Josephine Siebe


Die Sternbuben in der Großstadt



eine heitere Geschichte

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-205-0


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Kapitel 14 - Letzte Tage



Die Sternbuben fuhren noch manchen Tag nicht heimwärts. Sie verlebten noch helle Tage und auch etliche Regentage in dem großen Leipzig. Schön waren sie alle, wie Tage es nur sein können in einem Haus, in das die Freude eingekehrt ist. Und wenn eine Mutter sich freut über die Heimkehr eines verloren geglaubten Kindes, das ist dann eine ganz besondere Freude, eine, die auch andere froh macht.

Hulda sagte am nächsten Morgen: "Es ist heute wie Feiertag."

"Ja, wie ein Osterfeiertag," antwortete Eva von Ringewald, "ein Ostertag, an dem man den Frühling schon auf allen Wegen kommen sieht und meint, so hell habe die Sonne nie geglänzt und so köstlich haben die Veilchen nie geduftet."

In den Herzen der Sternbuben bimmelten an diesem Tage auch kleine Freudenglocken sehr lustig, und sie kamen aus dem Lachen und Vergnügtsein gar nicht heraus. Gleich am Morgen fing es an. Da saß der Zigeuner am Frühstückstisch, und er war wieder blond und nicht mehr schwarz, denn er hatte sich die Farbe aus den Haaren herausgewaschen. Er wollte Onkel Fritz genannt sein und schloß mit den Buben gleich eine feste, gute Freundschaft. Und dann sagte die Tante Pate, heute früh müßten die Buben das große Denkmal sehen, sie wolle zu Hause bleiben.

"Das will sie nur, weil der Herr Brummerjan kommt, sie will ihn erst versöhnen," murmelte Hulda. Sie dachte gewiß, hören kann das kein Mensch, aber Mathes und Peter hörten manchmal Dinge, die sie eigentlich nicht hören sollten. Also verstanden sie auch Huldas Rede. Herrn Brummerjan gingen sie gern aus dem Wege, doch Eva und Fritz von Ringewald sagten beide: "Heute gehen wir nicht." Aber dann kam gerade, als die Buben in den Garten geschickt werden sollten, Annedore und bat, sie sollten mit ihr in den Zoologischen Garten gehen.

"Allein?" Die alte und die junge Tante machten beide höchst bedenkliche Gesichter, doch Annedore erklärte flink und froh, sie würde schon auf die Buben aufpassen und sie gut wieder heimbringen; man könne ganz ohne Sorge sein.

"Hoho!" Onkel Fritz lachte dazu. "Das sind mir Buben, müssen sich beschützen lassen!" neckte er.

Mathes und Peter ärgerten sich. Sie steckten beide trotzige Mienen auf und wollten eben sagen: "Wir können allein gehen," als Tante Eva dazwischenredete. "Sie sind doch fremd hier, und wenn ich fremd in einer Stadt bin, dann lasse ich mich auch führen."

"Wir passen gegenseitig auf uns auf." Annedores freundliches Lachen verscheuchte allen Bubenzorn. Mathes und Peter wurden wieder vergnügt, und beide sagten sie gnädig: "Wir passen auf dich auf."

In schönster Eintracht zogen sie von dannen. Unterwegs erzählte Annedore, bei Herta wäre es gestern langweilig gewesen, furchtbar langweilig. Die Buben bedauerten sie darob sehr, und in diesem Augenblick kamen schwipp, schwapp! Herta und Irene wie zwei Bachstelzen die Straße entlang gewippt.

"Da kommen sie!" rief Herta.

"Wo?" fragte Irene.

Sie sah die Straße entlang, doch von den drei guten Kameraden war nichts mehr zu erblicken; die rasten schon eine Seitenstraße entlang, bogen um eine Ecke, und da erst standen sie still und freuten sich, den beiden Zierpüppchen entwischt zu sein.

Im Zoologischen Garten wollten Mathes und Peter zuerst das Affenhaus sehen. Peter behauptete kühn: "Die freuen sich, die kennen uns wieder."

Ob Löwen und Bären, Kamele und Elefanten die Breitenwerter Sternbuben auch wieder erkannten, war nicht genau zu unterscheiden, jedenfalls waren die drei Freunde sehr lustig mitsammen. Es war eigentlich ein Wunder, dass sie das Heimkommen zur rechten Zeit nicht vergaßen. Hulda redete gerade in der Küche von Zuspätkommen, so was täten Buben meist, als die Klingel ertönte. Die Buben waren da. "Wascht euch gut und geht hinein, es ist ein Gast da," flüsterte Ida ihnen zu.

