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Über dieses Buch

Im Denali Nationalpark wird ein kleiner Husky geboren, der Julie Wilson sofort verzaubert. Doch das Glück währt nicht lange: Als Julie mit ihrem Hundeschlitten auf einer Inspektionstour im Hinterland ist, kollabiert einer ihrer Hunde und ist dem Tode nahe. Der Tierarzt findet heraus, dass der Husky vergiftet wurde. Wer hat das Tier auf dem Gewissen? Bei einem Ausflug nach Fairbanks nimmt der Fall eine unerwartete Wendung: Julie merkt, dass sie von einem jungen Mann verfolgt wird, einem Stalker, der ihr zu Beginn freundlich begegnet, ihr dann aber immer unangenehmer wird. Als dieser den jungen Husky in die Bergwildnis am Mount McKinley entführt, wird die Situation immer dramatischer …

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Danksagung

1

Julie feuerte ihre Hunde mit lauten Zurufen an. Beinahe wütend rief sie: »Schneller, Chuck! Verdammt, könnt ihr denn nicht schneller laufen?«, als ginge es um Leben oder Tod. Sie lenkte die Hunde über die Park Road nach Westen, sprang alle paar Schritte mit Tränen in den Augen von den Kufen und schob den Schlitten an, wütend auf sich selbst und unsagbar traurig, den Tag auf diese Weise begonnen zu haben.

Wie fast immer, wenn sie von Schmerz oder Wut übermannt wurde, reagierte sie sich auf ihrem Hundeschlitten ab, fuhr so schnell, dass der Fahrtwind an ihrer Kleidung zerrte, und hoffte darauf, dass die eisige Kälte ihre Tränen vertrieb und sie zur Vernunft brachte. Weder die Dunkelheit, die im Februar bereits am frühen Nachmittag über der Alaska Range hing, noch die Einsamkeit im Denali National Park hinderte sie daran, die Hunde immer schneller anzutreiben und so rasant in die weiten Kurven zu gehen, dass sie von Glück sagen konnte, nicht in den Tiefschnee geschleudert zu werden.

Erst am Savage River, ungefähr zehn Meilen westlich der Park Headquarters, hielt sie an. Sie lehnte sich mit beiden Unterarmen auf die Haltestange und weinte leise, rieb sich aber rasch die Tränen vom Gesicht, als sie einen Ranger zwischen den Bäumen hervortreten sah. Paul Short, besser bekannt als Shorty, obwohl er zu den größten Rangern der Truppe gehörte, war seit einigen Tagen mit Reparaturen auf dem einsamen Campground am Savage River beschäftigt und anscheinend froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

»Hey, Julie«, begrüßte er sie. »Wieder mal auf Patrouille?«

»Hallo, Shorty. Die Hunde brauchen Bewegung.«

»Mit deinen Huskys bist du ein Herz und eine Seele, was?« Es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage. »Ich hab noch keinen Ranger gesehen, der so gut mit Hunden kann. Auf so eine Spezialistin kann der Park Service nicht verzichten. Ich bin ziemlich sicher, du bekommst die feste Anstellung.«

Diese Hoffnung hatte Julie auch. Im November hatte sie als Praktikantin im Denali National Park angefangen, mit der Hoffnung, im Frühjahr als Park Ranger übernommen zu werden. Ihre Chancen standen nicht schlecht, wie sie glaubte. Sie hatte mehrmals ein Lob vom Superintendent bekommen und war an einigen Rettungsaktionen beteiligt gewesen. Dagegen standen die roten Zahlen des National Park Service. Die Regierung besaß eigentlich nicht genügend Geld, um neue Planstellen zu schaffen. Es hing alles von der Überzeugungskraft von Superintendent John W. Green ab, dem langjährigen Chef des Nationalparks. Wenn er der Regierung glaubhaft machen konnte, dass sie unentbehrlich für Denali war, würde sie den festen Posten auch bekommen.

»Mal sehen«, sagte sie. Sie hoffte, dass Shorty ihre roten Augen nicht sah. »Wie kommst du auf dem Campground voran? Stehen die neuen Hütten schon?«

»Bis zum Wochenende bin ich fertig.« Er ahnte wohl, dass sie nur gefragt hatte, um irgendetwas zu sagen, und blickte sie nachdenklich an. »Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so … so nachdenklich. Du hast doch keinen Kummer?«

»Nein, alles okay.« Julie blickte an ihrem Kollegen vorbei. »Ich muss los, Shorty.«

Sie verabschiedete sich von dem Ranger und stieg wieder auf die Kufen. Die Huskys wurden nervös, wenn sie zu lange stehen blieb, und warfen sich schon ungeduldig in ihre Geschirre. Das Laufen lag ihnen im Blut. »Heya! Vorwärts, Chuck! So eine geräumte Piste bekommt ihr nicht alle Tage. Lauft endlich!«

Julie hatte keine Lust, ihr Gefühlsleben vor Shorty auszubreiten, und war froh, aus seinem Blickfeld zu kommen. Sie war mit den Hunden aufgebrochen, um für ein paar Stunden allein zu sein und darüber hinwegzukommen, dass sie Josh wie einen aufdringlichen Highschool-Schüler abserviert hatte.

Bereits um sieben Uhr früh war sie aufgewacht. Der schrille Klingelton ihres Handys hatte sie aus dem Schlaf gerissen und sie war nur widerwillig drangegangen. »Ranger Wilson.« Ihre Stimme klang heiser und verschlafen.

»Hey, Julie«, antwortete die vertraute Stimme ihres Freundes. Josh war bester Stimmung und klang ausgesprochen fröhlich. »Hab ich dich geweckt?«

Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Weißt du, wie spät es ist, Josh?«

»Kurz nach sieben. Ich denke, du stehst immer so früh auf.«

»Nicht an meinem freien Tag«, erwiderte sie missmutig. »Und nicht, wenn ich am Abend vorher beim Volleyball verloren habe und bis kurz vor Mitternacht mit Freunden zusammen war.« Sie seufzte leise. »Ich bin hundemüde, Josh, also ruf gefälligst später wieder an. Am besten kurz vor Mittag, okay?«

Er überhörte ihre Bitte, tat so, als hätte sie nichts gesagt. »Ich hab heute auch frei. Wie wär’s, wenn wir uns treffen? Du könntest doch nach Fairbanks kommen; bei Luigi eine Pizza essen, mal wieder ins Kino gehen, ein bisschen in der Gegend rumfahren. Du weißt schon, mal wieder richtig abschalten.«

