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Fälle zum Europarecht

unter Berücksichtigung der Bezüge zum
deutschen und internationalen Recht

herausgegeben von

Prof. Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur.
Universität Jena

unter Mitarbeit von

Dr. Florian Gonsior, Univ. Bayreuth
PD Dr. Dipl. sc. pol. Thomas Holzner, Univ. Bayreuth
Prof. Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur., Univ. Jena
Prof. Dr. Urs Kramer, Univ. Passau
PD Dr. Daniel Krausnick, Univ. Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. Johannes Saurer, LL.M., Univ. Tübingen
Prof. Dr. Meinhard Schröder, Univ. Passau
Prof. Dr. Sebastian Unger, Univ. Bochum
Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger, Univ. Augsburg

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

2. Auflage 2017

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-029986-3

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-029987-0

epub: ISBN 978-3-17-029988-7

mobi: ISBN 978-3-17-029989-4

 

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Vorwort

Dem Europarecht kommt in der Rechtspraxis eine große Bedeutung zu. Dies schlägt sich auch in der juristischen Ausbildung und Prüfung nieder. Die vorliegende Fallsammlung soll Studierenden sowohl im Pflichtfachbereich als auch im Schwerpunkt Europarecht die klausurmäßige Übung, Wiederholung und Vertiefung wichtiger europarechtlicher Fragestellungen einschließlich ihrer Verbindungen zum nationalen Recht und zum Völkerrecht unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis ermöglichen. Um einen möglichst hohen Lernerfolg zu erzielen, empfiehlt es sich, die Fälle zunächst eigenständig zu lösen und erst danach die Lösungsvorschläge durchzuarbeiten. Hinweise der Leser sind an die E-Mail-Adresse ls-knauff@uni-jena.de willkommen. Für die Unterstützung bei der Herausgabe der Zweitauflage sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls, insbesondere Frau Laura Bittner sowie den Herren Constantin Beye und Tobias Birk, herzlich gedankt.


Jena, im Dezember 2016
Matthias Knauff

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Allgemeines Literaturverzeichnis

Fall 1:Strenge Vorschriften für Bewachungsunternehmen in Belgien (Kramer)
Vertragsverletzungsverfahren, Dienstleistungsfreiheit, Arbeit­nehmerfreizügigkeit, sonstige Grundfreiheiten (Überblick), Zoll­union, Europäische Kommission

Fall 2:Fleischverpackung (Knauff)
Feststellungsklage, Warenverkehrsfreiheit, europarechts­konforme Auslegung

Fall 3:Sportwetten (Holzner)
Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV, Auslegung von Vorlagefragen, Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 f. AEUV, Zahlungsverkehrsfreiheit, Art. 63 II AEUV, Verhältnis der Freiheiten zueinander, Rechtfertigung aufgrund zwingender Gründe des Allgemeininteresses

Fall 4:Kontaktlinsen übers Internet (Kramer)
Vertragsverletzungsverfahren, Warenverkehrsfreiheit, Staats­haftung (wegen Verstoßes gegen EU-Recht), Untätigkeitsklage, Vorabentscheidungsverfahren, Verfassungsbeschwerde

Fall 5:Doppelt gezahlt hält besser (Kramer)
Vorabentscheidungsverfahren, Dienstleistungsfreiheit, Bereichsausnahmen, (versteckte) Diskriminierung, Einheimischenprivileg, Inländerdiskriminierung, Niederlassungsfreiheit, Zwangs­mitgliedschaft

Fall 6:Der österreichische Rechtsreferendar (Knauff)
Verpflichtungsklage, unmittelbare Anwendbarkeit von Richt­linien, Arbeitnehmerfreizügigkeit

Fall 7:Nationale Flugzeugindustrie (Knauff)
Zeitliche Anwendbarkeit des Europarechts, Kapitalverkehrs­freiheit, Vertragsverletzungsverfahren

Fall 8:Streit um das Einheimischenmodell (Wollenschläger)
Vertragsverletzungsverfahren, Grundfreiheiten (Freiheiten des Personen- und Kapitalverkehrs), Unionsgrundrechte (Alters­diskriminierung), Unionsbürgerschaft

Fall 9:Kein Moos für Moser (Krausnick)
Nichtigkeitsklage, Anfechtungsklage, Begriff der Beihilfe, gerecht­fertigte Beihilfen nach Art. 106 II, 107 II AEUV, Rück­forderung von Beihilfen, Beihilfeverfahren, beihilfenrechtliche Konkurrentenklage, Altmark-Trans-Kriterien

Fall 10:Ökostromförderung (Knauff)
Beihilfeeigenschaft einer Fördermaßnahme, Rechtfertigung von Beihilfen, Beihilfeverfahren, Warenverkehrsfreiheit

