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JEANETTE
ERAZO HEUFELDER

Der
argentinische
Krösus

Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule

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Vorwort

1898–1930

Ein Reich aus Weizen

Vom Kronprinzen zum Vertrauten des Vaters

Plötzlich Revolutionär!

Doppelleben in Buenos Aires

Der Institutsstifter

Im Visier der politischen Polizei

Krach mit Moskau

Das Mausoleum

Das Wesen von Freundschaft

Stiller Teilhaber im Malik-Verlag

Der Kaufmann von Berlin

Panzerkreuzer Potemkin

Letzte Tage in Berlin

1930–1950

Ende der Getreide-Ära

ROBEMA in Rotterdam

Zwischen politischen Emigranten und Berufsrevolutionären

Auf der Suche nach einer sinnvollen Aufgabe

Ausflug in die Realpolitik

Ein Zeppelin am Himmel über Buenos Aires

Der Erbstreit

Eine für alle Beteiligten schauerliche Geschichte

Wachsende Abhängigkeiten

Die Finanzen

Jakobowicz und der polnische Oberst

Fietje Kwaak

Das New Yorker Institut

Das argentinische Rätsel

Zum Abschied ein Geschenk

1950–1975

Die letzten 25 Jahre

Die Memoiren

Ein glückliches Leben oder nur Glück gehabt?

Anmerkungen

Nachlässe und Archive

Bibliografie

Dank

… aus London, Rotterdam oder Antwerpen kommen Telegramme mit den Notierungen für die Gebietsvertreter von, etwa, Weil Brothers, deren Gewinne über Jahre die Forschungen der Frankfurter Schule finanzierten, die das orthodoxe ökonomische und mechanistische Trugbild von Basis und Überbau zu überwinden trachtete.

SERGIO RAIMONDI, Weil Brothers

»Seit gestern ist der 16jährige Frank Weil, einziger Sohn von Felix, aus seiner ersten Ehe hier. (…) Er erinnert in vielem an seinen Vater in dessen Jünglingszeit, als ich ihn sehr gern leiden mochte. Leider fehlt das beste, die Leidenschaft für die Enterbten und die Revolution.

Aber die Zeit ist heute allerdings eine andere. Wie sollte heute ein Jüngling, auch wenn er Imagination hätte, sich für die Arbeiter, Sozialismus, Kommunismus und Revolution begeistern?«

KARL KORSCH, 13.2.1941, Brief an Paul Mattick

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Fukumoto Kazuo drückte auf den Auslöser: Seminarteilnehmer stehend (von links): Hede Gumperz, Friedrich Pollock, Eduard Ludwig Alexander, Kostja Zetkin, Georg Lukács, Julian Gumperz, Richard Sorge, Karl Alexander (Sohn), Felix Weil, unbekannt; vorne sitzend (von links): Karl August und Rose Wittfogel, unbekannt, Christiane Sorge, Karl Korsch, Hedda Korsch, Käte Weil, Margarete Lissauer, Béla Fogarasi, Gertrud Alexander

Vorwort

Es gibt kaum Fotos von Felix Weil (1898–1975). Eines der wenigen, auf denen der Gründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung abgebildet ist, datiert vom Mai 1923. Auf der als Gruppenbild inszenierten Aufnahme ist er der Zweite von rechts in der letzten Reihe. Ein schlaksiger, hochgewachsener, noch etwas knabenhaft wirkender Mann mit schmalem Gesicht und vom Wind zerzausten, in die Stirn fallenden Haaren, der von den anderen auf dem Foto freundschaftlich ›Lix‹ genannt wurde und gerade dabei war, der linken Intelligenz seiner Generation in Frankfurt ein Institut zu bauen. Das Foto entstand während eines in der thüringischen Provinz veranstalteten Diskussionsseminars und liefert eine Momentaufnahme aus der Entstehungsphase dieses Instituts, das ein Jahr später in dem von Felix Weil gestifteten Neubau in der Frankfurter Viktoria-Allee seinen regulären wissenschaftlichen Betrieb aufnehmen sollte. Auf völlig unterschiedliche Weise hat fast jeder der zwanzig Seminarteilnehmer, die sich am Rande eines Feldackers für das Erinnerungsfoto aufgereiht hatten, zur Legendenbildung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beigetragen: Friedrich Pollock, der es mit Max Horkheimer später leitete. Bertolt Brechts marxistischer Lehrer Karl Korsch. Richard Sorge, der die eingeschlagene wissenschaftliche Laufbahn verließ, um als sowjetischer Meisterspion in die Geschichte einzugehen. Julian Gumperz und Karl August Wittfogel, deren ideologische Entwicklung in entgegengesetzter Richtung verlief und sie zu überzeugten Antikommunisten machte. Und schließlich Felix Weil, der sich höchst kreativ in dem Spannungsfeld von Geld und Geist zu bewegen wusste, wodurch 1924 überhaupt erst die Existenz eines marxistischen Instituts in einer erzkonservativen Universitätslandschaft möglich geworden war. Legenden entwickeln eine Eigendynamik, sind aber im Kern nicht weniger wahr als die historisch verbriefte Lesart der Wirklichkeit. Nur verdrängt im Fall Felix Weils die Legendenbildung – jüdischer Erbe eines Weizenimperiums kann seinen Vater dafür gewinnen, ein marxistisches Institut zu finanzieren –, dass sich Felix Weils Rolle nicht auf die Stiftung einer akademischen Einrichtung an der Frankfurter Universität beschränkte. Der Argentinier Felix Weil unterstützte in Deutschland kommunistische Freunde, sozialistische Gelehrte, linke Theatermacher, Buchverleger und Künstler, beteiligte sich an avantgardistischen Kinoproduktionen und politischen Wissenschaftspublikationen, ließ zur Geschichte der Arbeiter- und Sozialbewegungen forschen und sammeln und baute eine wertvolle marxistische Spezialbibliothek auf – ein geborener Mäzen wie sein Freund, der Maler George Grosz, einmal bemerkte.1 Er pendelte zwischen Ländern und Kontinenten, Gelehrten- und Kaufmannswelt, Großbürgertum und Arbeiterbewegung, war in der Kommunistischen Internationale und in der US-Air Force aktiv. Wie ein eleganter Maßanzug schmiegen sich die Widersprüche einem Leben an, dem die politisch explosive Grundstimmung der Zeit den roten Faden verlieh. Wo immer sich die Möglichkeit bot, griff Felix Weil diesen Faden auf, um mit ihm Verbindungen zum Marxismus zu knüpfen. Er war Mittelsmann und Netzwerker, und er sah sich als Macher, nicht so sehr als Denker.2 So erklärt es sich auch, dass ein Buch über den Gründer eines Instituts, das die Zeit des Nationalsozialismus im Exil überlebte und in der BRD unter dem Namen Frankfurter Schule berühmt werden sollte, ohne Exkurs auf die Theoriegeschichte dieses Instituts auskommt. Nach dem Tod Max Horkheimers im Jahr 1973 schrieb Felix Weil einen Brief an den Spiegel, in dem er um eine Richtigstellung bat: Im Nachruf auf Horkheimer hatte das Nachrichtenmagazin erwähnt, dass er – Weil – und andere im Institut im New Yorker Exil eine Heimstatt gefunden hätten. Weil wies den Spiegel darauf hin, dass er als gebürtiger Argentinier nie Deutscher und in New York somit auch nie ›Refugee‹ gewesen sei. »Wenn also von einer ›Heimstatt‹ geredet werden kann«, schrieb er, »so fand nicht ich eine beim Institut, sondern es bei mir, denn ohne meine neue Gabe von 100.000 Dollars hätte es nicht weiterbestehen können.«3 Felix Weil war ›the man with the money‹,4 der – radikalisiert durch die revolutionäre Stimmung nach dem Zusammenbruch der wilhelminischen Ära – die Weimarer Kultur dort förderte, wo sie links und politisch war, und auf diese Weise mitprägte, was zum Bleibenden und Gültigen dieser Epoche gehört. Immer am Puls der Zeit und überall die produktivsten Geister an sich ziehend.

