Vorwort

Hans-Peter Hahn


In den letzten Jahren ist mit einer Intensität wie selten zuvor über ethnografische Sammlungen im deutschsprachigen Raum diskutiert worden. Einer der Gründe dafür ist sicherlich die Errichtung des Humboldt Forum in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht weniger als die Weltgesellschaft auszustellen, den Dialog zwischen den Kulturen der Welt zu fördern und ein internationales Zentrum für Kunst, Kultur, Wissenschaft und Bildung zu werden. Auch an anderen Orten stellen sich immer wieder die fundamentalen Fragen:

Wie eröffnen wir unseren Blick auf die Weltgesellschaft?

Ethnografische Sammlungen werden dafür einen wichtigen Beitrag leisten, vielleicht sogar deutlicher als jemals zuvor diese Idee der zeigbaren Kulturen der Welt unterstützen. Endlich werden sie einmal mehr sein als bestaunte Sammlungen kultureller Besonderheiten. In einer sich globalisierenden Welt, trotz aktueller Rückschritte, stellen diese Sammlungen ein wichtiges Bindeglied dar, um Erfahrbarkeit, Wissen, Verständigung und Kommunikation miteinander erst möglich zu machen. Um so mehr bedarf es aber auch einer Verständigung darüber, wie heute ethnografisches Wissen auf der Grundlage der verfügbaren Sammlungen glaubwürdig präsentiert werden kann. Dieser Frage widmet sich dieser Band.

Über die Zukunft von Museen mit ethnografischen Sammlungen und ihrer Bedeutung für den Zugang zur Weltgesellschaft kann man nur gemeinsam diskutieren. An erster Stelle ist hier der Dialog mit dem Publikum gefragt, wie er in vielen Museen in den letzten Jahren immer mehr gepflegt wird. Darüber hinausgehend würde es allerdings wenig Sinn machen, wenn die universitäre Ethnologie im Alleingang Listen mit Anforderungen definiert, und es würde wenig hilfreich sein, wenn Museumsethnologen ohne den Dialog mit den Fachleuten außerhalb der Museen über die Rolle der Ethnologie in ihren Museen nachdenken. Es ist daher ein wichtiger Vorzug dieser Publikation, dass die hier versammelten Positionen zu Ethnologie und Weltkulturenmuseen auf einem unmittelbaren Austausch zwischen Museumsexperten und Wissenschaftlern der Universität beruht. Auf diese Weise verbinden sich theoretische Überlegungen zur Geschichte und zur Gegenwart ethnologischer Museen mit den praktischen Gedanken zur Umsetzbarkeit neuerer Trends.

„Museen mit ethnografischen Sammlungen“ ist eine regelmäßig gebrauchte Umschreibung, die intentionell eine Leerstelle anzeigt. Es geht darum, die Offenheit und die Unbestimmtheit dieser Museen hervorzuheben, und damit zugleich das Anliegen dieses Buches deutlich zu machen. Ist die Offenheit, die gegenwärtig zu einem ganzen Bündel unterschiedlicher Benennungen ethnografischer Ausstellungsorte geführt hat, eine „Schwäche“ solcher Museen? Oder ist sie – ganz im Gegenteil – ein Indiz für einen selbstbewusst beschrittenen Weg dynamischer Weiterentwicklung, an dessen Ende ein neues Selbstverständnis stehen wird?

Die Leser mögen dies auf der Grundlage der Lektüre selbst beurteilen. An dieser Stelle sei lediglich betont, dass es allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes ein besonderes Anliegen ist, die Verbindungen zwischen Ethnologie und Museum aufzuzeigen, gleich unter welchem Namen ein solches Museum nun firmiert.


