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Über den Autor

Matthias Martin Becker, Jahrgang 1971, arbeitete als Kraftfahrer, Produktionshelfer, Call-Center-Agent, Altenpfleger und Heimerzieher. Mittlerweile ist er als Übersetzer und Wissenschaftsjournalist tätig. Er lebt in Berlin und erstellt regelmäßig Beiträge unter anderem für den Deutschlandfunk und das Magazin konkret. 2010 erschien sein Buch »Datenschatten – Auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft?«, 2014 bei Promedia »Mythos Vorbeugung – Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht«.

I. Die Maschine als Feind?

Wenn es zu den Aufgaben des Historikers gehört, zu warnen und zu hassen, dann ist notwendig, dass er präzise hasst.
Tim Mason

Der Ernst des Lebens beginnt (angeblich)

Ein Dröhnen, Schleifen, Stampfen. Als ich die Fabrikshalle zum ersten Mal betrat, traf mich der Lärm wie ein Schlag. Der Widerhall von den hohen Mauern verstärkte noch den Maschinenkrach; es roch nach Gummi und Öl. Durch die aufgeklappten Fenster drang kalte Luft von draußen in die Halle, die lastwagengroßen Maschinen gaben spürbar Wärme ab. Die Halle war unregelmäßig beleuchtet, sodass manche der Anlagen, Kessel, Rohre und Kabel im Halbdunkeln lagen. Menschen entdeckte ich erst auf den zweiten Blick. Eingeschüchtert, aber entschlossen, es nicht merken zu lassen, folgte ich dem Mann, der mich mit kaum drei Sätzen empfangen hatte. Er brachte mich mit schnellen Schritten zu meinem Arbeitsplatz.

Mein Arbeitsplatz: Vor mir ein Metallgitter, das langsam vorwärts ratterte, das Fließband befand sich ungefähr in Brusthöhe. Wenn ich mich nach vorne beugte, konnte ich bis zu seiner Mitte greifen. Das Transportband trug lange, eckig zugeschnittene Schaumstoffstangen nach vorne, die gerade in eine heiße, gummiartige Flüssigkeit getaucht worden waren, die durch das Gitter nach unten abtropfte. Diese Imprägniermasse roch beißend scharf und trocknete äußerst schnell. Meine Aufgabe war es nun, die feuchten Schaumstoffteile mit den Händen zu greifen, mich umzudrehen und sie in ein Palettenregal mit Rollen einzuordnen, das hinter mir stand, wo die Werkstücke trockneten und gelagert wurden.

Klingt einfach, nicht wahr? Ich empfehle, es selbst einmal auszuprobieren. Meine Einarbeitung dauerte genau zwei Minuten. Der Vorarbeiter, der mich an diesem ersten Arbeitstag am Werkstor abgeholt hatte, war der Meinung, er werde nicht fürs Reden bezahlt. Er warf mir ein Paar gelber Gummihandschuhe zu. »Der zeigt dir das«, sagte er, zeigte auf einen jungen Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite des Fließbands stand, und war verschwunden. Der Kollege auf der anderen Seite, ein Hilfsarbeiter wie ich, nickte knapp. Um mich mit ihm zu verständigen, hätte ich schreien müssen.

Zur Flucht war es zu spät, ich fing an zu arbeiten. Die Schaumstoffstangen waren etwa zwei Meter lang und im Durchmesser 30 Zentimeter, noch feucht und daher stark klebend. Sofort begannen die Finger meiner Handschuhe aneinander zu haften. Nach einer Stunde konnte ich sie nur noch mit einer scharfen Klinge trennen. Ich arbeitete sozusagen mit Fäustlingen und packte wenn nötig mit den Unterarmen zu. Wenn ich die biegsamen Teile durch den Raum schwenkte, musste ich tunlichst darauf achten, nichts zu berühren, sie dann mit einem genau bemessenen Kraftaufwand vorwärts in ein Regal mit Rollen hineinstoßen und mich daraufhin sofort wieder dem Fließband zuwenden, das in der Zwischenzeit Nachschub geliefert hatte. Mit gleichbleibender Geschwindigkeit trug es mir neue imprägnierte Schaumstoffstücke zu, vielmehr: an mir vorbei, denn wenn ich nicht schnell genug war, fielen sie am Ende des Förderbands in einen Container und wurden zu unhandlichen Abfallklumpen, zu Ausschuss.

Der klebrige Schaumstoff musste auf dem Gitter in dem Rollregal genau an der richtigen Stelle zum Liegen kommen, ein Zurechtrücken war schwierig und kostete zu viel Zeit. Es war wie Zielwerfen mit großen Kopfkissen, bei dem ich gleichzeitig möglichst wenig der Oberfläche berühren durfte. Die Stangen wogen ungefähr so viel wie eine große volle Wasserflasche. Einzeln genommen ist das nicht viel, aber sie stundenlang schnell anzuheben und herumzuwuchten bedeutet, ein erhebliches Gewicht zu bewegen, eine Tortur. Das Band lieferte stur und unbarmherzig das nächste Werkstück, eines nach dem anderen, wieder und wieder. Am Abend schmerzte mein ganzer Körper, die Ohren dröhnten und der Ausschusscontainer war voll bis zum Rand.

*

Fast drei Jahrzehnte ist das mittlerweile her. Die Fabrik, der ich hier aus Gründen der Diskretion den Tarnnamen »Pfalz-Chemie« gebe, erschien mir als veritable Höllenmaschine. »Finstere Fabriken des Satans« nannte der Dichter William Blake die Industrie des 19. Jahrhunderts, und ich weiß genau, wie er auf diesen Ausdruck kam. Soziologen benutzen manchmal für Arbeit dieser Art eine passende Abkürzung: 3D, das steht für dirty, dangerous, demanding – schmutzig, gefährlich und anstrengend. Fast immer sind diese Tätigkeiten zudem monoton und schlecht bezahlt. Es ist eine tiefe, empörende Ungerechtigkeit: Je härter die Arbeit, je mehr sie uns abverlangt und je schneller sie unsere Gesundheit verbraucht, umso weniger Lohn gibt es für sie.

Vielleicht gehören solche Jobs bald der Vergangenheit an. Roboter verdrängen die Menschen aus den Fabrikshallen, heißt es. Fortan übernehmen es die Maschinen, klebrige Schaumstoffstangen von den Fließbändern zu klauben. Die Geräte werden vernetzt, smart und intelligent, vom Mobiltelefon über den Kühlschrank bis zum Lastwagen. Neue Rechenmethoden (»schlaue Algorithmen«) erlauben es, ihnen immer anspruchsvollere Aufgaben anzuvertrauen.