Und als die beiden in das Speisezimmer traten, sahen sie zu ihrem Erstaunen Herrn Brummerjan am Fenster stehen. Neben ihm stand Fritz von Ringewald. Sein Gesicht war bleich, aber seine Augen leuchteten. Es war ein ernstes Aussprechen zwischen Onkel und Neffen gewesen, es war manch bitteres Wort gefallen, zuletzt hatte aber doch Herr Buchner dem Neffen die Hand gegeben und gesagt: "So geh denn deinen Weg! Ich hab' es eingesehen, man soll niemand von einem Beruf abbringen, zu dem ihn seines Herzens Sehnsucht treibt."

Er sagte nichts von dem großen Herzeleid, das Fritz durch seine Flucht Mutter und Schwester angetan hatte, er meinte auch im Herzen, es sei eine bittere Strafe für den Neffen gewesen, auf der Messe als Zigeuner verkleidet spielen zu müssen.

Ja, bitter war das gewesen und noch schwerer die Stunden, in denen Fritz von Ringewald nächtlich vor dem Hause gestanden hatte in Angst um die kranke Mutter. Wenn er aber jetzt in das blasse Gesicht der Mutter sah, dann dachte er doch, seine Strafe wäre noch zu leicht gewesen für all das Leid der gütigen Mutter. Er fühlte, er mußte ein sehr liebevoller Sohn sein, um seine Schuld wieder gutzumachen.

Von den ernsten Gesprächen und Gedanken merkten Mathes und Peter nichts. Die merkten nur die stille, selige Freude und fanden, Herr Brummerjan wäre wirklich kein Herr Brummerjan. Sehr lustig war er freilich nicht, aber er redete doch sehr freundlich mit ihnen, dachte sogar, sie gingen schon ins Gymnasium, während sie doch noch auf der Vorschule saßen, auch nannte er sie nicht Buben oder Jungen, sondern Knaben, und das fanden sie beide sehr vornehm. Er lud sie auch ein, ihn zu besuchen, und als er hörte, was sie alles schon gesehen hatten, erklärte er, dies wäre zu wenig, sie müßten noch viel, viel mehr sehen.

Damit waren nun Mathes und Peter sehr einverstanden. Wenn nur nicht die Ferientage davongelaufen wären wie Mäuse, wenn die Katze kommt. Wirklich, die Tage purzelten beinahe über ihre eigenen Beine vor Eilfertigkeit. Es war nur gut, dass die Tanten immer sagten: "Ihr müßt bald wiederkommen," und damit meinten sie die Buben und die Ferientage dazu.

Was gab es auch nicht alles zu sehen in der großen Stadt! Onkel Fritz sagte: "Einer großen Stadt muß man in das Herz sehen. Wenn man immer auf die Messe läuft und in den Zoologischen Garten, dann kennt man sie nicht." Er führte die Buben durch viele Straßen, über viele Plätze. Er führte sie dahin, wo die Fabriken ihre großen roten und gelben Fleißfinger in die Luft streckten. Und die Buben hörten das schrille Pfeifen in der Nähe, sie sahen Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen die Fabriken verlassen. Sie sahen auch Häuser mit vielen, vielen Fenstern; hinter denen bauschten sich nicht luftige weiße Vorhänge, dort arbeiteten von früh bis abends rastlos die fleißigen Männer und Frauen.

In diesen Vororten, im Umkreis der Fabriken, hatten die Straßen meist lange, einreihige Häuserreihen; wie das Breitenwärter Löwengäßle sah keine aus. Und als die Buben seufzten und sich nach Gärten umsahen, guckten, ob nicht ein paar Bäume hinter einem Mäuerlein schatteten, da führten Tante Eva und Onkel Fritz sie in andere Straßen. Da lagen still und verträumt Eigenhäuser in schönen Gärten; manch eins sah wie ein kleines Schloß aus, und die Buben vergaßen beinahe den Silbernen Stern und wünschten sich, in einem solchen Haus zu wohnen. An der nächsten Straßenecke hatten sie dann freilich den Wunsch schon wieder vergessen, weil Fritz von Ringewald versprach: "Morgen führ' ich euch zum Onkel, dort werdet ihr ein Stück unserer Bücherstadt sehen."

