Eine Gesellschaft kurz vor dem Untergang: der amerikanische Süden am Vorabend des Sezessionskrieges. Anhänger der Union und Sezessionisten bekämpfen einander erbittert, Buchanan zieht ins Weiße Haus ein, wird aber schon bald von Lincoln abgelöst, 1861 bricht der Krieg aus, der mit der vernichtenden Niederlage des Süden enden wird. Einstweilen aber willl die Aristokratie des Südens von der politischen Bedrohung noch nichts wissen: sie genießt ihre Privilegien, feiert rauschende Feste und spinnt ihre gesellschaftlichen Intrigen wie eh und je.

Im Mittelpunkt: Elizabeth. die schöne Engländerin, verwitwet und Mutter eines kleinen Jungen. Sie heiratet wieder - den stürmischen Billy, einen schneidigen Offizier, dessen mangelnde Sensibilität ihre alte romantische Sehnsucht jedoch bald wieder aufleben läßt. Wie viele ihrer Schicksalsgenossinnen kann sie das Leben nur ertragen, indem sie Zuflucht zu Schlaf- und Dämpfungsmitteln nimmt. Und auch die erlesenen Zerstreuungen dieser noblen Gesellschaft wirken wie eine Droge: die Droge des Vergessens.

Wir brauchen die Vorgeschichte nicht zu kennen, um uns von Julien Green unter Die Sterne des Südens entführen zu lassen, in eine längst versunkene Welt, die doch so viele Parallelen mit der unseren aufweist. In seinem jüngsten Werk vereinigt der fast neunzigjährige Erzähler noch einmal dramatische und poetische Elemente, romantische Sehnsucht und psychologisch genaue Wahrnehmung, historische Beschreibung und autobiographische Rückerinnerung zu einem epischen Gesellschaftspanorama, das wie ein Film an uns vorüberzieht.

 

Hanser E-Book

Julien Green

 

Die Sterne des Südens

 

Roman

 

Aus dem Französischen von Helmut Kossodo

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

 

Allen Soldaten des Südens

und des Nordens gewidmet,

die in einem brudermordenden

Krieg gefallen sind.

 

 

Inhalt

 

Der kleine Verschwörer

 

Die Liebe muß neu erfunden werden

 

Verwirrungen

 

Laura oder Das verlorene Paradies

 

Eine zitternde Freude

 

Es wird keinen Krieg geben

 

Der rote Flügel

 

Dixie

 

Die wichtigsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten zur Zeit der Sterne des Südens

 

Abbildungen und Karten

 

 

I

Der kleine Verschwörer

 

 

1

 

Der kleine Junge hockte auf allen Vieren zu Füßen seiner Mutter und tat, als pflückte er die Rosen vom Perserteppich. Wie er ganz leise einem unsichtbaren Gefährten erklärte, stellte er einen Strauß für die Person zusammen, die er am meisten auf der Welt liebte. Seine winzigen Finger, die mehr lebendigen Blumen glichen als die Blüten des farbigen Wollgartens, zeigten auf eine Rose, dann auf eine andere, dann hielten sie inne, um die schönsten auszuwählen.

Elizabeth bewachte ihn aus dem Augenwinkel, aber seit einem Augenblick richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, auf die Tür des Salons. Eine Frau stand in zögernder Haltung auf der Schwelle des grün-goldenen Zimmers.

»Was ist«, sagte Elizabeth, »wollen Sie noch lange dort stehen und uns ansehen, ohne ein Wort zu sagen? Worauf warten Sie, Miss Llewelyn? Treten Sie doch ein und setzen Sie sich.«

Die Waliserin in ihrem grauen Kleid trug einen kleinen schwarzen Strohhut mit flacher Krempe, der ihr das trügerische Aussehen bürgerlicher Ehrbarkeit verlieh.

Sie trat ein und setzte sich auf den Rand eines Sessels.

»Ich verstehe«, sagte sie, »daß mein Besuch eine Überraschung für Sie ist … doch wohl keine freudige Überraschung, wie ich vermute.«

Einen Moment lang schien sie auf einen Protest zu hoffen, der jedoch nicht kam.

In den Augen Elizabeths tauchte sie wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit auf, der eine Kugel ins Herz ein Ende gesetzt hatte … Die Besucherin schien sich dessen nicht bewußt zu sein.

»Nach mehr als vier langen Jahren des Schweigens …«, seufzte sie.

Ihre meergrünen Augen hefteten sich auf Elizabeths Gesicht, aber diese hielt ihrem Blick ungerührt stand. Die Waliserin fuhr fort:

»Ich habe Worte in meinem Herzen, die mir nicht über die Lippen kommen wollen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte die junge Frau, »aber wenn es Ihnen so schwer fällt, sie auszusprechen, wäre es da nicht besser, sie dort zu lassen, wo sie sind, bis zu einem anderen Mal?«

Plötzlich erhob sie sich. Da sie den Blick Miss Llewelyns nicht länger ertrug, ging sie zum Fenster, als wollte sie nach den Spaziergängern sehen. Sie beneidete die Leute, die so frei unter den Bäumen schlendern konnten.

Beunruhigt richtete sich der kleine Junge vor ihr auf und zupfte sie am Rocksaum.

»Mamma«, sagte er.

»Laß mich, mein Liebes«, murmelte Elizabeth. »Ich spreche gerade mit dieser Dame.«

»Ich hab dich lieb«, sagte er.

Sie streichelte den Kopf des Kindes, wandte sich dann Miss Llewelyn zu und versuchte zu lächeln.

»Ich habe das nicht gesagt, um Sie zu verletzen«, sagte sie hastig. »Erzählen Sie mir lieber, was es Neues in Dimwood gibt, ich bin in all den Jahren nicht mehr dort gewesen. Mr. Charles Jones erwähnt es mir gegenüber fast nie. Offenbar will er es nicht.«

Der natürliche Ton, den sie absichtlich in ihre Worte legte, gab ihr die Ruhe zurück und ließ ihr die Gegenwart dieser in unerträgliche Erinnerungen gehüllten Frau weniger bedrohlich erscheinen.

Miss Llewelyn seufzte:

»Mr. Hargrove ist zu niemandem mehr wie früher, aber Dimwood hat sich nicht verändert. In Dimwood regt sich nichts. Miss Minnie hat geheiratet und lebt jetzt in New Orleans. Sie erinnern sich vielleicht, daß sie mit einem Herrn aus Louisiana verlobt war, bevor … vor dem Ereignis …«

»Ich weiß«, sagte Elizabeth ungeduldig, »das genügt.«

Sie nahm wieder in ihrem Sessel Platz.