Die computergestützte Automatisierung hat eine wahre Flutwelle von Publikationen ausgelöst. Jeden Tag lese ich von »Maschinen, die uns ersetzen werden«[1], von »autonomer«[2] oder »selbstorganisierender Produktion« und »selbstlernenden Robotern«, von immer neuen Triumphen der Künstlichen Intelligenz (KI). Eine vierte industrielle Revolution ist angeblich im Gange, deren Auswirkungen »für die wirtschaftliche Entwicklung und die Arbeits­organisation ähnlich tiefgreifend sein wird wie im Falle der vorangegangenen industriellen Revolutionen«.[3] Die (angeblich) denkende Maschinerie durchdringt nun auch Arbeitsbereiche, die bisher kaum von Automatisierung betroffen waren, beispielsweise medizinische Behandlung oder juristische Beratung. »Die ersten Computer stellen Diagnosen für Krankheiten, hören und sprechen und verfassen lesbare Prosa, während Roboter durch die Lagerhäuser schwirren und Autos mit minimaler oder ganz ohne Einmischung des Fahrers unterwegs sind«, jubeln die amerikanischen Ökonomen Eric Brynjolfsson und Andrew McAfee.[4] »Wir werden unsere Arbeit an Maschinen und Algorithmen verlieren«, erklärt bündig der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin.[5] Die Hälfte aller Arbeitsplätze könnte, einer vielzitierten Studie zufolge, der Automatisierung zum Opfer fallen.[6]

Wird die menschliche Arbeit wirklich überflüssig? Brauchen die Unternehmer bald gar keine Arbeiterinnen und Arbeiter mehr? Ich persönlich würde ja eine »Vollautomation« und menschenleere Fabriken von ganzem Herzen begrüßen, denn ich wünsche niemandem, sein Arbeitsleben am Fließband verbringen zu müssen. Aber ich befürchte, dass der technische Fortschritt nicht dazu führen wird, dass die Plackerei bald der Vergangenheit angehört. Im Gegenteil, in manchen Bereichen wird die eintönige, geisttötende Arbeit noch häufiger werden, und – da haben Brynjolfsson und McAfee ganz recht! – die Automatisierung wird Berufsfelder erfassen, in denen Maschinen bislang eine Nebenrolle spielten. Dies gilt für die klassischen »freien Berufe«, die meist eine akademische Ausbildung verlangen wie Arzt, Lehrer oder Rechtsanwalt, aber auch für Jobs, die meist (missverständlich) »unqualifiziert« genannt werden, beispielsweise Verkäuferin, Altenpfleger oder Kurierfahrer.

Robotik, Sensorik, Miniaturisierung und Maschinenlernen – sie sind der technische Kern, um den die gegenwärtige Automatisierungsdebatte kreist – haben tatsächlich beeindruckende Fortschritte gemacht. Von einigen Ausnahmen abgesehen sind die Maschinen im betrieblichen Alltag den Menschen aber weiterhin unterlegen, jedenfalls wenn mehr als einförmige Tätigkeiten verlangt werden.[7] Noch sind menschliche Arbeitskräfte flexibler, zuverlässiger und billiger zu haben als »autonome Roboter« – unterm Strich, nämlich jenem Strich ganz unten in der Unternehmensbilanz, auf den es letztlich ankommt.

Auch wenn die neuen, mehr oder weniger schlauen Maschinen nicht zu einer vollständigen Automation taugen, taugen sie doch dazu, die Menschen, die mit ihnen arbeiten, einerseits zu unterstützen, andererseits zu gängeln und zu überwachen. Digitale Assistenzsysteme, Leichtbauroboter, Maschinenlernen und vernetzte Industrieanlagen beginnen sich in den Unternehmen, den Fabriken und Büros zu verbreiten. Elektronische Medien durchdringen zunehmend das Alltags- und Arbeitsleben und erschließen sie für automatische Analysen; verschiedenste Datenquellen können miteinander vernetzt werden. Die Digitalisierung macht die Welt und auch die Arbeitsprozesse maschinenlesbar, im »Internet der Dinge« tauschen Gebrauchsgegenstände, Maschinen und Computer Daten aus.

Auf Grundlage der neuen technischen Möglichkeiten werden nun Arbeitsprozesse aufgespalten und neu zusammengesetzt, unter Umständen auf verschiedene Menschen verteilt. Die Beschäftigten können sich darüber hinaus wegen der digitalen Vernetzung an unterschiedlichen Orten aufhalten und dennoch eng zusammenarbeiten (Telearbeit, Fernwartung). Neue Formen der Arbeitsteilung entstehen, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Maschine. Die Automatisierung wird noch einmal ein Stück weiter getrieben. Angespornt von einem scharfen Konkurrenzdruck entwickeln Unternehmen und Wissenschaftler gegenwärtig Methoden für eine umfassende Rationalisierung – gleichsam eine Industrialisierung – auch der sozialen und geistigen Arbeit. Technische, organisatorische und betriebswirtschaftliche Maßnahmen gehen dabei Hand in Hand.

Die Warnung vor einer »Industrialisierung durch Digitalisierung« klingt womöglich überzogen. Unser Bild von der digitalen Technik ist geprägt durch den privaten Gebrauch, den wir von ihr machen, von den Smartphones oder Personal Computer, die uns so nützlich sind (obwohl die meisten von uns ihre Funktionsweise weder verstehen noch kontrollieren können). Aber dieselbe Technik, die uns erlaubt, einen Videoanruf mit einem Verwandten im Ausland durchzuführen oder in den unendlichen Weiten des Internets mühelos das zu finden, was wir suchen, hat das Potenzial, unsere Arbeit grundlegend zu verändern. Es entsteht eine Industrie neuer Art. Ihre Maschinen sehen anders aus als die Fließbänder der Vergangenheit, aber sie dienen demselben Zweck. Manche dieser Fließbänder sind auf den ersten Blick überhaupt nicht zu entdecken, weil sie zum Beispiel auf Funksignalen beruhen und im Code von Computerprogrammen versteckt sind. Mit den Industrieanlagen wie denen, die ich einst in der Pfalz-Chemie kennenlernte, haben sie gemeinsam, dass sie die menschliche Arbeit einspannen, lenken und verdichten. Die Kontrolle über den Arbeitsprozess geht von den Anwendern auf die Maschinen über – ein altes Prinzip in neuem Gewand, wie wir sehen werden. Ich will im Folgenden plausibel machen, dass es sich dabei aber nur um einen Zwischenschritt handelt: Nicht die Maschinen übernehmen die Macht, sondern das Management verstärkt seine Kontrolle.