Das Wort machte Mathes und Peter sehr neugierig, denn eine Bücherstadt konnten sie sich nicht gut vorstellen. Sie fragten Hulda später, was es bedeute, und Hulda, die lieber kochte und strickte als las, sagte ein bisschen von oben herab: "Ach, da sind eben die Häuser mit Büchern vollgestopft wie mein Wäschesack mit Flickwäsche!"

In ganz Breitenwert gab es eine Buchhandlung, außerdem hatte der Onkel Adam nur noch Schulbücher zu verkaufen, und als die Sternbuben am nächsten Morgen in die Bücherstadt wanderten, dachten sie sich die wie den Breitenwerter Buchladen. Es gab aber nur Häuser und wieder Häuser zu sehen. Vor vielen standen Wagen, auf die große Pakete geladen wurden, und die Buben waren schon ein bissel enttäuscht, als Tante Eva in eins der großen Häuser eintrat. Eine Treppe ging's hinauf, oben gab es ein paar Türen mit allerlei Aufschriften; an einer klopfte Onkel Fritz, und als er sie öffnete, sahen die Buben drinnen ein paar Herren sitzen, die eifrig schrieben. Der Onkel war noch nicht zu sprechen, aber einer der Herren führte die Besucher durch allerlei Räume. Zimmer neben Zimmer, und in allen lagen Bücher hochaufgestapelt bis zur Decke.

"Wenn ihr das alles lesen müßtet!" sagte Tante Eva neckend.

Mathes und Peter erschraken, und sie waren froh, als ein Fräulein kam und meldete, Herr Buchner hätte jetzt keine Zeit, er schickte aber eine Karte mit, dort sollten sich die Knaben umschauen.

"Dann sehen wir uns also noch nach mehr Büchern um," sagte Tante Eva.

Noch mehr Bücher!

Gab es denn die?

Onkel Fritz lachte über die erstaunten Gesichter der Buben. "Ja, ja, wir gehen in ein Haus, das ist vollgestopft mit Bilderbüchern."

Aber Onkel Fritz hatte etwas geflunkert. Das Haus war eigentlich eine Straße, und wie in einer Straße liefen die Menschen drin hin und her, hinaus, herein; es hatten's alle eilig. Ein Mann stand an einem breiten Fenster und gab immer Pakete hinaus; drinnen waren Bücher, nur Bücher. Große Ballen Bücher wurden verladen und ausgeladen. Bücher waren in Sälen aufgestapelt, und wenn Tausende von Büchern auf zwei Beinen dahergelaufen wären, die Sternbuben hätten sich nicht mehr gewundert.

Es war doch anders als im Breitenwerter Buchladen!

Onkel Fritz sagte: "Wenn ihr beide nun alles lernen müßtet, was in den Büchern steht!"

Schon vor dem Lesen hatten die Buben Angst gekriegt, aber nun auch noch lernen, was in den Büchern stand! Jemine, das wäre schrecklich!

Mathes seufzte tief. Doch plötzlich fiel ihm etwas ein, und er rief: "Ich werd' mal Wirt vom Silbernen Stern, und Mutter sagt, da braucht man net so arg lange lernen."

Peter schwieg. Die vielen Bücher machten einen gewaltigen Eindruck auf ihn, er wurde sehr still, es war ihm ordentlich ein bisschen feierlich zumute, und als er wieder auf die Straße trat, sah er sich ehrfurchtsvoll nach dem großen Haus um. Ein Stückchen weiter ging's, da stand wieder so ein Riesengebäude, und Onkel Fritz erklärte: "Dort innen werden die Bücher gedruckt."

Er ging auf das Haus zu, gab seines Onkels Karte ab, und ein Mann führte sie alle miteinander in einen großen Saal. Nur hier könnten sie hineinsehen, sagte er, aber für die Sternbuben war das schon genug. In dem Saal surrten und sausten große Maschinen, die arbeiteten flinker als hundert Hände. Weißes Papier kam hinein, gedruckte Bogen kamen heraus, klipp klapp! Stoß um Stoß. Die Maschinen sahen wie lebendig aus. Sie redeten ganz emsig, schienen immer zu sagen: Flink, flink, flink! Sputet euch, sputet euch! Und die Arbeiter und Arbeiterinnen, die daran standen, sputeten sich auch. Es war gar nicht zu unterscheiden, wer in dem Saal zur Arbeit antrieb, die Maschinen oder die Menschen.

