Buchinfo

Freddys Vater, einer der berühmtesten Piratenkapitäne, ist seit Jahren verschollen und Freddy wünscht sich nichts sehnlicher, als auf hoher See nach ihm zu suchen. Als eines Abends der geheimnisvolle Seebär Kork auftaucht und erzählt, dass der Kaiser denjenigen zum König der Piraten krönt, der ihm die Schätze aller sieben Meere bringt, ist sich Freddy sicher: Wenn sein Vater noch dort draußen ist, wird er dem Ruf des Kaisers folgen. Zusammen mit dem schrulligen Haudegen Kork hisst Freddy die Segel und begibt sich auf die wildeste, gefährlichste und aufregendste Reise seines Lebens!

Autorenvita

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© Franziska Nehmer

Lukas Hainer ist derzeit einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Liedtexter. Zum Team um die Gruppe Santiano gehört er vom ersten Album an. Die Arbeit mit den Künstlern hinter der Bühne ermöglicht ihm das Eintauchen in die verschiedensten Genres, von Hardrock über Pop bis Schlager. Nach einigen lustigen Kurzgeschichtensammlungen und der Entwicklung eines Kindermusicals erfüllt der Weg in die Kinderliteratur ihm nun einen Herzenswunsch. Der junge Familienvater lebt derzeit in Flensburg und genießt dort die Nähe zum Salzwasser, die mit Sicherheit auch den »König der Piraten« inspiriert hat.

Titelbild

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»In die Wanten! Nichts wie weg hier!«

Eilig setzten Finn und seine Mannschaft die Segel. Erst da bemerkte die Meerhexe, dass die Piraten sie bestohlen hatten. Sie stürzte sich von ihrer Klippe in die schwarze See, und der Himmel flammte rot auf.

Finn trieb seine Männer an: »Na los! Hisst jeden Fetzen Stoff, den ihr finden könnt, und wenn es euer Hemd ist!«

Freddy saß am Bett seiner kleinen Brüder. Er rief die Worte, als wäre er sein eigener Vater, der große Pirat Finn. Wie gebannt hingen die drei Jungs an seinen Lippen.

Die Hexe peitschte die Wellen auf und fletschte die Zähne. Mit einem wilden Kreischen warf sie die Krallenhände nach vorn, und Blitze schossen aus ihren Fingern.

»Haltet euch fest!«, schrie Finn.

Er warf das Ruder herum, aber die ersten Blitze schlugen bereits ein: Einer zerfetzte die Reling, ein zweiter traf den Mast, und eins der Großsegel fing Feuer. Der dritte Blitz flog direkt auf Finns Steuermann zu. Im letzten Moment riss Finn ihn zur Seite.

»LÖSCHT DEN BRAND!«

Narga, die Hexe, schäumte vor Wut. Jetzt würde sie Finns Schiff endgültig versenken. Ihr Schwanz peitschte wild hin und her, und das Wasser türmte sich zu einer riesigen Welle auf. Finn schloss die Augen und flüsterte die Worte in den Himmel 

»Welche Worte?«, fragte Vinz aufgeregt. Er war der kleinste der vier Brüder.

»Das wissen nur er selbst und der Wind«, antwortete Freddy. »Denn mit dem Wind hat Papa einen Pakt geschlossen.«

»Was ist ein Pakt?«, wollte Vinz wissen.

»Sie haben sich verbündet. Papa hat dem Wind etwas sehr Wichtiges versprochen. Dafür hilft der Wind ihm, wann immer Papa ihn braucht.«

Ungeduldig ging Theo dazwischen. »Das wissen wir doch längst, erzähl endlich weiter!«

Finn flüsterte die Worte in den Himmel, und sofort schoss der Wind in alle sieben Segel seines Schiffs. Funken stoben vom brennenden Mast. Das Schiff machte einen Satz nach vorn und durchbrach die Wasserwand. Als es auf der anderen Seite wieder herauskam, war der Brand gelöscht. Und dann sah die Meerhexe Narga, warum man Papa den Fliegenden Finn nennt 

»Er ist entkommen!« Theo war begeistert.

