Cover

Über dieses Buch:

Volker Kühn ist ein ganz normaler Bürger. Er arbeitet. Er zahlt seine Steuern. Er ist Teil des großen Ganzen. Bis zu dem Tag, als er krank wird – denn nirgendwo werden Hilfesuchende so schnell zum Sozialschmarotzer erklärt wie im Deutschland des Jahres 2019. Als Volker ins Krankenhaus eingeliefert wird, ahnt er nicht, dass ihn dies auf die Todesliste setzt: Wer keine Leistung mehr bringt, wird unbarmherzig aussortiert. Volker kann nicht verhindern, dass ihm ein Gift verabreicht wird – aber er ist nicht bereit, tatenlos auf den Tod zu warten …

Gnadenlos schnell. Erschreckend realistisch. Ein packender Thriller.

Über den Autor:

Andreas Laudan, geboren 1967 in Lüneburg, ist Musiker und freier Schriftsteller. Er begeistert sich für Geschichte, Psychologie und Naturwissenschaften – und lässt diese vielfältigen Interessen in seine Wissenschafts- und Psychothriller einfließen.

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Überarbeitete Neuausgabe März 2014

Copyright © der Originalausgabe 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co, KG, München

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Viktor Gladkov / shutterstock.com

ISBN 978-3-95520-495-2

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Die Handlung des vorliegenden Romans ist frei erfunden. Sämtliche im Text genannten Personen, Presseorgane sowie Wirtschaftsunternehmen einschließlich ihrer Namen und Standorte sind fiktiv; Ähnlichkeiten mit wirklich existierenden Personen, Presseorganen oder Wirtschaftsunternehmen sowie deren Namen und Standorten sind unbeabsichtigt. Zufällige Namensähnlichkeiten wurden, soweit dies möglich war, durch Internetrecherche vermieden, können jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Auch die Medikamente Axxidizyn, Hämoliquidon und Noctagil sind rein fiktiv und spielen nicht auf möglicherweise existierende Arzneistoffe mit graphisch oder phonetisch ähnlichen Namen oder vergleichbaren pharmakologischen Eigenschaften an.

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Andreas Laudan

PHARMAKOS

Wenn in dir die Bombe tickt

Thriller

dotbooks.

Wer nicht arbeiten will,

der soll auch nicht essen.

2. Tessalonicher III

ERSTER TEIL

12.00 - 16.00 UHR

12:04

zeigte die Digitaluhr auf dem Nachtschränkchen. Volker Kühn blickte abwesend auf die hellblau leuchtenden Ziffern – dann sah er sein Gesicht in der dunklen Spiegelfläche dahinter und erstarrte: Blassrote Pusteln bedeckten seine Stirn wie ein bizarres Muster aus getrockneten Blutflecken.

Kain hatte gesündigt, und Gott hatte ein Zeichen an seiner Stirn gemacht. Und Kain musste fortgehen und im Lande Nod wohnen – dem Land, aus dem niemand zurückkehrte.

»Nein«, hörte Volker sich sagen. »Nicht so ... nicht so ...«

Er stürzte ans Bett seines Nachbarn, packte den Sterbenden bei den Schultern und rüttelte ihn. »Andresen! Um Gottes willen, kommen Sie zu sich!«

Andresens Augenlider flatterten, und sein Blick, schon halb in einer anderen Welt, fing sich mühsam an Volkers schreckverzerrtem Gesicht. Einige Sekunden lang sahen sich die beiden Bettnachbarn stumm in die Augen.

»Sie auch?«, flüsterte der Ältere. Dann dehnte sich sein Brustkorb zu einem mühsamen Atemzug, und sein Kopf sank zur Seite. »So eine Schande«, sagte er. »Ein junger Kerl wie Sie ...«

»Ich will nicht sterben!«, stieß Volker hervor. »Helfen Sie mir, Andresen! Was kann ich tun?«

»Gar nichts können Sie tun«, sagte der alte Mann müde. »Legen Sie sich hin, dann geht es schneller. Kämpfen Sie nicht dagegen an.«

»Wie viel Zeit noch?« Volker packte den ehemaligen Arzt bei den Schultern und drehte ihn zu sich herum.

»Einen halben Tag«, sagte Andresen leise, »wenn Sie ruhig liegen bleiben.«

Volker wurde schwarz vor Augen. »Und wenn nicht?«

Andresen schüttelte den Kopf ... sehr langsam, und sehr lange, als könne er nicht glauben, was offensichtlich war. »Sie wollen es hinauszögern?«

Volker nickte wild.

Andresen seufzte. »Dann bewegen Sie sich. Laufen Sie herum und halten Sie Ihren Kreislauf in Gang.« Er wandte den Kopf zur Seite und nickte in Richtung seines Nachtschränkchens. »In der Schublade dort ist Aspirin. Nehmen Sie vier Tabletten auf einmal, und jede Stunde eine weitere ... das verdünnt das Blut.«

Volker riss die Schublade auf und kramte mit fliegenden Fingern nach den Tabletten. Endlich fand er das Röhrchen und schraubte es fahrig auf – die Tabletten fielen heraus, verstreuten sich über den Boden, und einige kullerten quer durch das Krankenzimmer. Volker fluchte, warf sich auf den Boden und haschte nach einer Tablette, die unter das Bett seines Leidensgefährten gerollt war.

»Unfassbar«, hörte er von oben Andresens Stimme. »Die müssen sich wirklich sicher fühlen ... zwei von uns am selben Tag, im selben Zimmer ... vielleicht, weil keiner von uns Angehörige hat.«

Volker achtete nicht auf ihn. Unter normalen Umständen hätte er es pietätlos gefunden, so unter dem Bett eines Sterbenden herumzukriechen, aber er hatte schon lange verloren, was ahnungslose Humanisten einst die Menschenwürde genannt hatten. Im Moment war er sich selbst der Nächste. Er bekam die Tablette zu fassen, raffte den kläglichen Vorrat zusammen – gerade fünf Stück – und stolperte in die Nasszelle.

Während er seinen Zahnputzbecher mit Wasser füllte und die Tabletten hinunterwürgte, hörte er wieder die mahnende Stimme des alten Mannes.