Im Grunde hatte er recht. Sie brauchte tatsächlich ein bisschen Abwechslung, und ein Pizzaessen mit anschließendem Kinobesuch klang gar nicht so schlecht. Doch noch viel wichtiger war es ihr, beim Superintendent und den anderen Rangern einen guten Eindruck zu machen. Für eine feste Stelle im Nationalpark wollte sie sich so richtig ins Zeug legen. »Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren«, erwiderte sie. Es hörte sich wie eine schlechte Ausrede an. »Ich muss mich ranhalten, wenn ich die feste Stelle bekommen will. Einer der Denali-Huskys hat sich den linken Vorderlauf verstaucht, und heute Nachmittag wollte ich eine Runde mit dem Schlitten drehen. Die Huskys brauchen Auslauf, das weißt du doch.«

»Aber an deinem freien Tag darfst du ja wohl auch mal deinen Spaß haben. Du willst mich einfach nicht treffen, gib’s doch zu: Du magst mich nicht mehr.«

»Unsinn!« Sie ahnte, dass sie sich aufs Glatteis begab. »Es gibt gerade nur besonders viel zu tun. Ich melde mich, wenn ich wieder Zeit habe, okay?«

»Du willst mir den Laufpass geben?«

Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, mit ihm Schluss zu machen. Es war einfach so passiert. Vielleicht, weil sie sich innerlich schon längst von ihm entfernt hatte. Ein halbes Jahr waren sie zusammen gewesen, doch gesehen hatten sie sich selten. Josh machte sein Praktikum bei den State Troopern und sie arbeitete für den National Park Service, beides Jobs, die vollen Einsatz verlangten. Die Tage, an denen sie mit Josh ausgegangen war, konnte sie an einer Hand abzählen, und so richtig romantisch war es nur ein paarmal gewesen. »Wenn du an den Richtigen kommst, sieht das ganz anders aus«, hatte ihre Freundin Brandy dazu gesagt.

»Nein, ich will nicht mit dir Schluss machen«, erwiderte sie, um gleich darauf zu sagen: »Aber ich weiß nicht, ob …« Sie suchte nach den passenden Worten. »Ob du der Richtige bist«, hatte sie eigentlich antworten wollen. Stattdessen sagte sie: »Wir sollten uns eine Auszeit nehmen, Josh.« Auszeit, eigentlich ein Wort, das auf ihrer privaten schwarzen Liste stand, aber was hätte sie sonst sagen sollen? »Im Augenblick passt es einfach nicht, Josh.«

»Also doch«, sagte er.

»Tut mir leid.«

Ihre Antwort hatte auch Carol Schneider mitbekommen, die erfahrene Rangerin, mit der sie ihr Blockhaus teilte. »Josh?«, fragte sie nur und nickte verständnisvoll, als hätte sie schon lange gewusst, dass es so kommen würde.

»Hab ich wirklich mit ihm Schluss gemacht?«

»Das war doch nur eine Frage der Zeit«, sagte Carol. Sie war sieben Jahre älter als Julie und hatte selbst erfahren, wie schwer es war, in einem anspruchsvollen Job zu arbeiten und gleichzeitig eine Beziehung zu beginnen. »Josh ist ein netter Kerl, aber er war wohl nicht der Richtige für dich, sonst hättest du anders reagiert. Du wirst schon darüber hinwegkommen. Und wer weiß? Vielleicht taucht schon bald dein Mr. Perfect auf.«

»Und warum fühle ich mich dann so mies?«

»Das vergeht wieder«, erwiderte Carol, während sie Kaffee aufsetzte. »Es fühlt sich nie gut an, einen Freund zu verlassen und … na ja, für einen selbstbewussten Typen wie Josh ist es ziemlich schwer, eine Trennung zu akzeptieren.« Sie holte zwei Becher aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Jetzt klinge ich schon wie deine Mutter, was?«

»Keine Ahnung. Meine Mutter lebt in Kalifornien und wir sprechen nicht so oft über Liebesangelegenheiten.«, hatte sie Carol schulterzuckend geantwortet.

Julie fuhr weiter bis zum Sanctuary River und trieb die Huskys auf den zugefrorenen Fluss. Es hatte über Nacht geschneit, und eine dünne Schneeschicht bedeckte das feste Eis. Wie übergroße Skelette ragten die entlaubten Birken und Espen am Ufer aus dem Schnee. Am östlichen Himmel zog arktisches Zwielicht herauf, die einzige Helligkeit, die man in diesen Breiten an einem Wintertag zu sehen bekam. Die Gipfel der nahen Berge leuchteten in einem zarten Rosa. Wie ein steinerner Riese ragte der Kegel des mächtigen Mount McKinley empor.

An einer windgeschützten Biegung hielt sie den Schlitten an. Sie rammte den Holzpflock, der als Anker diente, zwischen zwei Eisbrocken am Ufer und ließ ihren Blick über das verschneite Land schweifen. Sie mochte den Winter. Auch wenn es manchmal empfindlich kalt wurde und es vor allem am Denali heftige Stürme gab. Wenn die Flüsse und Seen zufroren und eine feste Schneedecke den Boden bedeckte, strahlte das Land selbst in den dichter besiedelten Gegenden eine ungewöhnliche Ruhe aus und schien im düsteren arktischen Dämmerlicht wie ein geheimnisvolles Reich aus einem Märchen oder Fantasyroman. Julie mochte diesen Zauber und genoss ihn auch jetzt, beobachtete staunend, wie sich die verschneiten Gipfel der Berge immer stärker verfärbten und diese wie stumme Vulkane am Horizont leuchteten.

Aus der Besorgnis, vielleicht falsch gehandelt und ihrem Freund unnötig wehgetan zu haben, wurde in dieser Abgeschiedenheit zunehmend Erleichterung. Wie eine schwere Last fiel die Sorge um ihre Beziehung von ihr ab und ließ sie die eisig kalte Luft befreit einatmen. Das beste Zeichen dafür, wie notwendig ihre Aussprache mit Josh gewesen war. Sie konnte sogar schon wieder lächeln und fand es an der Zeit, sich endlich um ihre Huskys zu kümmern, die sie beim überhasteten Einspannen sträflich vernachlässigt hatte.