»Mit dem wertvollsten Rubin der Hexe!«, rief Ted, sein Zwillingsbruder.

 denn schnell wie der Wind segelte das Schiff davon.

»Und dann?«, fragte Vinz. »Hat sie ihn verfolgt?«

»Nein, Papas Schiff war selbst für die Hexe zu schnell. Aber sie kennt jetzt sein Gesicht. Deswegen muss er sich vor ihr verstecken.«

»Genau wie vor dem Eisdrachen und vor den Feuerriesen und vor der Marine des Kaisers«, zählte Theo auf.

Freddy nickte.

»Wann kommt Papa denn wieder nach Hause?«, wollte Vinz wie jeden Abend wissen, und Freddy wurde ganz schwer ums Herz, als er den hoffnungsvollen Blick seines Bruders sah.

»Wenn er kommt, dann zeigt er damit all seinen Feinden, wo wir leben. Stell dir vor, die Meerhexe kommt und reißt unsere Tür mit ihren Blitzen ein!«

Die Zwillinge stürzten sich mit gekrümmten Fingern auf Vinz, und der Kleine quietschte vergnügt.

»Er kann uns nur beschützen, indem er fortbleibt. Aber ich werde seiner Spur folgen und ihn finden, und dann besiegen wir die Meerhexe und den Eisdrachen und kommen gemeinsam zurück nach Hause.«

»So, ich glaube, das reicht …«

Freddys Mutter war in den Türrahmen getreten.

»Nur noch eine Geschichte!«, bettelte Vinz. »Nur noch eine halbe!«

»Dann kannst du wieder die ganze Nacht nicht schlafen.« Donna Clara warf Freddy einen tadelnden Blick zu und wandte sich erneut an Vinz. »Du bist jetzt schon aufgedreht genug.«

Freddy wünschte seinen Brüdern eine gute Nacht. Er verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

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In der Küche stand ein Berg aus schmutzigem Geschirr. In der Taverne fiel so viel Arbeit an, dass Freddy auch abends mit anpacken musste.

»Nicht mehr lange«, murmelte Freddy dem Lappen zu, mit dem er die Teller wusch. »Nicht mehr lange, dann mache ich mich auf die Suche nach Papa. Ich heuere auf einem der Handelsschiffe an, dort werden immer Schiffsjungen gebraucht.«

Jeden Tag sah Freddy sie unten im Hafen anlegen. Zu gern hätte er sich einfach an Bord geschlichen. Wenn nur seine Mutter ihn endlich gehen lassen würde!

Nach einer Weile steckte Donna Clara den Kopf durch die Küchentür.

»Danke.« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie das saubere Geschirr neben dem Spüleimer erblickte. »Wie gut, dass die Zwillinge allmählich auch mithelfen können. Dann bleibt nicht mehr so viel an dir hängen.«

»Das stimmt. Und wenn sie jetzt helfen, kann ich endlich in See stechen«, sagte Freddy.

Die Miene seiner Mutter verdunkelte sich. »Fängst du schon wieder damit an?«

»Du weißt genau, dass du mich nicht ewig hier festhalten kannst. Außerdem hast du Vinz doch gehört. ›Wann kommt Papa wieder?‹ Jeden Abend fragt er mich das.«

»Wenn du fort wärst, würde er fragen: ›Wann kommen Papa und mein Bruder endlich wieder?‹«, entgegnete sie wütend. »Das Thema hatten wir jetzt oft genug. Ich hab gesagt, du musst dich noch gedulden, und damit basta.«

Freddy ließ den Teller in seiner Hand scheppernd auf den Stapel fallen und stampfte zurück in Richtung Schlafzimmer. Mondlicht fiel durch das Fenster herein. Leise zog er sich aus und streifte sich ein Nachthemd über.

»Freddy?«, flüsterte Ted.

»Hm?«

»Habt ihr euch wieder gestritten?«

»Nein«, antwortete Freddy, obwohl er genau wusste, dass er die Zwillinge nicht hinters Licht führen konnte.

»Wo willst du mit deiner Suche überhaupt anfangen?«, fragte Theo.

