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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich
PHILOSOPHIE/ KULTURWISSENSCHAFTEN

Zeit – Vormoderne & Moderne

Von Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler

Wer die Zeit verstehen will, muss darauf verzichten, die Zeit verstehen zu wollen.

Nichts anderes hatte Augustinus gemeint, als er auf die Frage, was denn „Zeit“ sei geantwortet hat, er wisse es nur, wenn ihn niemand danach fragt, er wisse es aber nicht, wenn er danach gefragt würde.

Warum aber beschäftigen wir uns eigentlich mit dem Phänomen „Zeit“? Jacob Burchardt hat das Motiv unseres Interesses benannt: „Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.“ Zeit-Erkenntnis ist daher immer auch Selbsterkenntnis, Arbeit an der „Zeit“, ist immer auch Arbeit an sich selbst. Das jedoch macht die Fragen nach der Zeit nicht leichter und die Antworten darauf noch erheblich schwerer.

Sich die Zeit vorstellen, heißt sich das Leben vorstellen. Die „Zeit“ ist daher immerzu ein Abenteuer des Denkens und Handelns. Mehr als vorläufige Mitteilungen werden wir über sie nicht erhalten. Erledigen, abhaken, lässt sich das Thema nicht. Denn die brennende Frage: “Was ist Zeit?“ hat keine Lösung. Daher gibt es auch für alle, die sich und anderen diese Frage stellen, von dieser keine Erlösung.

Norbert Elias, ein Kultursoziologe, der viel über „Zeit und Gesellschaft“ nachgedacht hat, erzählt in einem seiner Bücher die Geschichte einer Gruppe von Personen, die in einem unbekannten, sehr hohen Gebäude immer weiter aufwärts steigen. Die ersten Generationen drangen bis zum fünften Stock vor, die zweiten bis zum siebten, die dritten bis zum zehnten. Im Laufe der Zeit gelangten die Nachkommen bis in das hundertste Stockwerk. Dann brach das Treppenhaus zusammen. Die Menschen richteten sich daher in diesem hundertsten Stockwerk ein. Sie vergaßen im Laufe der Geschichte, dass ihre Ahnen je auf unteren Stockwerken gelebt hatten und wussten nicht mehr, wie sie in das hundertste Stockwerk gelangt waren. Sie sahen die Welt und sich selbst ausschließlich aus der Perspektive dieser Höhe und hielten diesen Blick auf die Welt für den einzig gültigen und einzig möglichen.

So geht’s uns mit dem, was wir „Zeit“ nennen. In den heutigen, sehr modernen Zeiten kann man sich vom Dach eines hundertstöckigen Gebäudes mit dem Hubschrauber abholen lassen und dadurch einen Blick von außen auf den Wolkenkratzer und seine Stockwerke werfen. Das will ich tun.

Wir können bei grober Betrachtung aus dem Fenster des Fluggerätes drei große Bauabschnitte dieses Zeitgebäudes unterscheiden:

Die Vormoderne
Die Moderne
Die Postmoderne

Eben diese Gliederung bietet sich für den Versuch an, die historische Entwicklung unseres individuellen und unseres gesellschaftlichen Verhältnisses zur „Zeit“ systematisch darzustellen.

Will man die Entwicklung dieser drei Zeitverständnisse auf eine Kurzformel bringen, so stellt sie sich folgendermaßen dar:

Zuerst fanden wir die Zeit in der Natur und am gestirnten Himmel über uns, dann in den Uhren und bei den Glocken, und heute entdecken wir sie in Zeitplansystemen, Zeitvorträgen, Zeitsymposien und bei permanentem Zeitmanagement.

Zuerst also zu jener vormodernen Zeit in der „Zeit“ noch kein Thema war.

DAS ZEITALTER DER VORMODERNE

Alles zu seiner Zeit: Zeitgeber

„Sie existierte einmal: die uhrzeitlose Zeit, jene Zeit, in der man die Zeit, zumindest aber den Zeitdruck, nicht kannte. Kaum vorstellbar, es gab einmal ein Leben vor dem selbstgemachten Zeitdruck. Dieses Leben hat wenig mit jenen Vorstellungen zu tun, mit denen wir unsere Sehnsüchte nach einem von Hetze und Hast befreiten Alltag so gerne ausstatten. Diese Zeit vor dem Zeitdruck hat einen Namen, sie wird die „Vormoderne“ genannt.