Wenn Museen im Prozess der Umwandlung, Neugestaltung oder des Umzugs sind, so wie es für die hier gemeinten Einrichtungen gilt, und vor allem für das Berliner Beispiel mit dem Humboldt Forum, wird in der Öffentlichkeit gerne auf den außerordentlichen Wert der Sammlungen verwiesen. Dann ist in der Presse von „verborgenen Schätzen“ die Rede oder von „unerschlossenen Reichtümern“ etc. Für ethnografische Sammlungen ist dies (glücklicherweise) nicht immer so, weil die Mehrdeutigkeit dieser Dinge offensichtlich ist. Sammlungen mit ethnografischen Objekten sind wahrhaft globale Assemblagen. Es sind hoch mobile Dinge, die im Kontext des Museums zumindest vorübergehend zum Stillstand gekommen sind. Allerdings gilt dies nur für die materielle Seite, da sie fortwährend Neubewertungen ausgesetzt sind. Neue Ansprüche, neue Erwartungen aber auch neue Qualitäten als Zeugen historischer Ereignisse treten immer wieder hervor. Sie begründen einerseits den Wert der Sammlungen, lassen zugleich aber auch erkennen, mit welcher außerordentlichen Ambivalenz solche Sammlungen behaftet sind. Kaum etwas ist unklarer als die angemessene Bewertung der ethnografischen Objekte. Dies gilt gerade dann, wenn man die Geschichte einzelner Dinge näher anschaut.

Alle Beiträge in diesem Band nehmen diese Unsicherheit der Bewertung und die Frage einer sinnvollen Einbettung als Ausgangspunkt ihrer Erörterung. Sie versuchen, trotz dieser Herausforderung, ein konstruktives Bild für die zukünftige Ausstellungsarbeit mit diesen Objekten zu entwerfen. Sicherlich liegt im Optimismus bezüglich eines solchen konstruktiven Umgangs mit ethnografischen Sammlungen das eigentliche gemeinsame Anliegen dieses Buches. Möge es die Leserinnen und Leser ermutigen, sich ein eigenes Bild über die Bewertung der Sammlungen zu machen!

Wieviel Ethnologie steckt im „Weltkulturenmuseum“?

Hans Peter Hahn


„So lange Museen nicht versteinern,

werden sie sich wandeln müssen.

Jede Generation wird neue Aufgaben bieten

und neue Leistungen abverlangen.“

(Alfred Lichtwark, 1904)


„Museen sind die Orte,

an denen man die schon lange abgelegten Teufel wiedertrifft.“

(Romuald Tchibozo, pers. Mitteilung über populäre Beschreibungen von Museen in Uganda)


„It is easy for a museum to get objects;

it is hard for a museum to get brains.

The objects do not make a ‘museum;’

they merely form a ‘collection’.“

(John Cotton Dana, 1920)


Museen mit ethnografischen Sammlungen stehen gegenwärtig widersprüchlichen Einschätzungen gegenüber. Einerseits bezweifeln nur wenige vor dem Hintergrund der Globalisierung die Bedeutung solcher Sammlungen, die wie kaum etwas Anderes für kulturelle Diversität stehen. Andererseits wird die Unklarheit über Selbstbestimmung und Leistungsfähigkeit dieser Museen immer wieder kritisch hervorgehoben. Mitunter ist gar von ihrem Bedeutungsverlust die Rede: Solche Museen kämpfen um Anerkennung für ihre Themen und zugleich gegen sinkende Besucherzahlen. Es wäre naheliegend – aufbauend auf diesem vorläufigen Befund – eine Geschichte des Niedergangs der Museen mit ethnografischen Sammlungen zu erzählen, in der auch Melancholie und Frustration mitschwingt.

Nachdem vor etwa 150 Jahren mit großem Enthusiasmus in vielen großen Städten Europas „Museen für Völkerkunde“ gegründet wurden, ist über den Zeitraum bis heute zweifellos ein Bedeutungsverlust zu konstatieren. Im Einzelnen wäre auf die vergangene Größe zu verweisen, sowie auf die angedeuteten aktuellen Probleme, einschließlich der Einbuße an Überzeugungskraft und Einfluss aufgrund der Auseinandersetzung mit der kolonialen Entstehungsgeschichte dieser Institutionen, sowie auf den beklagenswerten Mangel an wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Sammlungen, die viele – nicht alle – ethnologischen Museen heute erfahren. Eine solche Erzählung über Verfall und Niedergang vorzulegen, ist jedoch nicht das Anliegen dieses Buches.


Anstelle dessen soll in diesem Beitrag wie in den folgenden Kapiteln eine sensible Abwägung darüber erfolgen, was den Museen mit ethnografischen Sammlungen heute zuzutrauen ist, sowie eine Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen dieser Museen im Hinblick auf die Präsentation ethnografischer Sammlungen.