»Ich weiß, ich hätte euch schon früher richtig begrüßen sollen«, sagte sie zu den Hunden, die ungeduldig darauf warteten, dass es endlich weiterging. Sie beugte sich zu ihrem Leithund hinunter, einem kräftigen Rüden mit weißem Fleck im Gesicht, und kraulte ihn hinter den Ohren. »Aber ich war heute Morgen nicht besonders in Form. Manchmal läuft es einfach nicht so, wie man sich das wünscht. Ihr seid mir doch nicht böse?« Sie tätschelte Apache, der als Leithund einsprang, wenn Chuck nicht auf der Höhe war, den starken Bronco und Curly, der an seinen weißen Ohren leicht zu erkennen war und sich immer noch wie ein Lausbub benahm. Gegen ihn wirkten Blacky und Nanuk beinahe wie ältere Herren, obwohl sie es mit jedem anderen Husky im Gespann aufnehmen konnten. »Zu Hause gibt’s was Anständiges zu fressen, großes Ehrenwort.«

Aus der Ferne drang leises Motorengeräusch über den Fluss. Ein nerviges Brummen, ungefähr fünf Meilen entfernt, wie sie inzwischen abzuschätzen wusste. Sie griff nach ihrem Funkgerät, das sie aus Sicherheitsgründen auch auf Privatfahrten mit sich führte, und rief Greg Erhart, den Chef der Polizeitruppe. Der Law Enforcement Ranger meldete sich sofort. »Ranger Erhart.«

»Ranger Wilson. Ich bin mit dem Hundeschlitten am Sanctuary River, ungefähr eine Meile südlich der Park Road. Ich höre ein Motorengeräusch, wahrscheinlich ein Snowmobil. Kommt aus westlicher Richtung. Was soll ich tun?« Das Fahren mit Snowmobilen war im Nationalpark streng verboten.

»Sehen Sie nach«, sagte Erhart. »Sicher nur ein dummer Junge, der sich auf unseren Trails austoben will. Nehmen Sie seine Personalien auf und lassen Sie ihn laufen. Ich kümmere mich um ihn. Aber seien Sie vorsichtig. Sagen Sie Bescheid, falls es sich um einen Erwachsenen handelt und er ein Gewehr dabeihat. Könnte sein, dass wir es mit einem Wilderer zu tun haben.«

»Aye, Sir. Wird gemacht.«

Julie stieg auf die Kufen und trieb die Hunde an. Sie witterten den Fremden anscheinend schon und hatten die Ohren aufgestellt. An einer flachen Stelle lenkte sie das Gespann ans Ufer und kämpfte sich durch den knietiefen Schnee. Sie musste sogar die Schneeschuhe anschnallen, um nicht einzusinken und den Weg für die Hunde ebnen zu können. Dies war die anstrengendste Aufgabe, wenn man mit einem Hundeschlitten unterwegs war: sich über einen verschneiten Hang ohne Trail und festen Grund vorwärtszukämpfen.

Auf einem lang gestreckten Hügelkamm, den der böige Wind glatt gefegt hatte, und wo der Schnee gerade mal knöcheltief lag, konnte sie die Schneeschuhe wieder abschnallen. Sie verstaute sie in dem wasserdichten Schlittenbeutel unter der Haltestange und fuhr weiter. Über den vereisten Hügelkamm lenkte sie den Schlitten auf den dunklen Waldrand zu, der noch ungefähr eine halbe Meile von ihr entfernt lag. Sie stand mit einem Fuß auf den Kufen und versuchte mit dem anderen, die schlingernden Bewegungen des Schlittens auf dem eisigen Schnee auszugleichen. Es war so glatt, dass selbst die Huskys öfter den Halt verloren und auf dem Bauch landeten.

Am Waldrand ließ sie die Hunde für einen Moment halten. Sie befahl ihnen, so leise wie möglich zu sein, und lauschte angestrengt in das arktische Zwielicht hinein. Das Motorengeräusch des Snowmobils war immer noch zu hören, allerdings so weit entfernt, dass es sofort verstummte, wenn der Wind auffrischte und in den Fichten rauschte. »Weiter!«, rief sie den Hunden zu. »Das ist bestimmt einer dieser Idioten, die sich mit Shorty angelegt haben.« Erst vor knapp zwei Wochen war ein junger Mann aus Cantwell auf seinem Snowmobil über den Campground am Savage River gerast und hatte Ranger Short wütend beschimpft, als der ihn zurechtgewiesen und aus dem Park vertrieben hatte.

Auch in dem lichten Wald lag der Schnee nur knöcheltief, und sie kam schnell voran. Auf Kommandos konnte sie ganz verzichten. Chuck fand beinahe instinktiv durch das natürliche Labyrinth, und der Schnee reflektierte genug Helligkeit, um ihnen den Weg zu weisen. Sie erinnerte sich noch an ein Märchen, das sie als kleines Mädchen gehört hatte. In der Geschichte hatte die Sonne während des farbenprächtigen Indianersommers einige ihrer Strahlen verloren, genug Helligkeit, um den Menschen im Winter den Weg zu zeigen und das flackernde Nordlicht an den Himmel zu zaubern.

Sie blieb in dem Wald, der sich über zahlreiche Hügel erstreckte und ihr auf den Steigungen alles abverlangte. »Nicht nachlassen, Chuck!«, rief sie ihrem Leithund zu. »Curly! Sieh zu, dass du nicht zurückfällst! Blacky, Nanuk, so ist es recht, immer schön gleichmäßig!« Sie selbst stieg auf den Steigungen von den Kufen und schob den Schlitten an, half den Hunden, den Hügelkamm zu erklimmen, und legte oben jedes Mal eine kurze Pause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. »Da haben wir uns wieder was eingebrockt«, stöhnte sie.

Nach ungefähr zwei Meilen stieß sie auf einen Jagdtrail, den die Indianer schon vor einigen Hundert Jahren benutzt hatten. Er zog sich in zahlreichen Windungen in ein schmales Tal hinab, das durch einen Nebenfluss des Sanctuary River gebildet wurde. Sie fuhr in die Nebelschwaden, die über dem Eis hingen, und bremste mit einem lauten »Whoaa!« ihr Gespann, als sie die Abdrücke am Flussufer bemerkte. Eine breite Spur, die in den Jagdtrail mündete und ihm weiter nach Südwesten folgte. Ein Snowmobil, das ungefähr vor einer Stunde auf den Trail gefahren sein musste, so frisch sahen die Abdrücke aus.

»Weiter«, rief Julie und folgte dem Snowmobil. Mit seinem breiten Antriebsband hatte das Gefährt den Schnee platt gedrückt und den Trail so präpariert, dass sie wesentlich zügiger vorankam. Die Spur führte durch den lichten Wald am Flussufer, bog dann mit dem Trail nach Süden ab und erklomm eine Anhöhe, von der aus man die Ausläufer des Double Mountain sehen konnte, eines fast zweitausend Meter hohen Bergriesen, dessen Gipfel in den tief hängenden Wolken kaum zu sehen war. Das Wetter hatte sich verschlechtert, die Luft roch nach Schnee, und dunkle Schatten lagen in den Tälern.

Julie hatte ein schlechtes Gefühl. Übermütige Jugendliche wie der Junge, der Shorty beschimpft hatte, wagten sich selten so weit in den Park hinein. Im Hinterland war die Gefahr, bei einem Unfall ganz auf sich allein gestellt zu sein, viel zu groß; dort gab es keine Sendemasten, und man bekam selbst mit einem sehr guten Handy keinen Empfang mehr. In diesen Regionen hielten sich eher erfahrene Männer auf, und wenn sie ein Snowmobil benutzten, dann nur, um so schnell wie möglich das Weite zu suchen und keinem Ranger zu begegnen. Rücksichtslose Wilderer, die gegen das Gesetz verstießen und innerhalb der Grenzen des Nationalparks auf die Jagd gingen, weil dort leichter an Beute zu kommen war. Die Tiere dort waren es nicht gewohnt, gejagt zu werden.