»Mir wird schon etwas einfallen.«

Freddy hatte keine Lust, jetzt auch noch mit den Zwillingen zu zanken.

»Erzählst du uns von ihm?«, raunte Ted, und Freddys Zorn war schlagartig verflogen. Er war der Einzige, der sich noch an ihren Vater erinnern konnte. Die Zwillinge waren bei Finns Abreise noch zu klein gewesen und Vinz nicht einmal auf der Welt.

»Ihr habt Mama doch gehört. Keine Geschichte mehr«, flüsterte Freddy.

»Nein, keine Geschichten … aber wie er ist. Wie sieht er aus?«

»Wie er heute aussieht, weiß ich nicht. Groß ist er. Er musste jedes Mal den Kopf einziehen, wenn er durch die Schlafzimmertür kam. Und einen kratzigen Bart hatte er auch.« Freddy konnte das raue Gesicht seines Vaters immer noch unter den Fingerspitzen fühlen. »Wir haben ihn immer angebettelt, dass er uns fliegen lässt.«

In Wahrheit hatte nur Freddy gebettelt. Die Zwillinge hatten lediglich die Hände nach ihm ausgestreckt, weil sie ja noch nicht hatten sprechen können.

»Hat er den Wind zu Hilfe gerufen?«

»Nein. Er hat uns hochgeworfen und wieder aufgefangen. Immer und immer wieder.« Das laute Lachen ihres Vaters klang Freddy noch in den Ohren. »Schlaft jetzt«, sagte er bestimmt. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, antworteten die Zwillinge.

Freddy musste an das schelmische Grinsen und das Funkeln in den dunkelbraunen Augen seines Vaters denken. Mit diesen Erinnerungen schlief er ein.

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Es war ein Nachmittag wie jeder andere, an dem Freddys Abenteuer begann. Donna Clara spülte mit den Zwillingen in der Küche der Taverne das Geschirr vom Mittag. Im Hinterhof jagte Vinz auf seinen kurzen Beinen zwei gackernde Hühner. Freddy saß allein im Schankraum hinter dem Tresen, kippelte auf seinem Barhocker vor und zurück und ging in Gedanken die Schiffe durch, die gerade im Hafen lagen. Es waren große Marineschiffe darunter. Später wollte er die Matrosen fragen, wohin sie unterwegs waren.

Als die Tür aufschwang, blickte Freddy auf. Im Zwielicht des Schankraums konnte er zunächst nur die Umrisse eines Seemanns ausmachen: einen zerbeulten Hut, strähniges Haar, das über den Wangen in einen Vollbart überging, ein blitzendes Entermesser und eine Pistole am Gürtel. Dumpf pochte sein Holzbein über den Dielenboden, als der Fremde die Taverne betrat.

»Ahoi«, grüßte Freddy, wie er es immer tat. »Rum?«

»Da fragst du noch? Was denn sonst, bei den fünf Galgen, an denen sie mich schon aufgehängt haben«, knurrte der Seemann, setzte sich am Tresen auf einen Hocker und musterte Freddy, als würde er in dem Gesicht des Jungen irgendwas Bestimmtes suchen.

»Kannst du auch bezahlen?«, fragte Freddy mit einem verstohlenen Blick auf die schmutzige Kleidung seines Gasts.

Wortlos schnippte der Alte eine Silbermünze in Richtung des Jungen, und Freddy ließ sie in die Schatulle unter der Theke fallen, ehe er ein Glas mit Rum füllte.

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»Wie heißt du?«, fragte der Seemann.

»Freddy.«

Als er den Namen hörte, leuchteten seine Augen für einen winzigen Moment auf, was Freddy allerdings entging, weil er noch immer mit dem Rum beschäftigt war.

»Und wie heißt du?«

»König Kork«, sagte der Alte mit gewichtiger Stimme und einer ausladenden Geste. »Ich bin der Herr der sieben Meere.«

Freddy ließ beinahe die Flasche fallen. »König? Du alter Seebär?« Fast hätte er laut losgelacht.

