Umschlag

Brigitte Glaser, geboren 1955 in Offenburg, wuchs im Badischen auf. Sie studierte in Freiburg Pädagogik und wechselte nach Köln, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt. Seit 2001 erscheint ihre Krimiserie »Tatort Veedel« im Kölner Stadt-Anzeiger.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-654-6
Der Badische Krimi
Originalausgabe

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Die Küche meiner Mutter war die Hölle.

Lustlos warf ich die zehnte Portion Fritten ins Fett und drehte die Wiener in der Pfanne um. Lange würde ich hier auf keinen Fall bleiben. Wieso nur hatte ich mich breitschlagen lassen, in dieser Schnitzelküche zu arbeiten? Ich schüttelte die Pommes. Das Frittenfett dampfte mir entgegen, setzte sich auf Haut und Haaren fest. Seit ich hier arbeitete, wurde ich den Geruch nicht mehr los.

»Hier, deine Salate!«

Wie Stockscheiben übers Eis schob Carlo drei Salatbeilagen über den Pass. Sie landeten exakt vor der Durchreiche zur Wirtschaft.

Ich stellte die Teller mit Pommes und Schnitzel daneben und signalisierte Erna mit der kleinen Glocke, dass sie servieren konnte.

Meine Mutter hatte sich ein Bein gebrochen und mich von Köln zurück in die badische Provinz beordert. Sie verstand es, meinen verwirrten Seelenzustand gnadenlos auszunutzen. Unter normalen Umständen hätte ich herumtelefoniert und einen Kollegen gebeten, für ein, zwei Monate in der Linde auszuhelfen, wäre auf gar keinen Fall selbst gekommen. Aber die Morde im Goldenen Ochsen hatten mich ziemlich durcheinander gebracht.

»Drei Elsässer Wurstsalat, zwei Restaurationsbrote!«

Erna steckte ihr rundes Gesicht durch die Durchreiche und schnaufte. Sie war alt geworden seit meinem letzten Besuch.

Ich holte Lyonerwurst und Emmentaler aus dem Kühlschrank und wies Carlo an, Essiggurken und Gemüsezwiebeln klein zu schneiden. Es war schon eine Erleichterung, wieder halbwegs schlafen zu können und nicht mehr Nacht für Nacht von erstochenen oder tiefgefrorenen Leichen zu träumen. Nach Spielmanns Tod wäre es klug gewesen, weit wegzugehen … Nur hatte ich mich nicht dazu durchringen können. In meinem weißen Zimmer in Adelas Wohnung hockend, starrte ich wochenlang die Decke an. Bis meine Mutter anrief.

»Was sind eigentlich Restaurationsbrote?«, wollte Carlo wissen.

»Ein Überbleibsel aus der Nachkriegszeit.«

Carlo sah mich verständnislos an.

»Du nimmst eine große Scheibe Brot, bestreichst diese dick mit Butter und legst dann mindestens ein Viertelpfund Wurstaufschnitt darauf. Das Ganze garnierst du mit Essiggurken, Zwiebelringen und Tomatenachteln. Und als Krönung, Carlo, steckst du ein paar Salzstangen in die Wurstberge!«

»Und so was schmeckt?« Carlo verzog angewidert die Mundwinkel.

»Nach Krieg und Hungerjahren waren die Menschen ganz scharf auf dick belegte Brote, fette Speisen und üppige Portionen. Und diese Art Küche pflegt meine Mutter bis heute, ihre ganze Küche ist eine Art Restauration, konservativ bis zum Gehtnichtmehr, seit mindestens zwanzig Jahren hat sie kein neues Gericht auf die Karte gesetzt. Deshalb gibt es auch noch diese blöden Restaurationsbrote!«

»Na ja, solang’s verlangt wird«, meinte der schlaksige Italiener pragmatisch.

»Mensch, Carlo«, regte ich mich auf. »Das ist doch langweilig. Kochen wird doch erst spannend durchs Ausprobieren! Man kann den Gästen nicht immer das Gleiche vorsetzen, man muss sie mit neuen Speisen, neuen Kombinationen, neuen Genüssen überraschen. Das ist die Kunst des Kochens!«

»Katharina! Wo bleiben die Elsässer?« Erna drängelte an der Durchreiche.

»Apropos Neues ausprobieren.« Carlo streute seine Zwiebelringe über meine Wurstsalathaufen. »Seit Tagen versprichst du, mir das Geheimnis einer richtigen Meerrettichsoße zu verraten. Wann kochen wir die endlich?«

»Sowie der Jörger Metzger einen wirklich gut abgehangenen Tafelspitz hat«, versprach ich ihm und schob Erna den letzten Wurstsalat hin.

Eine Stunde später blitzte die Küche sauber, und wir zwei machten Feierabend. Carlo schnappte sich sein Skateboard und verabredete sich per Handy mit einem Kumpel in der Disco Illenau. Ich begleitete ihn zur Tür. Draußen fiel feiner Nieselregen, hüllte gegenüber Schule und Rathaus ein. Zwischen Fahrradständern und Schulhofmauer sammelte sich das erste Herbstlaub. Für Anfang Oktober war es noch erstaunlich mild, aber der Regen, das war deutlich zu spüren, würde kühlere Temperaturen mit sich bringen. Ich sah Carlo nach, wie er auf seinem Skateboard an der Autowerkstatt vorbei zur B 3 rollte. Dann schlenderte ich in die Gaststube, holte mir hinter dem Tresen ein gut gekühltes Rothaus Tannezäpfle und setzte mich neben meinen Vater auf die Bank vor dem grünen Kachelofen. Jetzt, so kurz vor Mitternacht, war die Gaststube fast leer, nur aus dem Nebenzimmer drang noch Gemurmel, und dieses schwoll manchmal zu einem ordentlichen Lärm an.