Die jüngste und avancierteste Form der Arbeitskontrolle ist die »algorithmische Steuerung«. Die Vergabe von Aufträgen und die Reihenfolge von Arbeitsschritten erfolgt dabei mit Hilfe von Computerprogrammen, die das (angeblich) optimale Vorgehen anhand von Leistungsparametern aus der Vergangenheit errechnen. So wird die Arbeit etwa von Kurierfahrern oder Haushaltshilfen in der sogenannten Plattformökonomie gelenkt, ihre Leistungen werden (mehr oder weniger) automatisch (und in der Regel intransparent) bewertet. Lernende Algorithmen zur Wegeoptimierung hetzen Logistik-Arbeiterinnen durch die Lagerhallen. Auch in der Montageindustrie, beispielsweise in den Automobilfabriken, beginnen einige Unternehmen mit sogenannten selbstoptimierenden Systemen zu experimentieren. Das Endziel ist eine Automatisierung des Managements: Software und Roboter werden zu Vorarbeitern.

Die Veränderungen durch die Digitalisierung bleiben nicht auf den unmittelbaren Arbeitsprozess beschränkt. Wenn der konkrete Arbeitsinhalt sich verändert, bleiben auch die Arbeitshaltungen der Menschen, ihre Berufe und Fertigkeiten nicht die gleichen. Betriebsformen und Unternehmensstrukturen verändern sich; Firmen steigen schnell auf und gehen ebenso schnell unter. Vieles ist bisher nur in Umrissen erkennbar. Aber es scheint, als entstünden in bestimmten Sektoren marktbeherrschende Konzerne – der Soziologe Ulrich Dolata spricht treffend von »volatilen Monopolen«, häufig ist auch die Rede von »Plattformen« –, die kleine und abhängige Zuarbeiter und Zulieferer um sich scharen. Sie versuchen, sich aus der dinglichen Produktion nach Möglichkeit herauszuhalten und gleichzeitig die Kanäle für Kommunikation und Vermarktung zu monopolisieren. Bauern, Handwerker und »Soloselbstständige« werden vom Markt verdrängt oder in neue industrielle Wertschöpfungsketten eingespannt.[8]

All das ist Thema dieses Buchs. »Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus?«, lautet die Frage. Dieser digitale Kapitalismus ist keine neue Produktionsweise, nicht einmal eine weitere neue Epoche in der Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Ich beschreibe die Arbeitsprozesse, die durch die Vernetzung und digitale Durchdringung unseres Alltags möglich werden, neue Ausbeutungsweisen, die in den alten Widersprüchen gefangen bleiben. Um zu erklären, wie ich mich diesen Entwicklungen und Tendenzen im Weiteren nähern will, muss ich allerdings zuvor noch einmal drei Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit springen – zurück in die Pfalz-Chemie.

Arbeitszeit wird zu Geld (oder auch nicht)

»Heute Abend trinke ich ein kühles Weizenbier nach dem anderen, glaubst du mir das?«[9] Ein dicker Mann in einem fleckigen blauen Overall steht auf der Maschine, aus dem mein Metallfließband kommt, etwa zwei Meter über mir. Eine steile Metalltreppe führt zu seinem Leitstand, von dem aus er die Anlage steuert. Dort oben lehnt er mit halb geschlossenen Augen an einem Metallgeländer. Während ich unten am Fließband hektisch geradezu akrobatische Kunststücke vollführe, um möglichst viele der Schaumstoffstangen zu erwischen, bewegt er sich so wenig wie ein Salamander.

Dieser Anlagenführer hat mit den Jahren erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. In dem Kessel werden die Werkstücke sozusagen gebadet, wobei die Masse zum Imprägnieren nicht verklumpen und deshalb auf keinen Fall zu kalt oder zu heiß werden darf. Kollege Weizenbier könnte nun die Temperatur im Kessel von einer elektronischen Anzeige ablesen, aber er verlässt sich lieber auf sein Gehör, vielleicht auch auf seinen Geruchssinn. Aus dem Zischen, Rattern und Blubbern der Anlage erkennt er, wann es nötig ist, den Kessel ein wenig abzukühlen oder zu erhitzen. Ich konnte nie herausfinden, wie er es fertig brachte, aber er verschwendete niemals einen Blick auf das Thermostat. Ich bezweifle, dass er das Wort »exotherm« jemals gehört hatte, aber was es bedeutet – sprich: was passieren kann, wenn er zu viel von einem bestimmten Stoff in den Kessel mischt – das war ihm wohl bewusst.

Seinen unvergesslichen Satz vom Weizenbier sagt er übrigens immer wieder, mindestens einmal am Tag, so wie der Kuckuck aus einer Schweizer Uhr kommt, wenn man ihn nicht daran hindert. Damit spricht er nicht eigentlich mich an, sondern vielmehr sich selbst Mut zu. Er bestätigt sich, dass am Horizont seines Arbeitstages ein Silberstreifen zu sehen ist. Ansonsten sagt er nichts. Überhaupt redet in der Pfalz-Chemie erst einmal niemand mit mir. Für die Kollegen bin ich nämlich kein Kollege. Stattdessen bin ich ein ungelernter Hilfsarbeiter, über eine Leiharbeitsfirma angestellt. Mir kommt mein Monatslohn ganz ordentlich vor – das erste selbstverdiente Geld! –, aber sie könnten von so wenig nicht leben. Ich verderbe ungewollt die Preise und mache einen schlechten Eindruck, besonders, wenn ich mich bei der Arbeit ins Zeug lege. Es dauert eine ganze Woche, bis eine junge Mitarbeiterin in der Mittagspause ein paar Sätze mit mir wechselt.

Nach ein paar Tagen ist das Unmögliche geschafft. Die Arbeit am Fließband bleibt anstrengend, aber meine Gedanken können dabei schweifen. Ich entwickle kleine Tricks und Kniffe, zum Beispiel: die Rollregale hinter mir vorher ausrichten und beim Abladen der Stangen mit dem Fuß festhalten oder leicht zu mir ziehen. Wenn nötig die feuchten Stangen hochkant an die Metalltreppe lehnen. Weil der Vorarbeiter das nicht gerne sieht, übersieht er es. Überrascht bemerke ich, dass meine Schultern breiter und die Muskeln härter werden. Die Wochenenden werden teurer. Die Arbeitswoche muss ich durchziehen, durchhalten, am Samstag will ich etwas erleben. Am Sonntag schlafe ich, so viel es geht. Montagmorgens aufstehen, mit schmerzenden Armen und steifem Nacken, frierend auf das Motorrad.