Und doch waren es die Menschen. Auf einmal durchzitterte ein schriller Klang den großen Raum und klapp, klapp! da standen die Maschinen stille. Sie riefen nicht mehr "Flink!" und "Sputet euch!" sie waren stumm geworden. Aber die Menschen redeten miteinander, ein paar lachten, viele liefen eilig davon. Es war Mittagspause, und auch Fritz und Eva traten den Heimweg an. Unterwegs führten sie die Buben noch in einen großen Buchladen. Gegen den wäre nun freilich der Breitenwerter Buchladen fast wie ein Zwerg erschienen, wenn er sich daneben gesetzt hätte. Tante Eva kaufte ein Buch, bunte Bilder hatte es, und zur Kurzweil für der Buben Heimreise sollte es sein. Während sie kaufte, konnten sich Mathes und Peter recht umschauen. Mathes seufzte wieder, die vielen Bücher wurden ihm langweilig, sie ängstigten ihn, aber Peter bekam Kulleraugen. Er dachte, es müßte behaglich sein, in so einem großen Buchladen zu sitzen und jedem, der kam, ein wunderfeines Büchlein zu verkaufen. Tante Eva mußte ihn dreimal rufen, ehe er sich zum Hinausgehen entschloß, und kaum war er draußen, da rief er: "So ein Lädle will ich mal haben; das gefällt mir."

Fritz von Ringewald, der kein Buchhändler hatte werden wollen, weil er seine Geige zu sehr liebte, sagte doch: "Dann wirst du etwas Tüchtiges, Peter. Halt dran fest! Auf meiner Wanderschaft bin ich weit herumgekommen; so viele Buchläden wie in Deutschland habe ich kaum irgendwo gefunden. Das hat mich immer stolz gemacht, weil ich daran erkannte, dass wir vorangehen in der Welt." Und ganz leise, nur Eva konnte es hören, fügte er hinzu: "Dem Onkel hab' ich manch bitteres, trotziges Wort im stillen abgebeten. Doch nun heim, und heute Nachmittag -"

"Das Denkmal sehen," fiel Eva ein, "sonst fahren sie ab und haben es nicht gesehen."

Es war schon beinahe eine Reise hinaus zum Völkerschlachtdenkmal, das weit draußen im Osten der Stadt liegt. Unterwegs erzählte Eva den Buben von der gewaltigen Schlacht der Völker, von dem großen Befreiungskampf gegen Napoleon. Und die Buben verrenkten sich bald die Hälse, um das riesengroße Denkmal ja bald zu sehen. Sie dachten, bis zum Himmel müßte es reichen, und als sie dann ausstiegen und vor dem großen Steinkoloß standen, schwiegen sie muckstill.

Die junge Tante, die diesmal allein mit ihren Schützlingen hinausgefahren war, wartete auf etliche Ah- und Ohrufe, und als die nicht kamen, fragte sie: "Nun, was sagt ihr, gefällt es euch?"

Da guckten die wunderfitzigen kleinen Buben aus dem Breitenwerter Löwengäßle das große Steindenkmal von oben bis unten an und riefen geringschätzig: "Arg groß ist das aber net, unser Kirchturm ist höher!"

Und dabei blieben sie. Eva erstieg mit ihnen die hohen Steintreppen, ließ sie das Denkmal von innen und außen beschauen, und die Bübles nickten und freuten sich, aber weil das Denkmal nicht bis zum Himmel reichte, fanden sie es doch nicht so groß wie den Turm der Breitenwerter Stadtkirche. Es war auch ein Tag, an dem die Ferne im feinen Nebeldunst verschleiert lag, und dieser graue Schleier über der Stadt gefiel den Buben noch weniger. Eva war ganz ärgerlich. Sie hatte erwartet, die Buben würden vergehen vor Staunen, und nun taten sie, als wäre so ein gewaltiges Denkmal ein Pappenstiel.

Auf dem Heimweg - es dämmerte noch, als sie am Hause ankamen, - trafen sie Annedore mit Herta und Irene. Mit den beiden waren Mathes und Peter noch nicht wieder zusammengekommen, und die Mädel rächten sich für Nichtbeachtung, taten hochmütig, und Herta fragte, als Eva in das Haus hineingegangen war: "Nun, ihr staunt wohl immer noch Leipzig an! Wo ward ihr denn?"