Sie war sich der großen Gefahr, in die sie sich begab, sehr bewusst und schwor sich, sofort Ranger Erhart zu alarmieren, falls sich ihr Verdacht bestätigte. Einen Wilderer in die Enge zu treiben und zu verhaften, war viel zu gefährlich, auch wenn in ihrem Schlittensack ein Revolver steckte. Ein Smith & Wesson, der eigentlich nur dafür gedacht war, sich bei einem Überraschungsangriff gegen einen aufgebrachten Grizzly oder einen Elch zu wehren. Sie wäre nie in der Lage gewesen, auf einen Menschen zu schießen, und hatte sich deshalb auch nicht für die Polizeitruppe gemeldet. Law Enforcement war nichts für sie. Sie wollte sich auch als feste Rangerin um die Huskys kümmern, auf Patrouille gehen und an wissenschaftlichen Projekten mitarbeiten.

Sie lenkte die Huskys den Hang hinab und hielt überrascht den Schlitten an, als sie die plötzliche Unruhe ihres Gespanns bemerkte. Die Hunde witterten etwas, wirkten verstört und wären wohl sofort umgekehrt, wenn Julie nicht den Schlitten verankert hätte. Auch sie musste sich zwingen, nicht den Schlitten zu wenden und auf den Hügelkamm zurückzufahren. Die Gefahr, in die sie sich begeben hatte, war beinahe körperlich zu spüren. Hier stimmte etwas nicht. Der Schnee war aufgewühlt, als hätte der Fremde so plötzlich die Bremse betätigt, dass sich sein Snowmobil im Kreis gedreht hatte, und zwischen den Bäumen waren noch seine Fußspuren zu sehen. »Ganz ruhig«, beschwichtigte sie die Hunde, »er ist weg, sonst wäre sein Snowmobil noch hier.«

Sie folgte den Fußspuren durch den Wald und blieb abrupt am Rand einer Lichtung stehen, als sie einen toten Elch im Schnee liegen sah. Unter dem Kadaver war literweise Blut in den Schnee gesickert. Sie näherte sich dem toten Tier und fand keine Schusswunde, brauchte eine ganze Weile, um die Einschusslöcher von drei Pfeilen zu finden. Der Wilderer hatte den Elch mit Pfeil und Bogen gejagt, um sich nicht mit einem Schuss zu verraten, und war außerdem noch so schlau gewesen, die Pfeile mitzunehmen. Viele Jäger konnten mit Pfeil und Bogen umgehen, jagten während der Saison auch deshalb wie früher, um die Chancengleichheit zu erhöhen und die Jagd sportlicher zu gestalten. Nur hatten sich die Waffen in der Zwischenzeit weiterentwickelt und moderne Ausrüstung und Carbonpfeile erleichterten den Jägern die traditionelle Bogenjagd. Dieser Wilderer hatte aber aus purer Berechnung gehandelt und mit dem Bogen gejagt, um unentdeckt zu bleiben. Er hatte nur die besten Fleischstücke herausgeschnitten und war sicher längst über alle Berge.

Sie starrte eine Weile auf die blutigen Überreste des Elchs und griff nach dem Funkgerät. »Ranger Erhart? Ranger Wilson hier. Es war ein Wilderer.«

2

Während der Rückfahrt begann es zu schneien. Die dunklen Wolken stauten sich an den Berghängen, und dicke Flocken trieben mit dem Wind über den Trail. Sie hatte die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf gezogen und kniff die Augen gegen das Schneetreiben zusammen. Weder ihr noch den Huskys machte der Schnee etwas aus, sie waren dieses Wetter seit Langem gewohnt.

Ranger Erhart hatte ihr befohlen, so schnell wie möglich zu den Park Headquarters zurückzukommen. Seine Polizeitruppe würde sich um den Wilderer kümmern. Solange es sich nicht um Gewaltverbrechen wie Mord und Entführung handelte, besaß er die gleiche Entscheidungsgewalt wie die Alaska State Trooper und war nicht auf deren Hilfe angewiesen. Erst wenn sie den Wilderer festgenommen hatten, würden sie ihn den Troopern übergeben, und er würde sich vor einem ordentlichen Gericht verantworten müssen.

Die Huskys waren froh, von dem blutigen Tierkadaver fortzukommen, und liefen schneller, ohne dass Julie sie antreiben musste. Selbst im Tiefschnee kamen sie jetzt besser voran, und auf der Park Road legten sie ein solches Tempo vor, dass der Schlitten in den Kurven gefährlich zu schlingern begann. »Nicht so hitzig, Chuck«, rief Julie ihrem Leithund zu, »oder wollt ihr, dass ich mir den Hals breche? Ihr seht doch, wie glatt es hier ist. Auf der Geraden könnt ihr wieder laufen. Ja, so ist es besser. Bleib in der Spur, Curly, sonst verhedderst du dich in den Leinen.«

Sie erreichten die Park Headquarters am frühen Nachmittag. »Whoaa! Whoaa!«, befahl Julie ihrem Gespann, als sie zu den Hundezwingern abbogen. Die Huskys, die sie zurückgelassen hatten, bellten aufgeregt und schienen froh zu sein, ihre Artgenossen wiederzusehen. Skipper und die anderen Huskys des Denali-Teams hatten sich während der letzten Monate an die Neuankömmlinge gewöhnt, betrachteten sie aber noch als Eindringlinge und Konkurrenz und knurrten, vor allem Rowdy, der allerdings auch nach den Hunden seines eigenen Gespanns schnappte, wenn er schlechter Laune war.