Ich rauche Zigaretten auf der Toilette. »Geht Alles von der Arbeitszeit ab! (Leider auch vom Leben)«, schreibt Arno Schmidt. Ich langweile mich. Irgendwann ist der Bedarf an grauen Schaumstoffstangen offenbar gestillt. Der wortkarge Vorarbeiter weist mir eine neue Aufgabe zu. Auf dem Ladeplatz vor der Halle soll ich Fässer zusammenstellen, die später abgeholt werden. Im Freien ist es kalt, aber ich bin unbeobachtet und lasse mir Zeit. Schon am nächsten Tag schickt er mich zurück ans Fließband.

Erbarmungslos spuckt die Maschine klebrige, grau glänzende Schaumstoffstangen aus. Wohin gehen diese weichen Kunststoffstücke? Warum dürfen sie ihre sanft blassgelbe Farbe nicht behalten; wer verlangt, dass sie stattdessen grau und steif werden? Über mir steht der Anlagenführer am Geländer und spuckt in regelmäßigen Abständen seinen Satz vom Weizenbier aus, falls ich noch Zweifel hätte, wie sein Feierabend verlaufen und welche Rolle Alkohol dabei spielen wird.

Jetzt soll also dieser Ernst des Lebens beginnen, von dem so viel die Rede ist, ja? Und was, bitte schön, war das bis jetzt eigentlich?

Ein Leben lang morgens in die Fabrik.

Jahrzehnte Schichtarbeit, unterbrochen von Urlauben am Strand.

Ein schnelles Auto, um damit schnell zur Arbeit zu fahren.

Nach Feierabend ein kühles Weizenbier nach dem anderen.

Die Schule, der ich eben glücklich entronnen bin, scheint mir mit jedem Arbeitstag ein wenig besser: zunächst erträglich, dann angenehm, schließlich geradezu idyllisch. Nach nur zwei Monaten Schichtarbeit kündige ich. Die Chemieindustrie muss seitdem ohne mich auskommen.

*

Die Pfalz-Chemie war ein Betrieb mit etwa 50 Mitarbeitern, der unter anderem die Autoindustrie belieferte. Die kleine Fabrik lag direkt an einem Fluss im Umland meiner Heimatstadt. Die meisten der Beschäftigten wohnten im Dorf, das sozusagen zur Fabrik gehörte. Sie trafen sich nach Feierabend in der Kneipe oder beim Einkaufen, gewollt oder ungewollt.

Die Firma musste vor vielen Jahren zusperren. Aber Einzelteile wie die Schaumstoffstangen, die ich einst vom Fließband nahm, werden weiterhin gebraucht, und Roboter oder automatisierte Anlagen sind bisher nicht in der Lage, sie aufzuklauben – oder zu teuer dafür.[10] Wahrscheinlich hat deshalb ein albanischer, serbischer oder chinesischer Arbeiter meine verantwortungsvolle Aufgabe übernommen und wühlt mit seinen Handschuhen im heißen Gummi. Ich frage mich, was wohl aus meinem Weizenbier trinkenden Kollegen geworden ist. Vielleicht eine Umschulung zum Altenpfleger? »Sicherheitsmitarbeiter«? Oder frühverrentet? Eines weiß ich bestimmt, Karriere in der sogenannten Kreativbranche hat er nicht gemacht.

Irgendwann fand ich heraus, dass es sich bei den Plastikstangen um Einzelteile für Autos handelte, die den Motorraum vom Innenraum des Wagens abschirmen. Ich wünsche keinem Autofahrer, dass ihm bei Regen Wasser auf die Schuhe tropft, aber meine tägliche Arbeit brachte ich auf keine Art und Weise mit diesem erstrebenswerten Ziel in Verbindung. Wie der Kunststoff verwendet wurde, interessierte mich einfach nicht. Es hätte mich nicht einmal gestört, wenn die Rollregale, die ich stundenlang mühselig füllte, gleich darauf auf einer Müllhalde entladen worden wären. Den Arbeitslohn empfand ich als eine Art Schmerzensgeld, als Entschädigung, nicht als angemessene Anerkennung irgendeiner Leistung. Meine eigentliche Leistung bestand, schien mir, in Leidensfähigkeit, im Durchhaltewillen. »Arbeiterstolz« war mir gänzlich fremd, und ich bin überzeugt davon, dass es den meisten Menschen in vergleichbarer Lage ebenso geht.

Zugegeben, ich war in mehrerer Hinsicht ein extremer Fall. Mein soziales Leben spielte sich nicht im Betrieb ab; in der Belegschaft war ich ein Außenseiter. Für die Aufgaben, die ich ausführte, wurden Hilfsarbeiter über eine Leiharbeitsfirma eingestellt, verbraucht und schnell wieder ersetzt. Weder die Firma noch ich waren an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert. Dennoch glaube ich, dass meine besondere Situation verallgemeinert werden kann und auf ein grundsätzliches Problem verweist: Wie produzieren mit Menschen, die ihre Arbeit als lästig empfinden und sich für das Ergebnis nicht interessieren? Menschen, denen, psychologisch gesprochen, jede »intrinsische Motivation« fehlt.

Der Mathematiker und populärwissenschaftliche Autor Norbert Wiener sprach in diesem Zusammenhang von der »Nutzanwendung von Menschen durch andere Menschen«.[11] Dieses Problem stellt sich nicht nur bei ungelernten Hilfsarbeitern wie mir, sondern durchaus auch bei den »Hochqualifizierten«. Die ersten systematischen Überlegungen dazu finden sich bei Aristoteles. Er untersucht das Verhältnis der drei wesentlichen Elemente – Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Arbeitswerkzeug, wobei es sich zu seiner Zeit bei den Arbeitenden um Sklaven handelte. »Der Sklave ist ein beseeltes Werkzeug, so wie das Werkzeug ein unbeseelter Sklave«, erklärt er.[12] »Wo Herrscher und Beherrschter nichts gemeinsam haben, da ist auch keine Freundschaft, sondern nur ein Verhältnis wie das des Werkmeisters zu seinem Werkzeuge, der Seele zum Leibe und des Herrn zum Sklaven.« Aristoteles beschreibt das Verhältnis vom Herrn zum Knecht als eine Befehlskette. Sie entspricht dem Verhältnis eines Handwerkers zu seinem Werkzeug und auch dem zwischen Geist und Körper: Der Kopf sagt der Hand, was sie zu tun hat.

Ganz ähnlich unterschied der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro drei Jahrhunderte später zwischen »sprachbegabten, stimmbegabten und stummen Werkzeugen«: »Die sprechenden sind die Sklaven, die halb sprechenden sind die Ochsen, die stummen sind die Karren.«[13] Arbeitsmensch, Arbeitstier, Arbeitsgerät – Werkzeuge allesamt. Wir werden sehen, dass diese Perspektive die Tradition bis heute prägt.

