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Susanne Kronenberg

Hundswut

Norma Tanns sechster Fall

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Zum Buch

Hinterhalt Analphabetin Josefine Luven hat trotz des Handicaps ihren Traumjob gefunden. Mit der THermine-Touristikbahn bringt sie Besucher zu Wiesbadens Sehenswürdigkeiten. Sie könnte überglücklich sein, hätte sie nicht beinahe einen Mann überfahren. Sie ist sich sicher, gesehen zu haben, wie Rainald Prüsse von seinem Begleiter auf die Straße gestoßen wurde. Auch Privatdetektivin Norma Tann stellt sich Fragen, die mit einem Mann zu tun haben. Ihre Beziehung zu Dr. Timon Frywaldt, geschätzter Mitarbeiter des LKA Wiesbaden, leidet unter ihrer Eifersucht. Ein neuer Fall bietet Ablenkung: Ihre Auftraggeberin ist die Geschäftsfrau Juliane Sahling, deren Hundewelpe kurz nach dem Kauf starb. Der Hund stammte aus einer osteuropäischen Massenzucht und wurde illegal nach Deutschland gebracht. Norma nimmt die Spur der Händler auf und mietet sich inkognito bei Rainald Prüsse im ländlichen Vorort Naurod ein, wo ihr nicht allein von Bruce, dem beißwütigen Dobermann, tödliche Gefahr droht.

Susanne Kronenberg, geboren in Hameln, war nach dem Studium als Redakteurin tätig und wohnt und arbeitet heute als freie Schriftstellerin in Taunusstein bei Wiesbaden. Zu ihren Veröffentlichungen zählen neun Kriminalromane, davon sechs mit der Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann, zahlreiche Kurzgeschichten für verschiedene Anthologien, mehrere Jugendbücher, die vielfach übersetzt wurden, sowie Fachbücher und Bücher zu regionalen Themen. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt sie Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des »SYNDIKATS« und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe »Dostojewskis Erben«.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Totengruft (2014)

Edelsüß (2012)

Kunstgriff (2010)

Rheingrund (2008)

Weinrache (2007)

Kultopfer (2006)

Flammenpferd (2005)

Pferdemörder (2005)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © parallel_dream / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5508-7

Widmung

Für T., F., P. und B., die mich auf allerbeste Hundeart durch Kindheit und Jugend begleiteten.

Prolog

Als der Schlüssel im Türschloss knarrt, lockt die Windhündin ihre drei Welpen fiepend zu sich. Im Dunkel ringsum erklingt vielstimmiges Bellen und das Winseln junger Hunde. Die Labradorhündin im Pferch nebenan knurrt nervös. Das Deckenlicht flackert auf. Ein Mann herrscht die Hunde auf Slowakisch an. Die Windhündin kauert sich in die verfaulten Reste, die einmal Stroh gewesen waren. Die zierliche Hündin hat in ihrem Leben nichts anderes kennengelernt als den zwei mal zwei Sprünge messenden Zwinger und den Gang davor, auf den sie am Nackenfell hinausgezerrt wird, wenn ein Rüde auf sie wartet. Schicksalsergeben wehrt sie sich nicht gegen den Mann, der sie im Genick packt und einen Welpen nach dem anderen unter ihrem Bauch hervorzieht und in einen Karton wirft. Er trägt die Welpen hinaus. Dann kehrt er ohne den Karton zurück, schüttet Wasser in den Trog und wirft ihr eine Handvoll Hühnerköpfe hin. Die Tür schließt sich. Das Schloss schnappt zu. Das flackernde Licht verschwindet, und die Dunkelheit kehrt in die Scheune bei Pukanec zurück.

1. Kapitel

Mittwoch, der 27. Juli

Der Mann, den sie beinahe getötet hätte, saß im ersten Waggon direkt hinter der Lok. Als Josefine die Bremse löste und sich die THermine mit sanftem Ruck in Gang setzte, spürte sie seine Blicke im Nacken. Suchend, stechend, bis ihr die Gänsehaut die Wirbelsäule hinaufkroch. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. Der Mann machte ihr Angst.

Dabei sah er harmlos aus. Sogar recht nett, wenn auch zweifelsohne vom Leben gebeutelt, so wie sich sein Bild im Rückspiegel zeigte. Ovales Gesicht mit frühen Falten und Spuren von Resignation. Weich geschwungener Mund. Ein schlanker Oberkörper unter dem gestreiften Hemd. Dunkler, kurz geschnittener Haarkranz. Und diese Sonnenbrille, als wollte er die eisblauen Augen verbergen, deren intensive Blicke dem ihren wenige Minuten zuvor begegnet waren, als er sich – ungeachtet ihrer Position als Schaffnerin und Fahrerin – an den anderen Fahrgästen vorbei in den vorderen Waggon gedrängt hatte. Ohne einen Fahrschein vorzuzeigen oder zu lösen, wie es sich gehörte, sondern sich auf den ersten Sitz hinter der Lok zu hocken, als wäre dies sein angestammtes Privileg. Zum dritten Mal innerhalb von vier Tagen.

Josefine lockerte die Nackenmuskeln und atmete tief durch, bevor sie die Bahn mit weitem Bogen auf die Wilhelmstraße lenkte – nicht ohne den zweiten Wagen im Außenspiegel hoch konzentriert im Auge zu behalten. Sobald er sich in die Spur des vorderen Wagens eingereiht hatte, drückte sie gefühlvoll auf das Gaspedal. Gehorsam zog die THermine das Tempo an. Josefine hätte sich liebend gern dem Steuern des Bähnchens hingegeben und der sonoren Männerstimme aus dem Lautsprecher gelauscht, die den Fahrgästen unterwegs die Sehenswürdigkeiten näherbrachte.