"Beim Denkmal waren sie," rief Annedore. "Nicht wahr, das ist fein? So schrecklich groß!"

"Noi," sagte Mathes geringschätzig, "so arg groß ist das doch net!"

"Unser Kirchturm ist viel, viel höher." Peter sah in die Luft, als erblicke er oben neben den Wolken des Kirchturms Spitze.

Dies war den beiden kleinen Leipzigerinnen aber doch zu arg. Was, diese Kleinstadtbuben wollten nicht ihr großes, berühmtes Denkmal anerkennen? Das war zu frech! Sie fingen an, wie zwei Rohrspätzlein zu schelten und zu streiten, nannten die Buben dumm und eingebildet und wer weiß noch was.

Doch Mathes und Peter blieben die Antwort nicht schuldig. Sie riefen manches Wort, das von ihrem Freunde, dem Hausknecht im Silbernen Stern, stammte. Immer heftiger wurde das Streiten. Annedore bat und schalt, sie sollten Frieden halten, aber vergebens. Die Buben zischten wie ein paar Dampfkessel, die Mädel kreischten wie die schönen bunten Papageien im Zoologischen Garten, und plötzlich rannten Mädel und Buben fuchswild auseinander. Die Gartenfreundschaft war für immer vorbei.

Annedore stand allein auf der stillen Straße. Sie weinte und dachte grollend: Die Jungen waren zu grob. Nun geh' ich auch nicht auf den Bahnhof, wenn sie abfahren.

Am übernächsten Tag aber stand Annedore dann doch an dem Zug, in den die Sternbübles stiegen, um heimzufahren, und der Abschied wurde ihr bitterschwer. Den Buben auch. Trotzdem taten sie, als wäre Abschiednehmen eine höchst vergnügliche Sache. Onkel Fritz hatte nämlich gesagt: "Buben weinen nicht auf Bahnhöfen." Und weil Mathes und Peter nicht weinen wollten, lachten sie; sie grinsten ganz fürchterlich und seufzten schwer, denn die dummen Tränen saßen ihnen schon in den Augen und wollten rinnen.

Tante Eva war ein bisschen ängstlich, das Alleinreisen gefiel ihr nicht. Sie gab allerlei Ermahnungen, aber zwei Buben, die vierzehn Tage in einer großen Stadt waren, können doch allein wer weiß wohin fahren! Mathes und Peter hatten das Gefühl, ungeheuer klug und welterfahren zu sein; sie kletterten in das Abteil hinein, wieder heraus, wieder hinein, wie zwei, die jeden Tag eine Reise tun. Doch nun ertönte ein schriller Pfiff. Der Schaffner schrie: "Einsteigen!"

Die Türen wurden zugeschlagen, der Zug setzte sich in Bewegung.

In diesem Augenblick erschien den Buben der Abschied doch eine schreckliche Sache zu sein, sie heulten laut, winkten mit den Taschentüchern, und Eva lief erschrocken am Zuge entlang. "Fallt nicht heraus, fallt nicht heraus!" mahnte sie.

Mathes und Peter fielen nicht heraus, sie hörten auch auf zu weinen, und weil es ihnen aus Kummer sehr unbehaglich ums Herz war, fingen sie an zu schmausen. Hulda hatte gut vorgesorgt, sie hatte gedacht, mit dem Vorrat können die beiden wohl bis nach Amerika reisen. Doch es langte gerade bis nach Breitenwert. Mathes schluckte just das letzte Krümchen hinunter, als die Heimatstadt vor den Blicken der beiden auftauchte.

Aller Abschiedschmerz war längst vergessen, sie freuten sich beide auf die Ankunft. Wer wohl alles am Bahnhof war, um sie einzuholen? Die Mutter sicher und Gundel dazu. Vielleicht kamen aber auch die Freunde aus der Löwengasse, Alette Amhag und die Grills. Ja, vielleicht selbst Frau Tippelmann und Herr Häferlein! Vielleicht stand der ganze Bahnsteig voll Menschen, die alle die Sternbuben begrüßen wollten, denn sicher wußten es in Breitenwert alle: "Heute kommen sie!"

