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V E R Z E H R T

 

(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #6)

 

 

 

B L A K E   P I E R C E

 

Blake Pierce

 

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller RILEY PAIGE Krimi Serie, die bisher sechs Bücher umfasst. Blake Pierce ist außerdem die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie, bestehend aus bisher drei Büchern; von der AVERY BLACK Krimi Serie, bestehend aus bisher drei Büchern; und der neuen KERI LOCKE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi- und Thriller-Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!

 

Copyright © 2016 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E–Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

 

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

 

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

 

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

 

KERI LOCKE KRIMI SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

Inhalt

 

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIẞIG

KAPITEL EINUNDDREIẞIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIẞIG

KAPITEL DREIUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERUNDDREIẞIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIẞIG

KAPITEL SECHSUNDDREIẞIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIẞIG

KAPITEL ACHTUNDDREIẞIG

KAPITEL NEUNUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

EPILOG

 

 

PROLOG

 

Die Physiotherapeutin lächelte ihren Patienten, Cody Woods, freundlich an, als sie den Stromschalter der Maschine betätigte.

"Ich denke, das ist genug für heute", sagte sie, während sein Bein langsam aufhörte sich zu bewegen.

Die Maschine hatte langsam, aber stetig sein Bein für mehrere Stunden bewegt, um ihm bei der Genesung nach seiner Knieoperation zu helfen.

"Ich hatte fast vergessen, dass sie noch lief, Hallie", lachte Cody leise.

Sie spürte einen bitter-süßen Stich. Sie mochte den Namen – Hallie. Es war der Name, den sie nutze, wenn sie hier im Signet Rehabilitationszentrum als freischaffende Physiotherapeutin arbeitete.

Es war fast schade, dass Hallie Stillians morgen verschwinden würde, als hätte es sie nie gegeben.

Aber das war nun einmal der Lauf der Dinge.

Und außerdem hatte sie noch andere Namen, die sie ebenso gerne mochte.

Hallie nahm die Kontinuierliche-Passive-Bewegungsmaschine von dem Bett und stellte sie auf den Boden. Dann streckte sie behutsam Codys Bein wieder aus und deckte ihn zu.

Sie strich über Codys Haar – eine intime Geste, von der sie wusste, dass die meisten Therapeuten sie vermeiden würden. Aber sie tat so etwas häufiger und hatte nicht einen Patienten, dem es etwas ausmachte. Sie wusste, dass sie eine gewisse Wärme und Mitgefühl ausstrahlte – und vor allem anderen, vollkommene Aufrichtigkeit. Eine kleine, unschuldige Berührung war angemessen, wenn sie von ihr kam. Niemand hatte sie je missverstanden.

"Wie ist der Schmerz?", erkundigte sie sich.

Cody hatte nach der Operation eine ungewöhnliche Schwellung und Entzündung gehabt. Deshalb war er drei weitere Tage dabehalten worden und war noch nicht wieder zu Hause. Das war außerdem der Grund, weshalb Hallie gerufen worden war, um mit ihm zu arbeiten. Die Mitarbeiter des Zentrums kannten Hallies Arbeit gut. Sie mochten sie, ebenso wie die Patienten sie mochten, also wurde Hallie oft in solchen Fällen um Hilfe gebeten.

"Der Schmerz?", fragte Cody. "Den hatte ich fast vergessen. Ihre Stimme hat ihn verscheucht."

Hallie war geschmeichelt, aber nicht überrascht. Sie hatte ihm ein Buch vorgelesen, während die Maschine vor sich hin lief – einen Spionagethriller. Sie wusste, dass ihre Stimme eine beruhigende Wirkung hatte – fast wie ein Narkosemittel. Es machte keinen Unterschied, ob sie Dickens las oder einen Schundroman oder einfach nur die Zeitung. Patienten brauchten kaum Schmerzmittel, wenn sie sich um sie kümmerte; der Klang ihrer Stimme war oft genug.

"Stimmt es, dass ich morgen nach Hause kann?", fragte Cody.

Hallie zögerte eine Millisekunde. Sie konnte nicht vollkommen aufrichtig sein. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Patient sich am nächsten Tag fühlen würde.

"Das haben Sie mir gesagt", antwortete sie daher. "Wie fühlen Sie sich, das zu hören?"

Ein trauriger Ausdruck huschte über Codys Gesicht.

"Ich weiß es nicht", sagte er. "In drei Wochen machen sie mein anderes Knie. Aber Sie werden nicht hier sein, um mir dabei zu helfen."

Hallie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Es tat ihr leid, dass er sich so fühlte. Seit er in ihrer Pflege war, hatte sie ihm eine lange Geschichte über ihr angebliches Leben erzählt – eine recht langweilige Geschichte, dachte sie, aber er schien davon verzaubert zu sein.

Schließlich hatte sie ihm erklärt, dass ihr Mann, Rupert, als Wirtschaftsprüfer in den Ruhestand treten würde. Ihr jüngerer Sohn, James, war in Hollywood und versuchte seinen Durchbruch als Drehbruchautor zu schaffen. Ihr ältester Sohn, Wendell, war hier in Seattle und unterrichtete Linguistik an der Universität Washington. Jetzt, nachdem die Kinder erwachsen und aus dem Haus waren, wollten sie und Rupert in ein bezauberndes kleines Dorf in Mexiko ziehen, wo sie ihren Ruhestand verbringen sollten. Es würde morgen losgehen.

Was für eine schöne Geschichte, dachte sie.

Auch, wenn nichts davon stimmte.

Sie lebte zu Hause, alleine.

Ganz alleine.

"Schauen Sie sich das an, der Tee ist ganz kalt geworden", sagte sie. "Den wärme ich schnell für Sie auf."

Cody lächelte und sagte, "Ja, danke. Das wäre nett. Und machen Sie sich auch welchen. Die Teekanne steht gleich da auf dem Schrank."

