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Schlesien, 1905. Komtesse Franziska von Wedell wird des noblen Pensionats, in dem sie standesgemäß erzogen werden soll, verwiesen, weil sie gegen die strengen Regeln rebelliert. Nun möchte sie stattdessen einen medizinischen Beruf erlernen, doch ihr Vater, Graf Ferdinand von Wedell, schlägt ihr diesen Wunsch aufgrund seiner starren Adels- und Glaubensprinzipien ab. Es kommt zum Zerwürfnis und Franziska flieht zu ihrer Freundin Julie von Götzen und mit dieser gemeinsam weiter bis nach Deutsch-Ostafrika. Beim dortigen Gouverneur, dem Onkel ihrer Freundin, finden sie jedoch nicht die erhoffte Sicherheit, sondern sie geraten mitten hinein in die Wirren des Maji-Maji-Aufstands ...

 

Die Hochwald-Saga spielt in der schlesischen Grafschaft Glatz und der Provinzhauptstadt Breslau. Über drei Generationen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, wird die wechselvolle Geschichte einer eng mit den schlesischen Wäldern verbundenen Familie erzählt.

Foto Michael MeinertMichael Meinert wurde 1979 in Datteln geboren. Er ist verheiratet und lebt heute in Mülheim an der Ruhr. Schon als Kind fand er zum Glauben an Jesus Christus. In der Hochwald-Saga, in der er tiefgehende und aktuelle Glaubensthemen mit der Handlung verwebt, entführt er die Leser ins historische Preußen.

www.michael-meinert.eu

Michael Meinert

 

Im Aufstand

 

 

 

 

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Die Bibelzitate sind der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen) entnommen.

 

Titelfotos:

Landschaft: © Adobe Stock, 49494611, Photocreo Bednarek

Junge Frau: © Adobe Stock, 56298296, Voyagerix

Foto Coverrückseite: © Tim Fuhrländer

 

Lektorat: Friedhelm von der Mark

Umschlaggestaltung und Satz:

DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

eBook Erstellung:

ceBooks.de, Eduard Klassen

 

Paperback:

ISBN 978-3-942258-08-1

Bestell-Nr. 176.808

 

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-58-6

Bestell-Nr. 176.858

 

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Für meine beiden neuen Testleserinnen:

 

Anne-Kathrin

Als Dank dafür, dass ich Dir immer zwischendurch afrikanische und medizinische Fragen stellen durfte und prompte Antworten erhielt, für Dein Detailwissen, das Du zum Teil höchstselbst ins Manuskript eingefügt hast, sowie für Deine nächtlichen Leseaktionen, die noch erstaunlich hilfreiche Kommentare hervorgebracht haben.

 

Franzi

(die nichts mit der Hauptperson dieses Buches zu tun hat)

Du weißt, warum.

Vorwort

Wissen Sie, wie hoch der höchste deutsche Berg ist? – Stimmt genau! 2 962 Meter über Normalhöhennull. Aber wenn Sie diese Antwort im Jahr 1905 gegeben hätten, wäre sie falsch gewesen. Damals war der höchste deutsche Berg 5 895 Meter hoch. Und das liegt nicht etwa daran, dass die Zugspitze in den letzten 112 Jahren um knapp 3 000 Meter geschrumpft wäre. Nein, im Jahr 1905 lag der höchste deutsche Berg in Afrika, genauer gesagt in Deutsch-Ostafrika (das ungefähr das Gebiet der heutigen Staaten Tansania, Burundi und Ruanda umfasste), und hieß Kaiser-Wilhelm-Spitze. Der Name änderte sich übrigens erst 1964, als der Gipfel des Kilimandscharo-Massivs den Suaheli-Namen Kibo („der Helle“) bekam.

 

Bestimmt fragen Sie sich jetzt, warum ich Ihnen das erzähle. Und warum sich der Kibo auf dem Titelbild eines Bandes der Hochwald-Saga befindet.

 

Wölfelsgrund, das 700-Seelen-Dorf in der Grafschaft Glatz in Schlesien, und Deutsch-Ostafrika, das Schutzgebiet, wie die Deutschen ihre Kolonien nannten, liegen gar nicht so weit auseinander, wie Sie wahrscheinlich denken. Jedenfalls gibt es eine Person, die beide miteinander verbindet.