»Wählt der Gesangsverein Eintracht einen neuen Vorsitzenden?«, fragte ich meinen Vater und nahm einen Schluck Bier.

Er schüttelte den Kopf.

»Das ist die Bürgerinitiative Legelsau.«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Die sind gegen diese Indoor-Skihalle, die beim Breitenbrunnen gebaut werden soll.«

Der Alte zog kräftig an seiner Brissago. Seine roten Haare, die ich von ihm geerbt habe, waren in den letzten Jahren weiß geworden, und seine vielen Sommersprossen versteckten sich zwischen immer mehr Falten.

»Indoor-Skihalle?«

»Ja. Im Ruhrgebiet gibt’s so was schon. Eine riesige Halle, in der mit Strom und Wasser Kunstschnee erzeugt wird. Da kannst du sogar im Sommer Ski fahren! So was will die Gemeinde Sasbachwalden jetzt mitten in den Schwarzwald bauen. Seit das bekannt ist, ist hier in der Gegend der Teufel los.«

»Und es hat sich tatsächlich sofort eine Bürgerinitiative formiert? Das ist doch ganz untypisch für die gemütlichen Badener. So kämpferisch ist man hier doch gar nicht.«

»Sag das nicht!« Der Alte sah mich mit seinen wachen Augen an. »Wenn’s drauf ankommt, können wir Badener auch kämpfen. Denk an 1848! Denk an den Protest gegen das geplante AKW in Wyhl!«

»Und du hast ihnen das Nebenzimmer als Tagungsort zur Verfügung gestellt?«

»Irgendwo müssen sie doch hin, oder? Ein bisschen was verdienen tun wir auch dabei!«

Er paffte jetzt kleine Rauchkringel in die Luft, und über seine Lippen huschte ein ganz leichtes Lächeln. Vor Jahren schon hatte er den örtlichen Grünen sein Nebenzimmer zur Verfügung gestellt. Und die Jungsozialisten waren nur rausgeflogen, weil sie mit ihren Diskussionen nie ein Ende gefunden hatten. Für einen badischen Dorfwirt war mein Vater erstaunlich liberal.

»Weiß sie’s?« Ich deutete nach oben.

Im ersten Stock lag meine Mutter mit ihrem Gipsbein. Wir schauten beide zur Decke. Als hätte sie geahnt, dass wir über sie sprachen, ertönte prompt ein Klopfen. Wenn Martha etwas brauchte oder ihr langweilig war, klopfte sie mit dem Stock. Das Klopfen wurde schneller und heftiger, eilte man nicht sofort zu ihr. Wenn alles Klopfen nichts nutzte, fing sie an zu brüllen, dass die Biergläser auf den Tischen wackelten. Krank war sie nicht weniger tyrannisch als gesund.

»Ich geh schon«, seufzte ich und machte mich auf den Weg nach oben.

»Französischer Fluss mit fünf Buchstaben?«

Seit sie mit dem gebrochenen Bein liegen musste, löste meine Mutter Kreuzworträtsel wie am Fließband, etwas, das sie zuvor nie interessiert hatte. Mit ihrem mächtigen Körper, den ich leider von ihr geerbt hatte, thronte sie in einem lächerlichen mädchenrosa Nachthemd in einem Berg von Kissen. Ihr rechtes Bein war bis zum Oberschenkel vergipst und hing an einem Haken. Noch mindestens eine Woche durfte sie es auf keinen Fall bewegen! – Still liegen zu müssen war sicherlich für die meisten Menschen eine Tortur, aber für Martha, die es gewohnt war, über einen Gasthof zu herrschen, die Hölle.

»Loire«, sagte ich.

»Passt nicht, in dem Wort ist ein ›a‹ drin.«

Ihr Bett stand in der Mitte des Zimmers. Eine Stunde lang hatten mein Vater und ich das Krankenlager im Zimmer hin und her geschoben, bis es den für sie idealen Standort hatte. Jetzt blickte sie auf Zimmertür und Treppe, konnte aber auch genau beobachten, was an der Kreuzung B 3 und Talstraße passierte.

»Hast du wegen dem französischen Fluss geklopft?«

»Ich muss mal!«

Sie deutete auf die Bettpfanne, die auf einem Schemel am Bettende stand.

Das war der für uns beide unangenehmste Aspekt ihrer Krankheit. Zum wiederholten Male mühte ich mich ab, ihr das Teil unter den gewaltigen Hintern zu schieben. Im Krankenhaus wäre so etwas alles viel einfacher zu bewerkstelligen, aber Martha hatte sich auf eigene Verantwortung entlassen. Ganz selbstverständlich ging sie davon aus, dass ich nicht nur als Köchin einsprang, sondern ihr gleichzeitig noch als Krankenschwester diente.

»Wer tagt denn heut Abend im Nebenzimmer?«, fragte sie, nachdem ihr »Geschäft« erledigt war.

»Die Bürgerinitiative Legelsau.«

»Wie oft habe ich dem Vater schon gesagt, er soll sich aus der Politik raushalten!«, murrte sie. »Aber er hört nicht auf mich! Als Wirt darf man nicht in der Politik mitmischen. Da muss man neutral bleiben!«

Ich sammelte das schmutzige Geschirr ein, das sich im Laufe des Tages angesammelt hatte, und wandte mich zur Tür.

»Ab morgen setz ich ein Tagesgericht auf die Karte. Gehobene badische Küche. Ich hab’s satt, immer nur deine alte Speisekarte rauf und runter zu kochen!«

Bevor sie antworten konnte, machte ich die Tür hinter mir zu und stieg eilig nach unten.

Dort hatten jetzt die Hallengegner ein Ende gefunden. Langsam leerte sich der Nebenraum. Ein großer Mann mit Seehundschnauzer wurde auf dem Weg nach draußen von vielen umringt.

»Wer ist das?«, fragte ich meinen Vater.