»Lassen Sie es, Kühn. Sie machen es sich nur unnötig schwer. Wollen Sie auf der Straße sterben?«

Volker ließ den leeren Plastikbecher zu Boden fallen und stürzte erneut ans Bett seines Nachbarn. »Hören Sie, Andresen«, keuchte er. »Ich will überhaupt nicht sterben. Jedenfalls nicht so. Ich will noch lange genug leben, um die Sache bekannt zu machen.«

Andresen lachte – ein stimmloses Lachen, nur an den ruckartigen Hebungen seines Zwerchfells unter der Decke erkennbar. »Mit Aspirin und Bewegung schaffen Sie es vielleicht zwölf Stunden – aber länger auf keinen Fall. Spätestens um Mitternacht sind Sie tot. Was haben Sie denn vor?«

»Sie haben doch gesagt, es gäbe ein Gegenmittel ...«

Andresen seufzte. »Vor siebzehn Jahren, in Hamburg ... wahrscheinlich ist es längst vernichtet worden.«

»Das werden wir sehen«, sagte Volker. »Wie hieß der Professor, der das Projekt geleitet hat?«

»Hans Degus«, sagte Andresen leise. »Aber der kann inzwischen sonst wo sein. Gut möglich, dass er längst tot ist. Und falls er noch lebt, wird er Ihnen nicht helfen, Kühn. Er wird es weder wollen noch dürfen.«

»Das werden wir sehen«, wiederholte Volker zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er hob den Kopf, und seine Augen glitten zum Fenster. Was auch immer geschehen würde; als Gefangener wollte er nicht sterben. Er würde fortgehen aus diesem Krankenhaus, das in Wahrheit ein Sterbehaus war. Was das ferne Land Nod betraf, so war es von jedem Ort der Welt aus zu erreichen – und er, Volker Kühn, würde sich nicht auf einem klapprigen Bettgestell mit baumelndem Tropf dorthin tragen lassen.

Ich kann hinüber laufen, wenn ich will, dachte er vage. Laufen hält das Blut in Bewegung.

Andresen zog scharf den Atem ein, und sein Körper verkrampfte sich.

»Was ist?« Volker näherte sich ihm unwillkürlich.

Andresen, der die Augen geschlossen hatte, öffnete sie wieder – und nun stand in seinem Blick keine Müdigkeit und auch kein Mitleid mehr, sondern nackte Angst. Plötzlich war er es, der Volker am Arm packte.

»Gehen Sie nicht!«, stieß er hervor, und sein flackernder Blick bohrte sich in Volkers Augen. »Bleiben Sie ... Wenigstens, bis ich es überstanden habe!«

Volker wusste nichts zu erwidern. Das Grauen hatte auch ihn ergriffen, und für einen Moment waren sein eigenes Schicksal und seine Fluchtpläne wie weggeblasen. »Kann ich ... irgendwas tun?«, flüsterte er.

Andresen antwortete nicht. Sein Blick hing jetzt starr an der gegenüberliegenden Wand, einer Wand, so weiß und tot wie das sterile Bettlaken unter seinem Kinn. Sein Unterkiefer zitterte.

»Ich trau mich nicht, die Augen zuzumachen«, lallte er mit grauenhaft veränderter Stimme – der Stimme eines Kindes, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. »Ich trau mich nicht ... Ich habe Angst, dass ich sie nicht wieder aufmachen kann«

Er atmete hechelnd.

Volker lief ein Schauder über den Rücken. So ging Kain hinweg und wohnte im Lande Nod

Andresens Unterkiefer öffnete sich, und ein Speichelfaden rann über sein unrasiertes Kinn.

Seine Augen erstarrten.

»Es liegt kein Trost in dem Gedanken, dass ich es bald überstanden habe«, hatte Andresen noch vor wenigen Stunden gesagt. »Ich werde nicht sterben wie Sokrates, der den Giftbecher trank. Ich werde keine feierliche Rede halten, und keine Nachwelt wird meine Opferbereitschaft und meinen Mut preisen ... Ich bin Pharmakos. Ich werde nicht in Frieden gehen, sondern fortgejagt werden.«

Volker löste die Finger des Toten von seinem Arm und drückte die erstarrte Hand mit einem letzten, stummen Gruß. Dann wandte er sich ab, ging eilig zu seinem Spind und kramte die letzten Habseligkeiten hervor, die ihm noch geblieben waren: Seine zerschlissene Jeansjacke, seine Brieftasche mit den Papieren, sein Adressbuch und einen Zehn-Euro-Schein. Das war alles, was er besaß. Natürlich konnte er die Jacke nicht anziehen; es würde sofort Verdacht erregen, wenn er in Straßenkleidung auf dem Gang erschien. Auch seine Papiere ließ er nach kurzer Überlegung zurück. Kreditkarten besaß er schon lange nicht mehr – also blieben ihm nur der Geldschein und das Adressbuch.

Volker schob beides in die Taschen seiner Jeans, dann warf er einen letzten Blick auf den verhassten Raum: Ein weiß tapeziertes Zimmer mit kahlen Wänden; zwei Betten, das eine zerwühlt und leer, in dem anderen der Leichnam Andresens, dessen Kopf ein dunkler Fleck in all dem Weiß war, eine unförmige Knolle in der geometrischen Glätte der makellosen Laken.

»Lebwohl«, flüsterte Volker rau – dann wandte er sich ab und stürzte auf den Gang hinaus.

***

»Hilfe! Hilfe! Mit Herrn Andresen ist was!« Er brauchte sich kaum Mühe zu geben, um Panik zu simulieren. Die beiden weiß gekleideten Gestalten aus dem Schwesternzimmer gegenüber kamen sofort herbeigelaufen.

»Schnell!«, brüllte Volker und gestikulierte wild zur Tür hinüber. »Er atmet nicht mehr!«

Die beiden Schwestern betraten das Zimmer mit der milden Eile des notfallgewohnten Klinikpersonals.

»Defibrillator!«, rief eine von ihnen mit unangenehm spitzer Stimme.

Wollt ihr tatsächlich sein Leben retten?, dachte Volker. Oder spielt ihr nur Theater?

Wie auch immer; sie würden ihn aufhalten, wenn er versuchte, die Station zu verlassen. Seine einzige Chance bestand darin, dass die beiden zu sehr mit ihrer eigenen Komödie beschäftigt waren, um die seine zu durchschauen.

Volker drehte sich um und rannte los. Gewiss, sie würden in wenigen Sekunden hinter ihm her sein. Doch seine Kondition war immer noch weitaus besser, als der süffisante Herr Scherchen von der Krankenkasse glauben mochte, der ihn als »gesundheitsrenitent« eingestuft hatte.