Wie glücklich könnte sie jetzt sein … wie stolz! Wäre ihr Triumph nicht von dieser beunruhigenden Anwesenheit in ihrem Rücken beeinträchtigt. Während das Bähnchen am Bowling Green entlangrollte und auf das Kurhaus zuhielt, nahm sie sich vor, später eine Karte für ihn zu lösen und seine Fahrt aus eigener Tasche zu begleichen wie an den anderen Tagen auch. Wegen dieses Schwarzfahrers würde sie ihre Probezeit jedenfalls nicht gefährden. So sehr hatte sie für diesen Traumjob gekämpft. Mit einer Kraft und Ausdauer, von denen der Mann, den sie um ein Haar getötet hätte, nichts ahnte.

2. Kapitel

Dr. Sorst hatte viel zu viel bezahlt. Verblüfft studierte Norma die Kontobewegungen, die der Bildschirm auflistete. Seit sie als Private Ermittlerin auf eigenen Beinen stand, wurde sie von dem eigensinnigen Wunsch nach Unabhängigkeit getrieben. Und von dem Ehrgeiz, ihren Lebensunterhalt aus ihren Honoraren zu bestreiten. Auf das von ihrem Mann Arthur geerbte Vermögen wollte sie nur im Notfall zugreifen, was ihr bisher gelungen war. Große Summen brauchte sie nicht, und sie war darauf eingestellt, eine Weile auf die Bezahlung zu warten. Die meisten Klienten stotterten den Betrag häppchenweise ab. Nicht, weil sie nicht anders wollten. Sie konnten nicht: die jungen Mütter, die den Alimenten des Kindsvaters nachliefen, die Geschäftsfrau, deren Gatte samt adretter Aushilfskraft und Vermögen durchgebrannt war, der Witwer, der von den eigenen Kindern betrogen wurde. Die prompte und überdies komplette Überweisung eines Honorars gehörte zu den Ausnahmen. Dieser hübsche Brocken in Grün machte sich also bestens zwischen all den roten Abbuchungen für Miete und Versicherungen, Einkäufe und Tankfüllungen. Leider nur auf den ersten Blick! Denn die grüne Summe war weit höher als das vereinbarte Honorar.

Sie schnappte sich Tablet und Smartphone und verließ das Zimmer. Ein Mädchentraum in Rosa und Pink, der ihr in den Augen schmerzte, seit sie vor drei Tagen in ihr Zuhause auf Zeit einzogen war: in diesen Notunterschlupf, weil ein Wasserrohrbruch ihre Biebricher Dachwohnung unbewohnbar gemacht hatte. In dem betagten Fachwerkhaus lag sowieso einiges im Argen, weswegen die Vermieterin die Gelegenheit nutzen wollte, um alle drei Etagen in einem Zug zu sanieren. Neue Leitungen, eine Heizung mit zeitgemäßer Technik, ein renoviertes Bad. Sogar die Küchenfliesen sollten ersetzt werden. Und wenn die Handwerker einmal da waren, könnten sie auch den hässlichen Fußboden in Normas Büro austauschen, meinte Eva Vogtländer, die Besitzerin des Hauses. Prima Sache eigentlich – nur wäre Norma unterdessen fehl am Platz.

»Zieh doch so lange zu mir«, hatte Timon ihr angeboten. »Vier Zimmer, Stuck an den Decken und eine große Wohnküche. Wiesbadener Jugendstil vom Feinsten.«

Und er hatte rasch hinterhergeschoben: »Keine Sorge, wir müssen uns nicht wie ein altes Ehepaar permanent das Schlafzimmer teilen. Du kannst in einem anderen Zimmer schlafen, wenn du für dich sein willst.«

Nach kurzem Zögern hatte Norma dankend angenommen.

Die Wohnung, in die sie zog, gehörte Timon nicht. Er lebte dort ebenfalls nur auf Zeit, während der sich die eigentlichen Bewohner – ein Ehepaar mit Sohn und Tochter – aus beruflichen Gründen in den USA aufhielten. Zuvor hatte er für ein Jahr den Loft eines versetzten Kollegen gehütet. Auf diese Weise bewegte er sich seit der Trennung von seiner Frau von Wohnung zu Wohnung. Schnappte sich Bücherkartons, Koffer und Computer und siedelte um in ein Heim auf Zeit. Ein Nomadenleben, das ihm gefiel.

Auf den romantischen Mädchenalbtraum hatte er Norma vor ihrem Einzug nicht vorbereitet. In der Küche hatte sie das nächste Klischee empfangen: Landhausstil in cremeweißem Lack, herausgeputzt wie für einen Katalog. Mittendrin eine Kaffeemaschine, die jeden Barista vor Neid erblassen ließe. Erst seit einer Schulung durch Timon wagte Norma sich an das chromblitzende Ungetüm heran. Vorsichtshalber beschränkte sie ihre Getränkewünsche im Augenblick noch auf Espresso und Cappuccino.

Sie nahm ein zierliches Tässchen aus dem Lackregal. Während sich das Kaffeearoma im Raum ausbreitete, kraulte sie Leopold, dessen blaugraues Kartäuserfell elegant mit den roten Kissenbezügen der Eckbank harmonierte. Entgegen ihren Befürchtungen hatte er sich umgehend mit der neuen Behausung arrangiert. Er lag den ganzen Tag auf der faulen Haut und zeigte keinerlei Interesse daran, zu nächtlichen Streifzügen aufzubrechen. Weil er ihr so ans Herz gewachsen war, vergaß sie gern, dass er eigentlich ihrer Vermieterin gehörte. Den Kater kümmerten diese menschlichen Zuweisungen nicht. Er hatte Norma auf Anhieb gemocht und war ihr beim ersten Besuch so zutraulich um die Beine gestrichen, dass Eva alle Bedenken gegen die kürzlich aus dem Dienst geschiedene Hauptkommissarin und frischgebackene Private Ermittlerin über Bord geworfen und ihr neben der Dachwohnung auch den Ladenraum im Erdgeschoss vermietet hatte. Den Rest trug Normas Angebot bei, sich um den Kater zu kümmern, wenn Eva die Wochenenden und Ferien bei ihrem Partner in Köln verbrachte. Außerdem fand Eva es schick, im ehemaligen Blumenladen das Büro einer waschechten Privatdetektivin zu beherbergen. Eva bewohnte die mittlere Etage. Für die Umbauphase war sie zu ihrer Schwester nach Bierstadt, einem Wiesbadener Ortsteil östlich der Kernstadt, gezogen und hatte Leopold den Trubel mit ihren Nichten und Neffen ersparen wollen.

