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Klaus-Rainer Martin

Meine Tätigkeiten im Rentenalter

Erinnerungen an die Jahre 1999 bis 2017





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Anstelle eines Vorwortes

 

Meine Tätigkeit beim Evangelischen Erziehungsverband (EREV)

 

Am 1. Januar 1997 trat ich mit über 58 Jahren nach über 31 Jahren Tätigkeit als Heimleiter des „Hauses Sonnenschein, Heilpädagogische Einrichtung für Kinder und Jugendliche in Reinfeld in Holstein“, welche zum 31. Dezember 1996 geschlossen wurde, beim EREV den Dienst als Referent an. Der Evangelische Erziehungsverband, in der Weimarer Republik als „Evangelischer Reichs-Erziehungsverband (EREV)“ gegründet, ist der Fachverband für Jugendhilfe des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und hat seinen Sitz in Hannover. Dort stellte mir der EREV auch ein bescheidenes Zimmerchen zur Verfügung, in welchem ich in der Woche wohnte. Ich fuhr nur an den Wochenenden nach Hause in das ca. 200 Kilometer entfernte Klein Wesenberg in Schleswig-Holstein.

 

Über meine zweieinhalbjährige Tätigkeit beim EREV wäre viel zu berichten. Dennoch möchte ich mich auf einige mir wesentlich erscheinende Fakten beschränken.

 

Bei meinem Dienstantritt standen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geschäftsstelle mitten in den Vorbereitungen des im April 1997 stattfindenden Bundesfachkongresses in Bremen, zu welchem etwa 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwartet wurden. Er sollte unter dem Thema stehen „Leistung und Qualität in der Jugendhilfe“. Thematischer Mittelpunkt sollten die Ergebnisse des durch das Bundesfamilienministerium geförderten Forschungsprojektes „Untersuchung zum Erfolg von stationären und teilstationären Hilfen zur Erziehung“ (Jugendhilfeleistungen = JULE) sein. Federführung für dieses von der Universität Tübingen unter Leitung von Prof. Dr. Hans Thiersch durchgeführten Projektes hatte der EREV. Durch meine vielfachen Erfahrungen bei der Organisation und Durchführung von Tagungen der Berufs- und Fachverbände konnte ich mich schnell einarbeiten und manche inhaltliche wie organisatorische Aufgabe übernehmen.

 

In den darauffolgenden zwei Jahren wurden unter meiner Mitwirkung mehrere Veranstaltungen durchgeführt, in welchen Einzelaspekte dieses Forschungsprojektes, wie z.B. Umgang mit sexueller Kindesmisshandlung, Gewaltprävention oder Arbeit mit Mädchen in der Jugendhilfe vorgestellt wurden.

 

Während des Bundesfachkongresses in Bremen wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, welche Vorschläge für die Neufassung des § 77 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG), der die Finanzierung von Jugendhilfeleistungen regelt, erarbeiten sollte. Ich erhielt den Auftrag, die Federführung für diese Arbeitsgruppe zu übernehmen. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe wurden in der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes positiv aufgenommen und fanden ihren Niederschlag im novellierten KJHG. Durch die mit der Gesetzesnovelle geforderte Leistungsbeschreibung (§ 78c) kam auf den EREV die Aufgabe zu, den Mitgliedseinrichtungen Material zur Erstellung von Leistungsbeschreibungen zur Verfügung zu stellen. Hier war ich erneut gefordert.

 

In Bremen wurde eine weitere Idee geboren. Die Vokabeln Qualität, Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung hielten ihren unaufhaltsamen Einzug in die Einrichtungen der Jugendhilfe. Mit diesen Vokabeln war die Frage nach Zertifizierung oder der Schaffung eines eigenen Qualitätssiegels verbunden. Auch hier sollte ein Forschungsprojekt Antworten auf die vielfältigen Fragen geben. Ich erhielt den Auftrag, eine Projektskizze für ein solches Forschungsprojekt zu erarbeiten und gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Fachausschusses für Personal- und Organisationsentwicklung Karl-Heinz Filthut, Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung in Bad Bentheim dem für die Bewilligung solcher Forschungsprojekte im Bundesfamilienministerium zuständigen Ministerialrat Wennemar Scherrer vorzutragen. Wir hatten mit unserem Anliegen Erfolg. Das Bundesfamilienministerium bewilligte ein über zwei Jahre laufendes Forschungsprojekt. Projektleiter wurde Peter Gerull aus Hessisch Oldendorf, der in diesen zwei Jahren durch mehrere Veröffentlichungen auf das Projekt aufmerksam gemacht und ein praktikables Selbstbewertungssystem für Einrichtungen der Jugendhilfe entwickelt hat. Außerdem wurden unter meiner Mitwirkung mehrere Veranstaltungen durchgeführt, in welchen dieses Selbstbewertungssystem vorgestellt wurde. – Ergebnis des Forschungsprojektes ist kurz gesagt: Nicht eine Zertifizierung durch betriebs- und fachfremde „Auditoren“, sondern eine Selbstevaluation (Selbstbewertung) nach einem standardisierten Bewertungssystem ist für die Einrichtungen der Jugendhilfe hilfreich.