»Das ist Konrad Hils, der Wortführer der Hallengegner, der José Bové des Achertals.«

Der Mann sah zu uns herüber und hob die Hand zum Abschied. Seine Augen waren so blau wie die von Robert Redford. Als er mich sah, stutzte er kurz, dann kam er auf mich zu.

»Bist du Katharina?«, fragte er und streckte mir die Hand hin. »Ich bin Konrad, der Mann von Teresa. – Ich hab viel von dir gehört.«

Teresa, meine Sandkasten-Freundin! Ihr letztes Lebenszeichen war die Einladung zu ihrer Hochzeit gewesen, zu der ich nicht kommen konnte. Wann war das? Vor drei Jahren? Oder vor fünf?

»Wenn ich Teresa erzähle, dass du zu Hause bist, wird sie sich wahnsinnig freuen!«

Konrad schüttelte mir kräftig die Hand und strahlte mich an. Die anderen Mitglieder der Bürgerinitiative drängten nach draußen.

»Anna!«, rief Konrad einer schwarzhaarigen Frau nach. »Ich nehme dich mit bis Kappelrodeck. Ich komme sofort. – Ich hoffe, wir sehen dich bald mal in der Legelsau«, sagte er zu mir und folgte den anderen nach draußen.

»Wieso heißt die Bürgerinitiative Legelsau?«, fragte ich meinen Vater, während ich Erna half, die Gläser aus dem Nebenraum zum Tresen zu schaffen.

»Weißt du nimmer, wo die Legelsau ist? Bist du so lang in der Fremde gewesen, dass du dich nicht mehr erinnerst?« Mein Vater schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Legelsau ist das schmale Tal zwischen Sasbachwalden und Seebach. Oberhalb davon wollen die Sasbachwaldener die Skihalle bauen.«

Der Alte leerte die vollen Aschenbecher in den Müll und pinselte sie danach sauber.

»Die Legelsauer befürchten, dass durch die große versiegelte Fläche, die mit dem Bau der Halle entsteht, an regenreichen Tagen das Wasser nicht mehr versickern kann und der Grimmersbach dann die Legelsau überschwemmt.«

»Und Teresa wohnt jetzt da?«

»Ja. Im Häusl von ihrem Großvater.«

»Hast du sie mal gesehen in letzter Zeit?«

»Sie hat einen Blumenladen in der Kirchstraße in Achern.«

»Oje«, seufzte Erna und ließ ihren kleinen runden Körper auf die Ofenbank sinken. »Da drin ist es heute heiß hergegangen, das kann ich euch sagen. Der Träuble und der Hils haben sich furchtbar in die Wolle gekriegt. Es hat nicht viel gefehlt, und sie wären aufeinander losgegangen, zwei sonst so gebildete Mannsbilder …«

Ich sagte schnell gute Nacht, denn Erna würde sich jetzt mindestens noch eine halbe Stunde die Last des Tages von der Seele reden. Heute reichte mir meine eigene Last. Ich hoffte auf einen traumlosen Schlaf.

*

Von den Kirschbäumen, die auf sanften Hügeln entlang der L 87 wuchsen, erkannte man bei dem Regen nur die dicken, schwarzen Stämme.

Der seit Tagen fallende Regen hatte nicht dazu beigetragen, meine Stimmung zu verbessern. Einzig ein Anruf von Teresa war ein Lichtblick in diesen trüben Tagen gewesen. Sie hatte mich zu einem Besuch in der Legelsau eingeladen. Dahin war ich an meinem freien Tag unterwegs.

Die Weinberge von Waldulm und Kappelrodeck verschwanden völlig in dem grauen, bleischweren Regenhimmel. Der Scheibenwischer meines altersschwachen Fiat Punto mühte sich mehr schlecht als recht mit den Wassermassen ab, und das Gebläse des Wagens bekam die beschlagenen Scheiben nicht frei. Die heruntergekommenen Häuser in Furschenbach, in denen die Gemeinde Kappelrodeck ihre Asylanten unterbrachte, sahen bei Regen noch trostloser aus als üblich. In der scharfen Linkskurve hinter Ottenöfen hielt ich den Wagen mit Mühe auf der Fahrbahn. In Seebach bog ich beim Gasthaus Hirschen zum Grimmerswald ab. Der Himmel verstärkte seine Anstrengungen, immer größere Wassermassen auf mein kleines Auto zu schütten. Der Fiat keuchte mit Tempo zwanzig den Berg hoch. Ich hoffte inständig, dass er nicht hier und jetzt seinen Geist aufgab. Beim Gasthaus »Zum Grünen Baum« tauchte wie aus dem Nichts ein schwarzer Lada Niva auf und schoss mit halsbrecherischem Tempo auf mich zu. Blitzschnell registrierte ich, dass weder ich noch mein Fiat einen Zusammenstoß mit diesem Schwergewicht überleben würden, und lenkte den kleinen Italiener geistesgegenwärtig auf den Parkplatz des Gasthauses. Als meine Hände nicht mehr zitterten, fuhr ich weiter. Es war jetzt nicht mehr weit. Die nächsten hundert Meter säumten gestapelte Baumstämme die Straße, deren Duft durch die geschlossenen Fenster drang. Ich mochte diesen Geruch. Nur wenige Dinge riechen so gut wie frisch geschnittenes, nasses Holz! Das Holz war schon immer eines der wenigen Reichtümer des Schwarzwaldes gewesen. Früher hatte man es in der Rheinebene gegen Getreide und Obst getauscht, heute wurde es in vielen Sägereien vor Ort verarbeitet. Hinter der Sägerei Börsig bog ein schmaler Weg rechts ab. Jetzt war ich in der Legelsau. Es ging steil bergan. Das Rauschen des nahen Grimmersbachs übertönte den Regen. Die hohen, dunklen Tannen ächzten unter der Wasserlast. Als ich minutenlang an keinem Gehöft mehr vorbeigekommen war und der Wald immer dichter wurde, schmiegte sich am Fuß des Brandkopfes ein alter Bauernkaten an den Berg. Davor parkte ein Renault-Kastenwagen mit der Aufschrift »Blumen Hils«. In dieser Einöde also hatte Teresa ihr neues Zuhause gefunden.