Fall 11:Wassersparendes Duschen (Knauff)
Nichtigkeitsklage, Rechtsetzungskompetenzen, Verfahren der Sekundär­rechtsetzung, Wirtschaftsgrundrechte

Fall 12:Führerscheinprobleme (Knauff)
Vorabentscheidungsverfahren, Grundsatz der gegenseitigen ­Anerkennung, richtlinienkonforme Auslegung

Fall 13:Zweifelhafte Richtlinien (Kramer)
Europäisches Parlament, (ordentliches und besonderes) Gesetz­gebungsverfahren, Verwerfungskompetenz nationaler Gerichte, Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagepflicht

Fall 14:Verbraucherschutz durch Staatshaftung? (Unger)
Außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für Verstöße ­gegen Unionsrecht, insbesondere: Haftung für fehlerhafte Richt­linienumsetzung, Haftung für judikatives Unrecht

Fall 15:Der Ankauf von Staatsanleihen (Kramer)
Demokratieprinzip, einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG, Kompetenzen der EZB und des ESZB, Prüfungskompetenz des BVerfG, Verstoß gegen Art. 123 I AEUV, Vorabentscheidungsverfahren, Vorwegnahme der Hauptsache

Fall 16:Die neue Europäische Agentur für Sicherheit und Leichtigkeit des elektronischen Geschäftsverkehrs (Saurer/Gonsior)
Nichtigkeitsklage, europäischer Verwaltungsverbund, EU-Agenturen, Binnenmarktharmonisierungskompetenz, institutionelles Gleichgewicht, Subsidiaritätsprinzip

Fall 17:Schwarze Liste (Schröder)
Nichtigkeitsklage, Rechtsschutz gegen Verordnungen der EU, Wirtschaftssanktionen gegen Individuen, Unionsgrundrechte, Verhältnis Unionsrecht-Völkerrecht

Fall 18:Bananenmarktordnung (Holzner)
Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV, konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG, Prüfungsumfang des BVerfG, Individualrechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht

Allgemeines Literaturverzeichnis

Arndt/Fischer/Fetzer, Europarecht, 11. Aufl. 2015

Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 5. Aufl. 2012

Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, Die Europäische Union, 12. Aufl. 2016

Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 5. Aufl. 2016

Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006

Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014

Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016

Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016

Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1: Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012; Bd. 2: Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2015; Bd. 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007; Bd. 4: Europäische Grundrechte, 2009; Bd. 5: Wirkungen und Rechtsschutz, 2010; Bd. 6: Institutionen und Politiken, 2010

Frotscher/Kramer, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 6. Aufl. 2013

Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013

Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010

Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Losebl. Stand 7/2016

v. d. Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 7. Aufl. 2015

Hailbronner/Wilms (Hrsg.), Recht der Europäischen Union, Losebl. Stand 1/2010

Hakenberg, Europarecht, 7. Aufl. 2015

Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2. Aufl. 2007

Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 10. Aufl. 2016

Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, 10 Bde., 2013–2016

Herdegen, Europarecht, 18. Aufl. 2016

Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht/Staatsrecht III, 5. Aufl. 2015

Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015

Hobe, Europarecht, 8. Aufl. 2014

Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2016

Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter Einbeziehung der vom EuGH entwickelten Grundrechte, der Grundrechtsregelungen der Verträge und der EMRK, 3. Aufl. 2016

Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016

Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge. Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 6. Aufl. 2012

Maunz/Dürig, Grundgesetz, Losebl. Stand 2016

Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Losebl. Stand 2/2016

Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014

Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. 2016

Pache/Knauff (Hrsg.), Fallhandbuch Europäisches Wirtschaftsrecht. Lehr- und Studienbuch anhand der EuGH-Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Vertrags von Lissabon, 2. Aufl. 2010

Pechstein, EU-Prozessrecht, 4. Aufl. 2011

Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014

Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015

Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, Losebl. Stand 6/2016

Schroeder, Grundkurs Europarecht, 4. Aufl. 2015

Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 3. Aufl. 2015

Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012

Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht. Das Recht der Europäischen Union, 2007

Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 4. Aufl. 2014

Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2. Aufl. 2012

Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016

Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010

Thiele, Europäisches Prozessrecht. Verfahrensrecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Union, 2. Aufl. 2014

Fall 1:Strenge Vorschriften für Bewachungsunternehmen in Belgien

Urs Kramer

Sachverhalt

Nach einem belgischen Gesetz vom 8.4.2015 über Bewachungs‑, Sicherheitsunternehmen und interne Bewachungsdienste bedürfen die genannten Unternehmen einer vorherigen Genehmigung, die an folgende Voraussetzungen geknüpft ist:

•  die Verpflichtung des Bewachungsunternehmens, eine Betriebsniederlassung in Belgien zu haben;

•  die Verpflichtung der Personen, die mit der tatsächlichen Leitung des Unternehmens betraut sind oder in einem solchen Unternehmen oder für dessen Rechnung arbeiten oder bei dessen Tätigkeit eingesetzt werden, ihren Wohnsitz oder hilfsweise ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien zu nehmen; ausgenommen sind nur Bedienstete, die intern für administrative oder logistische Zwecke eingesetzt werden;

•  die Verpflichtung eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Unternehmens, ungeachtet der von dem Unternehmen bereits für die Ausübung seiner Tätigkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung erbrachten Nachweise und Sicherheiten, eine Genehmigung einzuholen;

•  die Verpflichtung für jede Person, die in Belgien eine Bewachungstätigkeit ausüben möchte, einen Ausweis nach diesem Gesetz zu beantragen.