 

Breiten Raum nahm in meiner Referententätigkeit beim EREV die Erstellung der Fortbildungsprogramme 1998, 1999 und 2000 und die Begleitung der laufenden Fortbildungsveranstaltungen sowie die Begleitung der satzungsgemäßen Organe (Vorstand, Fachbeirat), der Fachausschüsse (für Jugendhilfepolitik, für Personal- und Organisationsentwicklung, für Pädagogik) und der Arbeitsgemeinschaften (Betreutes Wohnen und flexible Hilfeformen, Schulische Bildung und Erziehungshilfen, Berufliche Bildung und Jugendhilfe) ein. Hierbei fand ich durch die Mitarbeiterin Petra Wittschorek große Unterstützung. Die Begleitung der Fortbildungsveranstaltungen und der Gremien war mit vielen Reisen quer durch Deutschland verbunden. Fast jede Woche musste ich für etwa zwei Tage auf Reise nach Stuttgart, Bonn, Berlin, Meißen, Kassel, Fulda, Würzburg oder sonst wohin gehen. Meist fuhr ich mit der Bahn. Nur wenn ich viel Material mitnehmen musste, charterte ich mir einen Mietwagen.

 

Auch die Mitarbeit in der Redaktion der Fachzeitschrift „Evangelische Jugendhilfe“ und der „EREV-Schriftenreihe“ gehörte zu meinen Aufgaben. So galt es, rechtzeitig für die nächste Ausgabe der Fachzeitschrift Autoren zu gewinnen. Die inhaltliche Gestaltung mehrerer Hefte der „EREV-Schriftenreihe“ lag in meiner Verantwortung. Immer herrschte unmittelbar vor der Abgabe der Manuskripte an die Druckerei und dem anschließenden Korrekturlesen der „Druckfahnen“ in der Geschäftsstelle große Hektik.

 

Durch meine Tätigkeit beim EREV kam ich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus nahezu allen 450 evangelischen Einrichtungen der Jugendhilfe in Deutschland und den meisten Fortbildungseinrichtungen in Kontakt, lernte manche Einrichtung kennen und habe bei etlichen Veranstaltungen anderer Verbände mit einem Buch- und Informationsstand die Arbeit des EREV repräsentiert.

 

Bei allem war ich mir stets sicher, die hohen Erwartungen des Geschäftsführers Hans Bauer und der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der einzelnen Gremiumssitzungen bzw. Fortbildungsveranstaltungen erfüllen zu können. Die Wertschätzung und Anerkennung, die mir dabei zuteil wurde, brachten mir meine Gelassenheit, welche ich in den Jahren 1995 und 1996 im Haus Sonnenschein in Reinfeld eingebüßt hatte, wieder zurück. – Und dank der beiden Mitarbeiterinnen Elvira Hansen und Gudrun Baake-Holz in der EREV-Geschäftsstelle konnte ich zudem mein Fachwissen und auch mein Können im Umgang mit dem PC erweitern.

 

Abschließender Höhepunkt meiner Tätigkeit beim EREV war die Teilnahme an der Vorbereitung und Durchführung der Bundesfachtagung des EREV in Heidelberg im April 1999 zum Thema „Europäisierung und sozialräumliches Handeln – Jugendhilfe in Europa“ mit mehr als 600 Teilnehmern und einem Tagungsablauf mit 3 Referaten, 4 Podiumsgesprächen und 7 Arbeitsgruppen und einer großen Ausstellung im Foyer der Stadthalle. Ein besonderes Highlight war am 20. April 1999 der Abend der Begegnung auf einem Neckarschiff. – Zur Vorbereitung dieser Bundesfachtagung hatte ich 1998 mehrmals nach Heidelberg reisen müssen.

 

Als ich meine Tätigkeit als Referent beim EREV drei Wochen vor meinem 61. Geburtstag zum 6. Juli 1999 beenden musste, weil meine vom Bundesfamilienministerium geförderte Stelle dem Rotstift zum Opfer gefallen war, habe ich schweren Herzens Abschied genommen, denn diese Aufgabe hat mich von der ersten bis zur letzten Stunde voll gefordert und befriedigt. Zugleich war mir bewusst, dass ein totales Ende meiner beruflichen Tätigkeit zum 31. Dezember 1996 ungleich schwerer gewesen wäre. Dennoch überkam mich die Frage: „Soll das schon alles gewesen sein?“ Deshalb stand mein Entschluss fest: Ich werde mir viele Beschäftigungen suchen.

 

Arbeitsrechtlich war die Beendigung meines Beschäftigungsverhältnisses kein Problem und vor allem war sie mit keinen finanziellen Einbußen verbunden. Zur damaligen Zeit war es noch möglich, dass man, wenn man als über Sechzigjähriger arbeitslos wurde, man nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ohne finanzielle Abzüge in Rente gehen konnte.