Beim Aussteigen peitschte mir eine kräftige Windböe einen Schwall Wasser ins Gesicht. Die Luft roch nach Tanne und Moos, und außer dem Plätschern des Regens und dem Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Eine Klingel gab es nicht, und so trat ich direkt in einen großen Raum, in dem Küche, Wohnzimmer und Büro ineinander übergingen und der im Moment vor allem eines war: ein einziger Saustall.

»Teresa?«

Das Sofa stand auf dem Kopf, Bücher lagen achtlos vor einem umgestoßenen Regal. Neben dem Schreibtisch türmten sich wahllos geöffnete Aktenordner. Schubladen waren durchwühlt und deren Inhalt auf den Boden geworfen worden. Teresa tauchte hinter dem Küchentisch auf, ein paar Sonnenblumen festhaltend.

»Sogar meine Blumen haben sie umgeschmissen, die gemeinen Hunde!«

Obwohl sie genau wie ich Mitte dreißig war, hatte sie noch den schlanken, knabenhaften Körper, um den ich sie in unserer Schul- und Lehrzeit immer beneidet hatte. Sie trug immer noch Jeans. Aber das dunkelblonde Haar war jetzt viel kürzer, gerade mal streichholzlang. Die langweilige Farbe hatte sie mit kräftigen gelben Strähnen aufgepeppt.

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung. Ich bin erst vor ein paar Minuten heimgekommen und hab dieses Chaos vorgefunden.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie am ganzen Körper zitterte.

»Sieht nach einem Einbruch aus.«

»So was hat’s hier noch nie gegeben. Unsere Haustür steht immer auf, genau wie die von den anderen Häusern im Tal. Hier muss man nicht absperren. Das ist nicht so wie in der Stadt.«

Immer wieder sah sie sich im Raum um, als läge hier irgendwo die Erklärung für dieses Durcheinander versteckt. Dann kam sie auf mich zu und streckte mir beide Hände entgegen.

»Ich hab mich so auf ein Wiedersehen mit dir gefreut, Katharina, und jetzt kann ich dir nur einen so furchtbaren Empfang bieten!«

Ihre Hände waren rissig, schrundig und rau, das Ergebnis täglicher Arbeit mit Topfpflanzen, Blumen und Wasser. Ich drückte sie fest.

»Hast du schon die Polizei angerufen?«

»Klar. Aber das dauert, bis die von Achern hier oben sind. Konrad müsste aber bald hier sein. Der will heute brennen, hat heute Mittag schon den Ofen angefeuert. Ich frage mich, wo er bleibt.«

Sie ließ mich los und tigerte unruhig durch den Raum.

»Ist was verschwunden?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern, lief in die Küchenecke und kam mit einer Blechdose zurück.

»Auf Bargeld waren die Einbrecher nicht aus. Hier schau, zweihundert Euro, unser Haushaltsgeld. Das haben sie liegen lassen.«

Der Computer lief, und der Schreibtisch sah besonders durchwühlt aus.

»Fehlt da was?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht. Der gehört Konrad.«

Draußen hielt jetzt ein Auto, und jemand stapfte eilig auf das Haus zu.

»Da ist er ja«, sagte Teresa erleichtert und ging auf Konrad zu.

Die blaue Baseballmütze auf seinem Kopf war vom Regen durchweicht, sein Seehundschnauzer triefte vor Nässe.

»Herrgott, Sakramoscht!«, fluchte er, als er das Durcheinander sah.

Hinter ihm tauchte ein vielleicht siebzehnjähriger Junge mit breiten Schultern und blassem Gesicht auf und sah sich ängstlich um.

Konrad untersuchte sofort seinen Schreibtisch. Hektisch öffnete er ein paar Dateien auf seinem Rechner. Der Junge blieb am Eingang stehen, kramte ein Erdbeerbonbon aus der Jackentasche und steckte es in den Mund. Von seiner Baseballmütze tropften dicke Wassertropfen auf die Tastatur.

»Zieh deine Schuhe aus, Vladimir. Und Konrad, du auch!«, sagte Teresa. »Du machst mir hier die ganze Wohnung nass.«

Der Junge tat wie geheißen, aber Konrad schien sie gar nicht gehört zu haben. Er untersuchte jetzt die durchwühlten Schreibtischschubladen.

»Ist was weg, Konrad? Was haben die Diebe auf deinem Computer gesucht? Hat das Ganze etwas mit dieser verfluchten Skihalle zu tun?«

Teresa ging zu ihm und berührte ihn an den Schultern.

»Keine Ahnung«, murmelte er, ohne von den Schubladen aufzublicken.

Draußen hielt jetzt wieder ein Wagen. Ich lugte durch das Fenster. Ein grün-weißer Passat. Die Polizei hatte den Weg in die Legelsau gefunden. Die zwei Beamten streiften sorgfältig die Füße ab, bevor sie eintraten. Den älteren zierte eine Minipli-Frisur, der jüngere hatte sich eine Glatze rasiert.

»Scheißwetter«, sagte die Minipli.

»Schöne Bescherung«, die Glatze.

»Wie sind die Diebe ins Haus gekommen?«, fragte der Ältere und zückte einen Schreibblock.

»Durch die Haustür«, sagte Teresa. »Die ist nie abgeschlossen.«

»Na prima!«, schnaubte die Glatze. »Das ist ja wie eine Einladung. Eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Die Hausratversicherung zahlt bei so was keinen Pfennig.«

Er ließ sich von Teresa durch den Raum führen und begutachtete wortlos den entstandenen Schaden.