»Schrecklich, schrecklich«, murmelte Miss Llewelyn.

Elizabeth drückte ihren kleinen Sohn an sich. Sie war ganz bleich geworden.

»Und Susanna?« fragte sie.

»Miss Susanna hat erklärt, daß sie nicht heiraten wird. Als man sie fragte, warum, sagte sie, sie habe ihre Gründe. Ich kenne diese Gründe.«

»Wirklich? Und Mildred? Und Hilda?«

»Beide sind mit jungen Offizieren verlobt, aber es schleppt sich hin und schleppt sich hin. Den anderen geht es gut, aber sie langweilen sich. Ja, Sie wären dort willkommen. Man vermißt Sie, man redet von Ihnen. Die Gärten duften stärker denn je. Blumen in Hülle und Fülle bis zum Waldrand.«

Eine Sekunde lang sah Elizabeth sich wieder bei den Magnolien am Fuß der Freitreppe, und sie schloß die Augen. Plötzlich schreckte sie auf, als hätte sie ein Schlag getroffen.

»Aber da ist noch jemand, von dem Sie nicht sprechen«, sagte sie.

»In der Tat, Mr. William Hargrove. Wußten Sie nicht, daß er krank ist?«

»Mr. Jones hat es mir erzählt, aber nur recht ungenau.«

Fast sah es so aus, als leuchtete ein triumphierender Glanz aus allen Falten des Gesichts, das sich ihr aufmerksam zuwandte.

»Vor drei Tagen hat der Arzt Mr. Hargrove gleich nach dem Erwachen eröffnet, daß er nur noch einen Monat zu leben habe.«

»Ach! Und wie hat er es aufgenommen?«

»Es hätte nicht schlimmer sein können. Er brüllte, beklagte sich, daß man ihn nicht richtig gepflegt habe, beschuldigte seinen Arzt der Gewissenlosigkeit und beschloß, sein Testament zu ändern. Mr. Charles Jones hat versucht, ihn zu beruhigen. Nichts zu machen.«

»Ich verstehe, daß es Sie erschüttert hat, Miss Llewelyn.«

»Wenn Sie da gewesen wären, wenn Sie eine Ahnung hätten, was ich gesehen und gehört habe …«

Auf einmal stand sie auf, schien zu wachsen, als ob eine innere Kraft ihr die Ausmaße einer Riesin gegeben hätte, und das Zimmer mit seinen zarten Vergoldungen verdunkelte sich. Das Blut ihrer Rasse sprach plötzlich aus dieser Frau, brach wie eine heftige Eingebung ihres Heimatlandes aus ihr hervor. Sie redete wie eine Seherin, ihr Blick war in die Ferne gerichtet, weit über die junge Engländerin hinaus, die ihr unwillkürlich zuhörte, als sei sie von dem Zauber einer Halluzination gebannt.

Das Kind starrte sie mit strahlenden Augen an, und sein von schwarzen, rötlich schimmernden Locken umrahmtes Gesicht war wie verzückt. Seine ganze Aufmerksamkeit schien in der kleinen Nase konzentriert, die es der Waliserin entgegenstreckte, die wie ein Denkmal vor ihm aufragte.

»Das Dimwood, das Sie gekannt haben, hat sich nicht verändert, denn in Dimwood regt sich nichts, außer in den Köpfen der Bewohner, und welch ein Tumult herrscht da! Erinnern Sie sich an den großen Speisesaal, wo sich alle zu den Mahlzeiten einfanden? Nun stellen Sie sich dort die lange Tafel ohne Tischtuch vor. Ganz am Ende hockt ein abgezehrter Greis auf einem Stuhl, dessen Rückenlehne seinen kahlen Schädel hoch überragt, denn die gräßliche Krankheit, die an ihm zehrt, hat ihm seine letzten weißen Haarsträhnen geraubt, und seine Gestalt ist zu der eines kleinen Jungen zusammengeschrumpft. Jetzt haben Sie Ihre Rache an diesem Mann, der Sie mit seiner Begierde gequält hat. William Hargrove, der gestern noch Herr des Hauses mit den weißen Säulen war, muß heute zusehen, wie es seinen spindeldürren Händen entgleitet.«

Elizabeth schrie auf: »Onkel Charlie hatte mir nicht gesagt, daß es so schlimm um Mr. Hargrove steht. Ich bedaure ihn von ganzem Herzen – trotz allem.«

»Er fürchtet den Tod und will nichts aus den Händen geben«, fuhr die Erzählerin in unnachgiebigem Tonfall fort. »Und all die Leute um ihn herum! Er hat nur noch eine ganz dünne Stimme, aber in die legt er seine ganze Wut, und er diskutiert schnaubend mit den Männern in schwarzen Anzügen, den Anwälten, Notaren und Bankiers. Rechts und links von ihm seine beiden ältesten Söhne. Die Enkelinnen und Schwiegertöchter scharen sich entsetzt am anderen Ende des Saals zusammen. Der Schrecken, den William Hargrove ihnen einflößte, war nur ein instinktives Zurückweichen vor dem Tod, dessen Gegenwart sie fühlten, denn diese Gegenwart herrschte überall, in jedem Winkel des Hauses, und wartete auf seine Stunde. Sie haben Charles Jones erwähnt. Er ist da, in seinem grauen Gehrock steht er direkt neben dem Kranken, und vor ihnen auf dem Tisch liegt zwischen Mengen von Papieren ein offenes Buch, ein in rotes Leinen gebundenes Heft. Und dieses Buch, Mrs. Jones, war ich selbst.«

Mit beiden Händen, zu Klauen gekrümmt, griff sie sich an die Brust, als wollte sie sie zerreißen. Gleich einer Wahnsinnigen flößte sie Elizabeth eine solche Angst ein, daß diese ihren kleinen Sohn an sich preßte.