Julie verspürte riesigen Hunger, kümmerte sich aber wie jede gute Musherin zuerst um ihre Huskys. Alles andere hätten ihr die Hunde auch niemals verziehen. Sie fütterte zuerst ihren Leithund und dann die anderen mit einem Eintopf aus Lachs und Reis, den sie mit etwas Wasser verdünnte, damit sie genug Flüssigkeit aufnahmen. Für jeden Hund hatte sie ein freundliches Wort und einen liebevollen Klaps übrig. »Ruht euch ein wenig aus«, empfahl sie ihnen, »wir haben eine anstrengende Fahrt hinter uns.« Sie hörte Rowdy wütend bellen. »Und lasst euch nicht von diesem Rüpel provozieren, okay?«

Sie grüßte einen Ranger, der gerade aus dem Verwaltungsgebäude kam, und kehrte zu ihrem Blockhaus zurück. Carol hatte gerade ihre Mittagspause beendet und war bereits in ihren Anorak geschlüpft. Sie war eine sportliche Frau mit wettergebräuntem Gesicht und trug ihre dunklen Haare zu einem Knoten gebunden. »Julie, da bist du ja endlich«, rief sie erfreut. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.« Sie zog den Reißverschluss ihres Anoraks zu. »Hier reden alle nur noch von dem Wilderer, dem du auf die Spur gekommen bist.«

Julie berichtete von ihrem Ausflug in die Ausläufer des Double Mountain. »Wenn ich schneller gefahren wäre, hätte ich ihn vielleicht noch erwischt. Das Blut war noch frisch. Der Elch war höchstens eine Stunde tot.«

»Sei froh, dass du ihm nicht begegnet bist«, erwiderte Carol. »So einem Wilderer ist alles zuzutrauen, wenn man ihn in die Enge treibt. Dafür haben wir Ranger Erhart und seine Polizeitruppe. Sie sind übrigens schon unterwegs. Zwei seiner Ranger hatten am Igloo Creek zu tun und haben sich sofort auf den Weg gemacht. Wenn wir Glück haben, fangen sie ihn.«

»Es sei denn, der Bursche kennt sich in den Bergen aus und versteckt sich irgendwo. Es schneit ziemlich heftig. Sobald der Schnee seine Spuren verdeckt, sind sie aufgeschmissen. Der Wilderer ist nicht dumm. Er hat nicht mal ein Gewehr benutzt. Er jagt mit Pfeil und Bogen … wie früher die Indianer.«

»Sie haben alle Vorkehrungen getroffen, also hoffen wir das Beste. Die Trooper wissen auch schon Bescheid. Sobald er den Nationalpark verlässt, wollen sie ihn in Empfang nehmen. Und wenn nicht, versuchen wir es bei den üblichen Verdächtigen. Hector Morrison führt uns seit Jahren an der Nase herum.« Morrison war ein ehemaliger Fallensteller, der sich inzwischen mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bei den Rangern im Nationalpark aber immer wieder unter Verdacht geriet. »Wir wissen, dass er wildert, konnten ihm aber nie etwas beweisen. Irgendwann macht er einen Fehler, dann haben wir ihn. Er weiß gar nicht, was er mit seiner Wilderei alles anrichtet, dass er das Gleichgewicht der Natur durcheinanderbringt.« Sie war bei einem ihrer Lieblingsthemen gelandet und grinste. »Ich gehe wohl besser, bevor ich wieder zu predigen beginne. Es sind noch Spaghetti übrig.«

Julie bedankte sich und zog nicht einmal ihren Anorak aus, so hungrig war sie. Obwohl die Spaghetti nur noch lauwarm waren, machte sie sich heißhungrig über das Essen her. Sie hatte bereits den Teller abgewaschen und war gerade dabei, sich einen Kaffee zu kochen, als es klopfte und ein junger Mann in Zivil vor der Tür stand. Er hieß Johnny Steele, ein fünfzehnjähriger Schüler von der Highschool in Fairbanks, der ein zweiwöchiges Praktikum im Denali National Park absolvierte und danach ein Referat über den Park halten sollte. Er war der Rangerin Elaine Smith zugeteilt, der Leiterin des Murie Science & Learning Centers, in dessen Bücherei und Archiv sich auch Julie mit dem Leben in der Arktis und den Nationalparks von Alaska vertraut gemacht hatte. Einen Tag sollte Julie mit ihm bei den Huskys verbringen und ihn auch auf einen ausgedehnten Ausflug mitnehmen, um ihm die Grundbegriffe des Mushing beizubringen. Ein Auftrag, auf den sie sich nicht besonders freute. Johnny war alles andere als freundlich zu ihr gewesen, und seine Miene verriet auch jetzt, dass er nicht freiwillig bei den Rangern war. »Der große Meister verlangt nach Ihnen«, sagte er, ohne sie zu begrüßen. Er meinte den Superintendent.

»Okay«, erwiderte sie. Noch bevor sie etwas anderes sagen konnte, war er verschwunden, und sie fragte sich wieder einmal, wie ein Highschool-Lehrer auf die Idee kommen konnte, einen Schüler wie ihn, der nicht das geringste Interesse für die Natur zu hegen schien, in einen Nationalpark zu schicken.

Vielleicht, um mich auf die Probe zu stellen, überlegte sie schmunzelnd, während sie die Hütte verließ und an der Recreation Hall mit der Turnhalle und dem Aufenthaltsraum vorbei zum Verwaltungsgebäude ging. Als »Interpretive Ranger«, wie ihre genaue Berufsbezeichnung lauten würde, falls man sie in den National Park Service übernahm, hatte sie auch die Aufgabe, mit schwierigen Urlaubern im Besucherzentrum zurechtzukommen. Wenn sie einen arroganten Burschen wie Johnny überlebte, konnte sie nichts mehr erschrecken.

Auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude stand ein fremder Van, wie sie mit einem raschen Blick bemerkte. Normalerweise wurden Urlauber und andere Gäste angehalten, vor dem Besucherzentrum zu parken, im Winter vor dem Murie Science & Learning Center. Neugierig betrat sie das Büro des Superintendent.

John W. Green war ein großer Mann mit kantigem Gesicht und buschigen Brauen. Seine Augen waren so blau wie bei den meisten Huskys, die Uniform saß wie maßgeschneidert. Bei ihm war ein älteres Ehepaar. Sowohl die Frau als auch der Mann hatten einen jungen Husky auf dem Schoß. Zwei goldige Hunde, die neugierig die Köpfe hoben und sie erwartungsvoll anblickten.

»Ah, da sind Sie ja, Ranger Wilson. Entschuldigen Sie, dass ich Sie an Ihrem freien Tag störe, aber wie ich höre, waren Sie heute sowieso schon im Einsatz.« Er deutete auf die Besucher. »Darf ich Ihnen Mr. und Mrs. Cook aus Anchorage vorstellen? Sie haben zwei junge Huskys mitgebracht und hoffen, dass sie bei uns bleiben dürfen. Das ist doch richtig, Mister Cook?«

»Ganz recht«, stimmte ihm der weißhaarige Mann zu. Er sah wie jemand aus, der viel Zeit an der frischen Luft verbrachte. »Und wir würden Ihnen für diese beiden Prachtexemplare keinen Penny berechnen. Uns geht es vor allem darum, die Huskys in guten Händen zu wissen. Ich habe bis vor einem halben Jahr als Hundezüchter gearbeitet und in einer Blockhütte in den Bergen gewohnt, aber seitdem ich eine künstliche Hüfte brauche und wir nach Anchorage gezogen sind, haben wir keinen Platz mehr für so viele Huskys und behalten nur noch Saskia, so heißt die Mutter der beiden. Die anderen Welpen haben wir einem Freund gegeben.«

»Und warum ausgerechnet wir?«, fragte Julie.