Die Europäische Kommission bezweifelt die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem freien Dienstleistungsverkehr, der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und erhebt nach ordnungsgemäßer Durchführung des Vorverfahrens eine Vertragsverletzungsklage gegen das Königreich Belgien. Die belgische Regierung beruft sich auf den besonderen Charakter des Sektors Private Sicherungsdienste und die Ausnahmebestimmungen der Art. 45 III, 51, 52 AEUV, gegebenenfalls i. V. mit Art. 62 AEUV.

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Wesentliche Probleme

Vertragsverletzungsverfahren, Dienstleistungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, sonstige Grundfreiheiten (Überblick), Zollunion, Europäische Kommission

Gliederung

A.  Zulässigkeit der Klage der Kommission

I.  Zuständigkeit des EuGH

II.  Beteiligtenfähigkeit

III.  Klagegegenstand

IV.  Klagebefugnis bzw. Klageberechtigung

V.  Vorverfahren

VI.  Rechtsschutzbedürfnis

VII.  Zwischenergebnis

B.  Begründetheit der Klage der Kommission

I.  Verpflichtung, eine Niederlassung in Belgien zu haben

1.  Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit

2.  Eingriff in Art. 56 AEUV

3.  Rechtfertigung des Eingriffs

a)  Rechtfertigungsgrund als „Schranke“

b)  Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“

II.  Wohnsitzerfordernis für Mitarbeiter und Führungskräfte in Belgien

1.  Eingriff in Art. 45 AEUV

2.  Eingriff in Art. 49 AEUV

3.  Rechtfertigung der Eingriffe

a)  Rechtfertigungsgrund als „Schranke“

b)  Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“

III.  Erfordernis der vorherigen Genehmigung oder Zulassung der Bewachungstätigkeit

1.  Eingriff in Art. 56 AEUV

2.  Rechtfertigung des Eingriffes

a)  Rechtfertigungsgrund als „Schranke“

b)  Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“

IV.  Ausweiserfordernis

1.  Eingriff in Art. 56 AEUV

2.  Rechtfertigung des Eingriffes

a)  Rechtfertigungsgrund als „Schranke“

b)  Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“

C.  Gesamtergebnis

Lösung

Die Klage der Europäischen Kommission (nachfolgend: Kommission) hat Erfolg, wenn sie zulässig1 und begründet ist.

A.Zulässigkeit

I.Zuständigkeit des EuGH

Der EuGH müsste für eine Klage der Kommission zuständig sein. Gemäß Art. 258 AEUV (es gibt keine Generalklausel wie § 40 I 1 VwGO oder Auflistung aller Verfahren wie § 13 BVerfGG, sondern nur die einzelnen Verfahren) ist hier ein „Vertragsverletzungsverfahren“, also eine so genannte Aufsichtsklage der Kommission,2 einschlägig, für deren Entscheidung der EuGH auch unter Berücksichtigung des Art. 256 AEUV zuständig ist.3

II.Beteiligtenfähigkeit

Die Beteiligtenfähigkeit der Kommission als Klägerin und des Königreiches Belgien als betroffenem Mitgliedstaat folgt ebenfalls aus Art. 258 AEUV.

III.Klagegegenstand

Des Weiteren müsste ein tauglicher Klagegegenstand gegeben sein. Nach Art. 258 AEUV ist das ein Verstoß gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen, d. h. dem Primärrecht (also dem EUV, AEUV oder der Grundrechtecharta). In Betracht kommt hier eine Verletzung des AEU-Vertrages, insbesondere der Art. 45, 49, 56 AEUV, durch den gesetzgeberischen Akt des Mitgliedstaates Belgien. Mithin liegt ein tauglicher Klagegegenstand vor.

IV.Klagebefugnis bzw. Klageberechtigung

Die Kommission müsste ferner auch klageberechtigt sein. Die Klageberechtigung (auch: Klagebefugnis4) der Kommission liegt bereits vor, wenn eine Vertragsverletzung behauptet wird, d. h. „nach Auffassung“ der Kommission vorliegt.5 Ob sie als möglich erscheint (Möglichkeitstheorie im Verwaltungsprozess), bleibt dagegen unerheblich. In Betracht kommt hier eine Verletzung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 45 AEUV, der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV und des freien Dienstleistungsverkehrs nach Art. 56 AEUV. Von deren Verletzung ist die Kommission vorliegend sogar überzeugt, womit ihre Klageberechtigung gegeben ist.