»Beruhigen Sie sich, Miss Llewelyn«, rief sie ihr zu. »Sie können mir das alles später erzählen.«

Die Waliserin hörte sie nicht einmal:

»Mein Rechnungsbuch!« brüllte sie mit erneuter Wut. »Mehr als eine halbe Stunde wurde es geprüft, Seite für Seite, Zeile für Zeile, wurde auseinandergerupft, und ich stand dabei, schwitzend vor Wut und Empörung, auf die Folter gespannt …«

Elizabeth sprang auf, um die Tür des Salons zu schließen, ließ ihren kleinen Jungen für einen Augenblick allein, und er blieb reglos sitzen, fasziniert von dieser energiegeladenen Person, die er mit offenem Munde ansah, in einer Mischung aus Staunen und Neugier, jedoch ohne Furcht. Seine Mutter kam sogleich zurück und nahm ihn in die Arme.

»Auch sie machten die Tür zu«, spöttelte Miss Llewelyn, »aber das hinderte all die Schwarzen des Hauses nicht daran, am Schlüsselloch zu lauschen, um sich keine Silbe entgehen zu lassen, und ich war froh, sie dort zu wissen. Plötzlich schnitt der Oberbuchhalter dem alten Hargrove das Wort ab, als dieser beharrlich behauptete, das Rechnungsbuch sei nichts wert, beweise nichts, sage nichts über die Erpressungen aus: ›Im Namen meiner Kollegen erkläre ich, daß ich noch nie ein so peinlich genau geführtes Rechnungsbuch gesehen habe. Es ist vorbildlich in seiner Korrektheit.‹ Da brüllte Hargrove, so gut er konnte, denn seine Stimme trug nicht mehr. Man hörte nur ein Krächzen: ›Jahrelang hat mich diese Frau erpreßt …‹ Bei diesen Worten riß Mr. Charles Jones das Rechnungsbuch an sich und hielt es mit der einen Hand in die Höhe, während er mit der anderen auf die Seiten mit den Zahlenreihen klopfte. Oh! ich hätte diesem Mann um den Hals fallen mögen! Und er schrie ihn an: ›Wo sind die Erpressungen in diesem Buch, William? Sie haben es zwanzig Jahre lang jeden Abend begutachtet und nichts Regelwidriges entdeckt. Auf jeder Seite steht unten rechts Ihre Unterschrift zum Zeichen des Einverständnisses.‹ Die Stimme hallte in der stickigen Luft. Er war großartig mit seinen rosigen Wangen und dem wirr über die Stirn hängenden Haar. ›… Sie waren schon immer argwöhnisch, William Hargrove, aber das Gesetz verbietet Ihnen, die ergebenste Gouvernante, die es gibt, ohne Beweise zu beschuldigen.‹ Mr. Hargrove griff sich an den Kopf und begann zu stöhnen: ›Sie wissen es nicht, Sie wissen nichts. Diese Elende hätte mich beinahe ruiniert. Beweise, Beweise …‹, wiederholte er. ›Welche Beweise?‹ – ›Sie phantasieren ja, William Hargrove‹, rief ich ihm zu. Und da hat dieser einst so geachtete Herr wie ein Kind geweint. Er tat mir wirklich leid. ›Gott wird es Ihnen verzeihen‹, sagte ich sanftmütig. Mit einiger Mühe hob er den Kopf und blickte mich an. ›Gehen Sie‹, murmelte er. Dann trat ein großes Schweigen ein. Welch ein Augenblick für mich … Ich ging zur Tür. Aus Dimwood verjagt, aber dennoch fühlte ich im Vorübergehen die Wertschätzung fast aller, spürte sie wie den köstlichen Duft unserer Kamelien. Oh, wie süß ist es zu wissen, daß man allgemeines Ansehen genießt!«

Sie sprach diese Sätze mit einer fast religiösen Feierlichkeit, doch dann wechselte sie plötzlich den Ton:

»Als ich an der Tür war und sie mit einem kräftigen Ruck aufstieß, scheuchte ich etwa fünfzehn Schwarze auf, die eiligst in alle Richtungen davonstoben.«

Sie schwieg und setzte sich wieder.

»Was für ein schönes Kind Sie haben«, sagte sie nach einer Weile.

»Er heißt Charles Edward«, beeilte sich Elizabeth zu erwidern, um Bemerkungen, die sie vorausahnte, nicht aufkommen zu lassen. »Er sieht seinem Vater verblüffend ähnlich. Sie scheinen müde zu sein, Miss Llewelyn. Ihre Erzählung hat einen bedrückenden Eindruck auf mich gemacht.«

»Mamma!« rief der kleine Junge mit der enttäuschten Miene eines Zuschauers, der eine spannende Vorstellung zu früh zu Ende gehen sieht.

»Psst!« machte Elizabeth, die wieder in ihrem Sessel saß.

Mit der Behendigkeit eines Tieres sprang er auf ihren Schoß und versuchte, sie zu umarmen.

»Hast du mich lieb?« fragte er. »Sagt die Dame nichts mehr?«

»Sei still, Darling. Bleib bei mir und sei artig.«

Er schmiegte sich an sie, wandte Miss Llewelyn den Kopf zu und schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit leicht geschürzter Lippe erwiderte.

Dann versank sie in ein von Seufzern unterbrochenes Schweigen, schien jedoch nicht bereit, sich von Elizabeth zu verabschieden, die vergeblich nach Worten suchte, um sie auf eine höfliche und menschliche Art zum Fortgehen zu bewegen.

Nach einigen Minuten, die ihr endlos schienen, fragte sie ein wenig linkisch:

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber warum erzählen Sie mir das alles?«

Für die Waliserin waren diese Worte wie ein Peitschenknall, der die Fortsetzung des Rennens ankündigte. Ohne ein Zeichen der Ermüdung hob sie den Kopf und fuhr ohne Übergang fort:

»Ich ging auf mein Zimmer, packte meine Koffer und suchte dann Azor auf – Sie erinnern sich doch an Azor, den Kutscher? Mit einigen Silbermünzen ließ er sich überreden, mich im Tilbury zum Kloster von Schwester Laura zu fahren. Sie empfing mich sofort und widmete mir eine ganze Stunde. Sie ermahnte mich zur Geduld und erteilte mir höchst praktische Ratschläge, um mir aus meiner peinlichen Lage zu helfen … Auf ihr Drängen hin faßte ich den Entschluß, bei Ihnen zu klingeln.«

»Und nun?« fragte Elizabeth beunruhigt.

»Die Worte, die ich vorhin in meinem Herzen zurückhielt …«

Die junge Frau konnte sich nicht mehr beherrschen:

»Miss Llewelyn, ich bitte Sie, kommen wir zur Sache.«

»Oh! Sie haben nichts zu befürchten, Mrs. Jones.«

Sie wird mich um Geld bitten, dachte die junge Frau.