»Unser Freund kann nur vier Huskys nehmen. Er besitzt ein großes Haus am Stadtrand, aber er und seine Frau arbeiten als Steuerberater und müssen sich jetzt schon strecken, um genügend Zeit für die Hunde aufzubringen. Eine Anzeige wollen wir nicht aufgeben. Wer weiß, in welche Hände die Kleinen dann geraten. Nein, bei Ihnen wären sie am besten aufgehoben.« Sein Blick wanderte zwischen Julie und dem Superintendent hin und her. »Wir haben schon viel über Ihre Hunde gelesen und wie sehr Sie sich darum bemühen, die Besucher über Huskys zu informieren. Der Nationalpark wäre ideal für sie.« Sein Blick blieb an Julie hängen. »Sie sind die Chefin des Zwingers?«

Julie errötete leicht. »Ich helfe bei den Hunden. Die Huskys sind mein Ein und Alles, auch wenn sie nicht einfach zu halten sind. Ich hatte schon als Kind mit Huskys zu tun und besitze selbst ein Team, mit dem ich irgendwann mal das Iditarod gewinnen will.« So hieß das berühmteste Hundeschlittenrennen der Welt, das mehr als tausend Meilen von Anchorage nach Nome führt. Es war der Traum eines jeden Mushers daran teilzunehmen und weit vorn zu landen.

»Dann werden Sie die beiden mögen, Ranger.« Cook hielt ihr seinen Husky hin. »Hier … sehen Sie sich den Kleinen an. Ist er nicht ein goldiger Bursche?«

Julie blickte den Welpen an und verliebte sich sofort in ihn. In seinen Augen, obwohl blau wie Gletschereis, lag so viel Wärme, dass sie unwillkürlich zu lächeln begann. Sie streichelte vorsichtig seinen Kopf, fühlte seinen warmen Körper und sein weiches Fell. Als er leise bellend nach ihr schnappte, lachte sie nur. »Wie soll ich denn das verstehen, du kleiner Rowdy?«, beschwerte sie sich spielerisch. »Du willst doch einen guten Eindruck machen, oder etwa nicht? Wie alt bist du denn? Neun Wochen, nicht wahr?«

»Neuneinhalb«, verbesserte sein Besitzer, »und er besitzt erstklassige Papiere. Alle notwendigen Untersuchungen und Impfungen … bei ihm und bei ihr.« Er drehte sich nach dem anderen Welpen um, der sich bereits unruhig auf dem Schoß von Mrs. Cook regte. »Was meinen Sie, Ranger Wilson?«

Julie blickte ihren Chef fragend an. »Ein wunderschöner Husky, der würde bei einem Schönheitswettbewerb sicher ganz vorne landen.« Sie strich über seine kräftigen Beine und spürte seine Muskeln. »Und kräftig und ausdauernd ist er bestimmt auch. Ich bin sicher, das wird ein erstklassiger Schlittenhund.«

»Das will ich meinen«, erwiderte sein Besitzer. »Leider haben wir noch keine Namen, weder für ihn noch für seine Schwester. Meine Frau meinte, so könnten wir uns leichter von ihnen trennen. Wir hängen an den beiden.«

»Aber wir wissen auch, dass wir langsam zu alt für Huskys werden«, fügte Mrs. Cook hinzu. »Saskia schaffen wir gerade noch. Unsere Enkel haben beide versprochen, dass sie mehrmals in der Woche mit ihr auf Tour gehen werden. Die Welpen wären zu anstrengend für uns. Würden Sie uns eine Freude machen und sie aufnehmen?«

Julie blickte den Superintendent an und erntete ein zustimmendes Nicken. »Gern«, sagte sie, »das war sehr nett von Ihnen, an uns zu denken. Ich verspreche, dass wir uns gut um die beiden kümmern werden. Und passende Namen finden wir sicher auch.« Sie kraulte die junge Husky-Dame zwischen den Ohren. »Wie wär’s mit Jenny? Das würde doch zu ihr passen.«

»Jenny heißt unsere Enkelin«, warf Mister Cook begeistert ein.

»Wunderbar, dann passt der Name ja perfekt. Und der junge Gentleman …«

»Hm«, meldete sich Green, »ich hätte da einen Vorschlag. Wir hatten mal eine Inuit-Familie aus Nome hier, die nannten ihren Husky Noatak. Ein ungewöhnlicher Name, nicht wahr? Aber mir gefiel die Bedeutung. Ein Tier mit diesem Namen soll angeblich stark genug sein, sich in den Zeiten größter Not immer selbst zu versorgen. So wie der Fluss, der denselben Namen trägt und in dem es undenkbar viele Fische gibt. Der Name würde mir gefallen. Ein starker Hund, der sich in der Welt behaupten kann.«

»Noatak«, wiederholte Julie, »klingt nicht übel.«

»Dann haben wir einen Deal«, freute sich der Superintendent. »Die beiden heißen Jenny und Noatak und gehören ab sofort zu uns. Ranger Wilson, ich verlasse mich auf Sie. Ich weiß, Sie kennen sich mit der Aufzucht von Huskys aus und werden die beiden zu kräftigen Schlittenhunden erziehen. Und Sie …«, er wandte sich an das Ehepaar, »… sind uns natürlich immer willkommen. Eigentlich dürfen wir niemanden umsonst in den Park lassen, aber in besonderen Fällen machen wir gerne eine Ausnahme. Sie werden doch sicher neugierig sein, wie sich Ihre Welpen entwickeln. Vielen Dank Ihnen beiden.«

Julie nahm die beiden Welpen auf den Arm. Sofort begannen die Huskys sie abzulecken. »Na, dann bringe ich die übermütigen Kerlchen mal gleich zu ihren Kollegen in die Zwinger. Die freuen sich bestimmt über den Zuwachs.«

Doch leider war das Gegenteil der Fall. Die Huskys des Denali-Teams stimmten ein so wütendes Bellkonzert an, sogar Skipper, der ansonsten eher umgängliche Leithund, dass die Welpen in ihrem Arm ängstlich winselten und sich noch enger an sie drängten. Auch ihre eigenen Huskys waren nicht gerade erfreut. Curly zog wütend an seiner Kette, und der starke Bronco knurrte, als lauere ein Wolf in der Nähe. Nur Chuck blieb relativ gelassen.