V.Vorverfahren

Ein ordnungsgemäßes Vorverfahren i. S. des Art. 258 I AEUV wurde durchgeführt.

Exkurs: Aus Art. 258 AEUV ergibt sich insoweit folgendes Verfahren: Zunächst ergeht ein Mahnschreiben an den jeweiligen Mitgliedstaat (Abs. 1 Hs. 2). Daraufhin erfolgt eine gegebenenfalls unbefriedigende Antwort des Staates, die in eine begründete Stellungnahme der Kommission mündet (Abs. 1 Hs. 1). Nach Ablauf der von der Kommission gesetzten (Handlungs-)Frist ohne eine die Kommission zufrieden stellende Reaktion des Mitgliedstaates ist eine Klageerhebung möglich (Abs. 2).6

VI.Rechtsschutzbedürfnis

Außerdem dürfte das Rechtsschutzbedürfnis nicht ausgeschlossen sein. Das Vertragsverletzungsverfahren dient der objektiv-rechtlichen Kontrolle der mitgliedstaatlichen Einhaltung des Unionsrechts. Deshalb muss das Rechtsschutzbedürfnis nicht besonders nachgewiesen werden; ausreichend ist vielmehr, dass der betroffene Mitgliedstaat bis zum Ablauf der in der Stellungnahme der EU-Kommission gesetzten Abhilfefrist das beanstandete Verhalten nicht vollständig abgestellt hat.7 Eine Beseitigung des Vertragsverstoßes nach der Klageerhebung ist dagegen (auch nach dem Normzweck) nicht mehr zu berücksichtigen.8 Dieses Problem der Erledigung nach einer Klageerhebung wurde vom EuGH bislang allerdings noch nicht näher betrachtet.9

VII.Zwischenergebnis

Die Klage der Kommission gegen das Königreich Belgien ist zulässig.

B.Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, wenn die von der Kommission geltend gemachte Verletzung des AEU-Vertrages (es wird vom EuGH alles – also auch nicht Gerügtes – geprüft, aber nur ein gerügter Verstoß sanktioniert) durch den Mitgliedstaat Belgien festgestellt werden kann. Dazu bedarf es einer Überprüfung der Vereinbarkeit der einzelnen Regelungen des fraglichen belgischen Gesetzes mit den Grundfreiheiten des AEU-Vertrages.

Exkurs: Die Grundfreiheiten des AEU-Vertrages.10 Der AEU-Vertrag kennt vier Grundfreiheiten, die zu den internen Unionsmaßnahmen und ‑politiken des Vertrages zählen.11 Das sind der freie Warenverkehr, der freie Personenverkehr, der freie Dienstleistungsverkehr und der freie Kapitalverkehr. Mit Hilfe dieser vier Grundfreiheiten wird der Binnenmarkt als ein „Raum ohne Binnengrenzen“ als das große Ziel der EU (→ Art. 3 III 1 EUV) verwirklicht, in dem alle Hindernisse für den freien Waren‑, Personen‑, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr beseitigt sind (vgl. Art. 26 I, II AEUV). Alle Grundfreiheiten wirken heute unmittelbar, d. h., jeder begünstigte Bürger kann sich vor den nationalen Gerichten und gegenüber der Verwaltung auf sie berufen;12 entgegenstehendes nationales Recht ist in grenzüberschreitenden Sachverhalten (nur dann gilt das Unionsrecht; sonst bleibt nationales Recht anwendbar) auf Grund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts unanwendbar.13 Entgegenstehendes Sekundärrecht der EU wird gebrochen (→ Rangverhältnis).

•  Der freie Warenverkehr, Art. 28 ff., 34 ff. AEUV

Die Errichtung des Binnenmarktes setzt vor allem den freien Handel mit Waren voraus. Aufgabe und Ziel des freien Warenverkehrs ist die Schaffung eines Wirtschaftsraumes, in dem Waren im Rahmen einer einheitlichen Wettbewerbsordnung frei zirkulieren können.14 Zur Erreichung des freien Warenverkehrs sieht der AEU-Vertrag die Abschaffung der Zölle (so genannte Zollunion, Art. 28, 30 ff. AEUV) sowie aller mengenmäßigen Beschränkungen (Art. 34 ff. AEUV) im Handelsverkehr innerhalb der Union vor.