Hallie lächelte und erwiderte, "Natürlich", genau wie sie es jedes Mal taten. Sie stand auf, nahm Codys Tasse mit kaltem Tee und brachte sie zu dem Schrank.

Aber diesmal griff sie in ihre Handtasche, die neben der Mikrowelle stand. Sie nahm eine kleine Medikamentendose heraus und leerte den Inhalt in Codys Tee. Sie machte es schnell, heimlich, mit einer geübten Bewegung, die ihr vertraut war, und sie war sich sicher, dass er es nicht gesehen hatte. Trotzdem schlug ihr Herz ein wenig schneller.

Dann schüttete sie sich selbst auch einen Tee ein und stellte beide Tassen in die Mikrowelle.

Ich darf nicht durcheinander kommen, ermahnte sie sich selbst. Die gelbe Tasse für Cody, die blaue für mich.

Während die Mikrowelle summte, setzte sie sich wieder neben Cody und sah ihn wortlos an.

Er hat ein nettes Gesicht, dachte sie. Aber er hatte ihr von seinem eigenen Leben erzählt und sie wusste, dass er traurig war. Er war schon lange traurig. Er war während seiner Highschool-Zeit ein dekorierter Athlet gewesen. Aber er hatte seine Knie während eines Football Spiels verletzt, was seine Hoffnungen auf eine Profikarriere vernichtet hatte. Die gleichen Verletzungen hatten schließlich dazu geführt, dass er neue Kniegelenke benötigte.

Sein Leben war seither von Tragödie gezeichnet. Seine erste Frau war bei einem Autounfall gestorben und seine zweite Frau hatte ihn für einen anderen Mann verlassen. Er hatte zwei erwachsene Kinder, aber sie sprachen nicht mehr mit ihm. Vor einigen Jahren hatte er außerdem einen Schlaganfall gehabt.

Sie bewunderte ihn für die Tatsache, dass er nicht im Mindesten verbittert schien. Tatsächlich war er voller Hoffnung und Optimismus für die Zukunft.

Sie dachte, dass er süß, aber naiv war.

Sie wusste, dass sein Leben sich nicht zum Besseren wenden würde.

Dafür war es zu spät.

Das Piepen der Mikrowelle riss sie aus den Gedanken. Cody sah sie aus freundlichen, erwartungsvollen Augen an.

Sie tätschelte seine Hand, stand auf und ging zur Mikrowelle. Sie nahm die beiden Tassen heraus, die jetzt heiß waren.

Sie dachte noch einmal:

Gelb für Cody, blau für mich.

Es war wichtig, sie nicht zu verwechseln.

Sie nippten beide schweigend an ihrem Tee. Für Hallie waren diese Momente Zeiten der stillen Kameradschaft. Es stimmte sie ein wenig traurig, dass es sie nicht mehr geben würde. In wenigen Tagen würde dieser Patient sie nicht mehr brauchen.

Bald würde Cody einschlafen. Sie hatte ein Pulver mit ausreichend Schlafmitteln in seinen Tee getan, um dafür zu sorgen.

Hallie stand auf und suchte ihre Sachen zusammen.

Und dann begann sie leise zu singen, ein Lied, das sie kannte, solange sie sich erinnern konnte.

 

Weit weg von zu Haus'

So weit weg von zu Haus'–

Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.

Du sehnst dich danach

Jeden Tag

Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.

Kein Grund zu weinen

Träum' lang und tief.

Übergib dich dem Lied des Schlafs.

Kein Seufzen mehr,

Schließ' nur deine Augen

Und du wirst im Traum nach Hause gehen.

 

Seine Augen schlossen sich, sie strich ihm liebevoll das Haar aus dem Gesicht.

Dann, mit einem sanften Kuss auf die Stirn, stand sie auf und ging.

 

KAPITEL EINS

 

FBI Agentin Riley Paige ging besorgt durch die Gangway am Phoenix International Airport. Sie hatte während dem Flug von Washington aus kaum stillsitzen können. Jilly, ein Mädchen, das Riley besonders am Herzen lag, war verschwunden. Sie war entschlossen, dem Mädchen zu helfen und dachte sogar darüber nach, sie zu adoptieren.

Als Riley durch den Ausgang des Gates eilte, sah sie auf und war geschockt, eben jenes Mädchen vor sich stehen zu sehen, FBI Agent Garrett Holbrook von der Außenstelle in Phoenix gleich neben ihr.

Die dreizehnjährige Jilly Scarlatti stand neben Garret und wartete ganz offensichtlich auf sie.

Riley war verwirrt. Garrett hatte sie angerufen und ihr erzählt, dass Jilly weggelaufen war und nicht zu finden sei.

Doch noch bevor Riley eine Frage stellen konnte, warf Jilly sich ihr weinend in die Arme.

"Oh Riley, es tut mir so leid. Es tut mir so so leid. Ich mache das nie wieder."

Riley versuchte Jilly zu trösten und sah Garrett fragend an. Garretts Schwester, Bonnie Flaxman, hatte versucht, Jilly als Pflegekind aufzunehmen. Aber Jilly hatte rebelliert und war weggelaufen.

Garrett lächelte leicht – ein ungewöhnlicher Anblick des sonst so ernsten Mannes.

"Sie hat Bonnie angerufen, kurz nachdem Sie Fredericksburg verlassen hatten", sagte er. "Sie hat gesagt, dass sie sich nur noch einmal verabschieden wollte, endgültig. Aber dann hat Bonnie ihr erzählt, dass Sie auf dem Weg hierher sind, um sie aufzunehmen. Sie hat sich so gefreut, dass sie uns gesagt hat, wo wir sie abholen können."

Er sah Riley an.

"Dass Sie den ganzen Weg hierher geflogen sind, hat sie gerettet", schloss er.

Riley stand mit der weinenden Jilly im Arm da und kam sich seltsam unbeholfen vor.

Jilly flüsterte etwas, das Riley nicht hören konnte

"Was?", fragte Riley.