Kein Zufall, dass schon in den ersten Überlegungen zu unserem Thema ein Wunschbild auftaucht, das bis heute wirkt und immer wieder aufs Neue fasziniert: der Automat, ein selbsttätiges Werkzeug. »Wenn nämlich jedes Werkzeug auf Geheiß oder mit eigener Voraussicht seine Ausgabe erfüllen könnte … wenn auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron [Schlagblättchen] die Kithara [Saiteninstrument] schlüge, dann benötigten weder die Baumeister Handlanger noch die Herren Sklaven.«[14] Irgendwann, spekuliert Aristoteles, wird der technische Fortschritt die Schufterei überflüssig machen. Einstweilen allerdings können wir – leider, leider! – auf sie einfach nicht verzichten.

Den Schwierigkeiten beim Einsatz von Menschen für ihnen fremde Zwecke widmet sich Aristoteles nur ganz am Rande. Menschen mit eigenem Willen und Verstand spielen in seiner Beschreibung kaum eine größere Rolle als beispielsweise eine Säge oder ein Hammer. Immerhin, die sogenannten stimm­begabten Werkzeuge können Anweisungen verstehen und eigenständig ausführen. Insofern hat die Instrumentalisierung des Menschen laut Aristoteles noch Vorteile gegenüber dem Gebrauch unbelebter Werkzeuge. Den Gesellen eines Handwerksmeisters nennt er in diesem Sinne ein »Werkzeug, das alle anderen übertrifft«. Die Kommunikation zwischen ihnen scheint unproblematisch, wenn auch einseitig: Befehle werden erteilt und befolgt. Von unten nach oben, also vom Knecht zum Herrn müssen scheinbar keine Informationen fließen.[15]

Wie zuverlässig und eifrig die Knechte und Sklaven im antiken Athen arbeiteten, kann ich nicht beurteilen. Immerhin sollen Züchtigungen und Flucht an der Tagesordnung gewesen sein. In der Pfalz-Chemie war es jedenfalls nicht der Fall, dass Anweisungen von oben einfach befolgt wurden, das kann ich versichern. Die Arbeiterinnen drückten sich, wo es ging. Darauf angesprochen fanden sie mühelos Ausreden, die nicht immer überzeugten, aber immer dazu führten, dass sich der Schichtführer grummelnd verzog. Bei der Aneignung fremder Arbeitsleistung entstehen unweigerlich Reibungen und Konflikte.

»Das grenzenlose Gebiet der Schufterei, des boulot, des job, mit einem Wort, der täglichen Arbeit, ist weniger erforscht als die Antarktis«, schreibt der italienische Schriftsteller Primo Levi, »und infolge einer traurigen und zugleich mysteriösen Erscheinung reden ausgerechnet diejenigen am meisten und am lautesten davon, die es am wenigsten durchmessen haben.«[16] Auch meine eigenen Forschungen auf dem Kontinent der Plackerei sind begrenzt. Nach ein paar Jahren, während derer ich mich mit Gelegenheitsjobs durchschlug, machte ich das Abitur nach und fand schließlich den Weg auf die Universität. Immerhin habe ich einige Zeit in Fabriken und Callcenters, als Kraftfahrer und Pflegekraft verbracht und kann berichten, dass sich die »Nutzanwendung von Menschen durch Menschen« grundlegend von der Handhabung eines Werkzeugs unterscheidet. Nicht nur, weil die menschlichen Werkzeuge Fehler machen, auf die ihre Anwender gar nicht kommen würden. Nein, niemals habe ich erlebt, dass die Beschäftigten die Wünsche und Ziele von Management und Unternehmen in Gänze und widerspruchslos übernahmen. Überall, wo es möglich war, einigten sie sich auf ein erträgliches Arbeitstempo und beobachteten aufmerksam, wie eifrig ihre Kollegen zu Werke gingen. Wurde ein Mitarbeiter vom Vorgesetzten zu oft als vorbildlich erwähnt, hatte er im Betrieb schnell keine Freunde mehr. Übereifrige wurden erst scherzhaft geneckt, dann direkt ermahnt, schließlich geschnitten und ausgegrenzt. »Es gibt wohl kaum einen Handwerker in den größeren Fabriken mit den gewöhnlichen Lohnsystemen, der nicht einen beträchtlichen Teil seiner Zeit mit Ausklügeln von Methoden zubringt, wie er möglichst langsam arbeiten und doch seinen Arbeitgeber von seinem Fleiße überzeugen kann«, erklärte Frederick Taylor, und als ehemaliger Vorarbeiter wusste er genau, wovon er schrieb.[17]

Soziologen sprechen, wissenschaftlich exakt, von »individueller und kollektiver Leistungsrestriktion«. Manager nennen es Drückebergerei, Faulheit, Schlamperei, heutzutage manchmal auch »Kommunikations-« oder »Motivationsproblem«. Es ist uralt und unausrottbar. Bei der Arbeitskraft handelt es sich nämlich um ein Werkzeug, das sich selbst führt, wie eine Säge, die sich die richtige Stelle an der Holzlatte selbst aussucht. Dieses Werkzeug achtet in der Regel darauf, nicht durch zu starken Gebrauch verschlissen zu werden[18], während bisher noch keine Säge dagegen protestiert hat, wenn eine Schreinerin sie zu heftig durchs Holz zieht und dabei das Sägeblatt ruiniert.

*

Obwohl ich eben einen etwas polemischen Bogen von der Chemieindustrie meiner Jugend zur antiken Sklaverei geschlagen habe, will ich keineswegs behaupten, dass das Problem auf ewig das gleiche bleibt. Abgesehen davon, dass in der Pfalz-Chemie niemand die Peitsche schwang, stand es mir frei, zu gehen, so wie es dem Unternehmen frei stand, mir zu kündigen. Ich verkaufte meine Lebenszeit. Während der Schicht gehörte sie nicht mehr mir, sondern der Firma, und ich ahnte schon damals, dass sie meine Zeit in Geld verwandeln würde.[19]

Diese Verwandlung wird soziologisch das Transformationsproblem genannt. Es fällt in das Fachgebiet der Industriesoziologie, die sich mit dem Einsatz von Lohnarbeit und der Beziehung zwischen ihren Verkäufern und Käufern beschäftigt, in all ihren komplizierten Verästelungen und Varianten. Auf den Arbeitsmärkten von heute werden (von abstoßenden Ausnahmen abgesehen) keine Menschen mehr gehandelt. Karl Marx schreibt dazu: »Was auf den Markt gebracht wird, ist in der Tat nicht Arbeit, sondern der Arbeiter. Was er dem Kapitalisten verkauft, ist nicht seine Arbeit, sondern der zeitweilige Gebrauch seiner selbst als Arbeitskraft.«[20] Etwas banal und ungenau ausgedrückt: Die Arbeiter vermieten sich eher, als dass sie sich verkaufen, und der Mietvertrag ist mit gewissen Fristen kündbar.