Dabei umfasst die Zollunion als „Kernstück“15 eines Binnenmarktes die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifes gegenüber Drittländern sowie das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben.16

Ergänzend zur Zollunion wird der freie Warenverkehr durch die Beseitigung mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung gemäß Art. 34 ff. AEUV gewährleistet. Das ist notwendig, um zu verhindern, dass durch Beschränkungen im Warenverkehr die Wirkung von Zöllen auf Umwegen erreicht wird. Unter einer mengenmäßigen Beschränkung ist eine hoheitliche Maßnahme zu verstehen, welche die Ein- oder Ausfuhr einer Ware dem Wert oder der Menge nach kontingentiert.17 Eine Maßnahme gleicher Wirkung ist – ausgehend vom Ziel der EU (s. oben) – nach der so genannten Dassonville-Formel“ des EuGH „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“.18 Diese Definition wird seit der so genannten Keck-Entscheidung“ des EuGH allerdings insofern eingeschränkt, als nationale Maßnahmen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, „nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten […] zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“.19 Beispiele für Verkaufsmodalitäten, die keine Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen, sind das Verbot des Verkaufes zu Verlustpreisen, Werbebeschränkungen, Ladenschlussregelungen, Vorschriften über den Sonn- und Feiertagsverkauf.20 Während der letzte „sofern-Teil“ der „Keck-Definition“ zunächst weniger streng angewandt wurde, hat er durch das „Doc-Morris- Urteil“21 an Bedeutung gewonnen: Wenn die Verkaufsmodalität zwar für alle unterschiedslos gilt (im konkreten Fall die Pflicht, bestimmte Waren nur in einem Ladenlokal und nicht übers Internet zu verkaufen), faktisch aber doch eine Beeinträchtigung für ausländische Anbieter von Waren verursacht (in diesem Fall hatte das betroffene Unternehmen im Unterschied zu inländischen Konkurrenten noch keinen „Sitz“ im jeweiligen Mitgliedstaat), ist sie verboten.22

•  Der freie Personenverkehr, Art. 45 ff., 49 ff. AEUV

Zu der in einem Binnenmarkt erforderlichen Mobilität der Produktionsfaktoren gehört zum einen die Möglichkeit für die Unternehmer, innerhalb der Europäischen Union den unter Kostengesichtspunkten günstigsten Produktions- und Vertriebsstandort zu wählen, sowie die Möglichkeit für die Arbeitnehmer, sich den unter Einkommensgesichtspunkten attraktivsten Arbeitsort auszusuchen. Insofern gewährt die Grundfreiheit des Personenverkehrs (der Oberbegriff „freier Personenverkehr“ ergibt sich aus Art. 26 II AEUV) eine umfassende Freizügigkeit für Unionsbürger im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Tätigkeit, ergänzt durch soziale Rechte. Sie besteht aus zwei Elementen, der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Art. 45–48 AEUV, und der Niederlassungsfreiheit der Arbeitgeber bzw. Selbstständigen, Art. 49–55 AEUV.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beinhaltet einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung aller Unionsbürger im Hinblick auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen (Art. 45 II AEUV) sowie das Aufenthaltsrecht der Arbeitnehmer im Beschäftigungsstaat (Art. 45 III AEUV). Art. 45 AEUV soll den abhängig Beschäftigten die freie Wahl des Arbeitsplatzes im gesamten Unionsgebiet ermöglichen, wobei jedoch zwei Einschränkungen bestehen: Das Aufenthaltsrecht findet auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung keine Anwendung (Art. 45 IV AEUV; so genannte Bereichsausnahme)23 und kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt werden (Art. 45 III AEUV; Rechtfertigungsgründe bzw. „Schranke“).24

Die Niederlassungsfreiheit gewährt den Unionsbürgern die Möglichkeit, kontinuierlich und nicht diskriminiert am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates zum Zweck der selbstständigen Erwerbstätigkeit teilzunehmen.25 Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit wird allerdings gemäß Art. 51 AEUV für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (→ Bereichsausnahme), begrenzt.26 Darüber hinaus enthält Art. 52 AEUV einen Vorbehalt für Sonderregelungen in Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (Rechtfertigungsgründe bzw. „Schranke“).27 In diesem Zusammenhang ist auch das „Gebhard-Urteil“ zu beachten. In diesem hat der EuGH entschieden, dass nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, zu ihrer Rechtfertigung vier Voraussetzungen (davon die letzten drei als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) erfüllen müssen: „Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.“28 Dieses Urteil muss in einer Klausur aber nicht zwingend genannt werden.