Jilly zog ihr Gesicht ein wenig zurück und sah Riley in die Augen, ihre eigenen, ernsten braunen Augen mit Tränen gefüllt.

"Mom?", sagte sie mit erstickter, schüchterner Stimme. "Kann ich dich Mom nennen?"

Riley zog sie noch näher an sich, überwältigt von der Flut von Gefühlen.

"Natürlich", sagte Riley.

Dann wandte sie sich an Garrett. "Vielen Dank für alles, was Sie getan haben."

"Ich bin froh, dass ich helfen konnte, zumindest ein wenig", erwiderte er. "Brauchen Sie einen Platz zum Übernachten, während Sie hier sind?"

"Nein. Jetzt, wo sie gefunden ist, ist das nicht mehr nötig. Wir nehmen den nächsten Flug zurück."

Garrett schüttelte ihr die Hand. "Ich wünsche Ihnen alles Gute."

Dann ging er.

Riley sah auf den Teenager hinunter, der noch immer an ihr hing. Sie war gleichzeitig erleichtert, dass sie sie gefunden hatte, und besorgt, weil sie nicht wusste, was die Zukunft ihnen bringen würde.

"Lass uns etwas essen gehen", sagte sie zu Jilly.

 

*

 

Es schneite leicht, während sie vom Reagan Washington National Airport nach Hause fuhren. Jilly starrte schweigend aus dem Fenster. Ihr Schweigen war ein großer Umschwung nach dem mehr als vierstündigen Flug von Phoenix. Jilly hatte nicht aufhören können zu reden. Sie war noch nie in einem Flugzeug gewesen und alles weckte ihre Neugier.

Warum ist sie jetzt so ruhig? fragte Riley sich.

Dann wurde ihr bewusst, dass Schnee ein ungewöhnlicher Anblick sein musste, für ein Mädchen, das sein ganzes Leben in Arizona verbracht hatte.

"Hast du schon einmal Schnee gesehen?", fragte Riley.

"Nur im Fernsehen."

"Gefällt es dir?", sagte Riley.

Jilly antwortete nicht, was in Riley wieder ein unbehagliches Gefühl auslöste. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Jilly gesehen hatte. Das Mädchen war vor einem gewalttätigen Vater davongelaufen. Aus schierer Verzweiflung hatte sie sich entschieden, Prostituierte zu werden. Sie war zu einem Rastplatz gegangen, der bekannt dafür war, dass man dort Prostituierte aufgabeln konnte – "Truckerhuren" wurden sie genannt.

Riley war dort gewesen, um eine Serie von Morden an Prostituierten aufzuklären. Sie hatte Jilly zufällig in einer Fahrerkabine gefunden, wo sie darauf gewartet hatte, dass der Fahrer zurückkommt, um sich an ihn zu verkaufen.

Riley hatte Jilly zu einer Notunterkunft gebracht und war mit ihr in Kontakt geblieben. Garretts Schwester hatte Jilly als Pflegekind aufgenommen, aber schließlich war Jilly wieder weggelaufen.

Da hatte Riley beschlossen, Jilly selber aufzunehmen.

Aber jetzt fing sie an sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie musste sich schon um ihre eigene fünfzehn Jahre alte Tochter, April, kümmern. Die konnte alleine schon eine Handvoll sein. Sie hatten zusammen einige traumatische Erfahrungen durchgestanden, seit Rileys Ehe zerbrochen war.

Und was wusste sie wirklich über Jilly? Hatte Riley eine Ahnung, wie tief die seelischen Verletzungen des Mädchens waren? War sie überhaupt dazu in der Lage, mit den Herausforderungen fertig zu werden, die Jilly möglicherweise mit sich brachte? Und auch wenn April zugestimmt hatte, Jilly zu sich nach Hause zu holen, würden die beiden Mädchen zurechtkommen?

Plötzlich sprach Jilly.

"Wo werde ich schlafen?"

Riley war erleichtert, Jillys Stimme zu hören.

"Du hast dein eigenes Zimmer", sagte sie. "Es ist klein, aber ich denke, dass es genau das Richtige für dich sein könnte."

Jilly schwieg wieder einen Moment.

Dann sagte sie, "Gehörte es jemand anderem?"

Jilly klang besorgt.

"Nicht, seit wir dort leben", erklärte Riley. "Ich habe versucht, es als Büro zu nutzen, aber es war zu groß. Also habe ich das Büro in mein Schlafzimmer gebracht. April und ich haben ein Bett und eine Kommode gekauft, aber wenn wir Zeit haben, kannst du dir ein paar Poster und Bettwäsche aussuchen, die dir gefällt.

"Mein eigenes Zimmer", sagte Jilly.

Riley kam es vor, als klänge sie eher zögerlich als glücklich.

"Wo schläft April?", fragte Jilly.

Riley wollte Jilly fast sagen, dass sie einfach warten sollte, bis sie zu Hause waren, dann würde sie es ja sehen. Aber das Mädchen klang, als bräuchte sie umgehend ein wenig Beruhigung und Bestätigung.

"April hat ihr eigenes Zimmer", sagte Riley. "Du und April teilt euch allerdings ein Badezimmer. Ich habe mein eigenes."

"Wer putzt? Wer kocht?", fragte Jilly. Dann fügte sie besorgt hinzu, "Ich bin kein besonders guter Koch."

"Unsere Haushälterin, Gabriela, kümmert sich um alles. Sie kommt aus Guatemala. Sie lebt bei uns, in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Du triffst sie bald. Sie kümmert sich um dich, wenn ich nicht da bin."

Wieder folgte ein Schweigen.

Dann fragte Jilly, "Wird Gabriela mich schlagen?"

Diese Frage machte Riley sprachlos.

"Nein. Natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?"

Jilly antwortete nicht. Riley versuchte zu verstehen, was sie meinte.