 

Am 12. Mai 1866 wurde auf Schloss Scharfeneck bei Obersteine in der Grafschaft Glatz, ungefähr 50 Kilometer nordwestlich von Wölfelsgrund, Graf Gustav Adolf von Götzen geboren, der 1901 zum Gouverneur des Schutzgebietes Deutsch-Ostafrika ernannt wurde. Da zudem noch eine meiner Testleserinnen Tansania gut kennt und mich für dieses Land begeistern konnte, wurde bei einem Spaziergang durch den Bochumer Stadtpark aus einer klitzekleinen Idee ruckzuck ein ganzer Roman – den Sie jetzt in Händen halten.

 

Bevor es losgeht, gebe ich Ihnen schnell noch ein paar Informationen an die Hand, damit Sie mir unterwegs nicht verloren gehen. Zur Orientierung finden Sie eine Karte des Schutzgebietes mit den wichtigsten Orten, die im Buch eine Rolle spielen. Und da uns einige Soldaten der kaiserlichen Armee und der deutschen Schutztruppen – so hießen die Streitkräfte in den Schutzgebieten – begegnen werden, füge ich Ihnen auch eine Liste der Dienstgrade bei.

 

Beim Bezahlen müssen Sie sich ein bisschen umstellen. Im Deutschen Reich wurde mit der Mark bezahlt, in Deutsch-Ostafrika mit Rupien zu 100 Hellern. Von der Mark zur Rupie gab es einen festen Umrechnungskurs: 20 Mark = 15 Rupien. Der Gegenwert einer Mark dürfte bei etwas unter 10 Euro liegen.

 

Sprachlich müssen Sie sich in Deutsch-Ostafrika an Suaheli gewöhnen. Allerdings gebe ich Ihnen kein Wörterbuch mit auf die Reise, Sie sollen ja gegenüber den Figuren des Buches keinen Vorteil haben. Ganz am Ende des Buches finden Sie aber eine Übersetzung aller im Buch verwendeten Suaheli-Wörter. Und wo wir gerade bei der Sprache sind: Die Kurzform Julie für den Namen der Komtesse Julia Viola von Götzen sollten Sie deutsch aussprechen, also wie den Monatsnamen Juli.

 

Und damit wissen Sie schon alles, was Sie wissen müssen, und ich könnte Sie auf die Reise schicken. Doch wie kommen Sie nun nach Deutsch-Ostafrika? Von der Fliegerei würde ich Ihnen zur damaligen Zeit noch abraten, daher wählen wir lieber das übliche Reisemittel: den Reichspostdampfer.

 

Herzlich willkommen also an Bord eines Dampfers der Deutschen Ost-Afrika-Linie, der sich neben heutigen Kreuzfahrtschiffen beinahe wie eine bessere Yacht ausnehmen würde. Und damit Sie sich während der wochenlangen Seereise richtig wohlfühlen, stelle ich Ihnen einige Besatzungsmitglieder vor, die einen großen Anteil daran haben, dass Sie diese Reise überhaupt antreten können.

 

Zuerst die Obermaschinistin, die für den reibungslosen – sozusagen gut geschmierten – Betrieb sorgt: meine Frau, die mich mit ihrer Geduld unterstützt, wenn ich stundenlang am PC sitze, die Tastatur viel zu laut rattern lasse und ganze Abende mit meinem Lektor vertelefoniere.

 

Ach ja, mein Lektor. Der Heizer, der immer Dampf auf den Kessel gibt und so das Schiff bei jedem Wind und Wetter vorwärtstreibt. Ich weiß, ich bin ein schwieriger Autor. Und Du bist ein beinharter Lektor. Es geht nicht ohne hitzige Diskussionen ab, aber letztlich ist es eine konstruktive Zusammenarbeit. Und dafür: Danke.

 

Einen ebenfalls nicht zu unterschätzenden Anteil haben die fünf Stewardessen: meine wohlwollenden Testleserinnen Anne-Kathrin, Catharina, Elisabeth, Franziska und Liliane. Vielen Dank, dass Ihr Euch bereits durch das Manuskript quält, wenn es noch auf der Buchwerft liegt. Und für die Erfrischungen, die Ihr mir immer wieder darreicht. Ihr habt mich oft aufgebaut, wenn ich das Manuskript am liebsten in die Papiertonne geschmissen hätte – und Ihr habt es vielleicht nicht einmal bemerkt.