Und der Silberne Stern war sicher mit einem Kranzgewinde geschmückt, und Mina hatte Kuchen gebacken, und wer nicht auf dem Bahnhof war, schaute zum Fenster hinaus; vielleicht riefen sie auch: "Hurra, sie kommen!"

Da hielt der Zug, der Schaffner rief: "Breitenwert!" Doch wenn eine Dame die Buben nicht ermahnt hätte: "Jetzt müßt ihr aussteigen, schnell, es ist nur eine Minute Zeit," die beiden wären vor lauter Ankunftsfreude sitzen geblieben.

Sie kamen aber noch zur rechten Zeit aus dem Wagen, der Zug fuhr weiter, und Mathes und Peter sahen sich um.

Es war niemand da!

Es war überhaupt ziemlich still auf dem Bahnhof. Die paar Leute, die angekommen waren, eilten fort, und schließlich entschlossen sich die Buben auch durch die Sperre zu gehen. Der Beamte nahm ihre Karten und sagte - nichts. Er wunderte sich nicht über ihre Heimkehr, es wunderte sich überhaupt niemand auf dem Bahnhof darüber. Fragend blickten die Buben jeden an; niemand fragte nach dem Woher und Wohin. Zu einer Frau, die manchmal in den Silbernen Stern kam, sagten die Buben: "Guten Tag!" Da nickte sie, sah auf ihr Köfferlein und fragte so nebenhin: "Ihr holt wohl Fremde ab?"

Ganz verdattert machten sich die Buben auf den Heimweg. Es war still im Städtchen, ganz sonderbar kam es den beiden vor. Sie trafen nur wenig Menschen auf der Gasse, und von diesen wunderte sich auch niemand über ihre Heimkehr, niemand fiel vor Erstaunen um, niemand sah die Weitgereisten ehrfürchtig an. Nun bogen sie in die Löwengasse ein. Es dämmerte schon, und auf der ganzen Gasse ging nur Bäckermeister Herings Hund spazieren. Aus der Linde und Rose kamen nicht die Kamerädles herausgestürzt, Herr Häferlein trat nicht vor seine Ladentür, Frau Tippelmann sah nicht zum Fenster hinaus. Und da war der Silberne Stern.

Kein Kranzgewinde schmückte sein großes, rundes Tor, ganz still lag das stattliche alte Haus da. Die Buben setzten ihr Köfferlein ab und sahen sich um; kam denn wirklich niemand, sie zu begrüßen? Sie wollten rufen, aber sie brachten kein Wort hervor.

Denn plötzlich erfaßte sie beide eine furchtbare Angst. Vielleicht waren alle aus Breitenwert weggezogen, gestorben oder sonst etwas. Sie ließen ihren Koffer stehen, rasten durch den Flur, rissen die Küchentüre aus und schrien: "Wir sind da!"

"Alle guten Geister! Unsere Bübles!"

"Mathes! Peter!"

Da waren die Mutter und Gundel, Mina, Käthle - alle waren da. Von einer Bank hopsten Trinle und Kasperle Grill und Alette Amhag herab, Frau Tippelmann stand auch mitten in der Küche, und alle miteinander fragten: "Aber wo kommt ihr denn auf einmal her, warum habt ihr nicht geschrieben?"

Nicht geschrieben?

Mathes griff erschrocken in seine Tasche. Da knisterte ein Brieflein; vor drei Tagen hatte er es in Leipzig in den Kasten stecken sollen. In dem Brieflein aber stand: "Wir kommen Montag!"

"Es flog ein Gänslein über den Rhein und kam als Gickgack wieder heim," sagte Frau Tippelmann.

"Zum Kuckuck, welcher Esel hat denn da draußen seinen Koffer auf der Gasse stehen lassen!" brüllte Friedrich plötzlich im Flur. Er steckte den Kopf zur Türe hinein. "Herr Baldan ist eben darüber hingefallen. So 'ne Dummheit!"

Da sah er die Buben, und plötzlich ging ihm ein Lichtlein auf. "Ihr seid 's gewesen!" rief er. "Na ja, man merkt's, gescheiter seid ihr net heimgekommen!"

Die Buben hörten es und hörten es nicht, denn die Mutter hielt sie fest umschlungen, und Gundel zerrte an ihnen herum, und beide sagten: "Gott sei Dank, dass ihr wieder da seid, wir haben uns schrecklich gebangt!"