Jetzt werden wir ja sehen, wer den längeren Atem hat, dachte Volker, als er um die Ecke bog und zur Glastür am Eingang der Station rannte. Spätestens um Mitternacht bin ich im Lande Nod. Samstag, den 20. Juni 2019, werde ich nicht mehr erleben. Aber bis dahin werde ich einigen von euch noch das Spiel verderben ...

Er stieß die Glastür auf und versuchte sich an die Lage des Treppenhauses zu erinnern. Wie komme ich hier raus?, überlegte er fieberhaft. Rechts? Links?

Zwei weitere Gestalten in Weiß, die von links den Gang herunterkamen, nahmen ihm die Entscheidung ab. Volker verlangsamte seine Schritte, um nicht durch verdächtige Eile aufzufallen. Zugleich wandte er sich nach rechts, sodass die beiden Ärzte hinter ihm gingen und den Ausschlag auf seiner Stirn nicht sehen konnten.

Schirmmütze, dachte er unzusammenhängend. Ich brauche eine Schirmmütze.

Die Schritte in seinem Rücken beschleunigten sich plötzlich.

»Hallo, Sie da! – Hallo!«

Links – erinnerte sich Volker. Verflucht ... Links war der Treppenaufgang!

Er wirbelte herum und rannte direkt auf die beiden Ärzte zu. Sie sahen ihn kommen; ihre Gesichter verzerrten sich zu Masken des Erstaunens, dann des Erschreckens. Glücklicherweise blieb ihnen keine Zeit für eine koordinierte Reaktion. Volker warf sich mit einem lauten Schrei auf die beiden und riss sie zu Boden. Der eine knallte gegen die Wand und sackte benommen zusammen; der andere stolperte über den Saum seines Kittels und schlitterte einige Meter über den blankgebohnerten Flur.

Das tut gut, dachte Volker, als er sich wieder aufrappelte.

»Hilfe!«, keuchte einer der Ärzte hinter ihm, als weitere Schritte sich näherten. »Der will abhauen!«

Abhauen ... Sieh mal an. So leicht rückten die Kerle also mit der Wahrheit heraus: Sie wussten sehr wohl, dass sie nichts weiter waren als Gefängnisaufseher.

Endlich: die Treppe! Volker flankte hinunter, indem er mit jedem Schritt vier Stufen nahm, immer rechtsherum im Karree, denn der Treppenschacht war gewendelt. Er fühlte kaum den Schwindel, der sich bei diesem Tempo unweigerlich einstellen musste. Die Stationstüren flogen an ihm vorbei: 4B – 3B – 2B – Aufnahme. Eine Gruppe von Patienten kam ihm entgegen, stumpfsinnig dreinblickende Lämmer unter Führung eines Pflegers.

»Halten Sie den Mann auf!«, brüllte eine Stimme von oben den Schacht herunter.

Doch der Pfleger starrte nur verdattert auf Volker, der an ihm vorbeifegte und versuchte, sich einen Weg durch die dichtgedrängte Gruppe zu bahnen. Gesichter umringten ihn, junge und alte, gleichmütige und verzweifelte.

»Lauft weg!«, schrie Volker ihnen zu. »Sie bringen euch um!« Doch er sah nur stumme Blicke, teilnahmslos, ungläubig.

»Halt!«, schrie wieder jemand von oben. Schritte polterten die Treppe herunter. Volker schwang sich aufs Geländer und rutschte vorbei an der gaffenden Menge hinunter. Als er unten ankam, brannten seine Hände.

Inzwischen waren seine Verfolger näher gekommen, doch hatten sie nicht weniger Mühe als er, sich durch die stumme Patientengruppe zu drängen. Irgendwo schrillte eine Alarmglocke.

Endlich: die Tür zur Eingangshalle. Er stieß sie so heftig auf, dass die Scheibe im Rahmen klirrte, und rannte quer durch den Saal. Flanierende Besucher und kaffeetrinkendes Personal am Kiosk drehten sich nach ihm um, und selbst der Pförtner streckte den Kahlkopf neugierig aus seiner Loge hervor. Doch niemand unternahm etwas. Offenbar stellten die Passanten im Moment noch keinen Zusammenhang zwischen dem Alarm und dem Flüchtenden her, der jetzt auf den Ausgang zurannte.

»Augenblick mal, bitte!«, reagierte schließlich der Pförtner als Erster. Volker beachtete ihn nicht, sondern riss die innere Glastür des schleusenförmigen Eingangs auf, wobei er fast mit einer Schwester zusammenstieß, die einen Rollstuhl hereinschob. Im selben Moment preschten seine Verfolger auf die Tür zu – mittlerweile vier oder fünf Ärzte in flatternden Kitteln.

»Halt!«, schrie nun der Pförtner, der inzwischen begriffen hatte, was vorging. Er warf sich über seinen Tresen nach vorn und versuchte, den Ausreißer am Sweatshirt zu packen, griff jedoch knapp ins Leere. Volker gelangte in die gläserne Schleuse, umrundete die Krankenschwester, die mit offenem Mund stehen geblieben war, und warf sich im Sprung gegen die äußere Glastür.

»Stehen bleiben!«, brüllte der Pförtner von drinnen und flankte zu einem Notfallhebel, der offenbar dazu diente, die Ausgangstür zu verriegeln.

Doch Volker war bereits draußen – im selben Augenblick, als zwei seiner Verfolger in die Schleuse stürmten. Einer von ihnen stieß mit der verdutzten Krankenschwester zusammen; der andere knallte gegen die äußere Tür, die gerade wieder zurückschwang, und taumelte mit blutender Stirn rückwärts. Volker sah eine Sekunde lang in sein Gesicht: grellblaue, weit aufgerissene Augen, zwischen denen langsam ein schmaler Blutfaden herablief.

Seht ihr, dachte er fast belustigt, jetzt bin ich nicht der Einzige mit tätowierter Stirn.

Der Arzt schrie wütend und schlug mit den Fäusten gegen die Tür – doch die war verriegelt; der Pförtner hatte die Sicherung gerade im falschen Moment einschnappen lassen. Allerdings würde er seinen Irrtum bemerken, und zwar innerhalb der nächsten Sekunden. Volker drehte sich um und rannte weiter, rechter Hand über den Parkplatz, womit er aus den Augen seiner Verfolger verschwand.