Weiterhin haben es sich die Autorin und die Autoren in diesem Buch zur Aufgabe gemacht, nicht nur eine Diagnose zu präsentieren, sondern auch konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, wie sich Museen mit solchen Sammlungen trotz widerstreitender Meinungen in der Öffentlichkeit positionieren könnten.


Sicher ist es sinnvoll, mit dem Ziel einer Vergewisserung über Gegenwart und Zukunft der Museen zunächst auch von deren Vergangenheit zu sprechen. Von gleicher Bedeutung erscheint es allerdings, nach der spezifischen Leistungsfähigkeit im 21. Jahrhundert zu fragen, sowie nach den Potentialen, die in der zukünftigen Entwicklung liegen. Immerhin gibt es Auffassungen, die in solchen Museen zentrale Orte für die Beschäftigung mit kultureller Diversität der Gegenwart sehen und ihnen zutrauen, Fragen nach der gesellschaftlichen Vielfalt oder den universalen Grundlagen des Menschen in allgemeinverständlicher Weise zu beantworten. Allerdings: Die damit benannten optimistischen Prognosen werden mit unterschiedlichen, zum Teil gar widersprüchlichen Argumenten begründet. Während einerseits Museen mit ethnografischen Sammlungen als Laboratorien der Globalisierung und des Umgangs mit kultureller Diversität gepriesen werden (Leeb 2013a), orientieren sich andere Prognosen mehr an dem Potential, im außerordentlich breiten Spektrum von Objekten unterschiedlicher Herkunft universale Grundlagen der Kultur des Menschen, seiner Ausdrucksfähigkeit und ästhetischer Praktiken zu entdecken (Schaeffer 2008). Der Klärungsbedarf ist hier nicht von der Hand zu weisen: Welches Argument ist in Anschlag zu bringen, wenn eine zukünftige Bedeutungszunahme prognostiziert wird?


Abbildung1

Abbildung2


Ein besonderer und aktueller Anlass über Herkunft, Entwicklung und Zukunft von Museen mit ethnografischen Sammlungen nachzudenken, wird in der Öffentlichkeit zur Zeit intensiv diskutiert: Es geht um den Umzug des Ethnologischen Museums von Berlin-Dahlem nach Berlin-Mitte, in das sogenannte Humboldt Forum in den kommenden Jahren. Dieser Umzug ist eine einmalige Chance für eine zeitgemäße und selbstbewusste Präsentation solcher Sammlungen und des damit verbundenen Wissens über Kulturen weltweit. Kaum jemand wird in Zweifel ziehen, dass dieser Standortwechsel über das örtliche Geschehen hinaus eine wesentliche Verbesserung der Lage der Museen mit ethnografischen Sammlungen insgesamt darstellt.

Die positive Bewertung dieser räumlichen und inhaltlichen Neupositionierung des ethnologischen Museums ist für die Ethnologie insgesamt wichtig. Eine Betrachtung der Entwicklung der Museen als Institutionen ist nämlich stets auch ein Indikator für die öffentliche Wahrnehmung des dazugehörigen akademischen Faches. Es geht darum, die Rolle der Ethnologie in der Praxis und im Selbstverständnis dieser Museen auszuloten, Potentiale zu identifizieren und Strategien zur Verknüpfung von ethnologischem Wissen mit der Arbeit solcher Museen zu diskutieren. Deshalb wird es hier im Folgenden auch in verschiedenen Facetten um die Frage gehen, wie sich Museen mit ethnografischen Sammlungen in den letzten Jahrzehnten verändert haben, und in welcher Hinsicht solche Entwicklungen als strategische Schritte zur innovativen Bewältigung gegenwärtiger Aufgaben, und zum Hervorbringen angemessener Ausstellungsprinzipien beigetragen haben.