"Wir auch!" riefen die Kamerädles alle.

"Ich auch!" sagten Mina und Käthle.

Das Heimkommen ist eben doch eine schöne Sache, selbst wenn es keinen feierlichen Empfang gibt!


7

 

 

Inhalt




Kapitel 1 - Reisepläne auf der Löwengasse

Kapitel 2 - Eine Reise, die keine Reise ist

Kapitel 3 - Die Ankunft

Kapitel 4 - Die Trostbuben

Kapitel 5 - Verloren und wiedergefunden

Kapitel 6 - Der böse Brief

Kapitel 7 - Gartenfreundschaft

Kapitel 8 - Auf der Messe

Kapitel 9 - Noch einmal die Messe

Kapitel 10 - Herr Brummerjan und der Fahrstuhl

Kapitel 11 - Die vielen Bilder

Kapitel 12 - Kasperle muß das Heimweh vertreiben

Kapitel 13 - Der Zigeuner

Kapitel 14 - Letzte Tage

 

 

 

Kapitel 1 - Reisepläne auf der Löwengasse



1

Im Silbernen Stern zu Breitenwert stand Mina in der großen Küche und wunderte sich.

Mina, die schon zwanzig Jahre in dem altberühmten Gasthaus diente, war eigentlich nie eine Minute müßig, aber jetzt stand sie am Herd, ließ die Töpfe überkochen und sagte nur immerzu: "Jemine, nein, so etwas, jemine, jemine!"

Käthle, die Zweitmagd, hielt beim Hühnerrupfen inne und sah ihre ältere Genossin verdutzt an. So ein Gewundere war ihr noch nicht vorgekommen. "Sag doch, was ist, was soll das Jeminegerufe?" fragte sie neugierig.

Da tat Mina einen kellertiefen Seufzer und sprach mit einer Stimme wie eine Brummglocke: "Unsere Bübles sollen nächste Woche verreisen!"

"Waaas?" Käthle sperrte Augen und Mund weit auf, vergaß das Hühnerrupfen und schüttelte vor Verwunderung den Kopf, als wäre sie ein Apfelbaum, von dem just ein paar Äpfel herunterpurzeln müßten.

"Ja, ja, guck mich nur net an, als wäre ich ein Gespenst!" rief Mina barsch. "Unsere Bübles verreisen - nach Leipzig."

Mina seufzte, Käthle seufzte. Mina aus Sorgen, Käthle, weil sie die Sache nicht verstand, auch nicht wußte, wo dies Leipzig lag. Auf dem Monde vielleicht! Wer konnte alle Städte in der Welt kennen. Aber schließlich schwätzte Käthle lieber als zu seufzen; sie ermahnte daher Mina: "Erzähl doch, warum müssen sie verreisen? Ist's gar eine Strafe?"

"Bewahre, eine Belohnung! Eingeladen sind sie von einer reichen, vornehmen Dame. Mathes ist ihr Patchen. Ach jemine, die kennt doch unsere Bübles net, die weiß net, was das für Stricke sind!"

"Jetzt sind sie doch brav!" rief Käthle entrüstet.

"Na, na!" Mina sah gar nicht aus, als glaube sie sehr an der Bübles Bravheit, und das war nicht nett von Mina, denn die ganze Löwengasse, in der der Silberne Stern stand, fand, die Sternbübles, Mathes und Peter Hinz, wären jetzt sehr brav. Früher, na ja, da war es etwas anders gewesen, aber seit einem halben Jahre ließ sich gegen die beiden wahrlich nichts sagen. Und jetzt behaupteten die Buben sogar, sie würden ein gutes Zeugnis aus der Schule heimbringen. Und dann durften sie reisen.

Während Mina seufzte, Käthle fragte und die Töpfe zischten und brodelten, standen die beiden Buben mitten auf der Löwengasse und erzählten ihren Kameraden von der großen Reise.

Es herbstelte schon, aber der Tag war noch warm, und die Sonne schien hell in die Löwengasse hinein. Die gute Dame freute sich einmal wieder an den schönen, alten Häusern und an den jungen, lustigen Kindern, die es in der Löwengasse gab. Sie dachte vielleicht, ich sehe doch in viele, viele Gassen hinein, aber so eine wie die Löwengasse gibt es nicht wieder. Ein bissel krumm und schmal ist sie freilich und manchmal auch etwas schmutzig, aber sie ist und bleibt doch eine liebe Gasse. Wenn ich nicht Madame Sonne wäre, weiß der Himmel, ich möchte drin wohnen! Und weil die Sonne gerade Zeit hatte und mit dem Schlafengehen noch warten wollte, blinkerte sie ein paar Kindern neckend auf den Nasen herum. Das störte die wenig; die hörten den Sternbübles zu und riefen gerade: "Reist ihr wirklich ganz alleine?"