»Noch bin ich es nicht. Alles, was ich dazu noch brauche, sind ein paar läppische Schätze«, entgegnete Kork. Dann zog er eine Pergamentrolle aus der Tasche und schob sie über den Tresen. Sie sah genauso mitgenommen aus wie ihr Besitzer: knittrig und voller Flecken. Aber sie trug ein rotes Siegel – und was für eins!

»Ist das etwa … vom … Kaiser?«

Der Seemann nickte. »Ganz recht.« Dann fing er an, in der Taverne auf und ab zugehen. Pock … Pock … Pock. »Bei meinen Holzwürmern, dieses Schreiben stammt vom Kaiser und keinem anderen.«

Freddys Augen wurden immer größer, als er las, was darauf stand.

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Der Kaiser regierte von seinem Palast in der fernen Hauptstadt aus nicht nur ein Reich, sondern vielmehr die ganze Welt. Freddy hatte schon einmal ein Bild von ihm gesehen. Ein Matrose hatte eins bei sich gehabt und es ihm gezeigt.

Er war vollkommen durcheinander.

»Hast du ein Schiff?«, fragte er nach einer Weile.

Der Seemann lehnte sich über den Tresen und zwinkerte Freddy verschwörerisch zu. »Das schnellste auf den sieben Meeren, wenn nur der Wind richtig steht. Wenn das nicht stimmt, soll mich der Teufel holen.«

Kork brach in dröhnendes Gelächter aus. Dann warf er einen hastigen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass der Teufel nicht hinter ihm aufgetaucht war.

Allerdings hatte Freddy den letzten Satz schon gar nicht mehr gehört. Die Gedanken jagten ihm nur so durch den Kopf. Ein Schiff, ein Schatz … König der Piraten … Wenn dies wirklich eine Bekanntmachung des Kaisers war, dann musste auch sein Vater davon erfahren haben. Und in einem waren sich alle Geschichten einig: Der Fliegende Finn war noch keiner Herausforderung aus dem Weg gegangen. Wenn sein Vater von dem Aufruf wusste, dann hatte er sich bestimmt längst auf den Weg gemacht.

Wieder sah Kork den Jungen mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. Dann fragte er zögerlich: »Hat dir jemand von einem Schatz erzählt? Ein Gast hier in der Kneipe oder möglicherweise … sonst irgendwer?«

Sofort musste Freddy an all die betrunkenen Matrosen in der Taverne und an ihr Seemannsgarn denken. Dem Alten würde er derlei Märchen nicht auftischen können, aber irgendetwas musste er ihm bieten. Denn insgeheim hatte Freddy einen Entschluss gefasst: Er würde mit diesem alten Seebären mitgehen. Es war an der Zeit, sich auf die Suche nach seinem Vater zu machen.

»Ich weiß von einem Schatz«, flunkerte er eifrig drauflos. »Es ist ein Schatz, der so groß ist wie sämtliche Schätze der sieben Meere zusammen! Ich weiß in etwa, wo er liegt … Du allein wirst ihn nicht finden.«

»Aber das ist doch ausgezeichnet!«, jubelte der Alte. »Wann brechen wir auf?«

Das war ja einfacher gewesen, als Freddy befürchtet hatte! Mit dem Brief in der Hand rannte er hinüber in die Küche und ließ sich auch durch Korks empörtes »He!« nicht aufhalten.

Donna Clara beugte sich gerade über den Spüleimer, während die Zwillinge die Teller abtrockneten. Als Freddy hereinstürmte, schaute seine Mutter auf.

»Was hast du da?«

Auch die Zwillinge schielten neugierig auf das Schreiben in seiner Hand.

Er hielt es seiner Mutter hin. »Lies selbst …« Mehr brachte er nicht heraus.

Mit jedem Wort, das sie las, wurde sie blasser. »Du denkst doch nicht …«

»Ich gehe!«, rief Freddy, und vor Aufregung schlug ihm das Herz bis zum Hals. »Ich bin alt genug, als Schiffsjunge anzuheuern. Die Zwillinge machen hier sowieso schon fast jede Arbeit, die ich auch mache. Sie können dir in der Taverne helfen. Er ist dort draußen, ich weiß es einfach – und ich muss ihn finden!«

Von dem Teller in der Hand seiner Mutter tropfte das Spülwasser. Ansonsten herrschte in der Küche Stille.