Miss Llewelyn las den Gedanken auf Elizabeths Gesicht.

»Oh! keine Bange, Mrs. Jones. Die Vorsehung hat mich großzügig versorgt, und ich habe meine Ersparnisse, aber da ich nicht mehr die Gouvernante von Dimwood bin, habe ich die Freiheit, Ihnen meine Dienste anzubieten …«

Elizabeth wäre vor Schrecken fast in ihren Sitz zurückgefallen, und mit tonloser Stimme antwortete sie:

»Ich habe bereits eine Gouvernante, Miss Llewelyn.«

Die Worte fielen in ein bedrückendes Schweigen, dann kniff die Waliserin die Augen zusammen, und die Entgegnung kam leise, als verriete sie ein Geheimnis:

»Eine Gouvernante wie Maisie Llewelyn gibt es nicht noch einmal, Mrs. Jones.«

»Dessen bin ich sicher, glauben Sie mir, und ich bedaure es …«

»Ich auch«, sagte Miss Llewelyn und erhob sich, »ich bedaure es sehr, für Sie und für mich. Ich denke, wir werden uns wiedersehen.«

Ein breites Lächeln verzerrte ihr faltiges Gesicht, ohne es aufzuhellen, und sie ging zur Tür, die sie aus Gewohnheit mit einem Ruck öffnete, da ihr jede verschlossene Tür verdächtig erschien, aber es war niemand da.

Elizabeth begleitete sie nicht hinaus. Sie wartete, bis die Haustür sich öffnete und schloß. Dann legte sie den Arm um ihren kleinen Jungen und drückte ihn mit aller Kraft an sich.

»Ist die Dame nicht zufrieden?« fragte er.

»Doch! Ganz bestimmt. Sie ist immer so. Du darfst niemandem sagen, daß du sie gesehen hast. Versprochen?«

»Versprochen.«

Sie bedeckte ihn mit Küssen und flüsterte ihm ins Ohr:

»Mein Jonathan.«

»Sonathan, Sonathan!« wiederholte er lachend.

Elizabeth legte ihm den Finger auf den Mund.

 

 

2

 

Von einer Ecke des Fensters aus blickte sie nach allen Seiten, aber die Waliserin war bereits seit einer Weile verschwunden, und warum auch sollte sie ihr mit den Augen folgen? Sie nahm ihre guten oder bösen Absichten mit und ebenso ihr ärgerliches Geheimnis.

»Diese Frau haßt mich«, dachte sie.

Dann klingelte sie und stand da und wartete. Das Kind klammerte sich an ihren Rock, und sie streichelte ihm den Kopf.

Ein schwarzgekleideter Diener erschien, ein großer Bursche mit einem blaßgelben Mestizengesicht.

»Sam, sage Betty, ich möchte mit ihr sprechen.«

Als sie wieder allein mit ihrem Sohn war, nahm sie ihn bei den Schultern. In seinem weißen Leinenanzug mit dem offenen Kragen sah er ein bißchen wie ein Schiffsjunge aus, aber die kurzen Hosen und die gestreiften Strümpfe ließen den kleinen Städter erkennen. Sie schaute ihn an, küßte ihn, sah ihn noch einmal aufmerksam an. Glich er seinem Vater wirklich so sehr, wie man es in ihrer Umgebung behauptete? Vielleicht waren es die vollen Wangen und die auseinanderliegenden kastanienbraunen Augen. Doch was sie wirklich suchte, war das Abbild eines anderen Gesichts, an das sie immer wieder denken mußte, doch das war wohl nur die Eingebung einer krankhaften Phantasie. Wußte sie das nicht selbst? Welch seltsamem Spiel gab sie sich hin, wenn sie sich auf eine Komplizenschaft mit unentrinnbaren Erinnerungen einließ?

Fast flüsternd sagte sie zu ihm:

»Du bist mein Jonathan, hörst du? Aber das bleibt unter uns, und du darfst nie laut Jonathan sagen.«

Lachend warf er sich in ihre Arme:

»Ja, Mamma.«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Betty, die ein grün und rot gemustertes Kopftuch aufhatte, eilte ihnen entgegen.

»Ich wa’ mit Miss Celina inne Wäschekamma’«, entschuldigte sie sich.

»Schon gut, meine kleine Betty. Du wirst jetzt mit Charles Edward spazierengehen, jetzt ist es nicht mehr so heiß. Setz ihm seinen großen Strohhut auf und gib acht, daß du ihn nicht von der Hand läßt.«

»Nein, Miss Lisbeth, Massa Cha’leddy is’ doch mein Schatz.«

Sie stürzte sich auf den Schatz, der sich wehrte und ihr mit den Fingern liebkosend über die schwarze Maske fuhr, der die Zeit so unerbittlich zugesetzt hatte, als wollte sie ihr alle Menschenähnlichkeit nehmen. Nur die riesigen dunklen Pupillen waren verschont, sie schwammen in einer unergründlichen Zärtlichkeit.

Charles Edward hüpfte vor Freude, daß er gleich ausgehen sollte, und gab Betty die Hand. Als Elizabeth sie aus dem Salon gehen sah, konnte sie nicht umhin zu lächeln. Betty in ihrem roten Mieder brauchte sich nicht sehr tief zu bücken, um den jungen Herren bei der Hand zu halten, der ihrer Obhut anvertraut war.

Schon drang ein schwächeres Licht durch die Jalousien des Salons, warf große blaßgoldene Flecken auf die Wände und verwandelte das Zimmer, das sich plötzlich an einem Ort fern von Amerika zu befinden schien. Es war die Stunde, die die junge Frau fürchtete, weil sie sich dann von einer unwiderstehlichen Melancholie ergriffen fühlte und die Verbindung mit dem wirklichen Leben verlor. Der Zauber dieses Augenblicks machte ihr Angst, aber sie erwartete ihn wie eine Befreiung. Danach mußte sie sich anstrengen, ihre Träumereien abzuschütteln und den Faden der bedeutungslosen Ereignisse, aus denen sich ihr Leben zusammensetzte, wieder aufzunehmen.

Als sie den Salon verließ, begegnete sie Sam, der ihr mit einer Verbeugung eine Visitenkarte auf einem Silbertablett überreichte. Sie las: MAJOR ALEXANDER BROOKFIELD und runzelte die Stirn.