»Was ist entwendet worden?«, fragte er zum Schluss.

Die Minipli machte sich irgendwelche Notizen.

»Konrad?« Teresa blickte ihren Mann gleichzeitig fragend und herausfordernd an.

»Ich kann nichts feststellen!« Er zuckte mit den Schultern.

Ich sah Teresa an und dann Konrad. Die beiden hielten sich mit Blicken fest. Teresa glaubte ihrem Mann nicht, das konnte ich deutlich sehen. Log Konrad die Polizei an?

»Also Vandalismus«, notierte der Ältere.

»Haben Sie Feinde?«, fragte die Glatze und sah unter das umgestürzte Sofa.

»Jede Menge«, sagte Konrad und verließ jetzt seinen Schreibtisch. »Ich bin der Sprecher der Bürgerinitiative Legelsau.«

»Oje«, sagte die Minipli und vertiefte sich in ihre Schreibarbeit.

»Gibt es jemanden, den Sie konkret verdächtigen?«, fragte der andere und klopfte mit seinen Händen unruhig auf den Rücken.

»Fragen Sie den Bürgermeister von Sasbachwalden. Fragen Sie die Chefin vom Höhenhotel Breitenbrunnen. Fragen Sie den Vorsitzenden vom Acherner Skiclub. – Soll ich die Liste fortsetzen?«

Konrad sah die beiden Herren herausfordernd an.

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass der Bürgermeister von Sasbachwalden fremde Häuser durchwühlt.« Der Polizist fixierte Konrad eisig.

»Dem trau ich noch ganz andere Sachen zu«, gab der zurück.

»Das hilft uns jetzt in der Sache nicht weiter«, beeilte sich der ältere Beamte die Situation zu entschärfen. »Hat einer von Ihnen noch sachdienliche Hinweise?«

»Auf dem Hinweg hat mich beim ›Grünen Baum‹ ein schwarzer Lada Niva fast umgefahren«, sagte ich. »Kann sein, der kam aus der Legelsau.«

»So ein großer Geländewagen?«, fragte Teresa.

Ich nickte.

»Der ist mir kurz vor der Sägerei entgegengekommen.«

»Kennzeichen?«, fragte die Minipli.

Hatte sich keine von uns gemerkt.

»Wir fahren jetzt bei Ihren Nachbarn vorbei. Vielleicht ist denen etwas aufgefallen. Wir tun, was in unserer Macht steht, um die Randalierer dingfest zu machen.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, murmelte Konrad, als er das Protokoll unterschrieb.

Die Herren verabschiedeten sich kurz und knapp.

»Scheißwetter«, sagte der Ältere noch mal, als sie nach draußen in den Regen traten.

Stumm starrten wir alle den Polizisten nach. Als der Wagen gewendet hatte und aus dem Hof gefahren war, scheuchte Teresa Konrad unwirsch vom Sofa, wuchtete das Möbelstück hoch und stellte es an seinen Platz. Das Gleiche tat sie mit den beiden Sesseln. Als Nächstes war das Regal an der Reihe.

»Vladimir!«

Sie machte dem Jungen ein Zeichen, dass er ihr helfen solle, und schob mit seiner Hilfe das Regal an seinen Platz. Jetzt eilte sie in die Kochnische, griff sich eine Vase aus einem der Oberschränke und stellte die Sonnenblumen hinein. Konrad stand währenddessen wie angewurzelt mitten im Raum. Sie beachtete ihn überhaupt nicht und fing jetzt an, die Bücher wieder in das Regal zu stellen.

»Was soll das Theater?«, platzte Konrad schließlich heraus.

Wortlos räumte Teresa weiter Bücher ein. Vladimir verzog sich mit einem neuen Erdbeerbonbon in eine Sofaecke. Konrads Robert-Redford-Augen glänzten wütend. Endlich drehte sich Teresa zu ihm um.

»Was fehlt von deinen Schreibtischsachen? Welche Dateien auf deinem Rechner sind durchsucht worden? Warum lügst du die Polizei an? Warum erzählst du nichts von den anonymen Anrufen? Was hast du für Geheimnisse?«

Sie sagte das leise, fast bedächtig, jedes Wort abwägend. Während unserer gemeinsamen Zeit hatte ich mich mit Teresa oft genug gestritten, um zu wissen, dass sie, wenn sie so redete, auf hundertachtzig war. Auch Konrad wusste das. Zudem war es ihm sichtlich unangenehm, dass ich Zeugin dieser Szene war. Er schickte mir ein verrutschtes Lächeln und sagte dann:

»Mein Fotoapparat fehlt, und alle Fotos, die ich in den letzten zwei Monaten von dem Gelände gemacht habe, auf das die Skihalle gebaut werden soll.«

»Und warum sagst du das nicht?«

Teresa ging auf ihn zu und funkelte ihn an.

»Glaubst du wirklich, dass die nach meinem Fotoapparat suchen?«, wehrte sich Konrad. »Außerdem bin ich nicht sicher, ob ich ihn nicht in der Schule habe. Ich mach mich doch nicht lächerlich und sage, er ist geklaut, und morgen finde ich ihn im Lehrerzimmer.«

Er löste sich jetzt aus seiner Erstarrung, ging zum Schreibtisch und begann, die Schubladen zu schließen.

»Und die Fotos? Wenn die Fotos weg sind, heißt das doch, dass einer von der Skihallen-Mafia sie geklaut hat! – Wenigstens das hättest du den beiden sagen sollen. Das ist doch was Konkretes, nach dem die suchen können.«

Teresa stellte sich neben ihn an den Schreibtisch.

»Wegen der paar Fotos treten die keinem von denen auf die Füße, das kannst du mir glauben. Ganz davon abgesehen, dass sie da bestimmt nichts finden würden.«

Konrad stellte seine Aktenordner in Reih und Glied auf eine Ablage neben seinem Schreibtisch.