In den letzten Lebensjahren hatte Weil damit begonnen, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf die Gründungsgeschichte des Instituts. Zur Fertigstellung sollte es freilich nicht mehr kommen. Ein Teil der unredigierten Aufzeichnungen fand nach seinem Tod den Weg ins Frankfurter Stadtarchiv und wird von Biografen der Frankfurter Schule als Quelle zur Gründungsgeschichte des Instituts genutzt. Als Quelle dient sie auch vorliegender Biografie über den Gründer selbst, dessen sonstiger Nachlass die Zeit nicht überdauerte. Felix Weils spät niedergeschriebene Erinnerungen gleichen jedoch dort, wo sie nicht die historische Rekonstruktion der Gründungsgeschichte des Instituts betreffen, einem Bild, das stellenweise übermalt wurde und erst einmal freigelegt werden muss. In Nachlässen und Biografien von Freunden und Weggefährten, wie auch in ausgewählten Archiven und Sammlungen, finden sich Korrespondenzen mit ihm und Dokumente, durch die sich Zeitbezüge und Zusammenhänge in die richtige Chronologie bringen lassen, sodass das Licht nun breiter gestreut auf den Finanzier des Frankfurter Instituts fällt und auch jene Aspekte seines Mäzenatentums beleuchtet, bei denen die Quelle im Frankfurter Stadtarchiv versiegt.

1898–1930

Ein Reich aus Weizen

Die Welt – sie zeigte sich dem Kind in den ersten neun Jahren seines Lebens in Form riesiger Weizenfelder. »Diese Ähren hier, das ist unsere Armee! Damit kämpfen wir!« Das waren die Worte des Vaters, die dieser bei seiner Ankunft in Argentinien selbst schon von einem argentinischen Bekannten zu hören bekommen hatte.5 Hermann Weil hatte es beim Anblick eines endlosen Ährenfeldes, das hundert Mal größer als die durch Erbfolge geschrumpften Felder seiner Heimat war, die Sprache verschlagen. Kaum, dass er ihrer wieder mächtig war, verglich er die aufrecht stehenden Ähren in seiner Begeisterung mit der Armee des preußischen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm. Aber wäre in dieser Heerschar hoch gewachsener Getreidehalme jedes Einzelne tatsächlich ein Wesen aus Fleisch und Blut gewesen, hätte es der junge Getreidekaufmann weit nüchterner registriert. Ihn reizte gerade die menschenleere Weite Argentiniens, die Raum für endlose Weizenfelder ließ. Es gab Land im Überfluss, ein mildes Klima, das fruchtbare Böden zeugte. Die Schienenwege wurden gerade verlegt und die Flächen, die bereits kultiviert wurden, gaben einen Vorgeschmack auf das, was möglich wäre.

Dabei hatte der gewaltige Getreidestrom, der sich von hier aus in einigen Jahren in alle Länder ergießen sollte, 1890, als das Schiff mit Hermann Weil an Bord im Hafen von Buenos Aires anlegte, gerade mal die Ausmaße eines Rinnsals erreicht. Was den aus dem kleinen badischen Ort Steinsfurt bei Sinsheim stammenden Auswanderer bewog, Argentinien trotz der noch fehlenden Infrastruktur als Zielland zu wählen, war eine Wette auf Argentiniens Zukunft als Getreideexport-Nation: In wenigen Jahren würde das Land an der Südspitze Südamerikas in einem Atemzug mit Russland, Nordamerika und den Donauländern genannt. Davon war der junge Getreidekaufmann überzeugt. Er hatte sich nach Beendigung seiner Mannheimer Lehrzeit bei seinen bereits ausgewanderten älteren Brüdern in der Weizenkammer Nordamerikas umgesehen und festgestellt, dass in den USA die Weizenproduktion im Wachstum nicht mit der Einwanderung Schritt halten konnte.6 Der Weizen, den Nordamerika anbaute, wurde an erster Stelle für die Versorgung der eigenen Bevölkerung gebraucht. Dann erst kam der Export. In Argentinien war es umgekehrt.