Mit dem schnurrenden Kater an ihrer Seite ließ Norma sich mit Dr. Ludwig Konrad Sorst verbinden, ihrem letzten Klienten, für den sie seine Tochter aufgespürt hatte, von der ihm bis dahin nicht mehr bekannt gewesen war als ihre bloße Existenz. Die Suche war dementsprechend nicht ohne reichlich detektivischen Spürsinn abgelaufen. Die Tochter, inzwischen Mitte 30, entstammte einem Flirt mit einer Urlaubsbekanntschaft. Die Mutter hatte mehrfach den Wohnort gewechselt, geheiratet und den Namen des Mannes angenommen, der das Kind adoptierte. Bis vor wenigen Jahren hatte Ludwig Sorst nichts von der Existenz seiner Tochter geahnt und nur durch Zufall davon erfahren. Ein Glücksmoment für den kinderlosen Mediziner und Betreiber einer Wiesbadener Privatklinik. Aus Rücksicht auf seine Frau hatte er bis zu deren Tod mit Nachforschungen gewartet. Als es schließlich zur ersten Begegnung gekommen war, die Norma auf Bitten von Vater und Tochter in die Wege geleitet hatte, waren zwei Menschen aufeinandergetroffen, die auf Anhieb vertraut miteinander schienen. Tief gerührt hatte Norma sich zurückgezogen.

»Kein Irrtum«, erklärte Dr. Sorst gut gelaunt. »Ich habe mir erlaubt, Ihr Honorar aufzurunden.«

»Aufzurunden? Sie haben die Summe glatt verdoppelt. Ich kann das unmöglich annehmen.«

»Bitte, Frau Tann, machen Sie mir die Freude! Ich habe eine Tochter gewonnen. Und außerdem: Wie Sie wissen, ist Mariella Ärztin. Sie wird in die Klinik einsteigen. Endlich kann ich meinen Nachlass regeln. Alles hat sich so wunderbar gefügt. Dank Ihnen, Frau Tann.«

Er redete charmant auf sie ein, bis ihr schließlich nichts anderes übrig blieb, als einzuwilligen. Hörbar zufrieden verabschiedete er sich mit: »Grüßen Sie Dr. Frywaldt!«

Ohne Timons Empfehlung hätte Dr. Sorst wohl kaum den Weg in Normas bescheidenes Biebricher Eine-Frau-Büro gefunden. Timon, selbst Mediziner und dazu Biologe, arbeitete als Spezialist für die Spurensicherung beim Hessischen Landeskriminalamt. Er hatte Dr. Sorst beim Wiesbadener Internistenkongress kennengelernt. Die beiden Mediziner schätzten sich sehr.

Das dicke Honorar sollten wir feiern, entschied Norma. Timon war um diese Zeit gewöhnlich in seinem Labor in der Hölderlinstraße. Als Kriminalhauptkommissarin hatte Norma in früheren Jahren oftmals im Landeskriminalamt zu tun gehabt, wo sie Timon über den Weg gelaufen war. Mittlerweile war sie dort als »die Freundin des Doppeldoktors« bekannt, der seinen Spitznamen den beiden Doktortiteln in Medizin und Biologie zu verdanken hatte.

Sie erreichte ihn auf dem Handy. »Bist du heute Abend zu Hause? Ich möchte Unordnung in die Luxusküche bringen.«

Durchs Telefon waren klackernde Schritte auf hartem Boden zu hören. Der vertraute Widerhall in den langen Fluren des LKA. Da Timon leise Sohlen bevorzugte, tippte sie auf High Heels, die eilig an seiner Seite trippelten.

Er sei auf dem Weg zu einer Besprechung. »Du willst kochen? Warum nicht!« Begeisterung klang anders.

»Wenn du nicht magst …«

Das Klackern entfernte sich. Er war stehen geblieben, wie sie aus dem ruhigeren Atem schloss.

»Ich freue mich auf heute Abend, Norma, und auf unser Essen, das weißt du«, erklärte er geduldig. »Ich bin nur in Eile.«

Eine helle Frauenstimme hallte heran: »Tiiiimooon! Kommst du?«

»Wer ist das?«

»Wie?«, gab er sich begriffsstutzig.

»Tiiimooon!«, äffte Norma.

Er lachte. »Meine neue Praktikantin. Angelique!«

Norma konnte ein pikiertes Schnauben nicht unterdrücken. »Angelique? Soso. Und von der lässt du dich gleich rumkommandieren?«

Er lachte lauter. »Ich nehme es sportlich. Bis heute Abend, Norma!«

Beide mochten dieselben Gerichte. Norma lebte beinahe ihr ganzes Leben schon lang vegetarisch, und Timon machte der Verzicht auf Fleisch und Fisch nichts aus. Sie entschied sich für ein asiatisches Essen, wofür sie – anders als in ihrer Küche – keinen schlichten Wok, sondern den blitzblanken Luxus-Wok nutzen wollte. Mit ihrer Einkaufsliste verließ sie die Wohnung. Und malte sich auf dem Weg durch das großbürgerliche Treppenhaus, das lang gezogene »Tiiimooon« noch im Ohr, ein vernichtendes Bild der stöckelbeschuhten Praktikantin aus.