 

Neben den Stewardessen gibt es noch jede Menge Matrosen, ohne die unsere Schiffsreise auch nicht funktionieren würde. Das sind Leute, an die ich Bitten um die unmöglichsten Dinge herangetragen habe: einen historischen Stadtplan von Daressalam; Pferdenamen; witzige Erlebnisse mit hohen Absätzen; einen Strick für einen Fessel-Selbstversuch (am nautischen Knoten müsst Ihr aber noch arbeiten ); Informationen zu Operationssälen in Afrika, Blutentnahmen und Diphtherie; Aufklärung über grammatische Feinheiten der deutschen Sprache ... Ich danke herzlich für jede noch so unscheinbar wirkende Antwort und Unterstützung.

 

Den Kapitän habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben: meinen Gott und Herrn Jesus Christus. Er soll immer das Kommando über meine Schreibarbeit haben. Und Fantasie, Schreibgefühl, Gesundheit, Energie – alles kommt nur von Ihm. Das sind Geschenke aus reiner Gnade, für die ich Ihm danke.

 

Und die Passagiere – natürlich erster Klasse! – sind Sie. Doch bevor Sie ungeduldig werden – rasch die Landungsbrücke rein – die Leinen los – ein dröhnendes Tuten – und auf geht’s – hinein in den Aufstand.

 

Datteln, im Juli 2015 

Michael Meinert

Infanterie der kaiserlichen Armee und deutsche Soldaten der Schutztruppe für DOA

Schwarze Soldaten der Schutztruppe für DOA

Bemerkung

Mannschaftsdienstgrade

Grenadier, Füsilier etc.

Askari

Gefreiter

Obergefreiter

Unteroffiziersdienstgrade

Unteroffizier

Schausch

meist Führer einer Gruppe

(ca. 8 – 12 Mann)

Sergeant

Betschausch

Vizefeldwebel

Feldwebel

Offiziersdienstgrade

Fähnrich

Offiziersanwärter im Rang eines Unteroffiziers

Feldwebelleutnant

Leutnant

Effendi

meist Zugführer (bis zu 60 Mann starke Einheit)

höchster Dienstgrad, den ein Schwarzer in der Schutztruppe erreichen konnte

Oberleutnant

Hauptmann

meist Chef einer Kompanie, einer bis zu 250 Mann starken Einheit

Major

Oberstleutnant

meist Stellvertreter des Regimentskommandeurs

Oberst

Kommandeur eines Regiments

karte

Breslau, 22. April 1905 (Ostersamstag)

 

Komtesse Franziska von Wedell knetete ihre Finger, als sie mit ihrer besten Freundin Julie von Götzen über die Flure des Pensionats zum Büro der Vorsteherin ging. Es war einfach zu ärgerlich, dass sie bei ihrem heimlichen Ausflug zur Parade des benachbarten Infanterieregiments erwischt worden waren. Nach dem, was sie aus Fräulein von Steinbachs Sicht in der letzten Zeit schon alles verbrochen hatten, würde es schwer werden, sie zur Milde zu stimmen.

„Es ist einfach lächerlich.“ Julie blieb stehen und funkelte Franzi aus ihren nachtschwarzen Augen an. „Was haben wir schon getan? Diese übertriebenen Regeln des Pensionats sind doch geradezu dazu gemacht, um gebrochen zu werden.“

Franzi griff nach ihrem Zopf und legte ihn nach vorn über die Schulter. Julie hatte recht. Wenn die Regeln nicht so übermäßig streng gewesen wären, hätten sie sie bestimmt nicht ständig übertreten. Aber ... „Ich glaube kaum, dass die Steinbach sich von diesem Argument überzeugen lässt.“

„Wir haben doch nur der Parade anlässlich des Kommandeurswechsels zugesehen – was bitte ist daran verwerflich? Das ist doch geradezu unsere vaterländische Pflicht!“

Trotz ihrer schwierigen Lage musste Franzi grinsen. Ihren regelwidrigen Ausflug als vaterländische Pflicht zu bezeichnen, war eine Unverfrorenheit. Das, was sie magnetisch angezogen hatte, waren die Söhne des Vaterlands, die schneidigen Soldaten in ihren prächtigen Paradeuniformen, gewesen.