Hinter ihm hatte inzwischen auch Kork den Raum betreten. Neugierig blickte er in die Runde. Donna Clara funkelte den Fremden an. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt, und es war keine gute Idee, eine Frau wie Freddys Mutter in die Ecke zu drängen.

»Ist das dein Schrieb, Seemann?« Ihre Worte prasselten wie Pistolenkugeln auf Kork ein.

»Äh … ja, Madame …« Mit dem Zeigefinger lüftete er leicht den Hut.

»Es ist mir egal, ob du vom Kaiser oder direkt aus der Hölle kommst«, donnerte sie. »Wenn du noch einmal deinen Fuß über meine Schwelle setzt, um eins meiner Kinder zu verschleppen, dann wird es dich mehr als dein Bein kosten!«

»Ich … verschleppe doch kein …«, wollte Kork schon protestieren, doch Freddys Mutter schnitt ihm das Wort ab.

»Raus!«

Unter ihrem Todesblick trollte Kork sich aus der Küche.

»Morgen früh läuft mein Schiff aus – ob nun mit oder ohne Schiffsjungen«, grollte er noch vom Schankraum aus, und das dumpfe Pochen seines Holzbeins begleitete ihn aus der Taverne. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Freddy stand da wie vom Donner gerührt. Die letzten Minuten waren wie ein Sturm an ihm vorbeigewirbelt.

»DU KANNST MICH NICHT MEIN LEBEN LANG HIER EINSPERREN!«, schrie er seine Mutter an. »ICH BIN JETZT ALT GENUG …«

»Das bist du nicht, und damit basta«, hielt seine Mutter dagegen, klang dabei aber eher verzweifelt als bestimmt.

Ohne ihr weiter zuzuhören, rannte Freddy aus der Taverne. Er lief über den Hinterhof, wo der kleine Vinz zwischen den vollkommen verausgabten Hühnern hockte, die er zuvor gejagt hatte. Dann kletterte Freddy über den Holzzaun und hastete über die dahinter liegenden Felder. Tränen strömten ihm über die Wangen, und immer wieder murmelte er seinen Entschluss vor sich hin: »Ich gehe auf dieses Schiff. Ich gehe auf dieses Schiff. Ich gehe auf dieses Schiff.«

Kork war indes zurück zum Hafen gelaufen. Porto Poncho hatte sich kaum verändert, auch wenn Korks letzter Besuch schon lange her war. Bunte Fahnen wehten von bunten Häusern, und selbst die Menschen hier waren bunt: Sie trugen leuchtend grüne oder rote Kleidung, und es schien, als hätte jeder einzelne von ihnen eine andere Hautfarbe. Sie sprachen immer laut und wild durcheinander. Kork bekam Kopfschmerzen davon.

Er wollte diesen Jungen unbedingt mit an Bord nehmen. In Wahrheit war Freddy der einzige Grund, warum Kork überhaupt nach Porto Poncho gekommen war. An Freddys Vater, den Fliegenden Finn, erinnerte er sich nur zu gut. Hätte das Schicksal es besser mit dem alten Kork gemeint, dann wäre auch er heute ein großer Pirat, über den Lieder und Geschichten geschrieben wurden. Die Bekanntmachung des Kaisers hatte ihn aus seinem Trott gerissen. Zu viel Lebenszeit hatte er in den letzten Jahren bereits sinnlos verstreichen lassen. Es war Korks Glück, dass er von dem Jungen wusste. Freddy hatte in seinem Leben zwar noch keinen Tropfen Salzwasser abbekommen, aber das Blut, das in seinen Adern floss, versprach ein wildes Leben. Wenn er bis morgen früh nicht käme, wäre Korks Hoffnung umsonst gewesen. Aber wenn doch, dann stünden ihnen aufregende Zeiten bevor, so viel war sicher …

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Den ganzen Abend über ging Freddy seiner Mutter aus dem Weg, bis sie die Zwillinge ins Bett brachte. Dann holte er sich Zettel und Stift aus der Taverne und schrieb ein paar Zeilen zum Abschied: dass er ihr nicht wehtun wolle, aber dass er nicht länger bleiben könne.