Als die Pioniere unter den internationalen Getreidehändlern in die künftigen Getreideregionen der Pampaebene an der Südostküste Südamerikas vorstießen, war die Landschaft in den Provinzen von Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, Entre Rios und der Pampa Central zum größten Teil noch Grassteppe. Argentiniens künftige Weizenregion erstreckte sich über eine Fläche, die mehr als zweimal so groß wie Deutschland war.7 Doch so unendlich weit sich die baumlose, monotone Ebene in alle Himmelsrichtungen ausdehnte, so sehr konzentrierte sich ihr Besitz auf die Namen jener spanisch-argentinischen Familien, unter denen der Staat das einstige Indianerland aufgeteilt hatte, nachdem sie ihm die Feldzüge gegen die angestammten Bewohner finanzieren geholfen hatten. Ein kleiner, exquisiter Personenkreis konnte auf diese Weise bis zu zweihunderttausend Hektar sein Eigen nennen. In Erwartung künftiger Wertsteigerungen kaufte diese neue Kaste der Latifundistas in einer Zeit, in der eine Legua, fünfundzwanzig Quadratkilometer, für wenige Tausend Papierpesos zu haben war, viele weitere Leguas hinzu.8 Zwar lagen die im Westen durch die Anden und im Osten durch den Atlantik begrenzten Ländereien, die der Viehzucht dienten, zum Teil viele Tagesritte von der Hauptstadt entfernt, aber der Eisenbahnbau ließ die Distanzen schrumpfen. Und so verwandelten sich im Zuge des Ausbaus von Weideflächen selbst entlegenste Grassteppen nach und nach in grüne Alfalfa-Oasen.

Es stellte sich heraus, dass die kaum Steine aufweisenden und mit einer hellbeigen Decke aus schwerem, festem Löß überzogenen Böden, auf denen nun Rinderherden weideten, zugleich bestes Ackerland boten.9 Aber die spanisch-argentinischen estancieros der ersten Stunde verstanden sich kulturell ganz und gar als ganaderos. Sie hätten die Viehzucht nie mit Getreideanbau kombiniert, auch wenn dadurch große Teile ihrer Ländereien völlig ungenutzt blieben.10 Gegen Zusatzeinnahmen durch Verpachtung nicht genutzter Flächen hatten sie allerdings nichts einzuwenden. Und während sie selbst – im Zuge der infrastrukturellen Erschließung ihrer riesigen Besitztümer durch den Eisenbahnbau und im Zuge des wirtschaftlichen Fortschritts in der Fleischproduktion durch den Einsatz von Kältemaschinen – zu Fleischexporteuren wurden, experimentierten auf ihren verpachteten Landflächen Getreideproduzenten mit Saatweizen aus aller Welt, bis sich mit dem Barletta-Weizen eine widerstandsfähige und zugleich weiche Sorte durchsetzte, mit der argentinischer Weizen für den Getreidemarkt attraktiv zu werden begann.

Der Antwerpener Getreideunternehmer Mosco Z. Danon bewies bei der Eröffnung seiner Filiale in Buenos Aires sowohl ein Gefühl für das richtige Timing als auch für die richtige Wahl des Filialleiters. Denn er bot Hermann Weil den Posten an, kaum dass dieser von dem USA-Ausflug wieder in der Heimat zurück war. Wenngleich der junge Getreidehändler damals erst am Anfang seiner Karriere stand, war er in der Branche kein Unbekannter mehr. Denn der Mannheimer Kaufmann Isidor Weismann hatte seinen ehemaligen Lehrling mit knapp 18 Jahren zum Prokuristen seines Unternehmens ernannt.11 Dass dieser blutjunge Angestellte auch mit einem außergewöhnlichen kaufmännischen Talent gesegnet war, sprach sich unter den europäischen Getreidehändlern herum. Deshalb wusste Mosco Z. Danon ganz genau, dass er seine neue Filiale keinem Greenhorn anvertraute. Mindestens so groß wie die kaufmännischen Fähigkeiten waren Ehrgeiz und Aufstiegswille des 22-jährigen. Bevor Hermann Weil nach Argentinien aufbrach, verlobte er sich mit Rosa Weismann, der Tochter seines einstigen Lehrmeisters. Dass es zur Heirat nur käme, sofern sie der begüterten Kaufmannstochter keinen gesellschaftlichen Abstieg abverlangte, spornte ihn geschäftlich zu Höchstleistungen an.

Der argentinische Getreidemarkt war von Anfang an geprägt durch die speziellen Bodenbesitzverhältnisse im Land. Die Eigentümer der Felder glänzten durch Abwesenheit. Sie lebten in den eleganten Vierteln der argentinischen Hauptstadt oder im Ausland und überließen den Betrieb auf ihren entlegenen Estancias den Gutsverwaltern oder Mayordomos. Von den nie anwesenden Herren über die Ländereien war nicht zu erwarten, dass sie in die Getreideproduktion investierten, die ihnen stets fremd blieb. Weder fühlten sie sich für den Bau von Getreidesilos verantwortlich, noch vergaben sie Verträge mit so attraktiven Laufzeiten an die Pächter, dass diese den Anreiz verspürt hätten, den Bau dieser Silos selbst zu übernehmen. Da von den Latifundien-Besitzern nur eine verschwindend kleine Minderheit zum Landverkauf bereit war, wurden selbst große und wohlhabende Pächter nur in seltenen Fällen zu Landbesitzern.