„Jedenfalls sollten wir uns reumütig zeigen“, brummte Franzi, „sonst macht die Steinbach ihre Drohung wahr und verweist uns des Pensionats – mein alter Herr würde mir vor Wut jedes Haar einzeln vom Kopf rupfen!“

„Das wird schon nicht passieren. Dein Vater und mein Onkel spenden viel zu viel an diese vorbildliche Anstalt, als dass die Steinbach es sich leisten könnte, uns hinauszuwerfen.“

„Hoffentlich.“ Franzi reckte das Kinn. „Und jetzt komm, wir sollten wenigstens zu diesem Gespräch nicht zu spät kommen.“

Julie ging zu einem Spiegel und prüfte, ob ihr tiefschwarzes Haar richtig lag. „Wenn wir pünktlich kämen, wäre die Steinbach bestimmt verblüfft.“

Franzi trat neben sie und zupfte an ihren blonden Locken, die sie mit Julies Hilfe in einen Zopf gezwängt hatte. „Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen. Komm.“ Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter und zog sie mit sich fort.

Julie hatte gut reden. Ihre Eltern waren schon lange tot und ihr Erziehungsberechtigter, ihr Onkel Graf Gustav Adolf von Götzen, der Gouverneur des Schutzgebietes Deutsch-Ostafrika, erfüllte seiner Lieblingsnichte jeden Wunsch. Obwohl er Tausende von Kilometern entfernt in Daressalam residierte, liebte er sie ganz offensichtlich wie eine eigene Tochter.

Franzi wünschte, ihr Vater würde sie ebenso lieben wie Graf Götzen seine Nichte. Aber ihr Vater kannte keine Nachsicht mit ihr. Das konnte sie sich nur damit erklären, dass er ihr die Schuld an allem gab, was vor 19 Jahren bei ihrer Geburt geschehen war. Ihre sieben Jahre ältere Schwester Charlotte hatte Diphtherie gehabt, und ihre Mutter hatte sich aufreibend um sie gekümmert, trotz der Schwangerschaft. Als sie, Franzi, dann geboren wurde, ging es ihrer Schwester etwas besser, aber ihre Mutter war von der Sorge um ihre kranke Tochter so entkräftet, dass sie die Geburt nicht überlebte. Und Charlotte traf der Tod ihrer Mutter so tief, dass sich die Krankheit wieder zum Schlechteren wandte. Drei Tage später war auch Charlotte tot. Ihr Vater hatte den Tod seiner über alles geliebten Frau und seines ältesten Kindes nie verwunden. Und er gab ihr die Schuld daran. Als ob sie etwas dazu könnte.

Sie erreichten das Büro der Vorsteherin. Franzi knetete erneut ihre Finger, während Julie sie frech grinsend ansah. „Wir werden das schon schaffen, Franzi. Lass mich nur machen.“

„Hoffentlich.“

Julie hob die Hand und klopfte beherzt an die massive Eichentür. Von innen ertönte ein „Herein!“, als wäre es auf einer Fanfare geblasen worden.

Unwillkürlich fuhr Franzi zurück und legte die Hände auf die Ohren. Solche schrillen Töne mochte sie nicht, sie war vielmehr in die sonoren Klänge ihrer heiß geliebten Viola vernarrt.

Ihre Freundin zog ihr mit einem Grinsen die Hände von den Ohren und öffnete schwungvoll die Tür. Franzi presste eine Hand aufs Herz, dann folgte sie ihrer Freundin ins Büro. Julie machte bereits einen formvollendeten Knicks vor der Vorsteherin. Hastig schloss Franzi die Tür – dabei rutschte ihr die Klinke aus der schweißnassen Hand und die schwere Tür donnerte ins Schloss.

„Franziska!“ Die Fanfarenstimme ließ sie zusammenfahren. „Die Türe hat eine Klinke, an der sie leise geschlossen zu werden vermag. Bitte öffne die Türe und schließe sie erneut – aber geräuschlos.“

Franzi ballte die Faust. Diese Demütigung! Genauso hatte ihr Vater sie schon als Kind gemaßregelt, nur mit weniger geschwollenen Worten. Sie atmete tief ein und wieder aus, dann öffnete sie leise die Tür, um sie ebenso leise wieder zu schließen.

„Warum nicht gleich so?“, trötete Fräulein von Steinbach.

Knirschend presste Franzi die Zähne aufeinander, damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte. Wenn sie die Vorsteherin dazu bringen wollte, sie nicht des Pensionats zu verweisen, musste sie sich zusammenreißen.