3. Kapitel

Der Mann, den sie um Haaresbreite getötet hätte, schenkte den Sehenswürdigkeiten unterwegs keine Aufmerksamkeit. Jedes Mal, wenn Josefine in den Rückspiegel schaute, sah er unbeweglich geradeaus, während sich die Köpfe der übrigen Fahrgäste bei jedem Kommentar der Männerstimme aus dem Lautsprecher zur Strecke wie auf Kommando zur Seite wendeten. Nervös konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe, während die THermine auf die Russische Kirche zuhielt, deren fünf goldene Zwiebeltürme durch das Laub der Waldbäume schimmerten. Josefine dachte sogar daran, im richtigen Augenblick die Ansage zu aktivieren. Sie freute sich auf die kurze Pause und den Kaffee aus der Thermoskanne, fürchtete sich aber auch vor dem, was der unheimliche Gast vorhaben könnte. Warum ihn nicht einfach fragen?, nahm sie sich vor. Was er von ihr wollte. Direkte Konfrontation. Angriff als die beste Verteidigung.

Doch dazu gab es keine Gelegenheit. Nachdem die Bahn zum Halten gekommen war, wurde Josefine von einem älteren Paar, ihrem Dialekt nach aus dem Bayerischen, angesprochen. Wie es denn nun richtig hieße: Russische Kirche oder Griechische Kapelle? Während Josefine den Gästen geduldig erklärte, dass der erste Name der korrekte sei, der zweite dem Volksmund entstamme, beobachtete sie den Schwarzfahrer, der zum Russischen Friedhof hinüberspazierte und dort in den Wald eintauchte.

4. Kapitel

Der Peugeot stand nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Mit leichtem Bedauern startete Norma den Motor. Wer gab schon gern eine legale Parkbucht in der Innenstadt auf? Doch ihr Weg führte sie aus der Kernstadt hinaus und zu ihrem liebsten Bioladen, der auch eine reichhaltige Auswahl asiatischer Zutaten, Kräuter und Gewürze im Angebot hatte. Auf dem Ersten Ring glitt der Verkehr zügig dahin. Die Fassaden der historistischen Bürgerhäuser und Jugendstilgebäude zogen an ihr vorbei, und sie spielte mit dem Gedanken, wie es wäre, vorübergehend in einem solchen Prachtbau zu Hause zu sein. Sie vermisste ihr Biebricher Fachwerkdomizil und machte sich Gedanken, was die Handwerker inzwischen mit ihrer Wohnung angestellt haben mochten.

Zehn Minuten später verließ sie die breite Ausfallstraße, die weiter in Richtung Mainz führte, und steuerte den Wagen quer durch den Wiesbadener Ortsteil Erbenheim. Ein Sträßchen brachte sie schließlich zum Ziel. Der Bioladen gehörte zu einem Aussiedlerhof, dessen abgeschiedene Lage inmitten von Feldern und Streuobstwiesen den Besucher die eng besiedelte Umgebung vergessen ließ. Der Parkplatz lag vor einer Mauer. Neben einem Schild mit den Öffnungszeiten des Hofladens hing eine große Tafel mit der Aufschrift »Hundezucht Von der alten Weide – Italienisches Windspiel«. Kaum ausgestiegen, atmete Norma unwillkürlich tief ein. Es roch nach Sommer. Auf dem Hof schallte ihr Kälberblöken entgegen und weckte Erinnerungen an ihre Kindheit. Untermalt wurde es von fröhlichem Vogelgezwitscher, und die gelben Strauchrosen, die den Fußweg zum Laden säumten, empfingen sie in voller duftender Blüte.

Vor dem Laden stürmte ihr eine agile Meute junger Hunde entgegen. Zwei rehbraune, ein schwarzer und ein stahlgrauer Welpe umwuselten ihre Waden. Die Hundekinder begeisterten sich für ihre Schnürsenkel und verbissen sich in ihrem Einkaufskorb und in den Blusenärmeln, nachdem sie in die Hocke gegangen war. Spitze Zähnchen kauten auf ihren Fingern, zarte Schnäuzchen überboten sich in dem Bemühen, ihr Gesicht zu küssen. Alles geschah unter leidenschaftlichem Fiepen, Winseln und Knurren. Kurz und gut: Norma war hingerissen von diesen entzückenden Wesen, die bei aller Vitalität so zartgliedrig schienen, als könnte man sie mit einem Griff aus Versehen zerquetschen.

Als zwei stämmige, jeansbehoste Beine in ihrem Gesichtsfeld auftauchten, richtete sie sich auf und begrüßte die Biobäuerin und Hundezüchterin. »Was für ein temperamentvoller Empfang!«

Barbara Seeborn lachte herzlich. »Vier Welpen bringen Leben ins Haus, keine Frage.«

Mit sanfter Konsequenz löste Norma das besonders anhängliche schwarze Kerlchen von ihrem Schuh. Die drei Geschwister hatten in der Zwischenzeit ein neues Spiel entdeckt und attackierten mit Vehemenz ein zerschlissenes Handtuch. Nach einem behutsamen Schubs tappte Nummer vier der Rangelei entgegen, die prompt unterbrochen wurde, als eine kniehohe braune Windhündin die Welpen mit hohen Fieptönen zu sich rief.

»Bei meinem letzten Einkauf waren sie kaum halb so groß«, stellte Norma beeindruckt fest, »und lagen friedlich schlummernd im Hundekorb.«

Barbara Seeborn beobachtete das muntere Treiben mit mütterlichem Stolz. »Welpen entwickeln sich fix. Die Rasselbande ist jetzt neun Wochen alt. Unser S-Wurf übrigens. Suleika, Sofia, Sissi und der schwarze Saphir.«

»Sind Saphire nicht blau oder grün?«, wunderte sich Norma.