Kaum war er um die nächste Ecke gebogen, als ihm eine Idee kam. Der älteste Trick der Welt, dachte er. Klappt fast immer ... zumindest im Film.

Er warf sich zu Boden, kroch hinüber zu den parkenden Fahrzeugen und robbte unter die Karosserie eines großen BMW Cabrio.

***

Die nächsten Minuten lag er still da, starrte auf das ölverschmierte Motorengestänge vor seiner Nase, atmete den scharfen Benzingeruch ein und lauschte auf die Geräusche draußen. Unter normalen Umständen wäre er vor Platzangst gestorben: Der Wagen lag ziemlich niedrig, und bei jedem Atemzug berührte sein Bauch die schmutzigen Eingeweide des Fahrzeugs, die sich kaum zwei Handspannen hoch über dem Boden befanden. Doch im Moment hatte er andere Probleme; er bemühte sich, keinen Laut zu verursachen und seinen wild keuchenden Atem zu beruhigen.

Nur Sekunden, nachdem er sein Versteck bezogen hatte, hörte Volker seine Häscher auf den Vorplatz hinausstürmen: Irgendjemand rief etwas; hastende Schritte überquerten das Pflaster in verschiedenen Richtungen, Schritte von mindestens drei Personen. Volker drehte den Kopf zur Seite und sah etwa zehn Meter entfernt ein Paar Füße, die in weißen Socken und Sandalen steckten. Der Mann hielt inne und schien sich umzusehen; die Füße drehten sich wie zu einem bizarren Ballett.

»Wo ist er hin?«

»Zum Kurpark!«, rief eine andere, entferntere Stimme. »Schlägt sich bestimmt irgendwo in die Büsche!«

Die weiß besockten Füße setzten sich wieder in Trab und verschwanden.

Volker blieb still liegen ... Die Gefahr der Entdeckung war weitaus größer, wenn er jetzt zu entkommen versuchte, als wenn er einfach wartete, bis sich die Männer zerstreut hatten. Noch hatte er Zeit – vielleicht zwei Minuten oder drei. Länger nicht.

Heute Nacht um null Uhr, dachte Volker, bin ich sowieso tot. Vielleicht schon früher.

Er glaubte das Zirkulieren des Giftes in seinen Adern zu spüren. Doch es war seltsam: Der drohende Tod lähmte ihn nicht wie damals bei der Diagnose seiner Krankheit; er schien im Gegenteil seinen Lebenswillen wieder zu wecken. Der letzte Countdown, dachte Volker. Zu wissen, dass man in sechs Monaten sterben könnte, ist ein zäher, klebriger, betäubender Gedanke – aber wenn es nur noch zwölf Stunden sind, dann fühlt man sich plötzlich wacher als je zuvor ...

***

»Sagen Sie: Hiiiii.«

Es war nicht das erste Mal, dass er zum Tode verurteilt worden war. Er hatte Erfahrung damit. Vor einem halben Jahr hatte er nichtsahnend auf dem Untersuchungsstuhl des Hals-Nasen-Ohren-Arztes gesessen, weil er so heiser war, dass er kaum noch sprechen konnte. Eine verschleppte Grippe, ein Antibiotikum und eine Krankschreibung für die folgende Woche – das war alles, womit er in diesem Moment gerechnet hatte.

»Sagen Sie: hiiiii«, wiederholte Dr. Wedemann und schob das Endoskop noch ein Stück tiefer in seinen Rachen.

Volker würgte. »Häääää«, brachte er krächzend hervor.

Dr. Wedemanns Gesicht, nur Zentimeter vor seiner Nase ins Okular starrend, verzog sich zu einer skeptischen Grimasse. Er verlagerte das schwarze Rohr einige Zentimeter zur Seite und drückte es nach unten. Volkers Zunge verkrampfte sich schmerzhaft.

»Und noch einmal ... hiiiii.«

Volker hustete trocken.

Der Arzt zog das bizarre Sehrohr aus seinem Mund und legte es resigniert zur Seite. Dann wandte er sich wieder seinem Patienten zu und setzte ein ernstes Gesicht auf.

»Leukoplakie«, sagte er.

»Wie?«, sagte Volker und starrte ihn verständnislos an. »Was ist das?«

Dr. Wedemann beugte sich über seine Computertastatur, ohne ihn anzusehen. »Sie haben Kehlkopfkrebs im Frühstadium.«

Klackklackklack – »Larynxpräkanzerose«, erschienen auf dem Bildschirm die Buchstaben, einer nach dem anderen, wie eine bläuliche Orakelschrift auf einer weißen Wand.

Volker hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen wegsackte. »Was?«

»Im Moment kann man es noch mit einer chirurgischen Abtragung versuchen. Das muss aber schnellstmöglich gemacht werden, bevor der Tumor zu wachsen beginnt. Das wäre gar nicht schön ... Bei dieser Art Krebs sehen die Prognosen leider gar nicht gut aus; es gibt da häufig Metastasen in den Lymphknoten des Halsbereichs.«

»Und dann?«, flüsterte Volker tonlos.

Dr. Wedemann rückte seine Brille zurecht und sah angestrengt auf seinen Bildschirm. »Dann wäre die Laryngektomie dran. Dabei wird der gesamte Kehlkopf und, wenn nötig, auch der hintere Zungengrund herausgenommen. Falls Metastasen vorliegen, ist die sogenannte Halsausräumung angezeigt; dabei werden bestimmte Lymphknoten, Muskeln und Blutgefäße entfernt. Leider ist das eine ziemlich endgültige Sache. Sprechen werden Sie nicht mehr können ... allerdings kann man mit gutem Training eine Ersatzstimme entwickeln; elektronische Prothesen sind dabei behilflich. Manche Patienten können sich damit relativ gut verständlich machen.«

Volker wurde schwarz vor Augen.

»Allerdings muss ich Sie auch auf die Möglichkeit vorbereiten, dass entferntere Metastasen vorliegen«, sagte Dr. Wedemann und tippte weiter.

Volker brauchte nicht zu fragen, was das bedeutete – die Antwort war offensichtlich.

»Sie haben geraucht, ja?«, fragte Dr. Wedemann, der die Patientendaten überflog. »Wie viel?«

»Ähm ...« Volker, momentan gänzlich abwesend, musste sich einen Augenblick besinnen.