»Für diesen Herrn bin ich grundsätzlich nicht zu Hause.«

»Yes, M’am.«

Der junge Mestize schaute sie an. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn zwang, den seinen zu senken. Er verneigte sich und verschwand.

Eine Wendeltreppe führte zur ersten Etage. Auf einer der ersten Stufen blieb sie stehen, die Hand auf das polierte Holz des Geländers gestützt. Der Name, den sie soeben gelesen hatte, war durchaus nicht der, den sie auf dieser Karte mit der etwas zu großen Schrift zu finden gehofft hatte.

Mit raschen Schritten begab sie sich auf ihr Zimmer. Dieser im Halbdunkel liegende Raum mit seinen halbgeschlossenen Fensterläden bot der jungen Frau eine Art Zuflucht vor der Außenwelt, und sie streckte sich dort für eine Weile auf dem Kanapee aus Mahagoni aus. Ein großer geneigter Spiegel reflektierte das Bild der Möbel, die zu gleiten begannen, als befänden sie sich an Bord eines Schiffes bei hohem Seegang. Ganz gegen ihren Willen kam ihr immer wieder der Name Alexander Brookfield in den Sinn. Sie nannte ihn in der Tat ihre Plage Nummer eins. Er war ein schöner Mann von vierzig Jahren und Artilleriekommandant, der den ersten Rang unter ihren Bewunderern einnahm. Da er überall empfangen wurde, ließ er der jungen und allzu hübschen Witwe keine Chance, ihm zu entkommen. Dank seiner tückischen Strategie gelang es ihm früher oder später immer, sie in einer Ecke des Salons abzufangen, um sie mit seinen Komplimenten zu belästigen, von denen er ein beträchtliches Repertoire besaß. Und er bot sie ihr dar, wie man einer Person von bescheidener Intelligenz, auf die man ein Auge geworfen hat, Süßigkeiten anbieten würde. Dann ertönte seine besondere Stimme, die er den Frauen vorbehielt, mit ihren Modulationen, die sie, das Opfer, in eine solche Wut versetzten, daß sie plötzlich die Flucht ergriff. Das brachte ihr bei einem der nächsten Abendempfänge sanfte Vorwürfe ein, und so stellte sich allmählich eine Art kriegerischer Familiarität zwischen ihnen ein, aber er war in seiner Kühnheit noch nie so weit gegangen, sie in ihrem Hause aufzusuchen.

Ganz plötzlich mußte sie jedoch an jemand anderen denken.

 

Der Gedanke an Ned, der mit Betty spazierenging, riß sie plötzlich aus ihren Träumereien, und sie lief zum Fenster, stieß die Läden auf, blickte nach rechts und nach links, suchte die Allee nach ihm ab, die er nicht verlassen sollte, und da sie ihn nicht sah, wurde sie von panischer Angst erfaßt.

Sie klingelte. Sogleich ging die Tür auf, und eine junge weiße Frau erschien. Sie war groß und schlank und trug ein dunkelblaues Kleid mit langen Ärmeln, das ihr eine gewisse Eleganz verlieh. Ein gestärkter Kragen fügte dem Ganzen eine strenge Note hinzu, die zu dem ernsthaften und fein geschnittenen Gesicht paßte. Der ruhige Blick ihrer grauen Augen verriet eine natürliche Heiterkeit, die sofort vertrauenerweckend wirkte.

»Madame?« sagte sie.

»Miss Celina, ich mache mir Sorgen um Charles Edward.«

»Ich nicht, Madame. Er ist gerade nach Haus gekommen.«

»Aber er ist doch erst vor einer Viertelstunde ausgegangen.«

»Nein, Madame, Sie sind schon seit fast einer Stunde hier. Es wird bereits dunkel. Übrigens«, fügte sie hinzu, »höre ich ihn gerade mit Betty heraufkommen. Sie hätten sich nicht zu ängstigen brauchen.«

»Ich kann mir nicht helfen. Wenn er fort ist, bin ich so unruhig, daß ich nicht mehr zu leben glaube; ich wollte …«

Freudige Schreie unterbrachen diesen Satz. Charles Edward rannte auf sie zu und versuchte, ihr völlig außer Atem von seinem Spaziergang zu berichten, der zu einem Abenteuer voller Überraschungen geworden war. Er hatte seinen Hut noch auf dem Kopf, und die schwarzen Bänder flatterten bei jeder Geste des kleinen Erzählers.

Betty begleitete seine Erzählung mit lautem Lachen und gab ihren Kommentar dazu:

»Alle Damen wollten ihn küssen, aba’ Massa Cha’leddy wollte nich’ und hat sich gewehrt.«

In einer heftigen Aufwallung riß Elizabeth ihn in ihre Arme und drückte ihn fast zum Ersticken. Der kleine Hut rollte zu Boden. Miss Celina hob ihn lachend auf, und für einige Augenblicke war das Glück in diese vier Wände eingedrungen, in denen gewöhnlich das Schweigen herrschte. Immer wieder fuhr Elizabeth mit den Fingern durch die schwarzen Locken ihres Sohnes und flüsterte ihm Liebesworte ins Ohr, die fast ebenso wirr waren wie die des kleinen Jungen.

Betty unterbrach das geheimnisvolle Gespräch mit fester Stimme:

»Massa Cha’leddy, Betty will dich jetz’ baden.«

»Er ist ja wirklich patschnaß«, bemerkte Miss Celina. »Also nach dem Bad gibt’s eine Tasse Suppe und dann ins Bett. Nicht wahr, M’am?«

Elizabeth ließ ihn nur ungern los.

»Ich decke ihn dann selbst zu«, sagte sie. »Miss Celina, Sie werden mir beim Ankleiden helfen.«

Mit einem Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit blickte sie dem Kind nach, das Betty an der Hand mit sich zog.

Als sie mit Miss Celina allein war, schaute sie sie ernsthaft an.

»Was meinen Sie, Miss Celina? Darf man sein Kind so anbeten wie ich es tue?«

»Was soll ich Ihnen darauf antworten, M’am? Da müßte ich schon selbst ein Kind haben, aber meine Mutter liebte mich auch so, bis zum Wahnsinn. Sie nannte mich ihre zitternde Freude. Das ist ein Ausdruck aus unserer Heimat.«

»Zitternde Freude«, sagte die junge Frau nachdenklich. »Habe ich je etwas anderes gekannt?«

»Welches Kleid möchten Sie heute abend anziehen, M’am?« fragte Miss Celina in einem gleichgültigen Ton.