Sie versuchte sich zu sagen, dass sie nicht überrascht sein sollte. Sie erinnerte sich daran, was Jilly ihr gesagt hatte, als sie sie in der Fahrerkabine gefunden und ihr gesagt hatte, dass sie nach Hause gehen sollte.

"Ich gehe nicht nach Hause. Mein Vater wird mich schlagen, wenn ich zurückgehe."

Das Jugendamt in Phoenix hatte Jilly dem Sorgerecht des Vaters entzogen. Riley wusste, dass Jillys Mutter vor langer Zeit verschwunden war. Jilly hatte irgendwo einen Bruder, aber niemand hatte von ihm gehört.

Es brach Riley das Herz, als ihr klar wurde, dass sie eine ähnliche Behandlung in ihrem neuen Zuhause erwartete. Es schien, als könne sich das Mädchen kaum ein besseres Leben vorstellen.

"Niemand wird dich schlagen, Jilly", sagte Riley, mit leicht zitternder Stimme. "Nie wieder. Wir werden uns gut um dich kümmern. Verstehst du das?"

Wieder antwortete Jilly nicht. Riley wünschte sich, sie würde sagen, dass sie sie verstand und auch glaubte, was Riley ihr sagte. Stattdessen wechselte Jilly das Thema.

"Ich mag dein Auto", sagte sie. "Kann ich lernen zu fahren?"

"Wenn du älter bist, sicher", sagte Riley. "Jetzt lass uns dich erst einmal nach Hause bringen."

 

*

 

Ein wenig Schnee fiel, als Riley vor ihrem Stadthaus hielt und sie mit Jilly ausstieg. Jillys Gesicht zuckte kurz, als eine Schneeflocke ihre Haut traf. Ihr schien dieses neue Gefühl nicht zu gefallen. Sie zitterte vor Kälte.

Wir müssen ihr sofort warme Kleidung besorgen, dachte Riley.

Auf halbem Wege zur Haustür hielt Jilly inne. Sie starrte auf das Haus.

"Ich kann das nicht", sagte sie.

"Warum nicht?"

Jilly schien keine Worte zu finden. Sie sah aus, wie ein verängstigtes Tier. Riley nahm an, dass der Gedanke sie überwältigte, an einem so schönen Ort zu leben.

"Ich werde April im Weg sein oder nicht?", sagte Jilly. "Ich meine, es ist ihr Badezimmer."

Sie schien nach Entschuldigen zu suchen, nach Gründen, warum es nicht funktionieren würde.

"Du bist April nicht im Weg", sagte Riley. "Jetzt komm rein."

Riley öffnete die Tür. Drinnen warteten April und Rileys Exmann Ryan. Sie lächelten sie freundlich an.

April eilte direkt auf Jilly zu und nahm sie in die Arme.

"Ich bin April", sagte sie. "Ich bin so froh, dass du hier bist. Es wird dir bestimmt gefallen."

Riley war von dem Unterschied zwischen den beiden Mädchen überrascht. Sie hatte immer gedacht, April wäre recht dünn und schlaksig. Aber neben Jilly, die im Vergleich dünn aussah, wirkte sie regelrecht robust. Riley nahm an, dass Jilly mehr als einmal in ihrem Leben gehungert hatte.

Es gibt so viel, was ich nicht weiß, dachte Riley.

Jilly lächelte nervös, als Ryan sich vorstellte und sie kurz umarmte.

Plötzlich kam Gabriela herein und stellte sich ebenfalls mit einem breiten Lächeln vor.

"Willkommen in der Familie!", rief Gabriela und gab Jilly eine Umarmung.

Riley bemerkte, dass die Haut der guatemalischen Frau nur ein wenig dunkler war, als Jillys olivfarbener Teint.

"Vente!", sagte Gabriela und nahm Jilly bei der Hand. "Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir dein Zimmer!"

Aber Jilly zog ihr die Hand weg und stand zitternd vor ihr. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie setzte sich auf die Stufen und weinte. April setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

"Jilly, was ist los?", fragte April.

Jilly schüttelte traurig den Kopf.

"Ich weiß es nicht", schluchzte sie. "Es ist einfach … ich weiß nicht. Es ist zu viel."

April lächelte und streichelte ihr leicht über den Rücken.

"Ich weiß, ich weiß", sagte sie. "Komm mit nach oben. Du fühlst dich bestimmt bald wie zu Hause."

Jilly stand gehorsam auf und folgte April nach oben. Riley freute sich, dass ihre Tochter die Situation so gut gelöst hatte. Natürlich hatte April immer gesagt, dass sie eine kleine Schwester wollte. Aber April hatte schwierige Jahre durchgemacht und war von Verbrechern traumatisiert worden, die sich an Riley rächen wollten.

Vielleicht, dachte Riley hoffnungsvoll, versteht April Jilly besser, als ich es kann.

Gabriela sah den beiden Mädchen mitfühlend nach.

"¡Pobrecita!", sagte sie. "Ich hoffe, dass alles gut wird."

Gabriela ging wieder nach unten und ließ Riley und Ryan alleine. Ryan blickte geistesabwesend die Stufen nach oben.

Ich hoffe, dass er es sich nicht anders überlegt hat, dachte Riley. Ich werde seine Unterstützung brauchen.

Zwischen ihnen war viel passiert. Während der letzten Jahre ihrer Ehe war er ein untreuer Ehemann und ein distanzierter Vater gewesen. Sie hatten sich getrennt und geschieden. Aber Ryan schien sich in letzter Zeit verändert zu haben und sie verbrachten wieder mehr Zeit miteinander.

Sie hatten über die Herausforderung gesprochen, Jilly in ihre Leben zu bringen. Ryan war begeistert von der Idee gewesen.

"Ist es immer noch okay für dich?", fragte Riley ihn.

Ryan sah sie an und sagte, "Ja. Ich kann allerdings sehen, dass es nicht einfach werden wird."

Riley nickte. Dann folgte eine peinliche Pause.

"Ich denke, ich sollte besser gehen", sagte Ryan.

