wand hinter dem Empfang nahm die lebensechte Zeichnung eines stupsnasigen Mannes mit Topfschnitt ein. Über dem Kopf des Mannes stand zu lesen:

GESUCHT – HUNDERT SILBERMÜNZEN BELOHNUNG!

Unter dem Porträt stand auf einem goldenen Schild: Sir Thomas Blaggard. Unser geliebter Gründer – sein erster Steckbrief. Gleich daneben hing eine ausgefranste Schlinge in einer Glasvitrine. Ein Strahler darüber beleuchtete das rostrote Blut, mit dem die Schlinge bespritzt war.

»Das muss die Schlinge sein, die Sir Thomas letztlich erwischt hat. Sein Kopfgeld war bis dahin in große Höhen gestiegen, soviel ich weiß«, flüsterte Milly Charlie zu. Er zog die Nase kraus.

Links von der Schlinge hing das Gemälde eines Mannes mit pfirsichfarbenen Wangen, der ein Taschentuch aus Stoff schwenkte. Er sah eher nach jemandem aus, der seine Zeit darauf verwendete, sich die Haare ordentlich zu legen, als nach einem, der Tag und Nacht nichts anderes im Sinn hatte, als Verbrechen zu begehen. Sir Bryon de Bohun – der teuflische Dandy –, unser erfolgreichster Schüler, erklärte das Schild. Unter Sir Bryon hing ein kleineres Gemälde, das einen großen schwarzen Hund mit spitzer Schnauze zeigte. Der Unterschrift zufolge handelte es sich um Humbug – Sir Bryons Kampfhund – elf bestätigte Todesopfer.

»Wow, süß!«, machte Charlie, der an Gruffel denken musste.

Die Frau auf dem Porträt daneben erkannten Charlie und Milly sofort: Es war die gewitzt lächelnde Griselda Martinet, die ihre spitzen Fingernägel nach dem Fotografen ausstreckte. Oben auf dem Foto stand die nachdrückliche Warnung:

HOHE BELOHNUNG! ABSTAND HALTEN!

Unter dem Bild war zu lesen: G. Martinet – amtierende Direktorin (ihr Aufenthalt hier muss STRENG GEHEIM bleiben). Im Vorübergehen hob die Direktorin die Augenbrauen, und die Siebtklässler sahen Miss Martinet in ehrfürchtigem Schweigen an.

Miss Martinet nickte dem Mann am Empfang zu und nahm sich einen Stapel Papiere von der Marmortheke. Dann führte sie die neuen Blaggardianer durch einen Flur zu einer Treppe. Der dunkelblaue Teppich auf den Stufen roch noch neu, und Milly atmete tief ein. Bei so viel Altem und Historischem tat der Geruch von etwas ganz Neuem gut.

»Die Schränke der Mädchen befinden sich dort hinten links, die der Jungen rechts«, erklärte die Direktorin. »Wenn ihr ein paar Monate hier seid, werden wir eure Schließfachkombination regelmäßig ändern, damit ihr Übung im Safeknacken bekommt. Für den Moment gebt eine Kombination eurer Wahl ein. Und denkt dran – Ehre unter Dieben – ihr werdet nicht die Schließfächer anderer Schüler aufbrechen …«

Sie verteilte die Blätter, die sie am Empfang mitgenommen hatte.

»Das sind eure Stundenpläne.« Sie blickte in die Gesichter der Schüler, die entweder vom Überfall der Achtklässler oder von allem, was ihnen hier in Blaggard’s bevorstand, überfordert und müde wirkten. »Ach, ich vergaß euch zu sagen: Ihr habt zehn Minuten Zeit, um eure Uniform anzuziehen. Dann wird eure kriminelle Ausbildung beginnen.«

Kapitel 4

»In der ersten Stunde haben wir … oh, Modernen Diebstahl«, erkannte Milly auf dem Stundenplan. »Hier im Leitfaden steht, dass es eins der Pflichtfächer ist, ebenso wie Professionelles Lügen, Mit Betrug und List zum Erfolg, Computerhacking, Intrigen im Wandel der Zeit und schließlich die Nebenfächer wie Trotz und Unhöflichkeit im Alltag. Es gibt natürlich noch jede Menge Wahlfächer.« Sie las weiter. »Der Stundenplan ist vor Kurzem auf den neuesten Stand gebracht worden. Denn heute muss niemand mehr für Postkutschenüberfälle ausgebildet werden oder dafür, wie man leichtgläubigen Herzögen ihr Geld abjagt, indem man sich am Hof als … sprechendes Schwein ausgibt. Wie cool!«

»Schade! Dabei habe ich den Schweinetrick extra geübt«, erwiderte Charlie grinsend.

Sie befanden sich mitten in der Schar Siebtklässler, die ihre neuen gestreiften Einbrecher-Hoodies und die Multifunktionshosen mit den vielen Taschen bestaunten, während sie draußen vor den Umkleideräumen auf den Beginn des Unterrichts warteten. In der Gruppe stand ein großes hageres Mädchen mit emporgerecktem Kinn. Es sah ein wenig älter aus als die anderen und war eine von denen, die sich Milly bei dem Hinterhalt der Achtklässler nicht angeschlossen hatten.

»Damit ihr es wisst, ich bin Agatha Quint. Ich werde mal eine kriminelle Ausbruchsspezialistin. In den Ferien nehme ich Einzelunterricht bei Biegsam-Brad Cunningham.«

Charlie runzelte die Stirn und Milly raunte ihm zu: »Biegsam-Brad ist der einzige hundertprozentig erfolgreiche Entfesselungskünstler der Welt.«

»Brad ist zufälligerweise mein Cousin zweiten Grades«, fuhr Agatha fort. »In meiner Familie gibt es jede Menge Entfesselungskünstler und ich werde einmal die beste von allen sein! Hier, er hat mir diese Handschellen geschenkt – mit Gravur.« Sie gab stolz die Handschellen herum und wies auf die Inschrift: »›Agatha – bleib geschmeidig! B. B. C.‹ Ich habe noch viele von den Dingern dabei. Handschellensammeln ist mein Hobby!«

»Die sind echt … lässig«, sagte Milly und reichte die Handschellen an Charlie weiter. »Meinst du, du könntest mir irgendwann mal Entfesselungstipps geben? Man kann nie wissen, wann man sie braucht.«

Agatha warf ihr einen kühlen Blick zu. »Dir? Wie käme ich dazu? Du weißt doch, jeder Kriminelle ist sich selbst der Nächste.«

Milly zog die Augenbrauen hoch. »Zu dumm, dass du noch nicht deinen Fluchtunterricht bekommen hast. Sonst hättest du beim Hinterhalt sicher nicht so abgelost«, gab sie zurück. Agatha Quint warf ihr einen hasserfüllten Blick zu und wandte sich ab.

»Deine neue Freundin«, machte Charlie.