Wie Susanne Leeb (2013b) völlig zurecht hervorhebt, werden sich Museen mit ethnografischen Sammlungen gegenwärtig mehr und mehr darüber im Klaren, dass es bis heute keine genaue Definition gibt, was eine „ethnografische Sammlung“ eigentlich darstellt. Ihrer Meinung zufolge ist es diese Unsicherheit, die die Suche nach einem neuen Namen motiviert. „Weltkultur“ ist dabei – Leeb zufolge – nichts anderes als eine neue Praxis des Othering, also der Abgrenzung von etwas radikal Anderem. Der Name „Weltkultur“ verweist implizit auf eine Trennung in „Kulturen Europas“ einerseits und „Kulturen des Rests der Welt“ andererseits. Die gleiche Unsicherheit über den Status der ethnografischen Sammlung führt dazu, dass mehr und mehr Künstler aufgefordert werden, die Eigenschaften der ethnografischen Objekte neu zu erklären und einzubetten. Das Museum mit unbestimmtem Inhalt wird dadurch zum Ort der „Selbsterkundung“ jenseits etablierter wissenschaftlicher Normen (Deliss 2012). Während im Kontext der Durchsetzung moderner Kunst den Künstlern die Verfügbarkeit der nicht-europäischen Objekte noch selbstverständlich erschien, ist dies jetzt das zentrale Thema künstlerischer Auseinandersetzung. Man möchte den Status der gesammelten Dinge klären.1 Wird es den Künstlern gelingen, den Objekten eine neue Relevanz zu geben (Deimel 2012)?

Diese Unsicherheit ist mittlerweile Anlass für intensive fachliche Debatten über die Zukunft des ethnografischen Museums (Leeb 2013b, Harris/O’Hanlon 2013). Dabei geht es unter anderem um folgende Fragen:

  1. Soll das Museum (ganz naiv) die Kulturen der Herkunft seiner Ausstellungsobjekte darstellen und erklären?
  2. Sollte das Museum nicht vielmehr die globalen Verflechtungen erklären, die diese Objekte vor vielen Jahren in Bewegung versetzt haben?
  3. Wenn neue Techniken der Ausstellung eingesetzt werden, etwa das künstlerische Kuratieren, welche Veränderung der ungleichen Machtbeziehungen zwischen Ländern der Herkunft und denen des Ausstellens hat das zur Folge?

In diesem einleitenden Beitrag soll es zunächst um einige Grundlagen gehen. So ist die Entwicklung der Museen mit ethnografischen Sammlungen nicht ohne Erläuterungen der zum Zeitpunkt der Einrichtung vorherrschenden Motive zu verstehen. Weiterhin wird es um die spezifischen, zu verschiedenen Zeithorizonten an diese Museen herangetragenen Erwartungen gehen, und schließlich um Reaktionen der Museen mit besonderer Berücksichtigung der Frage einer möglichen Neuausrichtung.

Im Mittelpunkt der folgenden Seiten stehen Museen mit ethnografischen Sammlungen als Institutionen. Mitunter kann dabei der Eindruck entstehen, Museen also solche könnten handeln, sich entwickeln und sich neu erfinden. Das ist natürlich eine problematische Vereinfachung, da es grundsätzlich stets Menschen sind, die bezüglich einer solchen Institution Entscheidungen treffen. Eine gewisse Berechtigung hat diese Vereinfachung aber doch, weil in der Öffentlichkeit Museen als Institutionen und Akteure wahrgenommen werden. Nicht zuletzt ist die Rede vom Handeln der Museen dadurch legitimiert, dass es in der Regel gerade die Intentionen der Museumsexperten ist, durch ihre Forschungen, Entscheidungen und Inszenierungen das Museum als Institution zu verändern oder neu sichtbar werden zu lassen. Nur ein aktives Museum, das seine inhaltliche Entwicklung selbst vorantreibt, kann ein klares Profil haben (Belting 2001).


Museen als Basis einer Wissenschaft im Werden

Ethnologie, oder im deutschsprachigen Raum früher „Völkerkunde“, ist ein Fach mit einer eigenartigen Karriere. Lange bevor es eine akademische Disziplin mit diesem Namen gab, entstanden Sammlungen mit Objekten, die im Rückblick als ethnografische Sammlungen gelten können, damals aber zunächst als „Kuriositäten“ oder „Exotika“ angesprochen wurden. Man wusste von den fernen Ländern, von den anderen Kontinenten durch Reiseberichte und durch die Betrachtung mitgebrachter Gegenstände, aber es fehlte eine Vorstellung vom Nutzen einer umfassenden Beschreibung der zugehörigen Kontexte. Das kann als eine seltsame Form der Amnesie, als eine Vergessenheit über die Zusammenhänge der Herkunft aufgefasst werden: Im Zeitraum zwischen ca. 1500-1800 waren die Objekte in den Wunder- oder Kunstkammern als Teile der feudalen Selbstinszenierung zwar materiell gegenwärtig, aber man fragte weder nach ihrem Status, noch nach ihrer genauen Herkunft oder dem Kontext von Herstellung und Gebrauch. Die Anziehungskraft des Exotischen war schon damals zweifellos gegeben, aber es gab kein Interesse, mehr über das Leben der Menschen zu wissen, die diese Dinge hervorbrachten, benutzten und möglicherweise an Händler verkauften. Das Artefakt an sich, das Besondere und Erstaunliche, hatte eine größere Strahlkraft als die kulturspezifische Einbettung (Collet 2012).