Während in den USA und Kanada Getreide in Kornspeichern nach Qualitäten sortiert und gelagert wurde, blieb Getreide in Argentinien an den Eisenbahnstationen unter offenem Himmel in Jutesäcke verfüllt liegen. Begünstigt wurde der dadurch gegebene Zwang zum schnellen Abverkauf der leicht verderblichen Ware durch die antizyklische Erntezeit. Wenn in Russland, den Donauländern und Nordamerika Winter herrschte, begann in Argentinien die Erntesaison. Verschifft wurde das Getreide ab Januar, solange die nordamerikanischen Getreideproduzenten infolge des Winters in ihren Ausfuhrmöglichkeiten noch stark eingeschränkt waren. Nachdem Hermann Weil binnen weniger Jahre aus der argentinischen Danon-Filiale die profitabelste Dependance des international tätigen Antwerpener Unternehmens gemacht hatte, reiste er zu seiner Verlobten nach Mannheim und bestellte das Aufgebot.

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Hermann Weil hatte sich seinem Sohn gegenüber stets als Atheist oder Agnostiker bezeichnet und zugleich eingestanden, dass er zwei Mal in seinem Leben zu religiösen Konzessionen bereit gewesen sei. Das eine Mal, als er bei seiner Trauung dem Wunsch seines Schwiegervaters nachgab und dem standesamtlichen Akt eine jüdisch-orthodoxe Zeremonie folgen ließ. Das andere Mal bei der Geburt des Sohns. Ihn hatte er katholisch taufen lassen und die Taufe damit begründet, dass sie in einem katholischen Land wie Argentinien gängige Praxis gewesen sei, sofern keine andere Religionszugehörigkeit angegeben wurde, woran er als Atheist keinen Gedanken verschwendet hätte. »Da ich damals weder als Protestant noch als Jude, noch als irgendein anderer Nicht-Katholik eingetragen wurde, war ich also für Argentinien katholisch« – so notierte es der Sohn 75 Jahre später.12 Was in einem argentinischen Standesamt entschieden wurde, spiegelte sich nicht automatisch in einem deutschen Melderegister wider – wie der Blick auf die Auszüge des alten Melderegisters der Stadt Frankfurt zeigt, dem zufolge Felix José Lucio Weil argentinische Staatsund israelitische Religionszugehörigkeit besaß.13 Nur Lucio, der Name des Tagesheiligen vom 8. Februar, dem Tag seiner Geburt, den er ebenfalls jenem argentinischen Standesbeamten verdankte, blieb ihm als dritter Vorname auch in Deutschland erhalten.

Kurz vor der Geburt des Sohnes vollzog Hermann Weil den Schritt in die Selbstständigkeit, da sich sein Antwerpener Arbeitgeber beim Cornern14 verspekuliert und Danon in den Bankrott geführt hatte. Er gründete mit zwei Brüdern, die ihm nach Buenos Aires gefolgt waren, sowie einem Freund aus Mannheimer Lehrtagen die Firma Gebrüder Weil und Partner. Der ›Partner‹ – das war der Mannheimer Jugendfreund, dessen Name nicht überliefert ist, der aber mit zehn Prozent an der neuen Getreideexportfirma beteiligt war. Hermann Weil gehörten fünfzig Prozent. Die übrigen vierzig Prozent teilten sich seine Brüder Samuel und Ferdinand. Das Unternehmen wurde unter dem spanischen Namen Hermanos Weil y Cía als argentinische Firma in Buenos Aires eingetragen. Wie schon die Heirat mit der Tochter seines Mannheimer Lehrmeisters schien Hermann Weil nun auch die Geburt des Sohnes geschäftlich anzuspornen. Konnte im Verkauf bisher aufgrund der fehlenden Lager- und Sortiermöglichkeiten nur über individuelle Weizenpartien verhandelt werden, ging er nun in Argentinien als Erster dazu über, den Weizen nach seinem spezifischen Getreidegewicht anzubieten.15 Laut Felix Weil war sein Vater sogar der Erfinder dieser Art von Getreideverkauf.16 Bei Barletta-Weizen, dessen Naturalgewicht zwischen 75 und 85 Kilogramm pro Hektoliter schwankte, orientierte sich Hermann Weil hinsichtlich der Preisgestaltung an einem Gewicht von 78 Kilogramm pro Hektoliter.17 Wog der Weizen mehr, stieg der Preis. Umgekehrt sank er. In Kombination mit Musterproben, bei denen Glutenanalysen vorgenommen wurden und die Menge der vorhandenen Schmutzpartikel in Prozentanteil hochgerechnet wurde, ließ sich nunmehr auch argentinischer Weizen nach Sortenqualität anbieten. Da das auf Seiten der Importeure Vertrauen voraussetzte, war es von Vorteil, dass das gesamte Geschäft mit Europa von einer recht überschaubaren Zahl Exporteure abgewickelt wurde, deren Geschäftsgebaren insgesamt als ›reell‹ galt.18 Im Grunde wurden achtzig Prozent des argentinischen Getreideexports von nur drei Unternehmen organisiert: Bunge & Born, Louis Dreyfus und Hermanos Weil. Auf der Welle des einsetzenden Getreidebooms war Hermann Weils Firma in kürzester Zeit bis ganz nach vorne in eine der drei Spitzenpositionen getragen worden. Dort zwar nur an dritter Stelle, besaß Hermanos Weil insofern jedoch die exklusive Position, das einzige argentinische Unternehmen unter den drei großen Exporteuren zu sein.