»Nun, es gibt sehr viel mehr Farbtöne«, gab die Züchterin gut gelaunt zurück. »Ich finde den Namen passend.«

Norma betrachtete das kleine Familienglück mit großem Vergnügen. »Ich könnte glatt schwach werden!«

»Alle vier sind vergeben«, erklärte Barbara Seeborn. »Nächste Woche kommen sie zu ihren neuen Familien. Aber wenn Sie ernsthaft interessiert sind … Sie sind sportlich und naturverbunden, Frau Tann. Ich könnte Sie mir gut mit einem Windspiel vorstellen. Vielleicht aus dem Wurf unserer zweiten Hündin im Herbst?«

Norma wiegelte lächelnd ab. »Das ist sehr nett. Aber mein Kater wäre mit einer so bezaubernden Konkurrenz nicht einverstanden.«

»Sie haben recht; eine Anschaffung wie diese muss gut überlegt sein. So zart diese Rasse wirkt, die Hunde können bis zu 14 Jahren alt werden. Eine langfristige Freude, aber auch Pflicht. Und sie wollen viel laufen.«

»Den Bewegungsdrang bezweifle ich nicht«, erwiderte Norma mit Blick auf die Hundekinder, die nach der Verschnaufpause bei ihrer Mutter bereits wieder unternehmungslustig über den Rasen tollten. »Nichts für langwierige Observationen.«

Barbara Seeborn wusste von Normas Beruf. »Arbeiten Sie zurzeit an einem spannenden Fall? Ich stelle mir das Leben einer Privatdetektivin sehr aufregend vor.«

»Ach, die meisten Fälle sind langweilige Recherchen, und die Details oft bedrückend. Dagegen war mein letzter Auftrag eine angenehme Abwechslung. Eine Art Familienzusammenführung mit Happy End. Heute Abend will ich mit meinem Freund den erfolgreichen Abschluss feiern.«

»Ich habe einen hervorragenden Bio-Riesling aus dem Rheingau. Perfekt für besondere Gelegenheiten. Kommen Sie!«

Sie schritt voran in den Ladenraum, der ehemals eine Garage gewesen sein mochte und dank eines geräumigen Glasvorbaus genügend Platz für die reichhaltige Auswahl bot. Während Norma ihre Wünsche kundtat und Barbara Seeborn das Gemüse abwog und einpackte, setzten sie ihre Plauderei fort.

»Haben Sie Erfahrung mit Hunden, Frau Tann?«

»Als Kind, ja. Auf dem Bauernhof meiner Eltern in Niedersachsen hatte ich einen Hund namens Fiete, einen schwarzen Schnauzermix. Leider war er viel zu kurz bei mir.«

»Wodurch haben Sie ihn verloren?«

»Er musste … getötet werden. Das war schlimm für mich.«

Dezent hielt sich Barbara Seeborn mit weiteren Nachfragen zurück. »Freud und Leid liegen eng aneinander, wenn man Tiere hat. Trotzdem, für mich ist die Hundezucht ein wunderschönes Hobby«, erklärte sie und packte auf Normas Bitte eine blauschwarz glänzende Aubergine ein. »Manche Leute halten es nicht für eine Liebhaberei, wenn sie von unseren Verkaufspreisen hören. Aber auch wenn es auf einen Laien einen anderen Eindruck macht, ich lege eher Geld drauf, als an der Zucht zu verdienen. Und die ganze Familie hilft mit.«

Zu den Seeborns gehörten, wie Norma wusste, neben Barbara ihr Ehemann Helge und die Kinder Lucy und Lasse im Teenager-Alter. Wie gerufen betrat Helge Seeborn, vom Typ eher Banker als Biobauer, den Verkaufsraum, und begrüßte Norma als Stammkundin mit einem freundlichen Lächeln.

»Hast du die Welpen ins Haus gebracht?«, erkundigte sich seine Frau.

Er nickte bestätigend. »Die Kleinen sind im wahrsten Sinn des Wortes hundemüde und müssen sich ausschlafen. Juliane Sahling kommt in einem ungünstigen Moment, um mit Saphir zu spielen.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«

»Nein, Babs, ich habe sie gar nicht persönlich gesehen. Aber ihr Geländetrumm steht draußen.«

Barbara überging die despektierliche Autobezeichnung und wandte sich wieder Norma zu – mit einem Strahlen im pausbäckigen Gesicht: »Frau Sahling ist Saphirs zukünftiges Frauchen. Sie ist völlig vernarrt in den Kleinen und besucht ihn regelmäßig. Solche Käufer wünschen wir uns!«

Auf Normas Bitte stellte sie zu den restlichen Einkäufen zwei Flaschen des Bio-Rieslings hinzu. »Soll es noch etwas sein, Frau Tann?«

Norma ging ihre Zutatenliste durch. »Tofu brauche ich noch, rote Currypaste, ein paar Gewürze. Das finde ich ja sicher dort drüben.«

Während Norma sich in einem Regal umschaute, packte die Biobäuerin die Einkäufe in den mitgebrachten Korb. Dabei wurde sie von einer stadtfein gekleideten Frau unterbrochen, die den Laden mit einem angriffslustigen Lächeln betrat.

Ohne Norma zur Kenntnis zu nehmen, kam die Dame zur Sache. »Bedaure, Frau Seeborn, aber ich kann Saphir nicht zu mir nehmen.«

Mit schnellen Schritten schoss Barbara hinter dem Verkaufstresen hervor. »Um Himmels willen, warum denn nicht? Sind Sie krank? Haben Sie ein Zeitproblem? Natürlich können Sie den Hund noch eine Weile bei uns lassen.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Juliane Sahling kämpferisch. »Bitte geben Sie mir die Anzahlung zurück.«

Sofort schlug Barbaras Stimmung um. Ihre freundliche Miene verdüsterte sich. »Wir zwingen niemandem einen Welpen auf, das tun wir unseren Hunden nicht an. Aber eine Erklärung sind Sie mir schuldig! Sie waren so hartnäckig und haben keine Ruhe gelassen, bis wir Ihnen einen Welpen versprochen haben. Und mit einem Mal wollen Sie keinen Hund?«

»Wer sagt, dass ich keinen Hund will?«, war die energische Antwort. »Das genau ist ja der Grund, warum ich Saphir nicht nehmen kann: Seit Samstag habe ich einen.«

»Einen was?«, fragte Helge Seeborn irritiert.