»Mein lila Taftkleid.«

»Wenn M’am mir eine Bemerkung gestatten, ist es nicht ein wenig trist? Dauert die Trauer nicht ein bißchen lange?«

»Dann das veilchenblaue oder was Sie wollen. Heute abend ist mir das alles egal. Ich werde mich in allen Farben des Regenbogens gleich gut langweilen. Das Diner ist bei den Steers.«

 

Das Haus der Steers zählte zu den ältesten der Stadt und konnte sich auch rühmen, eines der einfachsten zu sein. Die hohen und schmalen Fenster verliehen ihm eine gewisse Strenge, die durch die Eleganz des Portals mit den feinen ionischen Säulen gemildert wurde.

Als Elizabeth eintraf, las sie sofort in allen Blicken, daß die Kleiderwahl ihrer Gouvernante richtig gewesen war. Ganz in Weiß und ohne ein einziges Schmuckstück sah die junge Engländerin blendend aus. Die Frische ihres Teints hatte dem Klima des Landes standgehalten und noch den Glanz der ersten Jahre in Dimwood bewahrt. Ein aufmerksamerer Betrachter hätte jedoch in ihren Augen eine Spur von Unruhe entdeckt, durch die sie zu einer anderen geworden war, nicht mehr das kleine Fräulein, das vor sechs Jahren die Freitreppe zum Herrenhaus hinaufgestiegen war. Jetzt verlieh ihr schon ihr Haar, das sich in kunstvoller Nachlässigkeit um ihr Gesicht wellte, einen Ausdruck von Überlegenheit. Nicht ohne ein etwas gereizt wirkendes Lächeln zu zeigen, erkannten die anwesenden Schönheiten an ihr den Charme ihres Heimatlandes wieder – »einen etwas bäuerischen Charme« –, wie sie hinter ihren Fächern flüsternd hinzufügten. Die Männer hatten keinerlei derartige Vorbehalte. Sie erweckte eher ihr Begehren, als daß sie jene Gefühle erregt hätte, die man für Herzenswallungen hält.

Sich als Gegenstand solcher Gelüste zu empfinden, schien ihr nicht mit der Vorstellung vereinbar, die sie von sich selbst hatte. Deshalb pflegte sie vor diesen Herren, von denen sie im Vorübergehen bedrängt wurde, eine höflich gleichgültige Haltung einzunehmen. Sie hatte den Eindruck, daß manch einer mit seinen lüsternen Blicken ihr Gesicht und das, was er von ihren Brüsten erraten konnte, besudelte. Vor allem die Älteren. Die in ihre Uniform geschnürten jungen Offiziere zeigten sich weniger zynisch und beschränkten sich darauf, ihr schmachtend und verstohlen in die Augen zu schauen, die stumm blieben wie Saphire.

Die Tyrannei der Gepflogenheiten verlangte, daß sie die Einladungen gewisser Familien annahm, und die Steers gehörten zu den ersten in der Rangordnung. In ihren Salons bewunderte man die Bilder berühmter Maler in goldenen Rahmen, in denen die barocke Kunst sich in ihren kühnsten Verschnörkelungen zeigte. Riesige Kronleuchter mit Kristallgehängen verbreiteten ein großzügig mildes Licht, das dem Teint schmeichelte und dem Edelsteingefunkel am Hals und an den Händen der Damen einen noch geheimnisvolleren Glanz verlieh. Mit aller Raffinesse und Hinterlist ihres Geschlechts umringten diese ihre gefährliche Rivalin und durchbrachen den Schutzwall aus Bewunderern, die vor der überlegenen Macht der Anmut zurückwichen. Eine Weile wurde Elizabeth mit Komplimenten und Fragen von durchtriebener Indiskretion bestürmt. Man sähe sie fast nie, und es wäre eine solche Freude, sie begrüßen zu können und wieder einmal ihren köstlichen englischen Akzent mit den so reinen Modulationen zu hören, nicht wahr … Sie antwortete mit der ihr verbliebenen – und übrigens reizenden – Unbeholfenheit, die sie seit ihrer Ankunft in Georgia nie ganz hatte ablegen können. Und war es nicht gerade das, was zuerst Jonathan und dann Ned so bezaubert hatte? Jetzt, da sie die Gefangene dieser mit Juwelen behängten Frauen war, deren Seidenkleider und Taftroben durch eine herausfordernde Eleganz bestachen, fühlte sie sich nackt und wütend. Plötzlich wurde ihr die Gesellschaft unausstehlich. Durch die großen Türen mit den dunklen Goldrahmen sah sie Gäste in Gruppen ankommen, und ihre innere Verwirrung erreichte den Höhepunkt, als Alexander Brookfield in Uniform erschien. Nicht ohne militärische Forschheit bahnte er sich den Weg zu ihr, womit er sich entrüstete Blicke zuzog. Trotzdem näherte er sich ihr, und sie sah deutlich seinen vor Unverfrorenheit leuchtenden Blick, der seine Beute ins Visier nahm.

Von Panik ergriffen, wich sie zurück und drängte sich unter Entschuldigungen gegen die Damen, die um sie herumstanden. Diese traten ein wenig schockiert beiseite und schafften ihr Raum, den sie ohne zu zögern durchquerte. Nicht ohne Grund floh sie in diese Richtung.

Sie hatte nämlich gerade die schöne Mrs. Harrison Edwards erblickt, die zwar auch dicht umringt war, sich jedoch wie eine Gebieterin im Kreise ihrer respektvollen Bewunderer bewegte, die sie mit ihrem Fächer auf Distanz hielt. Immer wieder erhob sie das stolze Haupt, als wolle sie ihre Macht über die Gesellschaft betonen, doch ebenso großmütig teilte sie jenes Lächeln aus, dessen undefinierbarer Charme berühmt war, weil es alles auszudrücken schien, was man darin sehen wollte, das Ja oder das Nein, das Vielleicht oder das Nie, und sie spielte damit wie ein Virtuose auf seinem Instrument. Von weitem bemerkte die junge Engländerin, dank der in solchen Fällen üblichen Scharfsicht des weiblichen Blicks, ass ihr einst zur Fülle neigendes Gesicht ein wenig schmäler geworden war.

Obgleich Elizabeth sich zu dieser Frau, deren majestätisches Gehabe sie störte, nicht sehr hingezogen fühlte, war ihr klar, ass in diesem schwierigen Augenblick nur sie allein ihr helfen konnte, und sie ging leichten Schrittes auf sie zu.