»Na, kommen Sie schon«, drängte der Arzt. »Wir kriegen es sowieso raus. Ich muss Ihnen Blut abnehmen und die Cotinin-Konzentration bestimmen ... das ist ein Abbauprodukt von Nikotin; daran kann man erkennen, wie viel Sie geraucht haben.«

»Warum müssen Sie das?«, brachte Volker hervor.

»Das ist seit vier Jahren Gesetz, Herr Kühn.« Dr. Wedemann zuckte die Achseln. »Also gut; ich schreibe mal: Patient verweigert die Angabe. Das ist Ihr gutes Recht. Ihre Krankenkasse legt dann die Ergebnisse der Blutuntersuchung für die Berechnung zugrunde.«

»Welche Berechnung?«

»Die Berechnung, wie viel von den Behandlungskosten übernommen wird.« Dr. Wedemann klickte hörbar auf die Escape-Taste, schloss das Programm und wandte sich Volker zu. Seine grauen Augen wirkten unnatürlich groß unter der Brille. »Also ... de facto muss ich Sie darauf vorbereiten, dass Sie den größten Teil der Kosten selbst tragen müssen.«

»Falls ich lange genug lebe«, flüsterte Volker mit einer Art mattem Sarkasmus.

Dr. Wedemann überwand sich zu einem milden Lächeln, das offenbar tröstlich wirken sollte. »Nun warten Sie erst einmal ab«, sagte er und erhob sich. »Mit der Abtragung des veränderten Gewebes und einer guten Chemotherapie kann man oft schon einiges erreichen.«

»Und wenn ...«

»Wenn der Tumor wächst?«, erriet der Arzt die Frage. »Schwer zu sagen. Die Überlebensrate liegt irgendwo bei zwanzig Prozent – jedenfalls für die nächsten fünf Jahre.«

12:25

Hundertachtundsiebzig, hundertneunundsiebzig, hundertachtzig, zählte Volker. So. Drei Minuten sind um.

Draußen auf dem Parkplatz des Krankenhauses herrschte jetzt Ruhe; offenbar hatten sich seine Verfolger zerstreut und durchkämmten die Umgebung.

Volker schob sich zur Seite und kroch vorsichtig unter dem Wagen hervor. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Er richtete sich auf und begann mit gezwungener Ruhe in Richtung Ausfahrt zu gehen.

In die City, dachte er vage. Und dort? Telefon ... Irgendjemand zu Hilfe rufen ... Aber wen? Die Stadt verlassen ... Aber wie?

Erst nachdem er die Auffahrt passiert und das Klinikgelände verlassen hatte, begann er zu laufen. Passanten kreuzten seinen Weg, würdigten ihn jedoch kaum eines Blickes. Wahrscheinlich hielt man ihn für einen Jogger, der seine Mittagspause gesundheitsfördernd ausnutzte. Er bemerkte kaum, wie er instinktiv seine Schritte in Richtung Innenstadt lenkte, mal rechts und mal links abbiegend.

Laufen ... Das hält das Blut in Bewegung.

Er erreichte die Fußgängerzone. Nun befand er sich mitten in der Menge – ein Gesicht unter vielen. Es war Freitag Mittag, und die Passagen der City waren belebt. Menschen mit Einkaufstüten schlenderten umher, Familien mit Kindern, Paare. Am Boden vor den Schaufensterfronten der Geschäfte und an den Eingängen zur U-Bahn kauerten die unvermeidlichen Bettler: Arbeitslose, Rentner, Jugendliche aus den Vorstädten.

Apotheke! Da drüben. Volker hielt inne, gab sich einige Sekunden zum Verschnaufen und stützte schwer atmend die Hände auf die Knie. Dann betrat er die Apotheke, zog seinen Zehn-Euro-Schein hervor und bat um Aspirin.

»Drei neunundzwanzig«, sagte die Verkäuferin, eine junge Türkin mit hübschem Gesicht und rabenschwarzem Haar, in akzentfreiem Deutsch. »Oh, Sie sind aber aus der Puste. Haben Sie's eilig?«

»Ein bisschen«, keuchte Volker. »Meine Mittagspause ist gleich vorbei.«

»Ah.« Das Wechselgeld klimperte auf den Tresen. »Meine fängt in fünf Minuten an«, sagte das Mädchen und lächelte wieder. Was für schöne Augen, dachte Volker. Mein Gott, wann habe ich zum letzten Mal bemerkt, dass eine Frau schöne Augen hat? Wann hatte er überhaupt zum letzten Mal an etwas Schönes gedacht?

Er ergriff die Münzen – dann fiel sein Blick auf einen Ständer mit Telefonkarten neben der Kasse.

»Eine Telefonkarte«, sagte er. »Bitte.«

»Zu fünf oder zu zehn Euro?«

Volker starrte auf das Geld in seiner Hand – sechs Euro und siebzig Cents waren alles, was er noch hatte.

»Zu fünf.«

Wieder Wechselgeld, wieder das Lächeln.

Braun, begriff Volker wie in einem verspäteten Reflex. Ihre Augen sind hellbraun ... und sie ist vielleicht gerade zwanzig Jahre alt. Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Und sie weiß nicht einmal, in was für einer Welt sie es verbringen muss.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Volker fasste sich – er hatte das Mädchen einige Sekunden lang abwesend angestarrt. »Äh— danke, alles bestens«, log er.

Sie sah ihm nach ... Lange genug, um eine Beschreibung abgeben zu können, falls später die Polizei kommen und Fragen stellen sollte, dachte Volker. Doch würden die Leute vom Krankenhaus die Polizei überhaupt einweihen? Nein, vermutlich bediente man sich nicht der beamteten Gesetzeshüter. Die wirkliche Gefahr drohte wahrscheinlich von unauffälligen Herren in Straßenanzügen.

Volker verließ die Apotheke, mischte sich wieder in die Menge und steuerte die nächste Telefonzelle an.

***

»GLOBOCOM Telekommunikation. Herzlich Willkommen!«, begrüßte ihn der Automat mit glatter Ansagerstimme, als Volker seine Karte in den Schlitz schob. »Ihr Guthaben beträgt 5 Euro.« Das Display wurde dunkel, und der Cursor, der die Rufnummer mitschrieb, blinkte ungeduldig am Zeilenbeginn.