Es ist nicht das Thema dieses Beitrags, die Geschichte der Wunderkammern nachzuzeichnen.2 An dieser Stelle reicht es aus, darauf hinzuweisen, mit welcher regen Anteilnahme der Öffentlichkeit diese Sammlungen im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den Räumen der Feudalherrscher in öffentliche Museen überführt wurden (Bolz 2007). Auf diese Weise überdauerten die „Exotika“, nun unter dem Namen „völkerkundliche Sammlungen“, den gesellschaftlichen Wandel des frühen 19. Jahrhunderts. Die ethnografischen Objekte wurden nun als Teil des bürgerlichen Selbstverständnisses und einer neuen Option zur Wissensgenerierung betrachtet. Der Umzug der Sammlungen von der Wunderkammer hin zu einem öffentlichen Ort, der sich als „Ort der Wissenschaft“ verstand, war ein wichtiger Schritt einer gleichermaßen faszinierenden wie problematischen Entwicklung, die zur Etablierung von „Museen für Völkerkunde“ oder „Ethnologischen Museen“ führte. Man könnte sagen, die Umbenennung in „Weltkulturenmuseen“ (oder ähnlich) bildet das vorläufige Ende der Entwicklung dieser Einrichtungen.


Aber es bleiben Fragen offen: Für welchen Inhalt steht diese Idee einer Weltkultur? Sind es die von Christoph Antweiler in den Vordergrund gestellten universalen Grundlagen der Kultur (Antweiler 2010)?

Die Jahre zwischen 1850-1918 waren gleichermaßen die hohe Zeit der Gründungen von Museen für Völkerkunde – in Dresden, Leipzig, Frankfurt, Köln, Stuttgart, Hamburg und München etc. – wie auch die Phase eines schier unversiegbaren Zustroms von Objekten aus allen Teilen der Welt (Frese 1960:10, Haller 2005:150). In den Metropolen Europas fand die koloniale Besitzergreifung von Territorien in Afrika, Südamerika und Asien ihren deutlich sichtbaren Ausdruck in den neu gegründeten ethnologischen Museen. Vor dem Hintergrund des massiven Anschwellens der Sammlungen und der Praktiken der Aneignung in den Kolonien wird in einigen Publikationen zu Recht immer wieder die praktische und ideelle Verquickung von Kolonialismus und völkerkundlichen Museen hervorgehoben (Coombes 1994a, Harms 1995).

Diese Verbindung, und insbesondere der spezifische Profit, den die Museen in der Form eines sehr raschen und doch für die Museen selbst fast mühelosen Anwachsens ihrer Objektbestände zu ziehen verstanden, wurde jedoch auch schon damals kritisch gesehen. Wie Adolf Bastian in seiner „Vorgeschichte der Ethnologie“ hervorhebt, wurden aus den Kolonien aufgrund fehlender Informationen über die Herkunft oft wissenschaftlich unbrauchbare Objekte mitgebracht. Bastian bezeichnet diese Dinge als „Spieldinge auf Nipptischen“, denen keine Information über eine bestimmte Herkunftskultur zu entnehmen sei (Bastian 1881: 93f). Überhaupt konnte Bastian der Ideologie des Kolonialismus wenigstens aus wissenschaftlicher Sicht nichts abgewinnen. Seiner Auffassung zufolge wurden durch die Kolonisierung Kulturen zerstört, ohne dass es gelungen sei, lebensfähige neue Kulturen zu schaffen (Bastian 1889:57, Trautmann-Waller 2010: 98). Vor dem Hintergrund seines Modells von Kulturen äußert Bastian sich hier eindeutig kritisch gegenüber den kolonialen Aktivitäten.3