»Zudem habe ich Kontaktabzüge und Negative in der Schule gelassen. Sprich, ich kann die Fotos jederzeit nachmachen lassen.«

Erst jetzt sah er seine Frau direkt an, hörte mit den Aufräumarbeiten auf und ging auf Teresa zu.

»Außerdem habe ich dir immer gesagt, dass es ein harter Kampf wird, diese Skihalle zu verhindern. Und mit so was«, er deutete auf das übrige Chaos und nahm sie in den Arm, »kriegen die mich nicht klein. Also, Kopf hoch. Wir schaffen das schon.«

Teresa seufzte tief und sagte dann: »Räumen wir auf!«

Konrad sah auf die Uhr. »Verflucht, schon vier Uhr. Ich muss in die Brennküche. Der Ofen ist jetzt heiß genug, ich muss das Kirschwasser brennen! Ich helf dir nachher. Vladimir, komm, sonst schaffen wir das heute nicht mehr. Um acht müssen wir fertig sein!«

Der Junge kroch aus seiner Sofaecke und folgte Konrad nach draußen.

»Wieso brennt Konrad Schnaps? Der ist doch Lehrer an der Berufsschule, oder?«, fragte ich, als wir allein waren.

»Es ist sein Hobby. Auf dem Hof lag ein Brennrecht, das konnten wir übernehmen, nachdem mein Großvater mir das Haus vererbt hatte. So hat das angefangen. Du weißt, man muss jedes Brennen beim Zoll in Stuttgart anmelden und bis acht Uhr abends damit fertig sein. – Aber schön ist es nicht, dass ich jetzt hier alleine Ordnung schaffen muss.«

Teresa räumte schon wieder Regale ein.

»Soll ich was kochen?«, fragte ich.

»Ein Kaffee wär nicht schlecht!«

Ein winziges, sanftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, bevor sie sich in weitere Aufräumarbeiten stürzte. In der Kochnische stand eine dieser üblichen Kaffeemaschinen. Ich füllte Wasser in den Tank und löffelte Kaffeepulver in die Filtertüte. Dieser Teil der Wohnung schien die Einbrecher nicht sonderlich interessiert zu haben. Zwar standen alle Schranktüren auf, aber weder Geschirr noch Töpfe waren herausgerissen worden. Im Kühlschrank fanden sich Wurst und Käse in Plastikhüllen, eine Diätmargarine, einige Fruchtjoghurts und ein Rest Butter. Meine Leidenschaft fürs Kochen hatte Teresa nie geteilt. Daran schien sich nichts geändert zu haben. Als ich allerdings das Gemüsefach herauszog, fand ich etwas ganz Wunderbares: frische Steinpilze.

»Wo hast du die her?«, fragte ich und stellte ihr einen Kaffee ins Regal.

»Von Hilde, meiner Nachbarin. Die kennt sich hier im Wald aus wie keine zweite. Jedes Jahr findet sie die schönsten Pilze.«

Teresa wischte mit einem Staubtuch das Regal blank. Sie hatte es schon vollständig eingeräumt.

»Hast du Kartoffeln, Knoblauch und Salbei im Haus?«, wollte ich wissen.

»Kartoffeln im Keller. Knoblauch weiß ich nicht. Im Garten steht ein Salbeistrauch. – Willst du etwa wirklich kochen?« Sie sah mich ungläubig an.

»Du weißt, dass ich nichts lieber tue. Und nach so viel Aufregung ist nichts tröstlicher als eine warme Mahlzeit.«

»Teresa!«, rief Konrad von draußen und steckte den Kopf durch die Tür. »Weißt du, wer mir das Maischefass vor die Brennküche gestellt hat?«

»Welches Fass?«

Sie zog sich Gummistiefel an und trat nach draußen. Ich folgte ihr. Der Regen hatte nachgelassen, dafür pfiff der Wind umso heftiger über den Hof. Es dämmerte bereits, und die schwarzen Tannen hinter dem Haus wogten mächtig hin und her. Neben der Brennküche, einem kleinen, hell erleuchteten Nebengebäude, beugte sich Konrad über ein großes blaues Plastikfass. Das Fass hatte einen Deckel, in dessen Mitte sich eine mit einem Korken verschlossene Öffnung befand. Konrad entfernte vorsichtig den Korken und steckte seine Nase in das kleine Loch.

»Kirschen, Wildkirschen, und was für welche!«, schwärmte er. »Die Maische ergibt einen Spitzenschnaps! Wollt ihr mal riechen?«

Teresa schüttelte den Kopf, aber ich war neugierig. Im ersten Moment überwog der Geruch von Vergorenem. In dem Fass befand sich schließlich nichts anderes als Kirschen, die durch Zusetzung von Hefe ihren Fruchtzucker in Alkohol verwandelt hatten. Aber hinter dem säuerlichen Geruch konnte man ein wunderbares Kirscharoma riechen. Ich verstand nicht viel vom Brennen, doch dem Geruch nach teilte ich Konrads Auffassung. Aus dieser Maische konnte ein großer Brand entstehen.

»Ich habe keine Ahnung, wer dir das Fass vor die Tür gestellt hat«, sagte Teresa. »Als ich nach Hause kam, habe ich nicht drauf geachtet. – Heute passieren hier wirklich seltsame Dinge. Richtig unheimlich!«

Sie rieb sich fröstelnd die Arme.

»’s wird sich aufklären«, murmelte Konrad. »Vladimir, komm! Das Fass muss nach drinnen! Die Kirschmaische brennen wir beim nächsten Mal. Vielleicht hat sich bis dahin der großzügige Spender gemeldet.«

Er machte dem Jungen ein Zeichen, und gemeinsam rollten sie das schwere Fass in die Brennküche.