Als er seine Mutter wieder in der Küche herumwerkeln hörte, steckte er den Zettel in die Tasche und schlüpfte ins Schlafzimmer. Auf seiner Matratze in der Ecke schnarchte Vinz leise vor sich hin, und auch die Zwillinge lagen schlafend in ihren Betten.

Es dauerte länger als sonst, aber dann schaute Donna Clara doch noch einmal herein. »Freddy?«, murmelte sie leise.

Er antwortete nicht und zwang sich, gleichmäßig zu atmen, als würde er inzwischen schlafen. Nach ein paar Minuten löschte seine Mutter die Kerze im Flur und verschwand in ihrem Zimmer.

Freddy wollte noch ein bisschen warten. Immer wenn die Erschöpfung ihn in den Schlaf zu ziehen drohte, dachte er an die glitzernde See, die unter dem Schiffsbug vorbeizog. Schließlich zerrte er unter seinem Bett den Seesack hervor, in den er für den Fall der Fälle das Nötigste gepackt hatte, und schlüpfte leise in die Schuhe. Hemd und Hose trug er noch vom Vortag. Dann stahl er sich aus dem Zimmer. Er vermied die knarzenden Dielen im Flur und war schon fast an der Tür, als …

»Freddy?«

Erschrocken drehte er sich um. Sie stand direkt hinter ihm.

»Wie hast du …«

»Denkst du, ich kenne dich so schlecht?« Sie klang nicht wütend, sondern traurig.

»Ich gehe«, sagte er ruhig. »Du weißt, dass ich alt genug bin, um Schiffsjunge zu werden.«

Sie nickte.

»Ich kann dich nicht länger einsperren, das stimmt. Ich hatte bloß gehofft, du würdest dir noch etwas mehr Zeit lassen.«

In ihren Augen glitzerten Tränen. Freddy ließ den Seesack fallen, und sie umarmten sich.

»Ich komme wieder«, sagte er, als sie ihre Hand in seinen Haaren vergrub, und hatte nun selbst Tränen in den Augen. Eine Weile standen sie so im dunklen Flur.

»Das hier hat deinem Vater gehört«, sagte sie schließlich, als sie ihn losließ, und überreichte Freddy ein Bootsmesser mit einer abgegriffenen Lederscheide. Der Griff des Messers war mit einem Totenkopf über ausgebreiteten Schwingen verziert – dem Zeichen seines Vaters. Dankbar steckte Freddy es in seinen Gürtel.

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»Komm wieder«, sagte sie, als sie ihn erneut umarmte.

»Ich verspreche es dir.«

Dann verließ der Junge das Haus, in dem er aufgewachsen war, ohne noch einmal zurückzublicken.

Unten im Hafen lag Korks Schiff. Es wirkte viel zu klein für seinen hohen Mast und die Brücke mit dem Steuerrad. Die Reling war an zahlreichen Stellen zerbrochen und mit bunten Latten ausgebessert worden, sodass sie aussah wie eine alte Hose voller aufgenähter Flicken.

»Ahoi!«, rief Freddy, und Kork fiel fast aus seiner Hängematte.

»Ahoi!«, rief der Alte grinsend. »Wer kommt da aus seinem Nest gepurzelt, ist das etwa mein Schiffsjunge? Komm an Bord, beim Bart meiner Großmutter!«

»Aye, aye, Sir!«

Damit sprang Freddy an Deck.

»Sie ist nicht groß«, brummte Kork, »aber ich will auf der Stelle vom Blitz getroffen werden, wenn sie nicht das schnellste Schiff der sieben Meere ist … zumindest wenn der Wind richtig steht.« Wissend blickte er hoch zu den eingerollten Segeln.