Wen sollte er anrufen? Volker wusste es nicht. Frank Czerwonka? Herrn Meissner? Vielleicht sogar Gesine? Erst jetzt wurde Volker bewusst, dass er kaum mehr Freunde auf der Welt hatte. Frank, ein früherer Kommilitone, hatte den Kontakt abgebrochen, seit er in Berlin arbeitete, und Volkers ehemalige Kollegen von Gering Systems würden ihm vermutlich kein Wort glauben. Also blieb nur Gesine.

Volker tippte hektisch die Nummer.

Das Klingelzeichen ertönte – dreimal, dann knackte es in der Leitung.

»Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Gesine Behrendt und Timo Rasch. Leider sind wir im Moment nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«

Wer ist Timo Rasch?, dachte Volker. Mein Gott; ich bin noch nicht einmal unter der Erde, und sie hat bereits einen anderen ...

»Gesi!«, sagte Volker, nachdem der Signalton erklungen war. »Wenn du da bist, geh bitte ran!«

Stille.

»Gesi, bitte! Es ist dringend!«

Der Hörer wurde abgenommen.

»Hör zu, Volker«, sagte die Stimme seiner Exfreundin, noch eine Idee resoluter als üblich. »Es ist vorbei; versteh das bitte endlich. Ich kann mich nicht ständig aus lauter Mitleid um dich kümmern. Du musst dein Leben langsam selbst ...«

»Bitte hör zu, Gesi!«, flehte Volker. »Ich muss so schnell wie möglich nach Hamburg; es geht um Leben und Tod. Kannst du ...«

»Volker, bitte! Ich habe im Moment weder Zeit noch Lust für solche Spielchen.«

»Gesi ...«

»Es tut mir leid, was du durchmachst. Aber ich kann leider nichts für dich tun.«

»Gesi, hör mir zu!«, schrie Volker.

Klick ... Sie hatte eingehängt.

»Ihr Guthaben beträgt 4,30 Euro«, meldete die Automatenstimme mit munterer Gleichgültigkeit. Volker hieb mit der Faust auf das Stahlgehäuse, dass die Bildschirmanzeige flackerte.

»Dann eben nicht«, stieß er hervor.

Er lehnte seine Stirn an das kühle Metall und gab sich ein paar Sekunden, um wieder zur Ruhe zu kommen. Eines war klar: Er brauchte eine Reisemöglichkeit nach Hamburg, und zwar so schnell wie möglich. Und er hatte kein Geld. So eine Reise kostete Geld. Viel Geld.

»Ihr Guthaben beträgt 4,3o Euro.«

Ich brauche mindestens das Zwanzigfache, dachte Volker verzweifelt.

Dann kam ihm eine Idee. Er wählte das Online-Telefonbuch auf dem Menü, und eine Suchmaske erschien auf dem Bildschirm.

Z-E-I-T-U-N-G, tippte Volker.

Einen Moment sondierte der Computer, dann erschien eine Auflistung auf dem Bildschirm. Volker wählte aufs Geratewohl die Nummer einer bekannten Zeitung.

Wieder das Klingelzeichen, scheinbar endlos – dann wurde der Hörer abgenommen.

»ALZ-Redaktion, Britta Reuschner, guten Tag«, meldete sich eine Frauenstimme. Es war eine warme, angenehme Stimme, die er in einem früheren Leben als sympathisch klassifiziert hätte.

»Hören Sie«, keuchte Volker und bemühte sich seinerseits um einen vertrauenerweckenden Tonfall. »Ich habe eine Bombengeschichte für Sie ...«

Schweigen am anderen Ende.

»... eine Titelgeschichte, genug für wochenlange Berichte.«

»Jetzt machen Sie mal halblang«, bremste die Stimme. »Sagen Sie mir, worum es geht, und ich werde entscheiden, ob die Sache für uns von Interesse ist.«

Ganz ruhig, beschwor sich Volker, nur nicht zu dick auftragen. Was er zu erzählen hatte, durfte nicht unglaubwürdig klingen. Und vor allem durfte es nicht zu viel Zeit beanspruchen.

»Ich kann es Ihnen nicht in drei Sätzen erklären. Sie würden mir nicht glauben.«

»Ach«, sagte die Frau mit spöttischem Tonfall. Wahrscheinlich erwartete sie etwas wie: ›Ich bin von Außerirdischen entführt worden.‹

»Ich kann Ihnen im Moment nur so viel sagen, dass mein Leben bedroht ist«, sagte Volker. »Ich habe ein Gift im Leib – ein tödliches Gift – und werde aller Voraussicht nach in zwölf Stunden nicht mehr am Leben sein.«

»Gehen Sie ins Städtische Krankenhaus und lassen Sie sich den Magen auspumpen«, riet seine Gesprächspartnerin ungerührt.

»Da komme ich gerade her!«, sagte Volker. »Die wollten mich umbringen!«

Stille. Die Frau antwortete nicht, doch sie legte auch nicht auf. Irgendetwas in Volkers Stimme musste sie überzeugt haben, dass die Angelegenheit ernst und unter Umständen nicht uninteressant war.

»Ich habe jetzt keine Zeit, Ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Ich muss versuchen, mein Leben zu retten ...«, sagte Volker verzweifelt.

»Wo sind Sie im Moment?«, fragte die Frauenstimme.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wer garantiert mir, dass Sie nicht die Polizei zu mir schicken?«

»Und wer garantiert mir, dass ich keine Schwierigkeiten bekomme, wenn ich einem flüchtigen Verbrecher helfe?«

»Ich bin kein Verbrecher«, stieß Volker rau hervor. »Es sei denn, es wäre ein Verbrechen, schwer krank und arbeitslos zu sein. Ich muss sofort nach Hamburg, schnellstmöglich ... am besten wäre ein Taxi.«

»Ach so ist das.« Die Stimme der Journalistin veränderte sich; sie klang jetzt fast belustigt. »Und dazu brauchen Sie Geld, nicht wahr?«

»Ich weiß, wie verdächtig das klingt«, zwang sich Volker zu einer ruhigen Antwort. »Aber es ist wirklich wahr. Helfen Sie mir, mein Leben zu retten, dann bekommen Sie eine Story, die Ihren Namen über Nacht berühmt machen wird.«

Wieder Stille.