Sie drehte sich um, trat neben Julie und machte ihren besten Knicks. „Gnädiges Fräulein, Sie haben uns rufen lassen.“

Fräulein von Steinbach thronte wie die böse Königin in Schneewittchen hinter ihrem Schreibtisch. Das streng zurückfrisierte, schon angegraute Haar und die scharfen Linien in ihrem Gesicht ließen sie wie eine vertrocknete Stockrose aussehen.

Franzi schauderte. Diese Frau hielt nun ihr Schicksal in ihren verknöcherten Händen.

Die Vorsteherin hielt ihr Lorgnon vor die meergrauen Augen und funkelte sie an. „Komtesse Franziska Elisabeth von Wedell, Komtesse Julia Viola von Götzen, möchtet ihr mir nicht mitteilen, warum ich euch zu mir rief?“

Die nächste Demütigung! Sollte die Steinbach doch einfach ihre Standpauke loslassen!

„Gnädiges Fräulein“, ergriff Julie das Wort, „wenn ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen darf: Heute Morgen besuchten Franzi und ich die Parade des Infanterieregiments ...“

Franzi hielt erschrocken die Luft an. Mit dieser Bemerkung würden sie die Steinbach bestimmt nicht zur Milde stimmen.

„Deine Frechheit ist völlig unangebracht!“, keifte Fräulein von Steinbach. „Außerdem sagte ich euch bereits wiederholt, dass ihr das Verstümmeln der Namen zu unterlassen habt, Julia. Deine Freundin heißt Franziska.“ Sie ließ ihr Lorgnon sinken. „Und ich vergaß selbstverständlich nicht, welches Fehltrittes ihr euch schuldig gemacht habt. Ich hoffte vielmehr, euch ein reumütiges Geständnis zu entlocken.“

Franzi holte tief Luft. „Es tut uns leid, Fräulein von Steinbach ...“

„So, es tut euch leid.“ Die Stimme der Vorsteherin schrillte in Franzis Ohren. „Darf ich dann um eine Erklärung bitten, warum ihr widerrechtlich die Anstalt verlassen habt, um der Parade beizuwohnen?“

„Wir dachten“ – Julie lächelte überfreundlich –, „dass es kein Verstoß gegen die Regeln sei. Immerhin bekam das Regiment, dessen Garnison beinahe im Nachbargebäude ist, einen neuen Kommandeur.“

„Eure Begeisterung für stramme Kerle mit Gardemaß in schillernden Uniformen ist hinreichend bekannt.“ Fräulein von Steinbach stand auf und kam um ihren wuchtigen Mahagonischreibtisch herum. „Ich erinnere euch daran, dass ihr bereits mehrfach dabei angetroffen wurdet, wie ihr am Fenster eures Zimmers standet und vermittelst eines Opernglases zum Exerzierplatze hinüberstarrtet – oftmals zu einer Zeit, zu der ihr eigentlich dem Unterrichte hättet beiwohnen sollen.“

Während des Unterrichts hatten sie das nur einmal getan. Aber Franzi schluckte ihren Widerspruch schnell hinunter und räusperte sich. „Sie müssen doch zugeben, gnädiges Fräulein, dass die Nähe der Soldaten eine gewisse Faszination ausübt.“

„Warum sollte ich das zugeben? Ich habe euch oftmals vor der von Männern ausgehenden Gefahr gewarnt, in Sonderheit vor Männern, die Uniform tragen. Euer heutiger Ausflug belegt leider zu deutlich, dass ihr meine Warnungen in den Wind geschlagen habt.“

„Im heimatkundlichen Unterricht haben wir gelernt, dass die Soldaten ihren Dienst zu unserem Schutz versehen.“ Julie stützte die rechte Hand auf die Hüfte. „Wie können sie uns dann gefährlich werden?“

Franzi sah ihre Freundin von der Seite an. Julie war mutig – wahrscheinlich mutiger, als gut für sie beide war.