Hermann Weil ließ seinen Blick über das Weizenfeld streifen, das in ganzer Pracht und Herrlichkeit vor ihm lag. Beim Anblick des goldleuchtenden Ährenmeeres durchflutete ihn das gleiche andächtige Gefühl wie damals, als er zum ersten Mal eines dieser schier endlosen argentinischen Weizenfelder mit eigenen Augen sah. Am Feldrand ritt sein erstgeborener Sohn Felix auf seinem Pferd Matilda den schmalen Weg entlang. Ihm folgte, vorsichtig zum Pferd des großen Bruders Abstand haltend, die drei Jahre jüngere Tochter Anita Alicia auf ihrem kleinen Pony. Hermann Weils Blick wanderte von den Kindern zu der Mutter dieser Kinder, die neben ihm auf der Veranda ihrer Estancia im Liegestuhl lag. Dass er die früh begehrte Tochter des Mannheimer Getreideunternehmers Isidor Weismann heute seine Frau nennen konnte, erfüllte ihn mit ehrlichem Aufsteigerstolz. In wenigen Jahren war ihm ein geradezu schwindelerregender Aufstieg geglückt. Dass ein Selfmade-Millionär wie er in den Augen alter argentinischer Familien als neureich galt, störte ihn nicht. Neureich waren fast alle aus der deutschen Kolonie, die mit nichts als einem Paar verschlissener Hosen in Buenos Aires von Bord der Auswandererschiffe gegangen waren und heute im deutschen Klub verkehrten. »Kannst du es glauben?«, fragte er an seine Frau gewandt, während sein Blick wieder über das Land schweifte. »Das alles ist dir!«19

Auf dem Höhepunkt des Getreidebooms arbeiteten weltweit bis zu dreitausend Menschen für die Firma. Ihre inländischen Filialen lagen an Binnenhäfen und Eisenbahnstationen in sämtlichen Provinzen der Pampa. Hermanos Weil hatte Niederlassungen in Deutschland, Belgien, Holland, England, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Zeitweise kreuzten sechzig Charter-Schiffe mit Fracht ihrer Firma auf den transatlantischen Getreiderouten. Hermann Weil hatte die Wette auf die internationale Konkurrenzfähigkeit Argentiniens gewonnen: An der Schwelle zum neuen Jahrhundert beförderte das knapp 5 Millionen Einwohner beherbergende riesige Land mehr Tonnen Getreide in die Welt, als auf seinem Staatsgebiet Menschen lebten. Hermann Weils Augen ruhten auf seinem Sohn, der vom Pferd gestiegen war und mit Antonio sprach, dem gleichaltrigen Sohn ihrer indianischen Köchin. Nichts war in so einem Moment befriedigender als ein Getreideexportunternehmen, in dem die Nachfolge geregelt war.

Vom Kronprinzen zum Vertrauten des Vaters

Noch bevor er richtig laufen und sprechen konnte, war Felix schon ›Sohn des Chefs‹. Was zunächst nichts anderes hieß, als Sohn eines Mannes zu sein, der mit Geldverdienen beschäftigt und deshalb nie da war. Dass er als Sohn des Chefs auch etwas Besonderes war, spürte er, sobald ihn sein Vater mit in die Firma nahm. Als Sohn des Chefs durfte er in der Firma Sachen, die ihm zuhause nicht erlaubt waren. Keiner der Angestellten wagte etwas zu sagen, wenn er im Kontor mit teuren und empfindlichen Geräten spielte, während sein Vater in seinem Privatbüro saß und nicht gestört werden wollte. Mit vier Jahren bekam er sein erstes Pferd geschenkt. Seitdem durfte er seinen Vater, wenn sie in der Provinz Santa Fe auf ihrer Estancia waren, hin und wieder zu einer ihrer Aufkaufstellen begleiten.

Die Landschaft, die ihm sein Vater bei diesen Ausritten zeigte, war eine vom Getreidemarkt geschaffene Welt, in der sich Weizenfelder in Tonnen Exportgetreide verwandelten, Eisenbahnen in einen endlosen Getreidestrom und die romantisch anmutenden Windräder, die längs der Bachläufe standen, in Kraftwerke, die unaufhörlich Wasser zu den Getreidefeldern pumpten. Sein Vater wollte, dass er Fragen stellte, und gab ihm auf alles Antwort. Wie der Boden unter den Weizenfeldern durch Alfalfa auch im Sommer feucht und nährstoffreich gehalten wurde, wie der hohe Humusgehalt die stark tonhaltigen Böden auflockerte, sie mürbe und durchlässig machte. Wie aus den fünfzig bis sechzig Sack Getreide, mit denen die Pferdekarren, an denen sie vorbeiritten, beladen waren, auf dem Schienenweg Züge mit bis zu tausend Tonnen Getreidefracht wurden. Und wie schließlich in den Häfen diese tausend Tonnen Getreidefracht auf Schiffe mit zehntausenden Tonnen Cargo verladen wurde.

»Die Estancia habe ich mir ganz alleine erarbeitet.«20 Sie ritten schon den Weg zu ihrem eigenen Landgut zurück, als Felix seinen Vater diesen Satz sagen hörte. Die Estancia sei sehr groß, entgegnete er in anerkennendem Ton. Und nachdem er sie sich einen Moment lang genauer betrachtet hatte, fügte er noch hinzu, dass sie so eine große Estancia im Grunde doch gar nicht bräuchten. Sie waren nur zu viert und die meiste Zeit des Jahres in Buenos Aires, wo sie im modischen Recoleto-Viertel noch ein Haus besaßen, ähnlich groß wie die Estancia. Hermann Weil blickte seinen Sohn erstaunt an. Er selbst hatte mit einem Dutzend Geschwister in einem winzigen Haus in Steinsfurt gelebt, das zugleich als Futtermittellager diente. Alles war so beengt, dass es jeden seiner Brüder in die Ferne zog, sobald er nur alt genug war. Er hatte dies seinem Sohn oft erzählt. Und nun beschwerte der sich, dass er seine Kindheit in zu großen Häusern verbringen müsste. Begriff er denn gar nichts? Verärgert erklärte Hermann Weil seinem Sohn, dass ihre Häuser und Grundstücke nur deshalb so groß seien, weil er sie sich erarbeitet hätte. Doch zum ersten Mal ließ Felix eine Antwort seines Vaters mit offenen Fragen zurück.