Riley war erleichtert. Sie küsste ihn flüchtig, er zog seinen Mantel an und ging. Riley goss sich einen Drink ein und saß dann alleine im Wohnzimmer.

Wo habe ich uns da nur hingeführt? fragte sie sich.

Sie hoffte, dass ihre guten Absichten nicht wieder ihre Familie auseinander reißen würde.

 

KAPITEL ZWEI

 

Riley wachte am nächsten Morgen mit ängstlicher Erwartung auf. Dies würde der erste Tag von Jilly in ihrem neuen Zuhause werden. Sie hatten viel zu tun und Riley hoffte, dass es keine Probleme geben würde.

Letzte Nacht war ihr klar geworden, dass Jillys Übergang in ein neues Leben harte Arbeit für sie alle werden würde. Aber April hatte sich eingebracht und Jilly geholfen, sich einzuleben. Sie hatten zusammen ausgesucht, was Jilly heute anziehen würde – nicht aus der mageren Auswahl, die sie in einer Supermarkttüte mitgebracht hatte, sondern von den neuen Sachen, die Riley und April ihr gekauft hatten.

Jilly und April waren schließlich schlafen gegangen.

Riley auch, aber ihr Schlaf war unruhig und rastlos gewesen.

Jetzt stand sie auf, zog sich an, und ging direkt in die Küche, wo April Gabriela half, Frühstück zu machen.

"Wo ist Jilly?", fragte Riley.

"Sie ist noch nicht aufgestanden", sagte April.

Rileys Sorge nahm zu.

Sie ging zum Aufgang der Treppe und rief, "Jilly, es ist Zeit aufzustehen."

Sie hörte keine Antwort. Sie wurde von einer Welle der Panik gefasst. War Jilly in der Nacht weggelaufen?

"Jilly, hast du mich gehört?", rief sie wieder. "Wir müssen dich heute Morgen für die Schule anmelden."

"Ich komme", rief Jilly zurück.

Riley atmete erleichtert auf. Jilly klang mürrisch, aber zumindest war sie hier und kooperierte.

In den vergangenen Jahren hatte Riley diesen Ton mehr als einmal von April gehört. April schien es im Großen und Ganzen hinter sich zu haben, fiel aber von Zeit zu Zeit zurück. Riley fragte sich, ob sie wirklich dafür geeignet war, Teenager aufzuziehen.

Da klopfte es an die Haustür. Als Riley sie öffnete, stand ihr Nachbar, Blaine Hildreth, davor.

Riley war überrascht ihn zu sehen, aber freute sich. Er war einige Jahre jünger als sie, ein charmanter und attraktiver Mann, dem ein Restaurant in der Stadt gehörte. Tatsächliche hatte sie eine unmissverständliche Anziehung zwischen sich gespürt, was die Frage nach einer möglichen Versöhnung mit Ryan verkomplizierte. Vor allem aber war Blaine ein wundervoller Nachbar und ihre Töchter waren beste Freunde.

"Hallo Riley", sagte er. "Ich hoffe, es ist nicht zu früh."

"Ganz und gar nicht", lächelte Riley. "Was gibt es?"

Blaine sah sie mit einem traurigen Lächeln an.

"Ich dachte einfach, ich komme vorbei, um mich zu verabschieden", sagte er.

Riley starrte ihn überrascht an.

"Was meinst du?", fragte sie.

Er zögerte und bevor er antworten konnte, sah Riley den riesigen Umzugslaster, der vor seinem Haus stand. Umzugshelfer trugen Möbel aus Blaines Haus in den Laster.

Riley blieb der Mund offen stehen.

"Ihr zieht aus?", fragte sie.

"Es schien mir eine gute Idee zu sein", sagte Blaine.

Riley wäre fast eine "Warum?", herausgerutscht.

Aber es war einfach zu erraten. Neben Riley zu wohnen hatte sich als gefährlich und erschreckend herausgestellt, sowohl für Blaine, als auch für seine Tochter, Crystal. Der Verband, der immer noch sein Gesicht zierte, war eine harsche Erinnerung daran. Blaine war bei dem Versuch, April vor einem Mörder zu beschützen, schwer verletzt worden.

"Es ist nicht, was du wahrscheinlich denkst", sagte Blaine.

Aber Riley konnte es an seinem Gesicht sehen – es war genau das, was sie dachte.

Er fuhr fort, "Es hat sich einfach herausgestellt, dass das Haus hier nicht sehr praktisch ist. Es ist zu weit vom Restaurant weg. Ich habe ein schönes Haus in der Nähe gefunden. Ich bin sicher, das verstehst du."

Riley war zu verwirrt und aus der Fassung gebracht, um zu antworten. Erinnerungen an den schrecklichen Zwischenfall kamen zurück.

Sie hatte im Norden von New York an einem Fall gearbeitet, als sie erfahren hatte, dass ein brutaler Mörder auf freiem Fuß war. Sein Name war Orin Rhodes. Sechzehn Jahre zuvor hatte Riley seine Freundin in einem Schusswechsel getötet und ihn ins Gefängnis gebracht. Als Rhodes schließlich aus Sing Sing entlassen wurde, hatte er Riley und ihrer Familie Rache geschworen.

Bevor Riley es nach Hause schaffte, war Rhodes in ihr Zuhause eingedrungen und hatte April und Gabriela angegriffen. Nebenan hatte Blaine den Kampf gehört und war ihnen zur Hilfe geeilt. Er hatte wahrscheinlich Aprils Leben gerettet. Aber er war dabei schwer verletzt worden.

Riley hatte ihn zweimal im Krankenhaus besucht. Das erste Mal war sie entsetzt gewesen. Er hatte, mit einer Infusion im Arm und einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, bewusstlos auf der Intensivstation gelegen. Riley hatte sich bittere Vorwürfe gemacht.

Aber das nächste Mal war deutlich erfreulicher gewesen. Er war wach und fröhlich gewesen und hatte sogar über seinen Übermut gescherzt.