Fräulein von Steinbach trat vor Julie hin und tippte ihr mit dem Lorgnon gegen die Brust. „Du weißt sehr wohl, was ich meine, Julia. Unterlasse deine aufsässigen Erwiderungen. Ihr beide seid viel zu oft aufgefallen, als dass ich euch in diesem Tone mit mir zu reden erlaubte.“

„Bitte, Fräulein von Steinbach“ – Franzi verknotete ihre Finger ineinander –, „es gab in der Tat kleinere Verfehlungen unsererseits, aber ...“

Die Vorsteherin drehte sich zu ihr und funkelte sie an. Ihre knöchernen Finger, die das Lorgnon umfassten, bebten. „Ob eure Missetaten kleiner oder größer waren, obliegt nicht eurer Beurteilung, sondern der meinigen. Wie oft, Franziska, glaubst du, seid ihr beide allein in diesem Monate bereits zu spät zu den Mahlzeiten oder zum Unterrichte erschienen?“

Franzi zog ihren Zopf über die rechte Schulter. „Es – es kann höchstens – einige wenige Male gewesen sein.“

Fräulein von Steinbach stakste zum Schreibtisch und hob ein Blatt Papier auf. Sie hielt ihr Lorgnon vor die Augen. „Franziska von Wedell und Julia von Götzen erschienen an drei Tagen zu spät zum Unterrichte sowie an vier Tagen zu spät zu einer der Mahlzeiten. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass heute erst der 22. Tag im April ist, sind das nicht wenige Male, auch nicht einige Male, sondern viele Male.“

Franzi lag das Wort Erbsenzählerin auf der Zunge, aber sie schluckte es hinunter, bevor es ihr hinausrutschte. Es hatte immer gute Gründe gegeben, wenn sie zu spät gekommen waren: Entweder hatte sie ihre unzähmbaren Locken nicht gekämmt bekommen oder der Wecker hatte nicht geklingelt oder ...

„Dann erinnere ich mich dieser wilden Bestie“, trötete die Steinbach weiter, „die ihr in unsere Anstalt verschleppt habt.“

„Wilde Bestie!?“ Franzi konnte ein Auflachen nicht unterdrücken. „Es handelte sich um ein nur wenige Tage altes Kätzchen, das von einem dieser Automobile angefahren worden war. Wir konnten es doch nicht seinem Schicksal ...“

„Die Hausordnung untersagt, Tiere mit in die Anstalt zu bringen. Außerdem hat diese Bestie im gesamten Pensionat ihre Hinterlassenschaften verteilt! Und du wagst noch, darüber zu lachen!“

„Aber wir konnten doch das Kätzchen ...“, versuchte es nun auch Julie.

„Ruhe!“, trompetete Fräulein von Steinbach. „Des Weiteren habt ihr euch an drei Tagen unerlaubt vom Gelände der Anstalt entfernt; heute habt ihr euch sogar durch listige Täuschung einer Lehrkraft, indem ihr eine Magenverstimmung simuliert habt, dem gemeinsamen Osterausfluge entzogen, um einem zweifelhaften Vergnügen nachzugehen.“

Franzi schielte zu Julie hinüber und bemerkte deren mühsam unterdrücktes Grinsen. Zuerst war Julie so lange neben ihr auf ihrem Bett herumgehopst und hatte damit die Matratze zum Schwanken gebracht, dass Franzi sich wie auf hoher See fühlte und ihr wirklich übel wurde – eine Erfahrung von der letzten Bootstour auf der Oder, als sie sich gleich mehrfach über der Bordwand hängend erbrechen musste. Danach hatte Julie sich eine Feder in den Hals gesteckt – und schon hatte niemand mehr von ihnen verlangt, an dem Ausflug teilzunehmen. Stattdessen hatten sie sich davongeschlichen und der Parade auf dem Breslauer Ring beigewohnt, wo es diesmal sogar einen lustigen Zwischenfall gegeben hatte: Ein kleiner Leutnant hatte den Befehl Präsentiert das Gewehr überhört und für reichlich Unordnung gesorgt – in dessen Haut wollte sie nicht stecken. Zu dumm nur, dass die alte Lehrerin, die zu ihrer Versorgung zurückgeblieben war, ihr Entweichen bemerkt und sie genau in diesem Augenblick aufgegriffen hatte.