Was bei diesem Geschäft herauskommt – ob die verkaufte Arbeitszeit »ihr Geld wert ist« –, ist aber zunächst unklar. Denn während die Arbeitszeit vertraglich festgelegt werden kann, ist das für die im entsprechenden Zeitraum erbrachte Arbeitsleistung nicht möglich. Um noch einmal die Chemiefabrik zu bemühen, in der ich einst arbeitete: Kein Wort stand in meinem Arbeitsvertrag von gut dreihundert Schaumstoffstangen, die ich pro Tag zu bewegen hatte. Sämtliche Pflichten der Arbeiterinnen aufzulisten ist schwierig, auch wenn eben dies immer wieder versucht wird.[21] Die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung wird durch eine Unzahl von Einflüssen bestimmt, die zum Teil im Arbeiter selbst liegen – kurz gesagt in seinem Können und Wollen –, teils im Werkzeug und den Rohmaterialien. Die Leistung ist aber auch abhängig von äußeren Einflüssen, beispielsweise den Marktverhältnissen oder höherer Gewalt, auf die die Unternehmen keinen Einfluss nehmen können. Die Sache mit der Kon­trolle wird zusätzlich verkompliziert dadurch, dass meist mehrere Beschäftigte zusammenarbeiten und sich der Arbeitsprozess fortwährend ändert. »Wenn der Kapitalist Arbeitskraft kauft, die viel leisten kann, kauft er gleichzeitig eine unbestimmte Qualität und Menge«, so brachte es der amerikanische Marxist Harry Braverman auf den Punkt.[22]

Aus dieser Unbestimmtheit ergibt sich die Notwendigkeit der Kontrolle. Die marxistisch inspirierte Industriesoziologie, bei der ich mich im Folgenden bedienen werde, beschäftigt sich deshalb mit den unterschiedlichen Methoden der Arbeitskontrolle (inklusive der Selbstkontrolle). Der deutsche Soziologe Philipp Staab, der die »Arbeit im digitalen Kapitalismus« erforscht und dazu publiziert, bescheinigte dem Transformationsproblem jüngst »einen von heute aus betrachtet historischen Charakter«.[23] In der linken Debatte und in der akademischen Forschung spielt der Konflikt im Innersten der Lohnarbeit keine wichtige Rolle mehr. Aber das sogenannte Transformationsproblem ist keineswegs veraltet. Es gehört nicht einer vergangenen Zeit an, in der verschwitzte Männer in schmutzigen Fabrikshallen den Hammer schwangen und von einem Vorarbeiter angebrüllt wurden. Es muss in einem Schnellimbiss ebenso gelöst werden wie auf einer Bohrplattform in der Nordsee, in einer Automobilfabrik oder einer Werbeagentur. Das Wachsen des »Dienstleistungssektors« macht es nicht obsolet, und es tritt auf, ob die Lohnarbeit in der Küche eines privaten Haushalts, auf der Bühne einer Nachtbar oder in einem Forschungslabor geleistet wird. Es ist nicht einmal abhängig von einer Tendenz zur Dequalifizierung, also der Abwertung und Vereinfachung der Arbeitstätigkeiten; daher betrifft es Akademiker ebenso wie Volksschüler. Es beruht auch nicht auf der unter Arbeiterinnen und Arbeitern weit verbreiteten schlechten Laune, und deshalb schaffen es Tischtennisplatten und Obstschalen am Arbeitsplatz nicht aus der Welt.

Kurz, das Transformationsproblem ist tatsächlich eine historische Erscheinung, wie Philipp Staab schreibt, aber eben eine epochale. Den Feudalherren, die sich einen Teil der Ernte aneigneten, die ihre Bauern eingebracht hatten, stellte es sich nicht. Die Unterworfenen arbeiteten schließlich für sich selbst; auf welche Art und Weise sie das taten, war ihren Herren herzlich egal. Ganz anders das Kapital, das die Produktion fortwährend neu gestalten und sich für den Arbeitsprozess in allen Details interessieren muss.[24] »Der Arbeitsprozess ist in die Verantwortlichkeit der Kapitalisten übergegangen.«[25] Warum? Die Unternehmen müssen in der Konkurrenz bestehen. Sie müssen sich am Markt behaupten, denn dort gilt tatsächlich das darwinistische Prinzip vom survival of the fittest (wenn auch nicht unbedingt im Tierreich): Der Stärkere überlebt. Daher sind die Produktionskosten nicht nur gegenwärtig zu hoch, sondern sie werden auch auf ewig zu hoch bleiben! Die Gesamtausgaben müssen sinken, für Rohmaterial, Energie, Maschinen, Löhne und einiges andere mehr. Und dann, im nächsten Jahr, vor der nächsten Aktionärsversammlung oder dem unangenehmen Termin bei der Bank: dasselbe.

Und wieder.

Und noch einmal.

Stillstand kann es da nicht geben, und daher ist die Geschichte des Kapitals insgesamt eine Geschichte der Rationalisierung. Dieses System stachelt die Erfindungsgabe ebenso an wie die Mitleidlosigkeit. Auf lange Sicht kann dabei trotzdem nichts Vernünftiges herauskommen.

Ich will mit der langen Aufzählung von Fällen, in denen das Transforma­tionsproblem aktuell bleibt, nicht nahelegen, dass in den Betrieben gegenwärtig der Klassenkampf tobt und wir ihn nur nicht mitbekommen. Den Käufern von Arbeitskraft stellt sich das Transformationsproblem immer wieder aufs Neue, aber mit unterschiedlicher Schärfe. In den 1960er-Jahren veranstalteten Beschäftigte der englischen Automobilindustrie Fußballturniere zwischen Mannschaften aus den verschiedenen Werkshallen, um der schieren Langeweile zu entgehen. »Halle 5 gegen Halle 1, dann Halle 2 gegen Halle 3, dann ist Mittagspause, danach spielen wir um die Endrunde!« Anlässe wie fehlende oder die falsche Sorte Teebeutel, die vom Unternehmen für die Pausen gestellt wurden, genügten damals, um in Streik zu treten. Heute nehmen Widersetzlichkeit oder Widerstand in der Regel keine Formen an, mit denen die Arbeiterinnen die Macht des Managements offen herausfordern.