Vor allem aber erinnerte sie sich an das, was er gesagt hatte …

"Es gibt wenig, was ich nicht für dich und April tun würde."

Offensichtlich hatte er es sich anders überlegt. Die Gefahr neben Riley zu wohnen, war zu viel für ihn und er ging weg. Sie wusste nicht, ob sie verletzt sein sollte oder sich schuldig fühlen. Sie war ohne Zweifel enttäuscht.

Rileys Gedanken wurden durch Aprils Stimme unterbrochen.

"Oh mein Gott! Blaine, ziehen du und Crystal weg? Ist Crystal noch da?"

Blaine nickte.

"Ich muss zu ihr gehen und mich verabschieden", rief April.

April rannte aus der Tür nach nebenan.

Riley kämpfte immer noch mit ihren Gefühlen.

"Es tut mir leid", sagte sie.

"Was tut dir leid?", fragte Blaine.

"Du weißt schon."

Blaine nickte. "Es war nicht deine Schuld, Riley", sagte er leise.

Riley und Blaine standen sich einen Moment schweigend gegenüber. Dann zwang Blaine sich zu einem Lächeln.

"Hey, es ist ja nicht so, als ob wir die Stadt verlassen", sagte er. "Wir können uns treffen, wann wir wollen. Genau wie die Mädchen. Schließlich gehen sie immer noch auf die gleiche Schule. Es wird sein, als hätte sich nichts geändert."

Ein bitterer Geschmack breitete sich in Rileys Mund aus.

Das stimmt nicht, dachte sie. Alles hat sich geändert.

Die Enttäuschung machte langsam Ärger Platz. Riley wusste, dass es falsch war, wütend zu sein. Sie hatte kein Recht. Sie wusste nicht, warum sie so fühlte. Alles was sie wusste war, dass sie es nicht verhindern konnte.

Und was sollten sie jetzt tun?

Sich umarmen? Die Hände schütteln?

Sie spürte, dass Blaine sich ähnlich fühlte.

Die schafften es, sich kurz angebunden zu verabschieden. Blaine ging zurück zu seinem Haus und Riley in die Küche. Sie fand Jilly beim Frühstück. Gabriela hatte Riley ebenfalls Frühstück auf den Tisch gestellt, also setzte sie sich und aß zusammen mit Jilly.

"Also, freust du dich auf heute?"

Rileys Frage war aus ihrem Mund, bevor sie bemerkte, wie lahm und ungelenk es klang.

"Ich schätze schon", sagte Jilly, während sie mit der Gabel in ihrem Pfannkuchen stocherte. Sie sah nicht einmal zu Riley auf.

 

*

 

Später gingen Riley und Jilly durch den Eingang der Brody Middle School. Das Gebäude war attraktiv, mit hellen Schließfächern, die die Flure säumten und von Studenten gemalten Bildern an den Wänden.

Ein freundlicher und höflicher Schüler bot ihnen Hilfe an und wies sie in die Richtung des Direktorats. Riley dankte ihm und ging den Flur hinunter, mit Jillys Anmeldeunterlagen in der einen und ihrer Hand in der anderen Hand.

Die Anmeldung in der Schulbehörde hatten sie schon hinter sich. Sie hatte alle Unterlagen mitgenommen, die von dem Jugendamt in Phoenix zusammengestellt worden waren – Impfunterlagen, Schulnachweise, Jillys Geburtsurkunde, und eine Bescheinigung, dass Riley Jillys Vormund war. Jillys Vater war das Sorgerecht entzogen worden, auch wenn er angedroht hatte, dagegen vorzugehen. Riley wusste, dass der Weg bis zur Adoption nicht schnell und einfach sein würde.

Jilly hielt Rileys Hand fest gedrückt. Riley spürte, dass sich das Mädchen äußerst unwohl fühlte. Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum. So hart es auch in Phoenix gewesen war, es war das einzige Leben, das Jilly gekannt hatte.

"Warum kann ich nicht mit April zur Schule gehen?", fragte Jilly.

"Nächstes Jahr gehst du zur gleichen Highschool", sagte Riley. "Erst musst du die achte Klasse abschließen."

Sie fanden das Büro und Riley zeigte die Unterlagen der Sekretärin.

"Wir möchten gerne mit jemandem sprechen, um Jilly in der Schule anzumelden", sagte Riley.

"Da müssen Sie mit einem Vertrauenslehrer sprechen", sagte die Sekretärin mit einem Lächeln. "Kommen Sie hier entlang."

Das könnten wir beide wohl gut gebrauchen, dachte Riley.

Die Vertrauenslehrerin war eine Frau Mitte Dreißig mit einem braunen Lockenkopf. Ihr Name war Wanda Lewis und ihr Lächeln so warm, wie es nur sein konnte. Riley dachte, dass sie eine wirkliche Hilfe sein könnte. Sicherlich hatte eine Frau in diesem Beruf schon mit anderen Studenten aus schwierigen Familien zu tun gehabt.

Ms. Lewis führte sie durch die Schule. Die Bücherei war ordentlich und aufgeräumt und sowohl mit Büchern, als auch mit Computern gut ausgestattet. In der Sporthalle spielten Mädchen fröhlich Basketball. Die Cafeteria war sauber und glänzend. Alles sah für Riley einfach wundervoll aus.

Ms. Lewis stellte Jilly konstant Fragen über ihre Interessen und über ihre frühere Schule. Aber Jilly antwortete kaum auf die Fragen von Ms. Lewis und stellte auch keine eigenen. Ihr Interesse schien ein wenig zuzunehmen, als sie zum Kunstraum kamen. Aber sobald sie weitergingen, wurde sie wieder ruhiger und in sich gekehrt.

Riley fragte sich, was in dem Kopf des Mädchens vor sich ging. Sie wusste, dass ihre Noten zwar in der letzten Zeit eher schlecht, aber vorher sehr gut gewesen waren. Aber wenn sie ehrlich war, dann wusste Riley kaum etwas über Jillys frühere Schulerfahrungen.