Auf ihren Ausritten hatte der voller Anerkennung von den golondrinas gesprochen, den italienischen Erntehelfern, die ›Schwalben‹ genannt wurden, weil sie wie Zugvögel im Rhythmus der Erntezeiten zwischen ihrer Heimat Italien und den argentinischen Getreideregionen hin und her zogen. Sein Vater sagte, diese Piemontesen seien fleißige und arbeitsame Männer, denen Italien einen großen Teil seines Aufschwungs zu verdanken hätte. Denn sie brächten ihr gesamtes Geld, das sie in Argentinien bei der Erntearbeit verdienten, in die Heimat zurück. Obwohl diese Männer ebenso fleißig und hart wie sein Vater arbeiteten, lebten sie – Felix hatte es mit eigenen Augen gesehen – in einfachen Lehmhütten auf abgelegenen Feldern; nicht in so einer großen Estancia wie sie. Zwar wohnten seine Freunde Antonio und Fernando und ihre Eltern Juana und Jacinto mit bei ihnen im Haus. Aber selbst das Spielzimmer seiner Schwester war größer als der Raum, in dem Antonio und Fernando mit ihren Eltern schliefen. Juana, einst seine indianische Amme, arbeitete bei ihnen als Köchin. Jacinto, ihr Mann, war Chauffeur und persönlicher Diener seines Vaters. Sein Vater war zwar immer freundlich zu ihnen. Aber selbst wenn die Eltern seiner Freunde nicht besonders unglücklich wirkten, fragte er sich, wie Freundschaften funktionieren sollten, wenn einer allein in einem riesigen Haus wohnen durfte und der andere sich ein kleines Zimmer mit seiner ganzen Familie teilen musste.

Während er sich diese Art von Fragen zu stellen begann, wurde er zufällig Zeuge, wie sein Vater einen Lehrling aus der Firma warf. Die Szene war ihm noch Jahrzehnte später genau vor Augen. »Sein Gesicht war gerötet, seine Augen tränenerfüllt, und er biss sich auf die Lippen. Er rannte zu dem Kleiderständer, riss seine Mütze herunter und war weg durch die Tür, alles in Sekunden.« Sein Vater hätte ihn entlassen, weil er zum zweiten Mal gegen eine Anordnung verstoßen hätte, erklärte ihm damals einer ihrer Buchhalter. »Was tut er denn jetzt?«, wollte er wissen. Der Buchhalter zuckte mit den Achseln: »Who cares …?«21 Es schien Felix, als sollte ein Exempel statuiert werden. Freundschaften, die nicht den gleichen Interessen dienten, konnten nicht funktionieren. Die Komplikationen, die sich für seinen Vater aufgrund seiner Stellung im Umgang mit Menschen ergaben, begannen sich auf seine eigenen Freundschaften zu übertragen. Sein Verhältnis zu Antonio und Fernando änderte sich. Von klein auf hatte er zu ihrer Familie gehört. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, dass es umgekehrt nicht so sein könnte. Denn er und seine Schwester hatten ihre leibliche Mutter selbst nie länger als eine Stunde am Tag gesehen. Felix Weils Erinnerung nach war dies die Stunde des Nachmittagstees. »Dann wurden wir hereingeführt, betrachtet und baldigst mit freundlichem Lächeln entlassen. ›Das muss so sein‹, sagte unsere Engländerin. ›Kinder sind für Eltern da, aber Eltern nicht für Kinder.‹«22 Aus Rücksicht auf die Mutter, die kein Spanisch sprach, wurde in ihrem Beisein nur deutsch gesprochen. Mit den Kindermädchen und Hauslehrerinnen redeten seine Schwester und er französisch und englisch. Waren sie alleine, wechselten sie sofort ins Spanisch über. Seit die französischen Kindermädchen und englischen Gouvernanten in der Erziehung an Juanas Stelle getreten waren, begann sich Felix immer weiter von Antonio und dessen älterem Bruder Fernando zu entfernen. »Aber«, stellte er im Rückblick fest, »zu meinem Erstaunen sagte ich nichts mehr über unseren Lebensstil und den meines indianischen Milchbruders Antonio.«23

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Das große Haus in der Avenida Alvear in Buenos Aires füllte sich mit Leben, wenn die Brüder Hermann Weils mit ihren Familien zu Besuch kamen. Ferdinand Weil hatte inzwischen eine Tochter namens Carlota. Und Samuel Weil war Vater eines Sohns. Mit je einem beziehungsweise mit zwei Kindern war bei den drei Brüdern Weil, die selbst in einem Haushalt mit dreizehn Kindern aufgewachsen waren, die Familienplanung abgeschlossen. Nach dem Wunsch Hermann Weils sollte sein Sohn die Schulausbildung erhalten, die bei ihm selbst zu kurz gekommen war, da er mit 15 Jahren als Untertertianer von der Höheren Bürgerschule in Sinsheim abgehen musste. Obwohl es in Buenos Aires schon weiterführende Schulen gab, die Unterricht in deutscher Sprache anboten, entschied sich Hermann Weil für ein Gymnasium im Herkunftsland und schickte seinen Sohn im Alter von 9 Jahren alleine nach Frankfurt, wo Rosa Weils verwitwete Mutter lebte, bei der Felix die Wochenenden verbringen konnte. Wochentags sollte er mit anderen Jungen aus Übersee-Familien in der Pension eines Lehrers wohnen. Doch überkam ihn dort so viel Heimweh, dass er bald ganz zu seiner Großmutter zog.