»Wer ist der Junge?«, fragte ich Teresa beim Zurückgehen.

»Ein Schüler von Konrad, ein Russlanddeutscher. Einer, der’s schwer hat. Konrad hat ihn unter seine Fittiche genommen. Vladimir fragt Konrad immer, ob er kommen und bei uns helfen kann. Alle Feldarbeiten, überhaupt alle landwirtschaftlichen Arbeiten, macht der Junge gern.«

Teresa verschwand schnell im Garten und kam mit einem Zweig Salbei zurück.

»Dann koch ich jetzt mal«, sagte ich, und Teresa nickte.

Während ich aus Kartoffeln, Salbei, Knoblauch und Pilzen ein »Geröstl«, wie die Österreicher sagen, zauberte, vollendete Teresa ihre Aufräumarbeiten. Ich stellte das Essen auf den Tisch. Der große Raum strahlte Ruhe und Sauberkeit aus. Erst jetzt sah ich, mit welcher Liebe er renoviert und eingerichtet worden war. Der helle Dielenboden bot einen großartigen Kontrast zu den schwarzen, alten Holzbalken, die das Häuschen trugen. Die schlichten Kiefernmöbel passten wunderbar hier rein, auch die vielen Grünpflanzen, die den Raum auflockerten. Überall fanden sich liebevoll ausgesuchte Kleinigkeiten: Blumenvasen aus Terrakotta, alte Schmalztöpfe, gerahmte Aquarell-Bilder von Rosen und Narzissen und lustige Tonfigürchen. Teresa und Konrad hatten sich ein richtiges Nest gebaut.

»Wie lang seid ihr jetzt schon verheiratet?«, fragte ich Teresa beim Essen.

»Fünf Jahre. Schade, dass du nicht zur Hochzeit kommen konntest!«

»Das wär ich gern, aber die Einladung kam zu spät. Das war in der Zeit, als ich von Paris nach Palermo gewechselt bin.«

»Ja, du bist viel herumgekommen.«

»Kann man sagen. Straßburg. Paris. Palermo. Wien. Brüssel. Und zum Schluss Köln.«

»Bist du auch verheiratet?«

»Nein.«

Wenn man mich auf das Thema Liebe anspricht, klingeln bei mir Dutzende von Alarmglocken. Normalerweise reagiere ich dann sehr kurz angebunden, aber Teresa war eine alte Freundin, also fügte ich hinzu: »Es gibt einen Wiener Koch, Ecki Matuschka. Aber der kocht noch bis nächstes Frühjahr in Bombay«

»Hast du nicht furchtbare Sehnsucht nach ihm?«, wollte Teresa wissen.

»Es hält sich in Grenzen.«

Ich lächelte gequält. Teresa sah mich offen an.

»Du brauchst nicht darüber zu reden, wenn du nicht willst. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Aber in all den Jahren, in denen du weg warst, habe ich mir vorgestellt, was für ein spannendes Leben du führst und dass du mir davon erzählst, wenn wir uns wiedersehen. In Köln, habe ich gehört, warst du sogar in einen Mordfall verwickelt. Stimmt das?«

Es war, als würde sie mir einen Dolch in den Bauch stoßen. Selbst die kleinste Erinnerung an Spielmann tat furchtbar weh. Ich konnte nicht darüber reden, was im Goldenen Ochsen passiert war. Schon gar nicht mit jemandem, der nichts davon wusste. Ich war zu tief in all die Vorkommnisse verstrickt gewesen, wäre beinahe selbst umgebracht worden … Zurzeit wollte ich nur eines: Nicht mehr daran erinnert werden.

»Ich erzähl dir von Wien. Da habe ich am liebsten gekocht«, sagte ich schnell. »Und dann erzählst du mir von deinem Blumenladen …«

*

Es war kurz vor Mitternacht, als ich in meinen Fiat stieg. Der Regen hatte aufgehört, aber der starke Herbstwind zerrte immer noch an den Tannen, warf sie hin und her, bog sie nach vorn und nach hinten. Die Bäume ächzten unter der Tortur. Eine schwere Wolke bedeckte den schalen Halbmond und tauchte die Legelsau in tiefe Finsternis. Froh darüber, dass wenigstens die kleinen Scheinwerfer meines Punto funktionierten und etwas Licht in das dunkle Tal brachten, machte ich mich auf den Heimweg.

Wir hatten im Laufe des Abends unverfängliche Themen gefunden. Teresas Blumenladen zum Beispiel. Wie stolz sie war, jetzt einige der noblen Höhenhotels als Kunden gewonnen zu haben! Sie zeigte mir Fotos von der Blumendekoration, die sie zu einem japanischen Buffet des Grandhotel Bühler Höhe entworfen hatte. Vier flache siegellackrote Schalen, in denen Steine, Blätter und zarte, weiße Orchideen zu einer Einheit verschmolzen. Großartig! In ihrem Metier war Teresa ebenso eine Künstlerin wie ich in meinem. Auch ich erzählte ein wenig von meinem Leben. Von den Launen berühmter Köche, unter denen ich gearbeitet, von dem Small Talk mit illustren Gästen, für die ich gekocht hatte. Von nächtlichen Stromergängen durch Wien, den Blumenmärkten in Paris, den Zitronenhainen in Palermo und den Museen in Brüssel. Spät abends gesellte sich Konrad zu uns. Er roch nach verfeuertem Holz und Schnaps.