"Freilich, freilich, ganz alleine!" Es war ein Wunder, dass Mathes und Peter nicht jeder flugs einen Meter größer wurden, so stolz reckten sie sich. Die anderen Kinder, es waren Veit, Steffen, Trinle und Kasperle Grill aus der Linde und Alette Amhag aus der Rose, neben der Gundele Hinz, der Sternbuben lahmes Schwesterchen, stand, sagten alle miteinander, so eine weite Reise, das wäre eine feine Sache.

"Und allein reisen wir!" schrien die Sternbuben noch einmal.

"Ich hab' Angst, ihr kommt net hin," rief Trinle Grill. Da seufzte Gundel gleich verzagt und klagte: "Mir ist so bang um die beiden!"

Heisa, da schauten aber Mathes und Peter gekränkt drein! "Wir kommen schon hin," schrien sie entrüstet, "und gleich schreiben wir, wenn wir da sind. Och je, wenn's doch erst so weit wäre!"

Es standen noch zwei auf der Löwengasse, die auch dem Geschwätz über die Reise zuhörten, es waren dies Herr August Baldan, Provisor in der Lindenapotheke, und der immer freundliche Herr August Häferlein, der sein Lädchen neben dem schönen alten Haus zur Rose hatte. Herr Baldan, der immer etwas grillig war, brummte über das Geschrei der Kinder, und Herr Häferlein lächelte dazu, aber plötzlich taten sie alle beide ihren Mund zugleich auf und fragten: "Sagt mal, Sternbuben, warum reist ihr gerade nach Leipzig?"

"Weil - weil -" Mathes sah Peter an und Peter sah Mathes an, und dann schrien sie wie aus einem Munde: "Weil wir da eingeladen sind."

"Na ja, aber von wem denn?" brummte Herr Baldan.

"Von unserer Pate!" Die Buben schrien es wieder zusammen. Eigentlich war Frau Geheimrat von Ringewald in Leipzig nur die Patin von Mathes, aber das nahmen die Bübles nicht so genau. Und ehe Herr Baldan nur Luft schnappen konnte zu einer neuen Frage, erzählten sie so geschwind, wie ein Hase rennt, von der Frau Pate. Furchtbar reich sei sie und furchtbar vornehm, und mal wäre sie in Breitenwert gewesen und im Silbernen Stern krank geworden. Frau Hinz, die Sternwirtin, hatte sie gut und treulich gepflegt, und weil Mathes gerade ein wunderfitziges kleines Büblein war, hatte sie viel Spaß an ihm gehabt und hatte den Kleinen noch am Tage vor ihrer Abreise aus der Taufe gehoben. Und alle Jahre zu Weihnachten kam eine Kiste mit Spielsachen drin, aber selbst war die Frau Patin nie wieder in Breitenwert erschienen. "Aber jetzt hat sie geschrieben, wir sollen kommen," rief Peter, und Mathes fügte stolz hinzu: "Sie möcht' uns arg gern kennenlernen!"

"Na, die wird sich schön wundern, wenn ihr zwei Löwengäßler ankommt!" brummte Herr Baldan. Der hatte heute Regenwetterlaune, aber den Sternbuben verdarb er mit seinem Gebrumme nicht ihre purzelvergnügte Sonnenscheinlaune. Die beiden schwätzten so lustig weiter, als säße der grillige Herr Baldan irgendwo auf dem Glasberg im Märchen. Sie zählten die Tage bis zur Abfahrt und berichteten allerlei furchtbar wichtige Dinge; so sagte Mathes: "Wir kriegen neue Hösle."

"Ja, und neue Hüte und neue Schuhe," schrie Peter.

"Alles neu, sogar neue Sacktüchles!" Dabei fiel es Mathes ein: ein Sacktuch kann man manchmal brauchen; er fuhr in seine Tasche und brachte ein schwärzliches, zusammengeklebtes Lappending zum Vorschein.