Im Verborgenen schwelt der Konflikt um die Leistungsverausgabung weiter.[26] Die Auseinandersetzungen spielen sich allerdings gegenwärtig eher im Mikrobereich der sozialen Interaktion ab.[27] Häufig sind sie an bestimmte Personen und vermeintlich individuelle Eigenheiten gebunden, die Grenzen des eigenen Betriebes überschreiten sie selten. Sie kreisen zum Beispiel um kurze unerlaubte Pausen, nur zum Schein erledigte Aufgaben, Manipulation der Zeiterfassung, Bremsen und Ausbremsen neuer Abläufe, Dienst nach Vorschrift. Daher streiten sich Beschäftigte und Unternehmensleitung intensiv darum, auf welche Art und wie detailliert die individuelle Arbeitsleistung sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden soll. Denn aus Sicht der Unternehmer ist der Schlendrian wie ein Pilz: er ist bereits vorhanden, aber man sieht ihn nicht. Dabei legen viele Beschäftigte einen überraschenden Erfindungsreichtum an den Tag. Um niemandem zu schaden, werde ich allerdings die besten Beispiele für mich behalten (sofern es sich nicht um allgemein bekannte alte Hüte handelt).

Die Macht der Technik oder die Macht des Kapitals?

Technik[28] spielte in diesem Konflikt zwischen Unternehmern und Beschäftigten immer eine wichtige Rolle, auch bereits vor der Einführung der ersten dampfgetriebenen Maschinen. Auf den Feldern Nordamerikas war es Landarbeitern verboten, Hacken mit langen Stielen zu benutzen. Sie schufteten stundenlang mit kurzstieligen Hacken, halb in der Hocke vornübergebeugt, um die Erde zu lockern und das Unkraut zu jäten. Die unvermeidliche Folge der gebückten Haltung waren schwere Schäden an Skelett und Muskulatur. Mit einer Hacke mit langem Stiel hätten die Landarbeiterinnen aufrecht und im Stehen jäten können. Warum bestanden die Plantagenbesitzer auf einem solchen »ergonomisch unsinnigen« Werkzeug, das eine effiziente Ausführung sogar behindert? Die langstielige Hacke hätte die Arbeit nicht verlangsamt. Dennoch beharrten manche Landeigner noch bis in die 1970er-Jahre auf der kurzstieligen Hacke, weil sie eine effiziente Kontrolle möglich macht.[29] Wird sie eingesetzt, dann erkennt der Vorarbeiter am Feldrand mit einem Blick, wer gebückt arbeitet und wer sich aufrichtet, um einen Moment auszuruhen. »Der eigentliche Vorteil der kurzen Hacke war informationell«, erklärt der amerikanische Wirtschaftshistoriker Michael Perelman. »Die Farmbesitzer hielten viel von diesem besonderen Werkzeug, wegen seinem Potenzial, Informationen an die Aufseher zu übermitteln.«[30]

Das Beispiel der Hacke mutet vielleicht etwas altmodisch an. Dieselbe Notwendigkeit der Kontrolle erzeugt jedoch Mechanismen noch in den neuesten Erfindungen, etwa in Gestalt digitaler Verschlüsselungstechnik, Mechanismen zur Identifizierung oder dem Digital Rights Management zum Schutz von Urheberrechten. Dass die Informationstechnik, die dabei eingesetzt wird, auch anderen Zwecken dienen kann, ändert nichts an dieser Tatsache. Der entscheidende Punkt ist, dass Kontrollmechanismen auch dann in Arbeitsmittel »eingebaut« werden, wenn sie die Produktivität nicht unmittelbar steigern, sondern nur mittelbar – insoweit sie eine Leistungskontrolle und spätere Sanktion ihrer Anwender ermöglichen. Die Maschine ist nicht nur ein Arbeitsmittel, sondern zugleich ein »Beherrschungs- und Ausbeutungsmittel«, das wissen wir seit Marx.[31] Ich will darauf hinaus, dass Debatten über Technologie, ihre Entwicklungstendenzen und Potenziale fruchtlos bleiben, wenn in ihnen das Transformationsproblem und der zugrundeliegende Interessensgegensatz nicht mitbedacht wird.

Dieses Buch handelt von der digitalen Kontrolle der Lohnarbeit, von Werkzeugen, Maschinen und Computerprogrammen, die im Arbeitsprozess zum Einsatz kommen. Was sie leisten, entscheidet darüber, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Sobald der Roboter erfunden ist, der ebenso gut wie ich mit elastischen Schaumstoffstangen jongliert und dessen Anschaffungs- und Wartungskosten geringer ausfallen als meine Lohnkosten, bin ich meinen Job los, dann wird der Mensch aus der Fabrik verdrängt. Solange aber die Roboter noch keine Roboter bauen können, solange die Prozesse wenigstens beaufsichtigt werden müssen, kommt es auf den menschlichen Anteil weiterhin an. Die Funktionsweise der Technik und die Arbeitsverhältnisse müssen zusammen gedacht werden, sonst bleiben beide unverständlich. Ob Maschinen »etwas können oder nicht«, ist letztlich nicht entscheidend. Es kommt darauf an, was Unternehmer und Arbeiter mit ihnen tun, was sie mit ihrer Hilfe in ihrer Auseinandersetzung miteinander erreichen können.

Der Kardinalfehler der neuen Automatisierungsdebatte besteht darin, technische Möglichkeiten mit tatsächlichen Arbeitsprozessen zu verwechseln. Das sozusagen abstrakte Potenzial technischer Neuerungen, Zeit oder Material einzusparen, ist etwas anderes als der tatsächliche Einsatz. Dass die Leistungsfähigkeit der neuesten Computersysteme und Roboter fast immer überschätzt wird – auch weil erschreckend viele Autoren die Versprechen der Hersteller­firmen ungeprüft übernehmen – verunklart die Prognosen zusätzlich. Dies gilt umgekehrt auch für die nützlichen Gegenstände und angenehmen Verhältnisse, die sich mit digitaler Technik prinzipiell herstellen lassen. Apparate ermöglichen, sie erzwingen nicht. Zugegeben, ein Werkzeug legt einen bestimmten Gebrauch nahe. Es empfiehlt sich nicht, einen Nagel mit dem Smartphone in die Wand zu schlagen oder einen Pflug mit dem Mountainbike durch den Acker zu ziehen. Computer und die darauf aufbauenden Techniken eröffnen dagegen ganz unterschiedliche und wunderbare Möglichkeiten, darunter auch solche für Prognose und Automatisierung. Ich will den technischen Fortschritt auf keinen Fall verdammen; und viele Ingenieure und Wissenschaftler, die sich ihm widmen, haben meine Bewunderung und Hochachtung.