Trotz dieser kritischen Distanzierungen sind die koloniale Ideologie und die daraus resultierenden Praktiken ohne jeden Zweifel Faktoren der Ermöglichung ethnografischer Sammlungen. Der Erwerb dieser Dinge und ihr Transport nach Europa bedeutete vielfach die Anwendung von Gewalt durch die kolonialen Herrscher, unter anderem dann, wenn es um die Aneignung von Objekten und die Herrschaft über die Hersteller und früheren Besitzer dieser Dinge ging. Die Museen nahmen die Objekte aus den Kolonien an und fragten damals nicht nach den Bedingungen, unter denen die Mobilität der Objekte möglich geworden war (Zimmerman 2012). Insgesamt verhielten sie sich eher affirmativ als kritisch zur Idee des Kolonialismus.

Auch wenn aufgrund der Verflechtung mit der kolonialen Ideologie die Bezeichnung der Museen als „Orte des kolonialen Blicks“ (Bender 2001) gerechtfertigt erscheint, so ist doch zu betonen, dass ethnografische Sammlungen eben auch die hier schon erwähnten älteren Kontexte, z. B. in der Wunderkammer, haben. Die durch den Kolonialismus möglich gewordene massenhafte Vermehrung der Objekte wurde als eine zweckmäßige, vielleicht auch notwendige, keinesfalls aber als eine optimale oder wünschenswerte Entwicklung angesehen. Eine angemessene Bilanz dieser frühen Phase der Museumsentwicklung lässt sich mit dem Verweis auf wenigstens zwei Wurzeln zusammenfassen:

  1. Die Wurzel als „Exotika“, die, vom selbstbewussten Bürgergeist motiviert, aus den Kunstkammern hin zu den als „Orten der Wissenschaft“ konzipierten Museen überführt wurden.
  2. Zeitlich etwas später, die Verquickung und zahlenmäßige Zunahme im Umfeld der kolonialen Ideologien.

Für Museen mit ethnografischen Sammlungen wie für die damals im Entstehen begriffene Disziplin „Völkerkunde“ oder „Ethnologie“ ist hervorzuheben, mit welchem Nachdruck damals, im 19._Jahrhundert, ihre Rolle als Forschungsstätten vertreten wurde. Diese spezifische Bedeutung reicht weit über den Ort des Geschehens hinaus: Insgesamt haben Museen und das Studium der Sammlungen eine wesentliche Rolle für die Entstehung der Ethnologie gespielt.

Dieser Zusammenhang hat auch seine Kehrseite: Während (die angehenden oder sich selbst zu solchen erklärenden) Ethnologen die Auffassung vertraten, aus dem Studium der Objekte etwas über die Geschichte der Kulturen und damit im weiteren Sinne zur Geschichte der Menschheit in Erfahrung zu bringen, schlug ihnen von Seiten der Geschichtswissenschaften erhebliche Skepsis entgegen. Prominente Historiker wie Ottokar Lorenz und Johann Gustav Droysen bezweifelten die Möglichkeit, vermittels der ethnografischen Sammlung wirklich Geschichte zu rekonstruieren.4 Ethnologen galten als faktenversessen, ihnen wurde vorgeworfen Positivisten zu sein und letztlich kein Konzept von historischer Entwicklung zu haben. Andrew Zimmerman (1999:207), der ausführlich über diese Auseinandersetzung der 1870er-Jahre berichtet, sieht in diesem Konflikt einen wichtigen Grund, warum sich die Einrichtung einer ethnologischen Professur in der Philosophischen Fakultät der Universität in Berlin so sehr hinauszog.5

Unabhängig von solchen Debatten und trotz der damit einhergehenden Marginalisierung fehlte es den Ethnologen nicht an Selbstbewusstsein. Sie gründeten schon früh eine wissenschaftliche Vereinigung (die „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ im Jahr 1869) und betrieben auf diese Weise ihre Wissenschaft im Kreis dilettierender, aber engagierter Bürger (Hartung 2010:68f.).