»Na, einen Welpen! Ein pechschwarzes kleines Windspiel. Mindestens so entzückend wie Saphir, aber für ein Drittel des Preises, den Sie verlangen!« Sie beendete ihre Erklärung mit triumphierendem Augenaufreißen, als erwartete sie Beifall für ihren Coup.

Verständnislos schüttelte Barbara den Kopf. »Ich begreife das nicht. Saphir hängt an Ihnen, und Sie sind ganz vernarrt in den Kleinen. Das haben Sie selbst gesagt!«

Helge Seeborns Lächeln war eingefroren, als hätte es ihm die Bio-Radieschen verhagelt. »Ihretwegen haben wir weiteren Interessenten abgesagt. Wieso jetzt dieser andere Hund?«

»Er war der letzte Welpe des Wurfs und noch nicht vergeben. Deswegen war er so günstig zu haben«, erklärte Juliane Sahling eine Spur kleinlauter.

»Woher haben Sie ihn überhaupt?«, fragte Helge.

»Über eine Anzeige im Internet.«

»Aus welchem Zwinger, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Barbara, sichtlich um Fassung bemüht. »Die meisten Windspielzüchter sind mir bekannt.«

»Mein Hund heißt ›Luca vom hellen Licht‹.«

Barbara schüttelte den Kopf. »Den Zwingernamen habe ich noch nie gehört. Wie alt ist der Welpe?«

»Sieben Wochen, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Na, dann viel Freude mit dem Tier!«, wünschte Helge sarkastisch.

»Ich will mein Geld zurück!«, verlangte die Sahling.

Barbara öffnete die Ladenkasse, zählte einige große Scheine ab und setzte handschriftlich ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier. »Quittieren Sie hier. Nehmen Sie das Geld und verlassen Sie bitte den Hof!«

Juliane Sahling unterschrieb – nicht ohne zuvor zwei Mal nachgezählt zu haben. Als sie sich vom Tresen abwendete, bemerkte sie Norma, die sich so lange mit der Suche nach einer Currypaste ohne Fischsoße beschäftigt hatte, und streifte sie mit einem erschrockenen Blick, bevor sie aus dem Laden floh.

Barbara hatte den stürmischen Abgang kopfschüttelnd beobachtet. »Wie konnte ich mich so sehr in einem Menschen täuschen!«

»Frau Sahling wird den Welpen nicht lange haben«, knurrte Helge.

»Weil er ihr bald lästig wird?«, vermutete Norma.

»Weil er die nächsten Tage womöglich nicht überleben wird«, antwortete Barbara an seiner Stelle betrübt.

»Warum befürchten Sie das?«, fragte Norma erschrocken.

»Vermutlich stammt der Kleine aus einer Massenzucht – ›Hundevermehrer‹ trifft es eher. Die Tiere werden zu Billigpreisen verhökert.«

»Und was heißt das genau?«, hakte Norma nach.

»Die nötigen Impfungen gibt es nur auf dem Papier, und die Hunde gehen oft schon krank auf die Reise zum neuen Besitzer. Hoffentlich hat dieser Hund mehr Glück, das wünsche ich ihm«, fügte Barbara Seeborn versöhnlich hinzu. »Was kann das Tier für unseren Ärger mit der Sahling?«

5. Kapitel

Ein klobiger SUV, cremefarben wie die Landhausküche der Stadtwohnung, parkte dicht neben Normas kleinem Wagen und blockierte die Fahrertür. Norma stapelte die Einkäufe in den Kofferraum und ließ genügend Platz, um notfalls daran vorbeiklettern zu können. Zunächst versuchte sie es jedoch an der Beifahrertür. Sie streikte. Ärgerlich, denn wegen kaputten Scheibenwischerarmen war der Peugeot erst kürzlich in der Werkstatt gewesen. Norma hatte das betagte Gefährt günstig bekommen und wusste es wegen seiner Unscheinbarkeit fürs Observieren zu schätzen. Weniger nett war seine Angewohnheit, sie alle paar Tage mit einem neuen Defekt zu überraschen.

In diesem Moment fiel ihr ein Stück entfernt auf einem Feldweg eine schlanke Gestalt in hellblauer Hose und weißer Bluse auf. Natürlich, der SUV. Eins musste man Juliane Sahling lassen: Die Frau hatte Talent, sich beliebt zu machen! Doch warum verharrte sie auf der Stelle und starrte angestrengt auf den Boden? Als Norma mit langen Schritten losmarschierte, erkannte sie bald den Grund dafür: Ein pechschwarzes Hundekind stemmte die Pfötchen in den Schotterbelag und den zerbrechlich zarten, zitternden Körper gegen den Zug der Leine am roten Katzengeschirrchen. Wobei von Zug eigentlich nicht die Rede sein konnte. Juliane Sahling hielt die Leine wie eine Feder in der Hand.

Sie warf Norma einen hilflosen Blick zu. »Luca mag keinen Schritt laufen. Ich muss ihn überall hintragen.«

»Vielleicht kennt er das nicht.«

»Was meinen Sie?«

»Na, Schotter oder Asphalt. Der Boden ist ihm wohl nicht geheuer.«

»Dann muss ihm die ganze Welt unheimlich sein«, antwortete Juliane Sahling seufzend. »Er mag sich nirgends bewegen, auch nicht auf Rasen. Nur auf den Teppich im Flur traut er sich und macht ihn voll.«

Norma konnte für einen Moment nicht anders, als sich Juliane Sahlings Wohnung mit einem sündhaft teuren Designerteppich vorzustellen – von Hundehäufchen gespickt. Doch der Humor verging ihr schnell wieder. Verglichen mit den putzmunteren Seeborn-Hündchen schien der Welpe beängstigend matt und müde. Die verklebten Äuglein, der Trommelbauch, die zitternden Beinchen: Das Hündchen wirkte sterbenskrank.