»Und was erwarten Sie von mir?«, fragte die Journalistin schließlich. »Einen Eilkurier mit zweitausend Euro für ein Taxi quer durch Deutschland?«

»Achtzig«, sagte Volker verzweifelt. »Achtzig für ein Zugticket ... das würde genügen.«

»Angenommen, ich würde mich auf so einen Handel einlassen. Sie wollen mir nicht sagen, wo Sie sind, und Sie nennen nicht einmal einen Namen. Sie rufen mich einfach nur an und bitten um Geld.«

»Warum hören Sie mir überhaupt zu, wenn Sie glauben, dass ich bloß ein durchgedrehter Schnorrer bin?«

Wieder keine Antwort. Volker stöhnte und lehnte sich schwer atmend an die kühle Glaswand der Telefonzelle. Jede Sekunde, die verstrich, brachte ihn dem Tod näher ... vielleicht sollte er einfach auflegen und weiterrennen.

»Sagen wir mal so: Ich bin möglicherweise und unter bestimmten Voraussetzungen interessiert«, sagte die Frauenstimme mit geschäftsmäßiger Vorsicht. »Aber ich kann Ihnen kein Geld bringen oder schicken lassen – nicht, bevor Sie mir beweisen können, dass eine Geschichte drin ist.«

»Passen Sie auf«, sagte Volker, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Überprüfen Sie bitte einen Arzneimittelhersteller namens Kunnart Pharma in Hamburg. Finden Sie heraus, ob die Firma noch existiert und ob ein Professor Hans Degus dort arbeitet. D – e – g – u – s.«

»Langsam, langsam ...« Volker hörte das schwache Kratzen eines Stifts. »Kunnart Pharma, ja? Worum genau geht es?«

»Um ein Medikament«, sagte Volker. »Namens Axxidizyn.«

»A-ksi ...?«

»A, Doppel-x, idi-zyn mit Ypsilon.«

Wieder das Kratzen des Stifts.

»Sehr ungewöhnlicher Name für ein Arzneimittel. Okay. Ich kann ja mal bei dieser Firma anrufen.«

»Nein!«, sagte Volker schnell. »Bitte nicht! Sie würden die Leute dort warnen, und dann habe ich keine Chance mehr.«

»Was haben Sie denn mit der Sache zu tun?«, hakte die Journalistin nach. »Wer sind Sie?«

»Meinen Namen kann ich Ihnen nicht nennen, denn ich muss damit rechnen, dass ich verfolgt werde.«

»Wie darf ich Sie denn nennen?«

»Kain«, sagte Volker, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Kain? Wie Kain und Abel?«

»Ja.« Volkers Blick fiel durch die Glaswand auf den Parkstreifen eines Möbelhauses, und sein Herz machte einen erschrockenen Sprung: Da standen zwei Männer in salopper, sportlicher Kleidung, die auf merkwürdige Weise zu ihm herüberblickten, halb unbeteiligt, halb abwartend. Sie standen neben einem soeben eingeparkten dunkelblauen Wagen. Ein dritter Mann überquerte etwa fünfzig Meter zur Rechten die Straße; von links näherte sich ein vierter der Telefonzelle.

»O mein Gott«, flüsterte Volker.

Der von links kommende Mann beschleunigte seine Schritte.

»Haben Sie diese Leute geschickt?«, schrie Volker. »Haben Sie meinen Anruf zurückverfolgt?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, drang die erschrockene Stimme der Journalistin aus dem Hörer. »Was ist denn los?«

»Ich rufe wieder an«, sagte Volker, warf den Hörer in die Gabel und hatte gerade noch genug Geistesgegenwart, nach der Telefonkarte zu haschen, die aus dem Schlitz sprang. Dann stieß er die Zellentür auf und rannte blindlings los, quer über die Straße.

»He, Sie!«, schrie eine Stimme hinter ihm.

Volker hörte beschleunigte Schritte in seinem Rücken, gleichzeitig den lauter werdenden Motor eines herankommenden LKWs. Er spurtete die letzten Meter zur gegenüberliegenden Straßenseite und flankte über die Motorhaube eines geparkten Wagens. Hinter sich hörte er Bremsenquietschen, schlitternde Reifen, einen dumpfen Aufprall und mehrere Schreie verschiedener Stimmen. Offenbar war einer seiner Verfolger direkt in den Lastwagen gerannt. Volker hatte keine Zeit, sich umzudrehen, denn die beiden Männer auf dem Parkplatz des Möbelhauses hatten sich ebenfalls in Bewegung gesetzt und kamen im Laufschritt auf ihn zu.

Volker lief weiter, überbrückte die wenigen Meter bis zur nächsten Straße, bog ab und rannte in eine Ladenpassage. Was nun? Sollte er sich in eins der Kaufhäuser flüchten, in irgendeinen großen, unübersichtlichen Block mit Rolltreppen und Galerien? Vielleicht gelang es ihm, sich irgendwo zu verstecken. Doch das bedeutete Zeitverlust, und Zeit hatte er keine.

Der Zufall entschied: Als Volker die Passage durchquert hatte, stieß er auf den Treppenabgang einer U-Bahn-Haltestelle und hörte von unten das Geräusch des einfahrenden Zuges.

U 4 ... zum Hauptbahnhof

Volker rannte auf die Treppe zu, wobei er einen Blick über die Schulter nach hinten riskierte. Die zwei Männer waren etwa fünfzig Meter hinter ihm in der Mitte der Ladenpassage und versuchten gerade, sich an einer fünfköpfigen Familie mit Kinderwagen und dicken Einkaufstaschen vorbeizudrängen.

Fünfzig Meter ... acht Sekunden Vorsprung, vielleicht zehn ...

Volker jagte die Treppe hinunter, vorbei an den Obdachlosen, die zu beiden Seiten unter den Neonröhren kauerten.

»Hey, haste mal 'n Euro?«, fragte irgendwer, routinemäßig und ohne Hoffnung in der Stimme.

Nein, Volker hatte keinen Euro mehr – nicht einmal für die U-Bahn.

Er bog um eine Ecke; rannte den schmutzig weiß gekachelten Gang entlang und auf eine weitere Treppe zu. Die Wände wichen zurück, und unter ihm lag der Bahnsteig, eine gelb gekachelte Röhre von rund hundert Metern Länge. Der Zug hatte soeben angehalten, und einige Dutzend Fahrgäste kamen die Treppe herauf.

»Richtung Hauptbahnhof bitte einsteigen«, mahnte eine Lautsprecherstimme.