Der von Zimmerman (2000) hervorgehobene nonkonformistische Habitus ist möglicherweise von einiger Bedeutung, um die gegenwärtige Lage der Ethnologie besser einzuschätzen. Ähnlich wie damals, als die universitäre Anerkennung fehlte, wird auch heute von der Ethnologie und von den Museen mit ethnografischen Sammlungen gefordert, Praktiken der Wissensdarstellung zu finden, die jenseits etablierter Pfade liegen und nicht einen Rückgriff auf konventionelle Wissensstrukturen bedeuten. Der damals gewählte non-konformistische Habitus ist heute zu einer beständigen Forderung an die ethnologische Wissensdarstellung geworden. Ethnologen haben im Museum (wie auch andernorts) zu zeigen, wie sie jenseits akademischer Vermittlungsformen ihr Wissen aufbereiten. Dieser Habitus des „Zeigen-Könnens“ wurde von dem französischen Ethnologen Arnold van Gennep schon 1911 kritisch mit dem nur ironisch zu verstehenden Titel „Les demi-savants“ („Die Halbwissenden“) aufgegriffen (van Gennep 1911). Die Debatte über Leistungen der Ethnologie und deren Berechtigung im Konzert der kulturwissenschaftlichen Fächer hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt und wird in den letzten Jahren als eine echte Herausforderung für die Ethnologie diskutiert (Pink und Abram 2015, Hahn 2013).

Wenn heute verschiedentlich vom „Prinzip Labor“ oder vom „Museum als Labor“ die Rede ist (Korff/Roth 1990, Te Heesen und Vöhringer 2014, Heller 2015), scheint es so, als sei der frühere, für das Fach konstitutive Zusammenhang von Museum und Forschungsaktivität ausgeblendet. Um dies genauer zu formulieren: Die Art von Forschungen, die damals im Vordergrund stand, wird heute nicht mehr betrieben. Anstelle dessen sind andere Fragen getreten, die mit Hilfe des Museums und auch der Sammlungen beantwortet werden sollen. Während zur Gründungszeit dieser Museen die genaue Untersuchung der Dinge betont wurde, geht es heute darum, wie Irene Albers und Larissa Förster im Gespräch hervorheben, „Deutungshoheit aufzugeben“ und Experimente zuzulassen (Heller 2015:23). Dies wird im folgenden Abschnitt näher erläutert.


Abbildung3


Wissen durch Dinge: historische Praktiken der Erkenntnis

Worin genau bestanden nun die Praktiken in den hybriden Institutionen, die zugleich Orte der Präsentation und Verwahrung von Sammlungen, wie auch Ort der Forschung waren? Während damals die Vorstellung leitend war, durch die Betrachtung von Objekten mit spezifischer Herkunft und insbesondere durch das „Nebeneinanderstellen“ kulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen zu erkennen, so sind auch in der Gegenwart bestimmte epistemische Prinzipien leitend. Im 19. Jahrhundert gingen Ethnologen von der These aus, Objekte und deren formale Analyse könnten die Basis eines Referenzsystems sein, das über Kulturen in allen Weltteilen informiert. Ein Objekt oder eine Gruppe von Objekten schien damals eine Kultur stellvertretend sichtbar zu machen (Gosden, Larson/Petch 2007). Die schon damals verbreitete Auffassung vom Museum als Labor betraf insbesondere die Arbeit mit den Sammlungen und deren Aufstellung in den Schauräumen.

In der Gegenwart sind die erkenntnisleitenden Prinzipien des Labors andere. Zu den epistemischen Anliegen des Museums als Labor gehört im 21. Jahrhundert insbesondere die Frage nach den beteiligten Personen sowie nach den von außerhalb der Ethnologie kommenden Anregungen, für die ethnografische Objekte eine spezifische Rolle spielen könnten. Objekte werden damit zu Schnittpunkten zwischen Feldern von Diskursen und Praktiken, die sich über kulturelle Differenzen und Kontinente hinweg entfalten, und dabei Wissenschaftler wie Künstler und auch Handwerker miteinbeziehen (Shelton 2009).

Das ethnologische Museum der Gründungsphase war ein Labor, in dem es um die Selbstvergewisserung einer noch jungen Wissenschaft ging. Die Suche nach Erkenntnis war auf das Wechselspiel zwischen formal ähnlichen oder gerade unterschiedlichen Objekten beschränkt; sie diente der Stabilisierung eines Wissenskorpus, der damals noch mehr eine Erwartung an die Zukunft als ein Faktum war.