•   Die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 ff. AEUV

Die Errichtung eines Binnenmarktes gilt auch für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen, die – wirtschaftlich gesehen – immer bedeutender werden.29 Insofern gewährleistet die Dienstleistungsfreiheit grenzüberschreitende Dienstleistungen innerhalb des Unionsgebietes im Rahmen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit.30 Sie umfasst das Aufenthalts- und Einreiserecht zum Zweck und für die Dauer der Dienstleistung und das Recht auf Gleichbehandlung.31 Im Unterschied zu den Personenverkehrsfreiheiten (s. oben) steht hier „die Mobilität des Produktes (Export und Import von Leistungen) und nicht des Produktionsfaktors Arbeit“ im Vordergrund.32 Was eine „Dienstleistung“ i. S. des AEU-Vertrages ist, bestimmt (bzw. beschreibt) Art. 57 AEUV. Die Art. 56, 57 AEUV enthalten nicht nur ein Diskriminierungsverbot, sondern untersagen auch alle Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs, soweit sie nicht aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sind (Art. 62 AEUV verweist insoweit auf die Bereichsausnahme nach Art. 51 AEUV und die Rechtfertigungsgründe nach Art. 52 AEUV; vgl. dazu insgesamt näher in Fall 5).33

•  Die Freiheit des Kapitalverkehrs, Art. 63 I, 64 ff. AEUV

Ziel der Kapitalverkehrsfreiheit ist die Sicherung der Investitionsfinanzierung im Unionsgebiet. Diese Grundfreiheit soll durch freie Zirkulation des verfügbaren Investitionskapitals eine kostenorientierte Standortverteilung der Produktion im Unionsgebiet ermöglichen.34 Der Begriff „Kapitalverkehr“ umfasst dabei alle auf Geld (z. B. Wertpapiere, Kredite) oder Sachkapital (z. B. Rechte an Immobilien, Unternehmensbeteiligungen) bezogenen Transaktionen, die nicht direkt durch den Waren- und Dienstleistungsverkehr bedingt sind (das sind Arbeitsentgelte, Kaufpreiszahlungen etc., s. sogleich unten).35 Nach Art. 63 I AEUV sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten (das geht also über den Binnenmarkt hinaus). Eine Beschränkung des Kapitalverkehrs ist dabei jede staatliche Maßnahme, die für die Kapitalein- oder ‑ausfuhr eine gegenüber dem inländischen Kapitalverkehr formell oder materiell abweichende Regelung vorsieht. Ausnahmen bestehen nach Art. 64 ff. AEUV. Ergänzend ist an dieser Stelle noch die (Hilfs-)Freiheit des Zahlungsverkehrs, Art. 63 II, 64 ff. AEUV zu erwähnen, welche die ungehinderte Bezahlung von Waren, Dienstleistungen und die Überweisung der Löhne für Angehörige der Mitgliedstaaten gewährleistet.36

I.Verpflichtung, eine Niederlassung in Belgien zu haben

1.Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit

Die Pflicht, eine Niederlassung in Belgien zu haben, könnte gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen. Die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit als Grundfreiheit ergibt sich hier aus dem (zumindest potenziellen) grenzüberschreitenden Sachverhalt sowie dem Fehlen spezieller sekundärrechtlicher Regelungen.37 Dienstleistungen sind nach Art. 57 I AEUV Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Die Dienstleistungsfreiheit ermöglicht dabei grenzüberschreitende Dienstleistungen innerhalb des Unionsgebietes im Rahmen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit.38 Sie umfasst insbesondere sowohl Aufenthalts- und Einreiserecht zum Zweck und für die Dauer der Dienstleistung als auch das Recht auf Gleichbehandlung.39 Im Vordergrund steht „die Mobilität des Produktes (Export und Import von Leistungen), nicht des Produktionsfaktors Arbeit“.40 Damit ist der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit vorliegend eröffnet.

2.Eingriff in Art. 56 AEUV

Die zu überprüfende Regelung macht das Erbringen von Dienstleistungen in Belgien für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten ohne einen dortigen Sitz unmöglich. Damit stellt das belgische Gesetz eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs in Gestalt einer mittelbaren Diskriminierung dar. Insoweit greift auch keine Bereichsausnahme nach Art. 62 i. V. mit Art. 51 AEUV, üben doch die Bewachungs- und Sicherheitsunternehmen keine Tätigkeit aus, die als solche eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellt.41

Hinweis: Denkbar wäre es hier auch, die Niederlassungsfreiheit zu prüfen, die wie alle Grundfreiheiten durchaus ebenfalls eine negative Komponente enthält. Ebenso könnte man im nachfolgenden Punkt III. auf diese Grundfreiheit abstellen, macht doch auch die dortige Voraussetzung des Gesetzes die Niederlassung in Belgien weniger attraktiv. Allerdings gilt für alle derartigen Abgrenzungen, dass der EuGH zumeist auf die nach dem „sozialen Sinn“ (oder der Wirkung) am unmittelbarsten oder stärksten betroffene Grundfreiheit abstellt. Das ist hier und nachfolgend bei III. wegen der Betonung der Dienstleistung (→ die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber sind nur mittelbar, die Dienstleistungserbringung ist hingegen unmittelbar betroffen) trotz der in Art. 57 I AEUV angeordneten Subsidiarität die Grundfreiheit des Art. 56 AEUV. Im Übrigen muss in derart klaren Fällen einer Beschränkung der Grundfreiheiten wie hier beim „Eingriff“ auch nicht genau zwischen einer Diskriminierung und einer Beschränkung unterschieden werden (dazu näher in Fall 5).