Volker drängte sich gegen den Strom die Treppe hinab, nicht ohne verschiedene der Entgegenkommenden anzurempeln und sich böse Blicke und Flüche einzufangen.

»Halten Sie den Mann auf!«, rief eine Männerstimme, nicht einmal zehn Meter vom oberen Treppenabsatz entfernt. Volker sah nicht zurück, doch er hörte hastige Schritte, Gedrängel und weitere ärgerliche Bemerkungen der Leute in seinem Rücken. Hoffentlich hatten die zwei Männer genauso viel Mühe wie er, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ihre Anweisung jedenfalls schien niemand befolgen zu wollen: Keiner stellte sich Volker in den Weg; im Gegenteil, die meisten blieben stehen und drückten sich erschrocken ans Treppengeländer. Ihre verdutzt starrenden Gesichter flogen an Volker vorbei, als er den unteren Treppenabsatz erreichte und quer über den Bahnsteig sprintete.

»Zurückbleiben, bitte«, erklang die Lautsprecherstimme erneut. Die Hydraulik an den Türen zischte.

»Zurückbleiben!«, keifte die Stimme mit verdoppelter Lautstärke, als Volker sich mit einem Hechtsprung zwischen die Türen des nächsten Waggons warf. »Halt!«, schrie jemand hinter ihm her.

Volker knallte auf den schmutzigen Boden des Wagens und hatte gerade noch genug Geistesgegenwart, um die Beine nachzuziehen, bevor die Türen sich endgültig schlossen. Benommen rappelte er sich wieder hoch und warf einen Blick nach draußen: Da waren sie, die beiden Kerle, nur um Sekundenbruchteile zu spät. Einer von ihnen war offenbar gestolpert und kam eben wieder auf die Füße; der andere warf Volker einen scharfen, forschenden Blick zu. Dann wandte er sich ab und zog ein Handy aus der Tasche.

Wer seid ihr?, dachte Volker. Wer hat euch so schnell informiert?

Der Zug fuhr an, und die Männer verschwanden aus Volkers Blickfeld. Schwer atmend lehnte er sich an die geschlossene Tür. Hoffentlich gab es jetzt keine Fahrkartenkontrolle. Der übrigen Fahrgäste wegen brauchte er sich jedenfalls keine Sorgen zu machen: Sie hingen apathisch in ihren Sitzen, und jeder schien es zu vermeiden, ihn anzusehen. Niemand will Schwierigkeiten, dachte er bitter. Keiner will irgendetwas gesehen haben, sich einmischen oder Unannehmlichkeiten riskieren. Umso besser.

Draußen wurde es dunkel: Der Zug verließ den Bahnhof und tauchte in den Tunnel ein. Was nun? Ohne Zweifel wurden die Waggons mit Videokameras überwacht. Würde man das Zugpersonal informieren und ihn beim nächsten Halt festnehmen? Vermutlich nicht, dachte Volker. Wer auch immer seine Verfolger sein mochten; sie führten einen Auftrag für eine inoffizielle Organisation aus. Wahrscheinlich hatten sie gute Gründe, nicht die Bahnpolizei oder staatliche Sicherheitskräfte zu alarmieren. Stattdessen würden sie versuchen, mit ihren eigenen Leuten die nächsten Bahnstationen zu besetzen, um ihn abzupassen.

Glücksspiel, dachte Volker. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht ahnen, wo ich hinwill.

Er kramte das gerade erstandene Aspirin aus der Tasche, drückte zwei Tabletten aus der Verpackung und bemühte sich, genug Speichel zusammenzubekommen, um sie ohne Wasser hinunterzuwürgen.

Wie spät mochte es sein? Vielleicht dreizehn Uhr? Dreizehn Uhr fünfzehn?

Ihm blieben kaum noch elf Stunden. Vielleicht hatte Andresen recht gehabt, und das Aspirin konnte die Wirkung des Gifts verzögern.

»Nächster Halt: Stuttgarter Straße«, verkündete der Zugführer über die Sprechanlage.

Volker drückte sich seitlich neben die Tür und spähte hinaus. Der Zug fuhr in die Station ein; die Türen öffneten sich; einige Fahrgäste stiegen ein. Ansonsten war der Bahnsteig leer: Niemand sprintete auf die offenstehenden Türen zu, und die beiden uniformierten Beamten in der Nähe des Ausgangs wirkten unbeteiligt und gelangweilt.

»Zurückbleiben, bitte.«

Die Türen schlossen sich.

Ich habe eine Chance, suggerierte sich Volker. Vorausgesetzt, dass sie nicht wissen, was ich vorhabe.

Er konnte rennen. Er war schnell. Auf meine letzten Stunden werde ich noch zum Leistungssportler, dachte er mit einem gequälten Lächeln. Todesurteil hin und her – es würde keine Kehlkopfentfernung geben; er würde nicht für den Rest seines Lebens mit Stummheit geschlagen sein, o nein. Er hatte noch ein paar Stunden Zeit, um seinen Gegnern kräftig den Marsch zu blasen, mit seiner eigenen, immer noch vorhandenen Volker-Kühn-Stimme.

***

Sie hatten ihm Blut abgenommen, ihn wieder und wieder geröntgt, ihn zur Tomographie geschickt. Dann wurde er ins Krankenhaus eingewiesen und narkotisiert, damit ein Arzt das veränderte Gewebe von seinen Stimmlippen kratzen konnte. Die Operation, so hatte man ihm nachher eröffnet, bedeutete keine sichere Heilung. Der Krebs konnte von neuem wachsen, sich ausbreiten und eine Entfernung des Kehlkopfs notwendig machen. Es würde ein Glücksspiel werden, und die Chancen standen bestenfalls fünfzig zu fünfzig.

Volker erinnerte sich, wie er nach der Entlassung zu Fuß nach Hause gegangen war. Er hatte geglaubt, den kürzesten Weg zu seiner Wohnung zu wählen, irgendwann jedoch festgestellt, dass seine Füße ihn in einen völlig unbekannten Stadtteil getragen hatten. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, noch, warum es schon dunkel wurde und die Straßenlaternen aufflammten. Offenbar war er stundenlang wie blind umhergewandert. Er hatte nicht einmal gespürt, dass er völlig durchgefroren war – es war Mitte November, und er trug nur eine leichte Lederjacke.