»Wie darf ich denn das verstehen?«, rief Julie in schärferem Ton. »Ihr werdet euren neuen Freunden doch keine Angst einjagen? Ihr wart auch mal so klein und hilflos, habt ihr das schon vergessen? Also begrüßt sie gefälligst ein bisschen freundlicher. Chuck, du gehst doch sicher mit gutem Beispiel voran. Darf ich vorstellen, die junge Dame heißt Jenny, und das ist Noatak.«

Chuck winselte leise und zeigte den anderen Huskys allein durch seine Körpersprache, dass er die Welpen in seinem Rudel duldete. Was Curly zunächst aber nicht daran hinderte, mit den Huskys des Denali-Teams um die Wette zu bellen. Erst das warnende Knurren des Leithundes brachte ihn zur Besinnung. Winselnd gab er nach.

»Schon besser«, seufzte Julie erleichtert. Sie brachte die Welpen in das Welpengehege neben dem Schuppen, einem umzäunten Bereich, in dem sie frei herumlaufen konnten und sicher vor wütenden Artgenossen waren. Sie vertraute darauf, dass ihr Leithund Chuck die beiden Welpen nach einer Eingewöhnungsphase vollständig im Rudel akzeptieren würde.

»Zu fressen gibt es erst heute Abend was«, sagte sie zu ihnen. »Ich bin sicher, die Cooks haben euch ein ordentliches Frühstück serviert. Das sind keine Stadtmenschen, die freiheitsliebende Huskys wie euch in ein kleines Haus oder ein Apartment sperren, nur alle paar Tage mit ihnen rausgehen und euch ahnungslos mit Dingen füttern, die schlecht für euch sind.«

Sobald sich das Gitter hinter ihnen geschlossen hatte, rannten die Welpen los und erforschten ihr neues Zuhause. Sie wirbelten das trockene Stroh auf, untersuchten die Wolldecken, rissen mit ihren Zähnen daran und gingen spielerisch aufeinander los, als ginge es darum, die Rangordnung im Gehege zu bestimmen. Noatak erschien ihr erwachsener und stärker als Jenny, ließ schon jetzt erkennen, dass er das Zeug zu einem hervorragenden Schlittenhund hatte. Vielleicht hatte er sogar die Qualitäten, die einen echten Leithund ausmachten. Julie meinte sogar jetzt schon einige von Chucks Charakterzügen in dem Welpen zu erkennen.Huskys wuchsen schnell und ließen sich schon mit drei Jahren vor einen Schlitten spannen. Ein talentierter Hund wie Noatak eventuell ein paar Wochen früher.

»Wen haben wir denn da?«, erklang eine vertraute Stimme. »So süße Kerlchen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Hab ich was verpasst, oder hat sich Santa Claus in der Zeit geirrt und ein verspätetes Geschenk gebracht?«

Julie drehte sich um und sah Carol zu den Zwingern herabsteigen. »Weder noch«, antwortete sie lachend. Sie erzählte vom überraschenden Besuch der Cooks. »Jetzt müssen wir uns um die Erziehung der zwei Huskys kümmern.«

»Und ich kenne keine Rangerin, die das besser könnte als du.«

»Ich soll mich allein um sie kümmern?«

»Meinst du, das wird zu viel für dich?«

»Aber nein«, sagte Julie, »ich mache so was nicht zum ersten Mal. Ich kann gut mit Welpen. Es macht Spaß, sie aufwachsen zu sehen.« Sie sah den Chef der Polizeitruppe in seinem Wagen davonfahren. »Warst du mit Ranger Erhart unterwegs? Habt ihr den Wilderer verhaftet?«

Carol wurde ernst. »Leider nein. Es war, wie wir befürchtet hatten. Der Schnee hatte alle Spuren zugedeckt. Und an der Parkgrenze ist er auch nicht aufgetaucht. Denali ist einfach zu groß. Da könnte sich ein ganzes Heer verstecken, ohne dass man auch nur die geringste Spur von ihm entdeckt. Leider.«

»Hubschrauber?«

»Dafür war es zu spät. Außerdem genehmigt der National Park Service den Einsatz von Hubschraubern nur, wenn es um Menschenleben geht, und das war ja nicht der Fall. So ein Hubschraubereinsatz ist teuer, das weißt du doch.«

»Und wer denkt an die Tiere?«

»Wir«, antwortete Carol ernst, »deshalb klappern wir in den nächsten Tagen auch wieder die üblichen Verdächtigen ab. Lust auf einen Caffè Latte?«

»Hast du eine neue Kaffeemaschine?«

»Kommt aus der Tüte«, erwiderte Carol. »Schmeckt aber.«

»Und ich habe noch Donuts. Sind nur zwei Tage alt.«

»Na, das passt doch.«

3

Am nächsten Morgen wartete Ranger Erhart mit seinem Geländewagen auf Julie. »Steigen Sie ein«, forderte er sie auf. »Sie begleiten mich zu Hector Morrison. Seine Frau regt sich immer furchtbar auf, wenn ich ihn verhöre, und Sie sollen mir die rabiate Dame vom Leib halten. Der Super weiß schon Bescheid.«

Julie stieg ein und schnallte sich an. Sie hatte die Huskys bereits vor dem Frühstück gefüttert und sich besonders intensiv um die Welpen gekümmert. Jenny und Noatak waren nervös und würden wohl einige Tage brauchen, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. »Hector Morrison? Den verdächtigen Sie immer, wenn im Park gewildert wird. Warum eigentlich?«

»Weil ich ihm schon ein paarmal dicht auf den Fersen war und mir nur ein handfester Beweis gefehlt hat. Der Kerl ist gerissener, als er aussieht. Nicht mal seiner Frau verrät er, was er anstellt. Er hat Angst, sie könnte sich verplappern. Natürlich ahnt sie was. Sie ist nicht bescheuert. Aber selbst, wenn wir im Mittelalter leben und sie foltern würden, könnte sie uns nichts verraten.«

Julie blickte aus dem Fenster. Es schneite leicht, und die Straße war mit einer knöcheltiefen Schneeschicht überzogen. Noch waren die Räumfahrzeuge in dieser verlassenen Gegend nicht unterwegs. »Warum tun Menschen so etwas?«, fragte sie. »Warum fahren sie in ein Naturschutzgebiet und schießen Tiere ab, die wir zu schützen versuchen? Und das noch außerhalb der Saison. Alaska ist doch groß genug. Sie könnten doch ganz legal auf die Jagd gehen.«

»Bei uns haben sie es einfacher. Die Tiere fühlen sich im Park sicher, sind unvorsichtiger und laufen den Wilderern manchmal praktisch vor die Gewehrmündung. Viele Wilderer nehmen nur die besten Fleischstücke mit, andere nehmen alles und verkaufen das Fleisch unter der Hand weiter. Es geht um den Profit, so wie damals im Wilden Westen, als weiße Jäger die Büffel zu Hunderten abschlachteten und ihnen teilweise nur die Zungen herausschnitten. Die waren eine Delikatesse.«