Juliane Sahling musterte ihren Hund mit mütterlicher Sorge. Nachdem sie sich gebückt und ihn auf den Arm genommen hatte, entschuldigte sie sich für den Streit im Laden. Sie habe Norma zu spät bemerkt. »Dass die Seeborns aber auch so aus der Haut fahren! Die ganze Zeit war von einer Warteliste für Welpenkäufer die Rede. Da kann es nicht so schwer sein, einen neuen Besitzer für Saphir zu finden.« Aufgebracht fügte sie hinzu: »Obwohl der Preis happig ist. 1.500 Euro verlangen sie für einen Welpen. 1.500!«

Der dafür immerhin, anders als dieser kleine Kerl, quietschlebendig war. Norma betrachtete das schmächtige Hundeelend in der Armbeuge seiner Besitzerin, die nicht bemerkte, wie der Kleine begann, sein Geschäft in luftiger Höhe zu erledigen. Ein schwarzbraunes Rinnsal ergoss sich über das weiße Leinen.

Norma räusperte sich. »Vorsicht, Ihre Bluse!«

»Ach, du lieber Himmel! Jetzt hat er auch noch Durchfall.«

Erschrocken hielt Juliane Sahling ihren Schützling mit ausgestreckten Armen von sich. Der Welpe winselte schwach und ließ das Köpfchen hängen. Das Rinnsal nahm eine blutrote Farbe an und tropfte, stechend nach Krankheit riechend, ins Gras.

Verstört betrachtete Juliane das Hundekind. »Was mache ich nur mit ihm?«

»Bringen Sie ihn schnellstens zum Tierarzt«, schlug Norma vor.

»Tierarzt, ja! Aber ich kenne keinen, bin noch gar nicht vorbereitet …«, stammelte sie. »Wissen Sie jemanden?«

Der Welpe zitterte und wimmerte erbärmlich, und sein Frauchen schien von der Situation überfordert.

»Kommen Sie!«, sagte Norma. »Erst mal zurück zum Wagen!«

Während sie zu ihren Autos hasteten, nahm sie das Telefon aus der Tasche und rief bei den Seeborns an. Barbara meldete sich und klang entsetzt, als Norma ihr die Symptome des Hündchens schilderte. Norma blieb kurz stehen und notierte eine Adresse auf der Rückseite ihrer Visitenkarte. Am Parkplatz angekommen reichte sie die Karte weiter.

Juliane las die handschriftliche Notiz. »Dr. Marius Nemenz?«

»Eine Empfehlung von Barbara Seeborn, ein Hundespezialist. Bringen Sie Luca am besten sofort dorthin.«

Juliane bedankte sich für die Hilfe. »Was wollten Sie eigentlich von mir?«

»Ihr Wagen! Sie haben mich eingeparkt.«

»Du meine Güte, heute läufts wohl wie am Schnürchen.«

Juliane öffnete die Heckklappe und setzte den Welpen in eine Gitterbox. Dann sah sie kopfschüttelnd an sich he­runter. »Ich muss zuerst nach Hause und mich umziehen.«

»Sie sollten keine Zeit verlieren. Ziehen Sie die Jacke an!«

Eilig wechselte Juliane die verschmutzte Bluse gegen die leichte Strickjacke, die Norma auf der Rückbank des SUV entdeckt hatte, und bat Norma, der sowieso nichts anderes übrig blieb, eine Sekunde zu warten.

Juliane lehnte sich durch die Fahrertür in den Wagen und drehte sich mit einer Visitenkarte in der Hand wieder zu Norma. »Kommen Sie in meinen Kosmetiksalon. Maniküre, Pediküre, Waxing, Sugaring, ganz wie Sie möchten. Als Wiedergutmachung für die Umstände zum Spezialpreis.«

Norma fand eine Sonderbehandlung in Sachen Waxing und Sugaring wenig verlockend, nahm die Karte aber der Höflichkeit halber entgegen. Mit schnurrendem Motor rollte der SUV wenig später los.

6. Kapitel

Bruce.

Sobald Sandro Alandt an ihn dachte – und das tat er in diesen Tagen sehr oft –, griffen die Hände wie ferngesteuert an die eigene Kehle, fuhren unter den Schal und tasteten über die buckligen Narbenwülste, die nicht mehr schmerzten; er hätte nicht sagen können, seit wann. Doch die Angst war geblieben. Und gewachsen. Die Panik, bei lebendigem Leib zerrissen zu werden, schnürte seinen Brustkorb zusammen und legte sich wie ein bleischweres Tuch über seinen Körper. Vielleicht hätte er damals die Attacke verhindern können, hätte er sich gewehrt. Aber er war wie gelähmt gewesen. Wie eingefroren. Wie in Todesstarre auf den Boden getackert, nachdem die Wucht des Angriffs ihn zu Fall gebracht hatte.

Sein Versagen. Der Gedanke an seine Hilflosigkeit, an dieses Ausgeliefertsein trieb ihm die Schamröte ins Gesicht. Und jetzt könnte ausgerechnet Bruce die Lösung sein? Die Lösung seines Problems. Seines Problems namens Rainald. Sein Schwager Rainald.

Nachdem Plan A, ebenso spontan wie dilettantisch umgesetzt, komplett danebengegangen war, wurde es Zeit, über Plan B nachzudenken.

B wie Bruce.

7. Kapitel

Norma brachte die Einkäufe im Gemüsekühlfach und den Riesling – ungewohnter Luxus – im durchdesignten Weinkühlschrank unter und begab sich mit einer skurrilen Detektivgeschichte, einer Buchempfehlung von Timon, auf den Balkon. Sie blendete alle Geräusche der Straße aus und vertiefte sich in die Kapitel. So verstrich die Mittagszeit wie im Flug. Als Norma ohnehin gerade eine Lesepause einlegen wollte, meldete das Mobiltelefon einen unbekannten Anrufer. Sie nahm das Gespräch an.

»Juliane Sahling hier!« Die Stimme klang verweint und zugleich von hilflosem Zorn erfüllt.