„Uns ging es heute Morgen wirklich schlecht!“, verteidigte Julie sich. „Sie haben es doch selbst gesehen!“

„Eure wundersam plötzliche Heilung belehrte mich eines anderen.“ Fräulein von Steinbach warf das Protokoll ihrer Untaten auf den Schreibtisch und drehte sich wieder zu ihnen um. „Weiterhin wurden unter euren Betten Bierflaschen gefunden. Abgesehen von der Tatsache, dass der Genuss geistiger Getränke in der Anstalt untersagt ist – schämt ihr euch nicht, als Damen der Gesellschaft, die ihr doch einmal werden wollt, wie der gemeine Proletarier Bier zu trinken?“

Franzi presste die Lippen aufeinander. Damen der Gesellschaft. Niemals wollte sie so ein Porzellanpüppchen werden, auch wenn sie noch nie in ihrem Leben Bier getrunken hatte, genauso wenig wie Julie. Sie schielte zu ihrer Freundin hinüber und schüttelte leicht den Kopf. Nein, sie würden nicht verraten, dass das Bier für den Gärtner gewesen war, damit dieser sie heimlich durch die Gartenpforte hinaus- und wieder hereinließ – viel öfter noch, als der Steinbach aufgefallen war.

„Ihr schüttelt die Köpfe?“, kreischte die Vorsteherin. „Ihr seht nicht einmal ein, wie unwürdig ein solches Verhalten ist? Und die Zigaretten, die ich in eurem Nachttische gefunden habe?“

„Wann haben Sie ...?“ Franzi verschlug es die Sprache. Diese Frau hatte es wirklich gewagt, ihre abschließbaren Fächer zu durchwühlen? Hatte sie etwa Zweitschlüssel dafür, ohne dass sie davon wussten?

„Der Zeitpunkt ist unerheblich, es genügt, dass ich sie gefunden habe. Ihr solltet euch schämen.“

Julie reckte die Nase in die Luft. „Ich bitte bemerken zu dürfen, dass wir weder das Bier getrunken noch die Zigaretten geraucht haben.“

Franzi riss die Augen auf. In Bezug auf das Bier sagte Julie die Wahrheit, aber geraucht hatten sie sehr wohl.

„Wie kommt es dann, dass einige Zigaretten fehlten?“, keifte Fräulein von Steinbach. „Macht eure Vergehen nicht noch dadurch schlimmer, dass ihr mich belügt!“

Ich habe geraucht.“ Franzi verknotete ihre Finger so fest, dass sie schmerzten. Mit Lügen kamen sie nicht weit. Zwar hatte Julie viel öfter geraucht als sie, aber sie fand es feige, die Unwahrheit zu sagen.

„So, du also, Franziska. Dein Vater wird wenig erbaut sein, wenn ich ihm davon berichte.“

Ihr Vater. Wahrscheinlich würde er sie eine Woche in ihrem Zimmer einsperren und sie dann in ein Heim für missratene Jugendliche schicken.

Franzi sah zu ihrer Freundin hinüber. Sie war es gewesen, die die Zigaretten besorgt hatte, aber sie schwieg. Julie hatte es mit der Wahrheit noch nie sonderlich genau genommen.

„Und dann dein unentwegtes Bratschenspiel, Franziska“, unterbrach die Fanfare Franzis Gedanken.

Sie richtete sich hoch auf. „Haben Sie etwas daran auszusetzen? Ich dachte, eine musikalische Ausbildung ist für höhere Töchter unabdingbar.“ Außerdem sollte sie nicht immer von der Bratsche reden. Viola hörte sich viel klangvoller an.

„Nur alles im richtigen Maße. Für dich ist die Musik eine Gefahr. Ich habe dich beim Bratschenspiele beobachtet. Dein weltentrückter Blick, dein rasendes Spiel – man könnte meinen, du seiest besessen!“

Franzi blieb die Sprache weg. Hatte Fräulein von Steinbach denn gar kein Verständnis für ihre Liebe zur Musik? Die Worte hätten allerdings auch von ihrem Vater stammen können, nur noch mit einigen frommen Phrasen oder seinem unabdingbarem Das war schon immer so! garniert. Er hatte ihr als Kind schon die Violine weggenommen und den Unterricht beendet, nachdem er ihr eine übermäßige Begeisterung und unselige Leidenschaft konstatiert hatte. Zum Glück war sie hier im Pensionat auf Julie getroffen, die von ihrem Onkel zu Beginn der Pensionatszeit eine Viola geschenkt bekommen hatte, diese aber nur mit mäßiger Begeisterung spielte und sie deshalb an Franzi abgetreten hatte.