Vielleicht hasste sie die Schule sogar.

Diese neue Schule musste einschüchternd sein, wo Jilly niemanden kannte. Und natürlich würde es nicht einfach werden, sich in das Material einzufinden, in den wenigen Wochen, die bis zum Ende des Schuljahres blieben.

Am Ende der Tour schaffte Riley es, Jilly dazu zu bringen, sich bei Ms. Lewis für die Führung zu bedanken. Sie einigten sich, dass Jilly am nächsten Tag mit der Schule anfangen würde. Dann gingen Riley und Jilly hinaus in die kalte Januarluft. Eine dünne Schicht des Schnees vom Vortag lag auf dem Parkplatz.

"Also, was denkst du über die neue Schule?", fragte Riley.

"Ist okay", antwortete Jilly.

Riley konnte nicht sagen, ob Jilly mürrisch oder einfach nur überwältigt von all den Veränderungen war, denen sie gegenüberstand. Als sie sich dem Auto näherten, bemerkte sie, dass Jilly stark zitterte und mit den Zähnen klapperte. Sie trug eine dicke Jacke von April, aber die Kälte machte ihr wirklich zu schaffen.

Sie stiegen ins Auto und Riley stellte den Motor und die Heizung an. Doch selbst als das Auto wärmer wurde, zitterte Jilly noch immer.

Riley fuhr noch nicht los. Es war Zeit herauszufinden, was das Mädchen so beschäftigte.

"Was ist los?", fragte sie. "Gibt es etwas an der neuen Schule, das dich bedrückt?"

"Es ist nicht die Schule", sagte Jilly mit zitternder Stimme. "Es ist die Kälte."

"Ich nehme an, es wird nicht kalt in Phoenix", sagte Riley. "Das muss seltsam für dich sein."

Jillys Augen füllten sich mit Tränen.

"Es wird manchmal kalt", sagte sie. "Vor allem nachts."

"Bitte sag mir was los ist", bat Riley.

Tränen liefen Jilly über die Wangen. Sie sprach mit leiser, erstickter Stimme.

"Die Kälte erinnert mich an …"

Sie schwieg wieder. Riley wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach.

"Mein Vater hat mir immer für alles die Schuld gegeben", sagte Jilly. "Er hat mir die Schuld dafür gegeben, dass meine Mama weggegangen ist, und mein Bruder auch, und er hat mir auch immer die Schuld dafür gegeben, wenn er von einem seiner Jobs gefeuert wurde. Alles was schief ging, war meine Schuld."

Jilly weinte jetzt leise.

"Sprich weiter", bat Riley.

"Eines Nachts hat er mir gesagt, dass er mich los sein will", sagte Jilly. "Er sagte, ich wäre nur ein Klotz am Bein, ich würde ihn zurückhalten, und er hätte genug, wäre fertig mit mir. Er hat mich aus dem Haus geworfen. Er hat die Türen abgeschlossen, sodass ich nicht zurück konnte."

Jilly musste bei der Erinnerung schwer schlucken.

"Nie in meinem Leben ist mir so kalt gewesen", sagte sie. "Nicht einmal hier, in diesem Wetter. Ich habe in einer Grube ein Abwasserrohr gefunden, das groß genug war, dass ich hinein kriechen konnte, also habe ich da die Nacht verbracht. Ich hatte solche Angst. Manchmal sind Leute draußen vorbeigegangen, aber ich wollte nicht, dass sie mich finden. Sie klangen nicht wie jemand, der mir helfen würde."

Riley schloss die Augen und stellte sich vor, wie das Mädchen sich in dem dunklen Abwasserrohr versteckte. Sie flüsterte, "Und was ist dann passiert?"

Jilly fuhr fort, "Ich habe mich einfach klein gemacht und bin die Nacht dort geblieben. Ich habe nicht wirklich geschlafen. Am nächsten Morgen bin ich zurück nach Hause gegangen, habe geklopft und meinen Vater angebettelt mich wieder reinzulassen. Er hat mich ignoriert, als wäre ich nicht einmal da. Da bin ich zu dem Rastplatz gegangen. Dort war es warm und es gab etwas zu essen. Einige von den Frauen waren nett zu mir und ich dachte ich würde tun, was ich tun muss, um dort zu bleiben. Und das war die Nacht, in der du mich gefunden hast."

Jilly war während ihrer Erzählung ihrer Geschichte ruhiger geworden. Sie schien erleichtert es endlich herauszulassen. Aber jetzt weinte Riley. Sie konnte kaum glauben, was das arme Mädchen durchgemacht hatte. Sie legte ihren Arm um Jilly und drückte sie fest an sich.

"Nie wieder", sagte Riley schluchzend. "Jilly, ich verspreche dir, du wirst dich nie wieder so fühlen."

Es war ein großes Versprechen, dabei fühlte Riley sich selbst gerade so klein, schwach und zerbrechlich. Sie hoffte, dass sie es würde halten können.

 

KAPITEL DREI

 

Die Frau dachte immer noch an den armen Cody Woods. Sie war sich sicher, dass er mittlerweile tot war. Sie würde vermutlich in der Morgenzeitung darüber lesen.

So sehr sie ihren heißen Tee und das Müsli auch genoss, auf die Nachrichten zu warten machte sie mürrisch.

Wann kommt die Zeitung endlich? fragte sie sich und sah auf die Küchenuhr.

In letzter Zeit schien die Lieferung immer später zu werden. Natürlich hätte sie diese Probleme nicht, wenn sie ein Online-Abo hätte. Aber sie mochte es nicht, die Nachrichten auf ihrem Computer zu lesen. Sie saß lieber in ihrem gemütlichen Sessel und genoss das altmodische Gefühl der Zeitung in ihrer Hand. Sie mochte sogar die Art, wie die Druckerschwärze manchmal an den Fingern hängen blieb.