3.Rechtfertigung des Eingriffes

a) Rechtfertigungsgrund als „Schranke“. Fraglich ist, ob der geschriebene Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemäß Art. 62 i. V. mit Art. 52 AEUV hier eingreift. Der im Unterschied zum deutschen Polizeirecht vorweg zu prüfende Begriff der „öffentlichen Ordnung“ ist dabei jedoch nach dem Ziel des AEUV-Vertrages (s. oben) eng auszulegen und setzt eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.42 Das Recht der Mitgliedstaaten, den freien Verkehr von Personen und Dienstleistungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuschränken, bezweckt es gerade nicht, ganze Wirtschaftsbereiche wie den der privaten Sicherheitsdienste von der Anwendung auszunehmen (begründet also keine „faktische Bereichsausnahme“), sondern soll den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnen, solchen Personen die Einreise oder den Aufenthalt in ihrem Staatsgebiet zu verwehren, deren Einreise oder Aufenthalt in diesem Gebiet für sich allein genommen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit darstellt.43 Eine solche Gefährdung liegt hier aber nicht vor, so dass dieser Rechtfertigungsgrund nicht vorliegt.

b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“. Im Übrigen kann die Zuverlässigkeit des Bewachungspersonals anderweitig kontrolliert werden, so dass die getroffene Maßnahme jedenfalls nicht notwendig ist. Damit steht das Erfordernis einer Niederlassung in Belgien außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck und erweist sich auch noch als unverhältnismäßig.

Exkurs: Die Punkte a) und b) können auch zusammengefasst werden (so oft der EuGH). Als Anhaltspunkt mag insoweit dienen (so ebenfalls nachfolgend), dass der Rechtfertigungsgrund als solcher umso leichter bejaht werden kann, je größer die drohende Gefahr ist (dazu etwa in den Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen am Ende des Falles zu den offensichtlichen Gefahren des Glücksspieles); bei weniger großen Gefahren ist hingegen gerade darauf zu achten, dass nicht vorschnell eine „faktische Bereichsausnahme“ geschaffen wird (so beispielsweise hier durch ein generelles „Misstrauen“ gegen die Sicherheitsbranche).

II.Wohnsitzerfordernis für Mitarbeiter und Führungskräfte in Belgien

1.Eingriff in Art. 45 AEUV

Die Regelung beschränkt die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die nunmehr einen Wohnsitz in Belgien brauchen.

2.Eingriff in Art. 49 AEUV

Darüber hinaus beschränkt das Wohnsitzerfordernis die in Art. 49 AEUV gewährte Niederlassungsfreiheit (als „Unternehmensleitung“ i. S. des Art. 49 II AEUV a. E.).

3.Rechtfertigung der Eingriffe

a) Rechtfertigungsgrund als „Schranke“. Der Rechtfertigungsgrund der in Art. 45 III und 52 AEUV aufgeführten „öffentlichen Ordnung“ ist tatbestandlich mit guten Gründen zu bejahen (im Unterschied zu I. 2. a) geht es hier nicht um eine weitere „faktische Bereichsausnahme“, sondern um die Abwehr potenziell „gefährlicher“ Personen).

b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“. Die Vergangenheit und das Verhalten des Personals können jedoch auch durch Maßnahmen überprüft werden, welche die Freizügigkeit weniger einschränken (nötigenfalls etwa durch die Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten). Zudem kann jedes in einem Mitgliedstaat niedergelassene Unternehmen unabhängig vom Wohnsitz seiner Führungskräfte kontrolliert und Sanktionen unterworfen werden. Daher ist auch hier zumindest die Erforderlichkeit und damit der als „Schranken-Schranke“ wirkende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.

III.Erfordernis der vorherigen Genehmigung oder Zulassung der Bewachungstätigkeit

1.Eingriff in Art. 56 AEUV

Dadurch, dass auch dieses Erfordernis die Dienstleistungsfreiheit einschränkt, ist ein Eingriff in Art. 56 AEUV zu bejahen.

2.Rechtfertigung des Eingriffes

a) Rechtfertigungsgrund als „Schranke“. Der freie Dienstleistungsverkehr kann nach Art. 62, 52 AEUV nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses mit dem in den Normen genannten Zweck gerechtfertigt sind. Vorliegend sind schon solche zwingende Gründe fraglich. Ähnlich wie bei I. 2. a) könnte man auch hier insoweit allenfalls wieder auf die Abwehr „gefährlicher“ Personen abstellen.

b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“. Diese Gründe müssen zudem für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch Vorschriften geschützt ist, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist. So verbietet die Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“ eine Doppelkontrolle neben der im „Sitzstaat“.44 Hier geht das belgische Gesetz aber genau über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Zweckes (der Sicherstellung einer strikten Kontrolle der Tätigkeit) erforderlich ist, und erscheint deshalb erneut als unverhältnismäßig.