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Die industriesoziologische Forschung zur Arbeitskontrolle – im angloamerikanischen Raum bekannt als die Labour Process Debate – war stark von der Analyse von Karl Marx beeinflusst. Für ihn spielt die Maschinerie eine Schlüsselrolle. Seiner Ansicht nach verwandelt das Fabriksystem die arbeitenden Menschen in bloße »Anhängsel«[32], spannt ihre besonderen Fähigkeiten ein und gibt ihnen die Richtung vor. »In der Fabrik dient der Arbeiter der Maschine.«[33] Entsprechend stand der konkrete Umgang mit der Maschine zunächst im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Die Untersuchungen der verschiedenen Industriesoziologen zeigten dann aber, dass die eingesetzten Maschinen die Verhältnisse in den Betrieben nur zum Teil erklären. Das Verhalten der Beschäftigten wird schließlich nicht nur von der unmittelbaren Arbeit bestimmt. Sie interessieren sich für die Art und Höhe ihrer Bezahlung, für die Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb oder im Gegenteil für Ausstiegsmöglichkeiten durch den Wechsel zu einem anderen Unternehmen. Sie suchen nach Anerkennung durch ihre Kollegen und Vorgesetzten. In der Forschung trat der eigentliche Arbeitsprozess immer weiter in den Hintergrund oder wurde wenigstens ergänzt durch Untersuchungen zur betrieblichen Hierarchie, den »internen Arbeitsmärkten« und typischen Lohn- und Vertragsformen. Salopp gesagt, es muss einiges zusammenkommen, damit gekaufte Arbeitszeit zu geleisteter Arbeit wird.

Der amerikanische Soziologe Richard Edwards unterschied drei Grund­arten der Kontrolle der Lohnarbeit, aus der Perspektive des Managements: drei unterschiedliche Ansatzpunkte, um die Produktion zu steuern und zu steigern. Vorarbeiterinnen können durch das Großraumbüro oder die Werkshalle streifen und den Angestellten über die Schulter schauen (persönliche Kontrolle).[34] Die Maschinerie bei der Fließbandproduktion versachlicht die Aufsicht, weil sie mit der »gleichförmig kontinuierlichen Bewegung eines Automaten« den Arbeitern ihren Takt aufzwingt (technische Kontrolle). Auch die Aussicht auf eine Beförderung, Vergünstigungen, Prämien und ähnliches lenken ihr Verhalten in die gewünschte Richtung (bürokratische Kontrolle). Diese Arbeitskontrolle wird nicht länger willkürlich ausgeübt, sondern gehorcht festgelegten und allen Beteiligten bekannten Spielregeln.[35] Der Industriesoziologe Michael Burawoy nannte diese betriebliche Kontrollform anschaulich den »inneren Staat«.[36] Persönliche, technische und bürokratische Kontrolle gehören zusammen, sie ergänzen sich. In einem bestimmten Produktionsablauf kann nur eine dieser Formen auftreten – zum Beispiel wenn ein selbstständiger Installateur seinen angestellten Hilfsarbeiter beobachtet, der gerade eine Wasserleitung aufschraubt – oder aber alle drei, wie es heute meist üblich ist.[37]

Und selbst Edwards’ drei Kontrollformen ergeben noch kein vollständiges Bild. Schließlich wirken die Verhältnisse auf den Arbeitsmärkten und in der Gesellschaft insgesamt in die Betriebe hinein und beeinflussen die Kompromissbereitschaft der Unternehmer und der Beschäftigten. Ein Gutteil seiner Macht bezieht das Management von außerhalb. Sie beruht auf der Entscheidungsmacht, Beschäftigte auszuschließen, sprich: auf der glaubwürdigen Drohung der Kündigung. Nur wenn wir all diese Aspekte zusammen und in ihrer Verbundenheit betrachten, können wir erkennen, welche Spielräume die Beschäftigten haben und welche Folgen technische Anlagen haben werden. Um im sozialwissenschaftlichen Jargon zu sprechen: Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die sozialen, technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Rationalisierung eine Einheit bilden, dass die verschiedenen Maßnahmen »zueinander passen müssen«. Lückenlose technische Überwachungssysteme laufen ins Leere, wenn sie nicht durch organisatorische Regelungen gestützt werden. Ausgefeilte Prämiensysteme bleiben wirkungslos, wenn Arbeiter die Dokumentation ihrer Arbeitsleistung unterlaufen.

Es macht wenig Sinn, die einzelnen Technologien nacheinander auf ihre Folgen hin zu untersuchen, etwa: 1. Roboter, 2. Künstliche Intelligenz, 3. Drohnen … Die Systeme, die gerade entwickelt oder ausprobiert werden, beruhen selten auf nur einer Technologie. Im Bereich der Altenpflege beispielsweise werden Sensor-Funknetze mit Ferndiagnostik über das Internet verbunden, in den neuen Industrierobotern stecken »lernende Algorithmen« und so weiter. Stattdessen beschreibe ich typische Muster der Arbeitskontrolle. Ihre zugrundeliegenden Prinzipien sind Individualisierung, Standardisierung, Taktung und Sichtbarkeit, aber auch Managementstrategien wie die Vermarktlichung und die horizontale Auslagerung der Kontrolle (Gruppenarbeit), die oft als indirekte Steuerung bezeichnet werden. Ich ordne auf diese Weise die vielschichtigen Maßnahmen des Managements entsprechend ihres erwünschten Ergebnisses – das allerdings nicht unbedingt eintreten muss. Im Rahmen dieser Strategien kommen ganz unterschiedliche Technologien zum Einsatz (die meisten davon übrigens analog).

In diesem Sinne handeln die folgenden Kapitel von Lösungsversuchen des Transformationsproblems auf der Höhe der Zeit und dem Stand der Technik, von ihrem Erfolg, ihrem Scheitern und ihren sozialen Folgen. Deshalb mache ich mich auf den Weg an die vorderste Front der Automatisierung, dorthin, wo Mechanisierung und Technisierung am weitesten vorangetrieben werden. Ich beschreibe die Versuche, den Maschinen das Denken und (vielleicht noch wichtiger) das Fühlen beizubringen, die Fortschritte der Sensorik und Robotik, Maschinenlernen und Mustererkennung, ohne ihre historischen Ursprünge aus dem Blick zu verlieren. Es geht um Industrieanlagen, die gesprochene Sprache verstehen, um Landdrohnen, die durch Felder kriechen und Unkraut jäten, und um Internet-Universitäten, in denen automatisch gelehrt wird. Was wirklich neu ist am Neuen, zeigt sich ja erst im historischen Vergleich. Mit anderen Worten, ich versuche herauszufinden, welchen Unterschied das Digitale im digitalen Kapitalismus eigentlich macht.