Norma ahnte, was passiert war. »Ist was mit Luca?«

»Er ist gestorben. Der Tierarzt konnte ihm nicht mehr helfen. Der arme Kleine … Ich habe auf Ihrer Karte gelesen, dass Sie Privatdetektivin sind. Können wir uns treffen? Heute Nachmittag?« Sie schlug ein zentral gelegenes Café in einer Einkaufspassage der Wilhelmstraße vor.

Um 15 Uhr machte Norma sich auf. Das Übergangsdomizil im äußeren Westend bot als praktischen Vorteil kurze Fußwege in die Stadtmitte. Sie verlangsamte ihre Schritte, damit sie nicht in der prallen Sonne ins Schwitzen geriet, und spazierte gemächlich entlang der Bleichstraße, die den stark befahrenen Ersten Ring kreuzte und sich danach zunehmend mit lebendiger Betriebsamkeit füllte. Internationale Supermärkte und kleine Kioske wechselten sich mit Telefonshops, Schnellimbissen und bunten Läden aller Art ab. Jenseits der Schwalbacher Straße, über die sich die Autokolonnen in jeder Fahrtrichtung mehrspurig voranschoben, begann die Fußgängerzone. Zwischen den Geschäften und Kaufhäusern staute sich die Nachmittagshitze. Die Cafétische auf dem Mauritiusplatz waren eng besetzt. Wie gern hätte Norma es den Kindern nachgemacht, die sich in der Nähe barfuß und mit vergnüglichem Quietschen in Wasserfontänen stürzten, die in Vierergruppen aus sieben schwarzen Steinquadern emporsprudelten. Vor dem Stadtschloss, dem Sitz des Hessischen Landtags, versperrte ein Übertragungswagen des Hessischen Rundfunks die Sicht auf das Neue Rathaus. Norma entging knapp einer Reporterin, die mit Kamerafrau und Tonmann im Schlepptau Passanten abfing und wirkungsvolle Strategien gegen den Hitzekoller erfragte. Norma zog nichts vor die Kamera, und sie entschwand flotten Schrittes zum Dern’schen Gelände, wo die Marktbeschicker damit beschäftigt waren, die letzten Stände abzubauen.

Als sie das Café in der Passage gefunden hatte und durch die Scheiben spähte, winkte Juliane ihr von innen zu. Der kleine Raum empfing seine Gäste mit erfrischender Kühle. Sichtlich angespannt saß Juliane auf der Bank am hintersten Tisch und hatte die geräumige Handtasche und den sorgsam zusammengefalteten Blazer neben sich ausgebreitet. Wer in aller Welt brauchte bei dieser Affenhitze einen Blazer?, fragte sich Norma, die eine Caprihose und ein schlichtes Top trug und sich vor dem Losgehen rasch die Lippen nachgezogen hatte. Julianes Gesicht dagegen war bis ins Detail professionell aufgehübscht. Wie man eine solche Perfektion bei diesen Temperaturen aufrechterhalten konnte, war Norma ein Rätsel.

»Gegen Kummer hilft Süßes«, erklärte Juliane mit einem gequälten Lächeln und schob Norma die Speisekarte zu.

Norma bestellte eine Waffel zum Cappuccino. Luca sei beim Tierarzt gestorben, berichtete Juliane stockend, und damit der Todesspritze zuvorgekommen. Ihm sei nicht mehr zu helfen gewesen.

Die Bedienung brachte Tee und Kaffee an den Tisch. Als sie sich abgewandt hatte, kam Norma auf den Punkt. »Warum wollen Sie mich sprechen, Frau Sahling?«

»Heute Vormittag war ich wie vor den Kopf geschlagen. Sie haben mich so freundlich unterstützt. Dafür möchte ich Ihnen danken.«

Nicht der Rede wert, entgegnete Norma. »Es tut mir leid, dass Sie den Hund verloren haben. Darf ich fragen, warum Sie Luca in diesem Zustand überhaupt zu sich genommen haben? Tat er Ihnen leid?«

Bedächtig hob Juliane das Tee-Ei aus dem Glasbecher vor sich und schwenkte es über der Untertasse. »Für Mitleid bestand kein Anlass. Der kleine Luca war putzmunter, als ich ihn abgeholt habe. Ein bisschen schüchtern, aber mopsfidel.«

»War Luca Ihr allererster Hund?«

Juliane nickte stumm, und Norma fügte die Frage an: »Warum wollten Sie überhaupt einen Hund haben?«

Juliane legte die Hände auf die Tischkante und entgegnete verwundert: »Wie meinen Sie das?«

»Wenn Sie bisher keinen Hund hatten, warum ausgerechnet jetzt?«, hakte Norma nach. »Und warum ein Italienisches Windspiel?«

»Na, das sind so elegante, wunderschöne Tiere. Nicht diese Wischmopps wie andere kleine Rassen, wenn Sie wissen, was ich meine. Mein Studio wurde renoviert, komplett im italienischen Stil. Terrakotta, Statuen und alles, was dazugehört. Ein Detail fehlte, ein außergewöhnliches Accessoire. Ich kam zu dem Schluss, ein Italienisches Windspiel würde wunderbar hineinpassen.« Beflissen fügte sie hinzu: »Für Kundinnen und Kunden mit Allergien habe ich selbstverständlich gesonderte Räume. Falls Sie deswegen so skeptisch gucken, Frau Tann.«

»Mir ging das Wohl des Hundes durch den Kopf«, antwortete Norma irritiert. »Ist das fair? Der Hund als Einrichtungsbonbon?«

»Bonbon, na, hören Sie!«, empörte sich Juliane. »Ich wollte dem Hund nur das Beste bieten. Spaziergänge, Hundeschule, Fellpflege und das alles. Luca war kaum vier Tage bei mir, und sein Tod hat mir das Herz gebrochen. Meinen Hund würde ich lieben wie ein Kind. Das müssen Sie mir glauben!«