Als Mrs. Harrison Edwards sie erblickte, stieß sie einen künstlichen Schrei aus, einen sehr gesitteten Schrei, denn sie asse seit einer Viertelstunde, ass Elizabeth anwesend war, was ihr nur ein mäßiges Vergnügen bereitete.

»Elizabeth! Welch freudige Überraschung! Daß Sie hier sind! … Und schöner denn je.«

Mit einer eleganten Kehrtwendung ließ sie ihre enttäuschten Bewunderer zurück, eilte auf Elizabeth zu und küßte sie:

»Meine Liebste«, sagte sie, »wir sehen uns fast gar nicht mehr seit … seit dieser schrecklichen Sache.«

»Ich weiß, aber ich habe an den mondänen Abendempfängen wie diesem hier nie Geschmack gefunden.«

»Wie diesem hier! Aber in Savannah gibt es so etwas ständig. Wie sollten wir auch anders leben? Wir würden umkommen! Zu Hause zu bleiben ist doch ein Martyrium. Da ist es noch am besten, die Zeit in guter Gesellschaft totzuschlagen. Aber wer ist denn dieser forsche Kerl, der da anscheinend geradewegs auf Sie zusteuert?«

»Oh! Lucile, ein Graus! Dieser entsetzliche Offizier verfolgt mich mit seinen glühenden Liebeserklärungen. Tun Sie doch bitte etwas, um ihn von mir fernzuhalten.«

»Die Komplimente eines schönen Offiziers habe ich noch nie verschmäht, aber dieser da ist von einer entmutigenden Häßlichkeit.«

Als er sich mit siegesgewisser Miene näherte, wandte sie ihm plötzlich ein so gebieterisches Gesicht zu, daß er betreten stehenblieb. Noch nie war Elizabeth diese Frau, die ihr aus der Patsche half, verführerischer vorgekommen. Ihr üppiges Haar glänzte in dunklen Wellen um die kleine gewölbte Stirn und hob das samtene Weiß ihres Teints hervor. Die großen Augen von unergründlicher Tiefe schienen alle Geheimnisse der Nacht einzuschließen, und so stellte sie sich dar, wenn es ihr gefiel, einen Gegner zurückzuweisen. Dann war sie unwiderstehlich anziehend und fast ebenso abweisend.

In seiner Verblüffung blieb der Kommandant einen Augenblick stumm. Offenbar schwankte seine Bewunderung zwischen der jungen Engländerin und der herrlichen Kreatur, deren brennender Blick ihn bannte. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Kommandant«, sagte sie mit fester Stimme, »wir sind einander nicht vorgestellt worden, und ich bin im Gespräch mit Madame.«

Er verneigte sich.

»Oh! ich hätte mir nie erlaubt … ich wollte nur …«

»Warum gehen Sie nicht einstweilen zum Buffet? Es ist bereits von bezaubernden Damen belagert.«

Während sie diese Worte aussprach, schenkte sie ihm ein Lächeln, das sie insgeheim ihr Tigerinnenlächeln nannte; er gab sich geschlagen und trat den Rückzug an.

»Sehen Sie, Elizabeth«, sagte sie, als sie sich entfernt hatten, »so muß man die Männer dressieren.«

»Aber das habe ich nie versucht«, rief die junge Frau aus, »und habe es nicht einmal gewollt.«

»Ich fürchte, Sie überschätzen die Männer. Ich gebe gern zu, daß sie zuweilen willkommen sind, aber es ist eine große Genugtuung zu wissen, daß sie einem zu Füßen liegen.«

»Ehrlich gesagt, ich habe die Liebe nicht so gesehen, als ich noch meinen …«

»Liebe Elizabeth, trauern Sie niemandem nach, der nicht zurückkommen wird. Ich habe mein Witwentum mit heiterer Gelassenheit hingenommen. Genießen Sie die Gegenwart, Elizabeth. Das Leben, schauen Sie sich das Leben an …«

Sie wies mit einer Geste auf den Salon voller schwatzhafter Gäste. Das rauschende Murmeln der Gespräche wurde ohrenbetäubend.

»Hören Sie«, sagte sie geradezu verzückt, »welch eine Musik für die Ohren! Das ist das Leben, das köstliche Leben in einer Welt …«

Elizabeth nickte und versuchte, ihr zuzulächeln.

»Wissen Sie«, sagte sie mit lauter Stimme, um sich Gehör zu verschaffen, »ich glaube, ich werde jetzt gehen, aber ich danke Ihnen für vorhin.«

»Ich bin immer da, um Ihnen zu helfen, denn ich muß sagen, und Sie werden es mir hoffentlich nicht übelnehmen, daß Ihre Erziehung als junge Witwe noch viel zu wünschen übrigläßt, meine Liebste.«

Ein langes, einschmeichelndes Lächeln milderte die Schärfe dieser Bemerkung, aber Elizabeth fühlte sich dennoch verletzt.

In ihren Augen stieg ein plötzlicher Glanz auf, und Mrs. Harrison Edwards, die Tränen zu sehen glaubte, schloß sie in ihre Arme:

»Vergessen Sie, was ich eben gesagt habe«, flüsterte sie, »das war nicht recht von mir, und es tut mir leid.«

Sie streifte mit ihren Lippen Elizabeths Wange und drückte ihr beide Hände:

»Wir sind Freundinnen, nicht wahr?«

Einem Schatten gleich, glitt ein Lächeln über ihre Züge, ein Lächeln, das man in keine Kategorie einordnen konnte, das aber aus tiefstem Herzen kam.

 

 

3

 

Im Wagen, der sie nach Hause fuhr, gab Elizabeth sich ganz ihrer Enttäuschung hin … Jemand, den sie zu sehen gewünscht hatte, war nicht erschienen, oder sie hatte ihn inmitten dieser Menge nicht entdecken können, aber es schien ihr fast undenkbar, daß sie in ihrem weißen Kleid seine Aufmerksamkeit nicht auf sich gelenkt hätte. Vielleicht war er auch nicht gekommen, oder seine Schüchternheit, die er nur schwer ablegen konnte, hatte ihn daran gehindert, sich ihr zu nähern. Schließlich hatten sie noch nicht mehr als zehn Worte gewechselt, aber er hätte es wissen müssen, der linkische junge Mann, er hätte es erraten müssen. Sie seufzte vor Ungeduld, wenn nicht vor Wut, und warf sich in eine Ecke ihres Wagens.