»Ekelhaft … und feige dazu.«

»Einigen geht es auch um den Nervenkitzel, die Gefahr, in die sie sich begeben, wenn sie mit einem Snowmobil durch den Park fahren. Sie genießen es, uns an der Nase herumzuführen. Die lachen uns aus, weil sie genau wissen, dass wir nichts unternehmen können, solange wir keine Beweise finden.«

»So wie Hector Morrison.«

»Er kommt mir wie dieser Morgan in einem der frühen Audie-Murphy-Western vor. Immer die große Klappe, weil er genau weiß, dass ihm niemand was anhaben kann. Bis es zum entscheidenden Duell kommt und Audie ihm eine Kugel mitten ins Herz jagt. Leider fällt mir der Titel nicht mehr ein.«

Julie kannte weder Audie Murphy noch den Western-Schurken, den Erhart erwähnt hatte, hütete sich aber, eine Frage zu stellen. Greg Erhart sah mit seinem energischen Gesicht und seinem Schnauzbart nicht nur wie ein Sheriff im Wilden Westen aus, er war auch ein wandelndes Lexikon über Western-Filme. Wenn er einmal anfing, über einen Film oder Schauspieler zu erzählen, hörte er nicht mehr auf. »Sie haben hoffentlich schon von Audie Murphy gehört«, fuhr er deshalb auch fort. »Audie war einer der bekanntesten Westerndarsteller der 1950er- und 1960er-Jahre und der einzige Schauspieler, der auch im wirklichen Leben ein Held war. Er war einer der höchstdekoriertesten amerikanischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, wussten Sie das? Die Medal of Honor, der Silver Star, das Purple Heart … es gab keine Auszeichnung, die er nicht hatte.«

Inzwischen hatten sie Cantwell erreicht, eine winzige Siedlung südlich von Healy, und fuhren weiter über den Parks Highway. Ungefähr eine Meile hinter der Tankstelle, an der sich jeden Sommer die Fahrzeuge der Touristen stauten, bogen sie nach rechts auf einen kaum sichtbaren Feldweg ab und folgten ihm am Ufer eines Baches entlang. Erhart hatte den Allradantrieb zugeschaltet und lenkte mit beiden Händen, verzichtete sogar auf eine Fortsetzung seiner Audie-Murphy-Story, um im Schnee nicht die Kontrolle über seinen Wagen zu verlieren. Die Lichtkegel der Scheinwerfer tanzten auf dem Schnee, der beinahe kniehoch auf der Schotterstraße lag.

Wenn Morrison am vergangenen Nachmittag mit seinem Snowmobil über diese Straße gefahren war, lagen seine Spuren längst unter der dicken Schneedecke verborgen. Und selbst wenn sie zu sehen gewesen wären, hätten sie nichts bewiesen. Morrison war ein gerissener Bursche, und wenn er tatsächlich der gesuchte Wilderer war, besaß er genügend Grips, um sich nicht erwischen zu lassen. Schon lange, bevor Julie im Park angefangen hatte, verdächtigte man den Mann.

Seine Blockhütte lag ungefähr eine Meile vom Highway entfernt am Rand einer Lichtung. Daneben stand ein Schuppen. Selbst aus der Ferne erkannte Julie, dass die Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert war, eher ungewöhnlich für einen Schuppen, worin in dieser Gegend normalerweise Werkzeuge und Ersatzteile für das Snowmobil und andere Maschinen und Motoren lagerten. Das Snowmobil stand, mit einer Plane bedeckt, neben dem Eingang.

Erhart hielt ebenfalls vor dem Haus und überprüfte seinen Revolver, den er am Gürtel trug. Eine Routine, auf die er niemals verzichtete, wenn er einen Verdächtigen besuchte. »Sie kümmern sich um die Frau«, sagte er zu Julie. »Das letzte Mal, als ich hier war, ging sie mit einem Besen auf mich los.«

Julie unterdrückte nur mühsam ein Grinsen. Die Vorstellung, eine wütende Frau mit einem Besen auf den Polizeichef der Ranger losgehen zu sehen, war einfach zu komisch. Als die Tür der Hütte aufging, wurde sie jedoch gleich wieder ernst. Der Anblick der Morrisons war eher einschüchternd als komisch.

Hector Morrison war ein untersetzter Mann mit dem Gesicht eines ehemaligen Boxers, der zu viele Kämpfe verloren hatte. Seine Nase schien mehrmals gebrochen gewesen zu sein. Er trug ausgebleichte Jeans mit roten Hosenträgern und hielt eine Schrotflinte in den Händen. Ruth, seine Frau, war ebenfalls keine Schönheit, trug ein altmodisches Schürzenkleid und ein geblümtes Kopftuch.

»Was wollen Sie?«, fragte der ehemalige Fallensteller.

»Chief Ranger Greg Erhart«, antwortete der Ranger ruhig. Seine Hand lag auf der Revolvertasche. »Ich bin der Polizeichef im Denali National Park. Sie erinnern sich vielleicht an mich. Nehmen Sie sofort Ihre Schrotflinte runter, sonst muss ich Sie festnehmen.«

Morrison gehorchte zögernd. Ein flüchtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als er die Waffe gegen den Türrahmen lehnte. »Chief Ranger Greg Erhart«, wiederholte er scheinbar genüsslich. »Ist immer ’ne Freude Sie wiederzusehen. Wenn ich mich richtig erinnere, dachten Sie das letzte Mal, ich würde im Nationalpark wildern, mussten mich aber wieder laufen lassen, weil Sie keine Beweise gegen mich hatten. Wollen Sie es noch mal versuchen?« Er musterte Julie von Kopf bis Fuß. »Diesmal mit Verstärkung?«

Erhart ließ sich nicht provozieren. »Park Ranger Julie Wilson, meine Kollegin.« Er nahm seine Hand von der Revolvertasche. »Gestern wurde ein Elch am Double Mountain erlegt. Dürfen wir uns ein wenig bei Ihnen umsehen?«

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Noch nicht«, sagte Erhart, »aber ich kann einen bekommen. Dauert ungefähr eine Stunde, dann bringen mir die Trooper einen vorbei. Wir würden so lange vor Ihrer Tür warten.« Er deutete ein Lächeln an. »Wenn Sie nichts mit der Sache zu tun haben, wollen Sie sich diese Umstände sicher ersparen.«

»Wieso immer wir?«, keifte Ruth Morrison los. Wenn sie wütend war, sah sie noch hässlicher aus. »Warum schauen Sie nicht bei unseren Nachbarn vorbei? Oder beim Bürgermeister? Warum fahren Sie nicht nach Fairbanks und sehen dort nach? Jeder kann den Elch erschossen haben. Oder haben Sie vielleicht Spuren gefunden, die zu uns führen? Sie tappen doch im Dunkeln.«