Hinweis: Aus Art. 4 III EUV (→ Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit) und dem „Geist von Europa“ ergibt sich, dass grundsätzlich die Kontrollen in jedem Mitgliedstaat gleichwertig und damit gegenseitig austauschbar sind. Vgl. zu diesem Gedanken auch Art. 53 AEUV mit ähnlicher Zielrichtung.

IV.Ausweiserfordernis

1.Eingriff in Art. 56 AEUV

Die mit dem Erfordernis eines besonderen Ausweises verbundenen Formalitäten können das Erbringen grenzüberschreitender Dienstleistungen verteuern, weshalb ein solches Erfordernis den freien Dienstleistungsverkehr beschränkt (→ sehr weiter „Schutzbereich“).

Exkurs: Laut dem EuGH ist es dabei unerheblich, dass die Ausweispflicht auch für die Belgier (Inländer) besteht, wenn die Dienstleistungsfreiheit berührt ist (anders bei der Warenverkehrsfreiheit nach „Dassonville plus Keck“ zu „Maßnahmen gleicher Wirkung“; s. oben im Exkurs).45 Hier kommt es nur darauf an, ob die Dienstleistungsfreiheit betroffen ist (ja: Dienstleistungen werden erschwert), was auch bei für alle (→ „Inländergleichbehandlung“; vgl. zur diesbezüglichen Diskriminierung noch Fall 5 mit einem gesonderten Exkurs) geltenden Vorgaben der Fall sein kann (nur ist in dieser Konstellation die Rechtfertigung der Maßnahme leichter möglich).

2.Rechtfertigung des Eingriffes

a) Rechtfertigungsgrund als „Schranke“. Die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ist nur dann nach Art. 62, 52 AEUV zulässig, wenn sie dem dort näher spezifizierten Allgemeininteresse (hier: der leichteren Feststellung der Identität) dient. Auch hier könnte ein solcher Rechtfertigungsgrund der Gefahrenabwehr mit dem Ziel der Identifizierbarkeit der Handelnden begründet werden (es ist allerdings zu erwägen, ob das nicht wieder eine „faktische Bereichsausnahme“ schafft, wobei dieses Argument dann aber jeder derartigen präventiven Reglung – hier als eine Art „präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt“ – entgegenstünde).

b) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“. Die Regelung muss jedoch auch noch zur Erreichung ihres Zweckes geeignet, erforderlich und angemessen sein. Nach der Richtlinie 73/148/EWG „zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs“ muss jeder ausländische Dienstleistende, der sich vorübergehend zum Zweck der Erbringung einer Dienstleistung nach Belgien begibt, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein. Insofern steht das Erfordernis zusätzlicher, vom belgischen Innenminister zu erteilender Ausweise außer Verhältnis zu der Notwendigkeit, die Feststellung der Identität der Betreffenden zu gewährleisten. Demgemäß ist auch insoweit der Verstoß nicht zu rechtfertigen und die Dienstleistungsfreiheit deshalb verletzt.

Hinweis: Der EuGH prüft den Aspekt der Angemessenheit regelmäßig nicht gesondert, sondern bereits im Rahmen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit.

C.Gesamtergebnis

Die Klage der Kommission ist zulässig und insgesamt wegen der Verletzung der Grundfreiheiten begründet. Deshalb hat sie Erfolg.

Rechtsprechungs- und Literaturhinweise

EuGH, U. v. 9.3.2000, Rs. C-355/98, Slg. 2000, I-1221 – Kommission/Belgien; dazu m. w. N. Frotscher/Kramer, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Rn. 149 ff.; EuGH, U. v. 31.5.2001, Rs. C-283/99, Slg. 2001, I-4363 – Kommission/Italienische Republik, für das Erfordernis der Beschäftigung von (ausschließlich!) „eigenen“ Staatsangehörigen für private Sicherheitsdienste; EuGH, U. v. 13.7.2000, Rs. C-423/98, Slg. 2000, I-5965 – Alfredo Albore, für den Erwerb von Militärgelände nur durch Inländer; anders dagegen EuGH, U. v. 13.7.2004, Rs. C-429/02, Slg. 2004, I-6613 – Bacardi France, zum Verbot bestimmter Werbung bei internationalen Sportereignissen. Vgl. schließlich noch EuGH, U. v. 17.7.2008, Rs. C-94/07, Slg. 2008, I-5939 – Raccanelli, wonach die Freizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV auch direkt im Privatrecht wirkt, dort also sozusagen unmittelbare Drittwirkung entfaltet.