Dieser Gesellschaftsempfang hatte einen Eindruck von Blendung und Langeweile bei ihr hinterlassen. Man erstickte in den hohen Sphären … Mrs. Harrison Edwards und ihre recht zynischen Ansichten verwirrten sie, trotz der freundschaftlichen Bekundungen am Schluß. Unter den Männern, von denen die große Dame mit einer solchen Geringschätzung sprach, war kein Gesicht, das zum Träumen anregte, denn das zählte noch für sie, ungeachtet der schmerzlichen Erinnerung.

Ihr Haus erwartete sie in einer Stille, die sie allmählich beruhigte. Dazu trug vor allem die vertraute Behaglichkeit des blaßblauen Salons bei, in dem sie angenehme Stunden mit Freundinnen zu verbringen pflegte, wenn diese sie besuchten und ihr die letzten Klatschgeschichten aus der Stadt erzählten. An diesem Abend erhellte eine Lampe auf einem niedrigen Tisch das gemütliche kleine Zimmer mit einer gewissen Zärtlichkeit. Sie kauerte sich in einen großen Sessel wie ein Vogel, der gerade einem Gewitter entronnen war, und überlegte, daß sie sich an diesem Abend äußerst dumm benommen hatte … Auszugehen, um sich zu zeigen, nur einige Augenblicke mit einer einzigen Person zu reden und dann die Flucht zu ergreifen, was sollte das bedeuten? Die Herrin des Hauses hatte sie nur von weitem gesehen, und sie hätte sie leicht aufsuchen können, aber auch sie war ständig von Gästen in Anspruch genommen und hatte ihr den Rücken zugekehrt. Warum sollte sie sich nicht ehrlich eingestehen, daß sie nur wegen eines jungen Mannes gekommen war, den sie kaum kannte? Ein Rotschopf. Nein, dunkelrot, korrigierte sie sich, als müßte sie sich entschuldigen, rötlich mit Bronzeschimmer. Und schüchtern dazu … Gewöhnlich sind die Rothaarigen doch …

Das Erscheinen der ruhigen Miss Celina riß sie aus ihren unruhigen Gedanken.

»Schon zurück?« fragte sie lächelnd.

»Ja, ich habe mich gelangweilt. Die Leute von Welt gehen mir auf die Nerven, Miss Celina.«

Miss Celina machte ein ernstes Gesicht.

»Der Kleine wollte einfach nicht einschlafen. Er sagte, sie hätten vergessen, ihm eine Geschichte zu erzählen, bevor das Licht gelöscht wurde. Ich hatte alle Mühe, ihn zu trösten, und er hat ein bißchen geweint.«

Elizabeth sprang mit einem Satz auf.

»Es ist wahr, Miss Celina, ich habe es zum erstenmal vergessen.«

»Jonathan vergessen«, dachte sie verärgert und beschämt, »ich habe vergessen, daß ich ihm jeden Abend ganz leise eine Geschichte erzähle, in der eine Person namens Jonathan vorkommt.« Dieser Augenblick zählte in ihrem täglichen Leben fast ebenso viel wie in dem ihres Sohnes. Das Ritual erlaubte keine Abweichung.

Das Ausziehen, Waschen und zu Bett bringen überließ Elizabeth stets Liza, der schwarzen Amme des Jungen, einer kräftigen und noch jungen Person. Sie war schwergewichtig und ziemlich rundlich, aber dennoch anziehend, und bewegte sich mit einem Wiegen in den Hüften; die großen und schönen Augen in ihrem kaffeebraunen Gesicht rollten im Rhythmus ihres Ganges bald nach rechts, bald nach links. Trotzdem genoß sie den Ruf einer unerschütterlichen Ehrbarkeit. Charlie Jones selbst hatte sie seiner Schwiegertochter empfohlen. Wie so viele Frauen ihrer Rasse strahlte sie Liebe aus und konzentrierte ihre Leidenschaft auf das kleine Wesen, welches sie so sehr als ihren Besitz betrachtete, daß sie es my baby nannte. Diese Liebe wurde erwidert. Das Kind war von der überschäumenden Zärtlichkeit seiner Mutter so sehr geprägt, daß es keinesfalls erschrak, wenn die riesige schwarze Masse sich mit dem wohligen Brummen einer verliebten Menschenfresserin über sein Gesicht beugte.

Elizabeth war bei diesen etwas monströsen Liebesbezeugungen nicht zugegen, aber wenn sie dann zu ihm kam, war es eine ganz andere Zuwendung.

Man mußte sie mit dem Liebling allein lassen, wenn sie ihn auch manchmal warten ließ. Dann lag er brav und geduldig in seinem Himmelbett und erzählte sich laut Geschichten, in denen seine Mutter immer wieder vorkam. Im schummerigen Licht der Nachtlampe erschien ihm das Zimmer größer, von großen Schattenräumen durchflutet, die seine Phantasie mit allerlei seltsamen, grimassierenden Gestalten bevölkerte, denen er jeder einen Namen gab; aber noch lieber schaute er zur Tür: bald würde sie aufgehen, und die wunderbare Person käme herein, um deren Kopf es vor lauter Gold so sanft schimmerte. Sie würde ihn lange mit Küssen liebkosen und ihn ihren Jonathan nennen. Darauf müßte er antworten: »Ja, Sonathan«, und dann würde sie ihn in ihre Arme schließen. Ihre Küsse verirrten sich überall hin auf seinem Gesicht, nicht auf die Lippen, aber oft in den Nacken, hinter das Ohr, was ihn kitzelte und zum Lachen brachte. War diese Fröhlichkeit verklungen, kam der Augenblick, den er mit einer fast schon überreizten Ungeduld erwartete, da sie ihm eine Geschichte erzählte, die er sich immer neu wünschte, unheimlich, voller Riesen und Räuber, voller Verfolgungen und Fluchten … Es folgte ein kurzes Schweigen, und mit einer Stimme, die anders war als gewohnt, ließ die Mutter den Sohn ein höchst vereinfachtes Gebet aufsagen, in welchem er den dear Lord bat, ihn zu einem good boy zu machen und seine Mom zu segnen.

An diesem Abend jedoch, dem Abend des Empfangs bei den Steers, hatte sie so lange auf sich warten lassen, daß ihm die Lider schwer wurden. Müde von seinem Spaziergang mit Betty glitt er unmerklich in den Schlaf.