Doch Freddy brauchte er nichts vorzumachen. Dort lag ein heruntergekommener alter Kahn im Wasser, daran konnten auch Korks große Worte nicht viel ändern, aber das war Freddy egal. Er wäre sogar von einem Floß begeistert, solange es nur seetüchtig gewesen wäre.

»Sie ist großartig! Wie heißt sie?«

Die Buchstaben aus Schiffslack waren abgeblättert.

»Bloody Mary, wie die verfluchte Geisterbraut.« Kork schien erleichtert über Freddys Begeisterung. »Ich kann dir sagen, diese alte Dame hat mich schon vor so mancher Schlinge um den Hals bewahrt. Und nicht nur das: Einmal hatte ich sogar zwei Feuer speiende Drachen auf den Fersen, die … He, hörst du mir eigentlich zu?«

Doch Freddy war bereits zum Mast gelaufen und zog prüfend an der einen oder anderen Leine. Dann stieg er auf die Brücke und nahm das Steuerrad in die Hand.

»Das ist mein Platz«, knurrte Kork.

»Dann mal los, laufen wir aus!«, rief Freddy, der es kaum erwarten konnte.

»Tja, dann hiss schon mal die Segel! In die Wanten, du Landratte!«

Und so segelten sie mit den ersten Sonnenstrahlen am Wellenbrecher des Hafens vorbei aufs Meer hinaus. Kork stand am Ruder, Freddy war in den Mastkorb geklettert. Bald spritzte die Gischt nur so zu beiden Seiten auf, und der Alte begann, eine Melodie zu pfeifen. Freddy kannte sie aus der Taverne, und zusammen stimmten sie das Lied an.

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»Wo ist denn nun der Schatz?«, rief Kork zum Mastkorb hinauf. »Welcher Kurs, Schiffsjunge?«

Der Schatz? Freddy hatte sich so über ihren Aufbruch gefreut und den Fahrtwind genossen, dass er darüber seine Notlüge völlig vergessen hatte.

»Äh … hinter der nächsten Welle links«, rief er aus dem Mastkorb.

»Links? Auf See gibt es kein ›links‹! Und welche Welle überhaupt?«

»Hm … backbord … drei … äh … Grad …«, stammelte Freddy, und der Käpt’n tippte das Ruder mit der Fingerspitze leicht an, zog aber eine Augenbraue hoch. Das konnte ja heiter werden.

So ging es eine Weile. Mal rief Freddy: »Dort, wo das Meer so glitzert – zehn Grad backbord«, mal: »Immer der Wolke nach, die aussieht wie ein Schwein mit Hörnern«, und später dann: »Wir sind falsch abgebogen, du musst besser zuhören!«

Da platzte Kork der Kragen.

»Falsch abgebogen? Bei allen furzenden Fischen, auf dem Meer gibt es kein ›falsch abbiegen‹! Und man fährt auch keinen Wolken hinterher. Hast du das Navigieren von einer Flunder gelernt? Wir drehen uns im Kreis! Du hast doch keinen Schimmer, wo irgendwelche Schätze liegen! Bei Neptuns Hühneraugen, ich sollte dich direkt wieder nach Hause bringen!«

Im Mastkorb reckte Freddy das Kinn nach vorn. »Und du willst Kapitän sein?«, gab er zurück. »Du hast nicht mal mehr Ratten an Bord, geschweige denn eine Mannschaft! Es stimmt: Ich weiß nicht, wo es einen Schatz gibt. Aber ohne mich wirst du nicht nur kein König, ohne mich bist du nicht einmal Käpt’n!«

Kork ließ nicht lange auf seine Antwort warten. »Kaum ein bisschen Seeluft in der Nase, und schon eine Wolke spucken wie ein Tintenfisch! Du kleiner Lügenbold, dich werd ich lehren!«

Er schlang Arme und Beine um den Mast und zog sich ein Stück hoch, aber am glitschigen Mast rutschte er sofort wieder hinunter. Er versuchte es immer wieder, und dabei warfen sich der Junge und der Alte Beleidigungen an den Kopf.

»Betrügerischer Bengel!«

»Störrischer Tattergreis!«

»Vorlauter Badewannenmatrose!«