Aber die Zeitung war bereits seit fünfzehn Minuten überfällig. Falls es noch später wurde, dann würde sie anrufen und sich beschweren müssen. Sie hasste es, das zu tun. Es hinterließ immer einen bitteren Geschmack im Mund.

Jedenfalls war die Zeitung der einzige Weg, herauszufinden, was mit Cody war. Sie konnte kaum das Signet Rehabilitationszentrum anrufen und nachfragen. Das würde nur Verdacht erregen. Außerdem war sie, soweit es die Mitarbeiter dort betraf, schon mit ihrem Mann in Mexiko, ohne Pläne jemals zurückzukehren.

Oder genauer gesagt, Hallie Stillians war in Mexiko. Es machte sie ein wenig traurig, dass sie nie wieder Hallie Stillians sein würde. Sie hatte den Alias recht lieb gewonnen. Es war so nett von den Mitarbeitern gewesen, sie an ihrem letzten Tag mit einem Kuchen zu überraschen.

Sie lächelte bei der Erinnerung. Der Kuchen war bunt mit Sombreros und einer Nachricht dekoriert gewesen:

 

Buen Viaje, Hallie und Rupert!

 

Rupert war der Name ihres imaginären Ehemannes. Sie würde es vermissen über ihn zu reden.

Sie aß ihr Müsli auf und nippte weiter an dem köstlichen, hausgemachten Tee, den sie nach einem alten Familienrezept zubereitet hatte – ein anderes Rezept als das, was sie mit Cody geteilt hatte, und natürlich ohne die besondere Zutat, die sie für ihn hinzugefügt hatte.

Sie begann leise zu singen …

 

Weit weg von zu Haus'

So weit weg von zu Haus'––

Dieses kleine Baby ist weit weg von zu Haus'.

Du sehnst dich danach

Jeden Tag

Zu traurig zu lachen, zu traurig zu spielen.

 

Wie sehr Cody dieses Lied gemocht hatte! Genauso wie all ihre anderen Patienten. Und viele weitere Patienten in der Zukunft würden es ebenfalls mögen. Der Gedanke wärmte ihr Herz.

Da hörte sie einen dumpfen Laut vor der Haustüre. Sie eilte hin und sah nach draußen. Auf den kalten Stufen lag die Morgenzeitung. Voller Aufregung hob sie sie auf, lief zurück in die Küche, und öffnete die Seite mit den Sterbeanzeigen.

Da war es, wie erwartet:

 

SEATTLE Cody Woods, 49, aus Seattle

 

Sie hielt einen Moment inne. Das war seltsam. Sie hätte schwören können, dass er gesagt hatte, er wäre fünfzig. Dann las sie den Rest …

 

… im South Hills Krankenhaus, Seattle, Wash.; Sutton–Brinks Bestattungsinstitut, Seattle.

 

Das war alles. Es war knapp, selbst für eine einfache Todesanzeige.

Sie hoffte, dass in den nächsten Tagen ein schöner Nachruf folgen würde. Aber sie sorgte sich, ob es wirklich einen geben würde. Wer sollte ihn schon schreiben?

Er war alleine in der Welt gewesen, zumindest soweit sie wusste. Eine Frau war tot, eine andere hatte ihn verlassen, und seine zwei Kinder sprachen nicht mit ihm. Er hatte ihr gegenüber kaum jemandem erwähnt – Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen.

Wer kümmert sich? dachte sie.

Sie spürte die vertraute, bittere Wut aufsteigen.

Wut gegenüber all den Leuten in Cody Woods Leben, denen es egal war, ob er lebte oder starb.

Wut auf die lächelnden Mitarbeiter im Signet Rehabilitationszentrum, die heuchelten, sie würden Hallie Stillians mögen und vermissen.

Wut auf all die Leute überall, mit ihren Lügen und Geheimnissen und Gemeinheiten.

Wie sie es so oft tat, stellte sie sich vor, wie sie auf schwarzen Schwingen über der Welt schwebte und Tod und Zerstörung über die Sünder brachte.

Und alle waren Sünder.

Alle verdienten es, zu sterben.

Selbst Cody Woods war sündig gewesen und hatte es verdient zu sterben.

Denn was musste er für ein Mann gewesen sein, dass er die Welt verließ, ohne jemanden zu haben, den es kümmerte?

Sicherlich ein schrecklicher Mann.

Schrecklich und hasserfüllt.

"Geschieht ihm recht", knurrte sie.

Dann ließ die Wut wieder nach. Sie war beschämt, dass sie so etwas laut gesagt hatte. Schließlich meinte sie es gar nicht so. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie nichts als Liebe und Güte allen Menschen gegenüber empfand.

Außerdem war es fast an der Zeit, zur Arbeit zu gehen. Heute würde sie Judy Brubaker sein.

In den Spiegel blickend, stellte sie sicher, dass die brünette Perücke richtig saß und der weiche Pony auf natürliche Weise über ihre Stirn fiel. Es war eine teure Perücke und niemandem war bisher aufgefallen, dass es nicht ihr eigenes Haar war. Unter der Perücke waren Hallie Stillians kurze blonde Haare in einem dunklen Braun gefärbt und neu gestylt worden.

Kein Zeichen von Hallie war zurückgeblieben, nicht in ihrer Garderobe und nicht in ihrem Verhalten.

Sie nahm eine Lesebrille und hängte sie an einer glitzernden Kette um den Hals.

Sie lächelte zufrieden. Es war klug gewesen, in die passenden Accessoires zu investieren, und Judy Brubaker verdiente das Beste.

Jeder mochte Judy Brubaker.

Und jeder mochte das Lied, das Judy Brubaker oft bei der Arbeit sang – ein Lied, das sie laut vor sich hin sang, während sie sich für die Arbeit fertig machte.

 

Kein Grund zu weinen

Träum' lang und tief.

Übergib dich dem Lied des Schlafs.

Kein Seufzen mehr,