Hermann Weil hatte das Frankfurter Goethe-Gymnasium ausgewählt; das Vorbild für die Modernisierung des Schulwesens im damaligen Preußen. Dass die ehemals freie Stadt Frankfurt zu Preußen gehörte, war dem Deutschen Krieg von 1866 geschuldet, dem zweiten der deutschen Einigungskriege, die 1871 zur Entstehung des Deutschen Kaiserreiches unter preußischer Hegemonie führten. Am Goethe-Gymnasium fand das ›Frankfurter Modell‹ Anwendung – eine Kombination aus modernen Sprachen als erster und Latein als zweiter Fremdsprache, ähnlich dem heutigen Regelgymnasium.24 Felix war offensichtlich ein guter Schüler. Denn ein von ihm verfasster Aufsatz auf Latein wurde ausgewählt, um an seinem Beispiel den Erfolg des ›Frankfurter Modells‹ auf der Brüsseler Weltausstellung 1910 im deutschen Pavillon zu präsentieren.25 Äußerst modern mutete auch der Kerngedanke des reformorientierten Lehrplans an. Er lautete ›Selbstunterrichtung‹. Felix nahm den didaktischen Ansatz beim Wort. Er ließ sich von der Köchin seiner Großmutter Entschuldigungsbriefe für die Schule schreiben und verbrachte die gewonnenen Vormittage in der Stadtbibliothek, wo er sich durch das vorhandene Bücherangebot las. Er war bei Zolas J’accuse angekommen, als ein Brief seines Vaters eintraf, in dem die Rückwanderung der ganzen Familie angekündigt wurde. Rosa Weil war an Krebs erkrankt, bei ihrem Mann hatten die Ärzte eine Lues im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Das Ehepaar wollte sich in Frankfurt von Paul Ehrlich behandeln lassen, der für seine Forschungsbeiträge im Bereich der Immunologie soeben mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war.

Gleich nach ihrer Ankunft gab Hermann Weil bei dem Architekten Alfred Engelhard Pläne für eine Villa in Auftrag. Fürs Erste bezog die ganze Familie eine Suite im Hotel Imperial am Opernplatz. Auf einem langen Tisch lagen ausgebreitet Engelhards Baupläne. Eines Tages wurde für ein maßstabgerechtes Modell ihrer künftigen Villa Platz gemacht. Felix sah seine Eltern Seite an Seite an dem langen Tisch sitzen und das puppenstubengroße Modell mit winzigen Miniaturmöbeln einrichten. Selten hatte er seine Eltern so vertraulich und einträchtig erlebt. In Buenos Aires hatte die großbürgerliche Etikette Nähe verhindert. In Frankfurt war die Distanz den Krankheiten geschuldet, über die mit den Kindern nicht gesprochen wurde. Umso mehr wusste Felix die Ausflüge mit seinem Vater zu schätzen. Der nahm ihn mit auf die Internationale Luftfahrtausstellung, auf der in Frankfurt 1909 drei Monate lang die Wunder der Luftfahrttechnik präsentiert wurden. In der ›Fliegerwoche‹, dem ersten internationalen Flugwettbewerb, ging Louis Blériot an den Start, der nur wenige Wochen zuvor als erster Mensch den Ärmelkanal überflogen hatte. Da Blériot persönlicher Gast Hermann Weils war, der zu den Frankfurter Geschäftsleuten gehörte, die die Preisgelder des Wettbewerbs gestiftet hatten, durfte sich Felix als Knirps von 11 Jahren in Blériots Flieger setzen. »Er gab Gas, und der Wind, den sein Propeller machte, legte die Grashalme auf dem Flugfeld um«, schwelgte er noch als alter Mann in der Erinnerung an diesen besonderen Moment. »Seitdem war Fliegen immer meine stille Liebe.« Höhepunkt der Messe war jedoch die Landung des Zeppelins, dem zu den Klängen des Deutschlandliedes sein Erbauer, Graf Zeppelin, entstieg. Dem Grafen zu Ehren kündigte Oberbürgermeister Franz Adickes noch am selben Tag an, dass die Stadt einer Straße seinen Namen geben werde. Ob Zufall oder Hermann Weils Begeisterung für die Luftfahrt geschuldet: Die vom Frankfurter Bürgermeister auserkorene Zeppelin-Allee war die Straße, in der Hermann Weil seine Villa bauen ließ.

Als der Bau schon weit fortgeschritten war, fuhr eines Tages die ganze Familie zu ihrem künftigen Wohnsitz. Wieder ein zu großes Haus, dachte sich Felix, als er die Zimmerfluchten sah. In der Eingangshalle der Villa war ein Lift eingebaut. Denn seit seine Beine immer stärker schlackerten, konnte Hermann Weil kaum noch gehen. Auch Rosa Weils Gesundheitszustand hatte sich sichtbar verschlechtert. Sie musste sich von ihrer Zofe stützen lassen, während sie langsam durch den parkartigen Garten gingen. An einer windgeschützten Stelle blieb sie stehen. Felix begriff erst später, dass seine Mutter an diesem Tag einen Platz im Garten für die Urne mit ihrer Asche ausgewählt hatte.26 Das von Paul Ehrlich entwickelte Arsenpräparat Salvarsan, das 1910 auf den Markt gekommen war, brachte in der medikamentösen Behandlung der Krankheiten nicht den erhofften Durchbruch. Rosa Weil starb 1912, noch bevor die Villa bezugsfertig war. Nach ihrem Tod wurde Felix für seinen Vater zum engsten Vertrauten.

Als sich Hermann Weil 1908 aus dem aktiven Geschäft zurückzog und nach Frankfurt zurückkehrte, wurde Gebrüder Weil und Partner eine Aktiengesellschaft. Der namentlich nicht bekannte Mannheimer Jugendfreund, der zusammen mit ihm und seinen Brüdern Ferdinand und Samuel die Firma 1898 gegründet hatte, schied damals aus. Seine zehn Prozent wurden zu gleichen Teilen an Julius Flegenheimer und Sigismundo Edelstein verkauft, zwei langjährige Prokuristen der Firma und nun die neuen Partner der Gebrüder Weil. Während Edelstein seitdem für die Kontakte zu den europäischen Importeuren zuständig war, leitete Flegenheimer die wichtigste Filialdirektion in Rotterdam, wohin sich der erkrankte Hermann Weil regelmäßig von Frankfurt aus im Mercedes chauffieren ließ, solange das sein Gesundheitszustand erlaubte. In der Firma ging jeder davon aus, dass anschließend Felix in die Fußstapfen seines Vaters treten würde.