„Deine Besessenheit ging so weit, dass du sogar nach Beginn der Nachtruhe noch gespielt hast.“ Die Steinbach trat dicht vor sie hin. „Und dann auch noch diese moderne Musik! Das kann ich nicht gutheißen.“

Julie klapperte lautstark mit ihren hohen Absätzen auf das Parkett. „Gnädiges Fräulein, es handelt sich um Musik von Camille Saint-Saëns!“

„Auch noch ein französischer Komponist! Du genierst dich nicht, Franziska, die Musik unseres Erbfeindes von jenseits des Rheines zu spielen?“

„Aber für die Musik ist es doch unerheblich, wer sie komponiert hat!“ Franzi spürte, wie es in ihr brodelte. Wenn die Steinbach nur noch ein Wort dazu sagte, würde sie aus der Haut fahren.

„Ich sehe, dass die Musik dich vollständig verblendet hat. Die Bratsche ist eine Gefahr für dich. Ich werde das Instrument konfiszieren.“

„Das können Sie nicht tun!“ Die Steinbach war wirklich wie ihr Vater. Sie musste nur noch sagen: Die Bratsche ist dein Götze.

„Ich weiß selbst genauestens, was ich kann und was nicht. Und denke an das oberste Gebot für höhere Töchter: Bewahre die Contenance!“

Contenance!“ Franzi spie das Wort beinahe aus. „Sie tun doch gerade alles dafür, mich um die Contenance zu bringen!“

„Franziska! Ich meine es gut mit dir! Du genießt eine exquisite Erziehung, um dich deines Standes geziemend zu benehmen.“

„Pah, ein Porzellanpüppchen wollen Sie aus mir machen! Eine Frau, die nur dazu dient, prächtige Kleider auszuführen und die Männer zu beeindrucken. Das ist doch das, was Sie mit deines Standes geziemend meinen, oder etwa nicht?“ Franzi machte einen Schritt vor, sodass ihre Nasenspitze fast die der Vorsteherin berührte. „Es ist traurig, dass mein Vater seine bürgerliche Herkunft vergessen hat und so sehr auf seinen Grafenstand pocht. Aber ich sage Ihnen etwas: Ich pfeife auf diesen Standesdünkel! Ich will etwas Sinnvolles tun und keine leblose Modepuppe sein, die nur dazu da ist, die neueste Mode zu präsentieren. Es gibt so viel Leid in der Welt und ich werde etwas dagegen unternehmen, auch wenn Sie und mein Vater alles tun, um das zu verhindern.“

„Franzi!“ Julie legte den Arm um ihre Schultern und zog sie etwas von der Vorsteherin weg. „Mach doch nicht alles noch schlimmer!“

„Lass mich! Irgendwann muss es doch einmal gesagt werden! Mein Vater und Sie, Fräulein von Steinbach, wollen mich in den Käfig der besseren Gesellschaft sperren. Alles, was ich tue, ist böse oder eine Gefahr für mich, alles verbieten Sie mir. Sie begründen das mit Ihren lächerlichen gesellschaftlichen Regeln, drohen mit Strafen, wenn die Regeln gebrochen werden, mein Vater kommt obendrein noch mit seiner Bibel daher, und wenn alles nicht hilft, heißt es Das war schon immer so! – aber im Grunde wollen Sie beide nur das Eine: mir Ihren eigenen Willen aufzwingen!“

„Das genügt!“ Die meergrauen Augen der Vorsteherin fielen beinahe aus ihren Höhlen. „Du verkennst, was ich nur zu deinem Besten getan habe.“

„Gnädiges Fräulein“, mischte sich Julie ein, „Franzi ist erregt ...“

„Franziska lautet ihr Name!“, trompetete die Steinbach. „Julia von Götzen, du kannst gehen. Bei dir will ich Gnade vor Recht ergehen lassen, als Strafe wirst du jedoch eine Woche lang den Küchendienst übernehmen. – Franziska, du packst deine Koffer, du bist des Institutes verwiesen. Gleich am Montag wirst du abreisen. Ich telegrafiere deinem Vater, dass er dich in Habelschwerdt am Bahnhofe abholt. – Hinaus mit euch!“

Franzi ließ den Kopf hängen, doch da nahm Julie sie in den Arm.

„Du warst brillant, Franzi“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Ich bin stolz auf dich.“

Franzi fühlte sich allerdings alles andere als stolz, wenn sie an ihren Vater dachte, der sie am Bahnhof in Habelschwerdt erwarten würde.