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Großbritannien hatte schon vor dem Krieg misstrauisch beäugt, dass deutsches Kapital im argentinischen Außenhandel eine immer größere Rolle spielte. Bei Kriegsausbruch 1914 verlangte es, das neutrale Argentinien müsse alle Handelsbeziehungen mit Deutschland abbrechen, und tatsächlich verzeichnete die argentinische Außenhandelsstatistik danach keine Handelsbeziehungen mit Deutschland mehr. Stattdessen kam es nun zu einem verstärkten Frachtschiffverkehr zwischen Argentinien und Inseln wie St. Vincent in der Karibik oder dem Hafen Las Palmas auf den Kanarischen Inseln. Auch wenn sich anhand der Dokumentationen an Bord nicht mit Bestimmtheit sagen ließ, dass die endgültige Destination der Getreidefracht weiterhin Deutschland war, lag diese Vermutung nah. 1916 verschärfte Großbritannien den wirtschaftlichen Druck und gab eine Liste mit den Namen feindlicher deutscher Unternehmen heraus, die in Lateinamerika präsent waren. Auf dieser Liste tauchte auch Hermanos Weil y Cía auf.27

Während sich in Argentinien die Lage zuspitzte, beschäftigte Felix Weil in Frankfurt gedanklich mehr als alles andere, dass nach dem Abitur seine ganze Klasse für Deutschland in den Krieg ziehen würde und er als gebürtiger Argentinier als Einziger zuhause bleiben sollte. Auch er wollte einen Beitrag für die in der offiziellen Kriegspropaganda als gerecht dargestellte deutsche Sache leisten. Sein Vater hatte die sechs Schlafzimmer im Obergeschoss ihrer Villa der Militär-Sanitätsverwaltung als Offizierslazarett zur Verfügung gestellt. Jede Woche erhielt er seitdem Besuch von einem Major der Frankfurter Kriegsamtsstelle und später sogar von einem Vertreter der Admiralität. Nach dem Abitur erfuhr Felix Weil zu seiner Überraschung, dass die Besuche nicht mit dem Lazarett in Verbindung standen, sondern mit einem ganz anderen Engagement seines Vaters. Dieser nämlich erstattete den militärischen Stellen wöchentlich Bericht über Argentiniens Fleisch- und Getreidehandel mit England. Seit er sich auf Anfrage hin in seinen Berichten auch zu persönlichen Einschätzungen über Wirkung und Dauer einer U-Boot-Blockade hinreißen ließ, hatte sich die Admiralität für sie zu interessieren begonnen. Und über die Admiralität gelangten die Berichte schließlich zum Kaiser. Wilhelm II. las sie aufmerksam durch, versah sie mit persönlichen Randbemerkungen und ließ sie anschließend über seinen Hofmarschall wieder an den Getreidehändler zurückgehen.

Felix Weil erinnerte sich, dass ihm sein Vater ein Dutzend solcher Berichte zeigte und ihn gleichzeitig bat, ihm künftig bei ihrer Ausarbeitung zu helfen.28 So durfte er als frischgebackener Assistent seinen Vater am 24. Juli 1917 ins Große Hauptquartier nach Bad Kreuznach begleiten. Dort empfing sie der Kaiser zu einem Mittagessen, dem sich ein frühes Abendessen mit Hindenburg und Ludendorff anschloss, die sich – wie schon der Kaiser – auch für ein persönliches Gespräch Zeit nahmen.29 Was der Grund für die viele Aufmerksamkeit war, die ihm in Bad Kreuznach zuteilwurde, schwante Hermann Weil allerdings erst hinterher, als er erfuhr, dass in der Deutschen Politik, dem Organ des Deutschen Flottenverbands, zwischen Februar und Juli 1917 vier Beiträge erschienen waren, als deren Verfasser er genannt wurde.30 Der letzte Aufsatz vom 27. Juli trug die Überschrift Die Wirkung von fünf Monaten U-Boot-Krieg und entpuppte sich als Kriegs- und Durchhaltepropaganda, mit der genau eine Woche nach Annahme der Friedensresolution im Reichstag immer noch von einem baldigen Siegfrieden durch einen unbeschränkten U-Boot-Krieg schwadroniert wird, während die Mehrheit im Reichstag ein Ende des Krieges und einen Verständigungsfrieden gefordert hatte. Noch fünfzig Jahre später versuchte Felix Weil in seinen Memoiren den Eindruck zu korrigieren, sein Vater hätte zum Lager der ultrarechten Nationalisten um Ludendorff und den im Reichsmarineamt beschäftigten Kolonialpropagandisten Paul Rohrbach gehört.31 Vielmehr sei es so gewesen, dass sein Vater von Rohrbach um die üblichen Berichte ersucht worden sei. Dieser habe sie dann ohne sein Wissen mit alldeutschem Gedankengut durchsetzt und an entscheidenden Stellen so überarbeitet, dass sie im Inhalt der eigenen Expansionsideologie glichen. Sein Vater sei ein deutscher Patriot gewesen, aber kein Alldeutscher.32 »Nach dem Krieg litt er sehr unter dem Gedanken, dass er von einem Haufen größenwahnsinniger Marineoffiziere benutzt worden war, ohne es zu merken, und schämte sich. (…) Er war im Grunde trotz seiner Millionen ein sehr einfacher Mensch geblieben: Getreide, das tägliche Brot für so viele Menschen, war seine Welt, und er vergab sich bis zu seinem Ende nicht, dass er in bester Absicht an so viel Unheil indirekt mitschuldig war.«33

Plötzlich Revolutionär!