»Wo hast du gesteckt?«, fragte Teresa. »Mit dem Brennen musst du doch längst fertig sein.«

»Hab Vladimir noch nach Hause gefahren«, murmelte er. »Die Borisova hat mich zum Essen eingeladen. Du weißt, wie froh sie ist, wenn sie mal jemanden hat, mit dem sie über ihre Sorgen reden kann. Da kommt man so schnell nicht wieder los.«

Dann maulte er über das frisch gebrannte Kirschwasser. Es entfalte im vorderen Gaumen eine unangenehme, leicht an Spiritus erinnernde Schärfe, auch durch einen zweiten Brennvorgang sei es ihm nicht gelungen, den beißenden Geschmack aufzuheben. Über viel mehr redete er nicht. Hin und wieder sah ich, wie seine blauen Augen zum Schreibtisch schielten, um dann schnell zu Teresa und mir zurückzukehren. Vielleicht machte ihm der Diebstahl doch mehr Sorgen, als er Teresa gegenüber eingestanden hatte. Was war an den Fotos so verräterisch, dass jemand deswegen in eine fremde Wohnung einbrach? Oder war es den Dieben um etwas ganz anderes gegangen? Von was für anonymen Anrufen hatte Teresa gesprochen? Weder Konrad noch Teresa erwähnten im Laufe des Abends den Einbruch noch einmal. Beide taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Entweder wollten sie in meiner Gegenwart nicht darüber reden, oder sie verdrängten es, um in diesem einsamen Haus gut schlafen zu können. Als ich gehen wollte, hatten mich beide zur Tür gebracht. Konrad hatte den Arm um Teresas Schulter gelegt, Teresa selbstverständlich ihren Kopf an die seine gelehnt. Als ich die Autotür aufschloss, hatten beide gleichzeitig die Hand zum Abschied gehoben. Ein trautes Paar.

Der Fiat holperte langsam den Berg hinunter. Immer wieder galt es, vom Wind heruntergepeitschten Ästen und Zweigen auszuweichen.

Ob die beiden miteinander glücklich waren? Zumindest vertrauten sie einander. Wie sonst könnte man in solch ein einsames Haus ziehen?

In Seebach erleuchtete eine einzige Straßenlaterne die Kreuzung zur L 87. Dies fiel umso mehr auf, als die Häuser hier im Dorfkern alle schon im Dunklen lagen. In der Gegend endete der Abend früh, und der Morgen brach zeitig an. Kaum hatte ich Seebach hinter mir gelassen, fing der Punto an zu husten. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, damit er noch durchhielt, bis ich in der Linde war. In Ottenhöfen fing es wieder an zu regnen, und das Husten des Wagens steigerte sich zu einem asthmatischen Keuchen. Hinter Furschenbach blieb er nach ein paar ruckartigen Bewegungen einfach stehen, und nichts brachte ihn dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. In diesem Augenblick schüttete eine besonders dicke Regenwolke ihren Inhalt über das Achertal aus. Ich kramte in meiner Handtasche nach meinem Handy, bis mir einfiel, dass ich es meiner Mutter geliehen hatte, damit diese nach Lust und Laune jedermann mit Geschichten über ihr gebrochenes Bein nerven konnte. Ich wartete eine Ewigkeit, aber kein anderer Wagen fuhr das Achertal hinauf oder herunter. Scheiß Landleben! Der Regen rann über die Windschutzscheibe, und der Wind rüttelte an den Autotüren. Keine Menschenseele weit und breit. Bis zum nächsten Ort bestimmt eine halbe Stunde Fußmarsch. Was tun? Ich drückte auf die Fiathupe und brüllte mir die Seele aus dem Leib. Vergebens. Niemand kam. Nach weiteren zwanzig Minuten sah ich für die angebrochene Nacht nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich übernachtete in meinem Auto, oder ich ging zu Fuß zum nächsten Ort. Zähneknirschend entschied ich mich für Letzteres. Als dreißig Minuten später die erste Straßenlaterne von Kappelrodeck auftauchte, klebte mir die Jacke am Körper, und die Schuhe hatten sich mit Wasser voll gesogen. Auch in diesem Dorf nirgendwo ein hell erleuchtetes Fenster, nirgendwo eine Gaststube, die noch geöffnet hatte, nirgendwo eine Telefonzelle. Nur stetig fallender Regen, den mir der Wind mal von vorn, mal von der Seite ins Gesicht peitschte und der mich jetzt nicht mehr nässer machen konnte, als ich schon war. Ich überlegte gerade, an welchem Haus ich jetzt auf die Klingel drücken würde, als plötzlich Musik die Nacht durchbrach. So laut und schmetternd, dass sie Regen und Wind übertönte und bestimmt den ganzen verschnarchten Ort aufwecken würde. Die Stimme erkannte ich sofort, das Lied nicht. Ein Musette-Walzer. Ich ortete die nächtliche Ruhestörung hinter einer mächtigen Kirschlorbeerhecke. In dem Haus, das dahinter sichtbar wurde, brannte im ersten Stock noch Licht. Von dort kamen die temperamentvollen Akkordeonklänge. »A. Galli« las ich auf dem Türschild und klingelte.

Ich hörte jemanden schnell eine Holztreppe hinunterlaufen, dann wurde die Tür aufgerissen.

»Du liebe Güte, schifft es so?«

Vor mir stand eine Frau meines Alters, an der alles rund war: die Augen, die Ohren, der Mund, die Locken, die Arme, der Busen, die Hüfte, die Beine.

»Schuhe und Strümpfe ausziehen! Ich hol ein Handtuch!«

Sie war schon wieder auf dem Weg nach oben.

»Ich will nur telefonieren. Ich hab die Musik gehört!«, rief ich ihr nach.

Unbeeindruckt von meinem Einwand hüpfte sie weiter und kam schnell mit mehreren großen Handtüchern zurück.

»Sie ist wunderbar, die Musik, gell? Es ist mein Lieblingsstück, ›Les mots d’amour‹. Michel Rivegauche hat es für die Piaf geschrieben. Sie singt es mit so viel Inbrunst, dass es mir jedes Mal fast das Herz zerreißt. Aber man muss es laut hören, ganz laut, sonst ist es nur halb so schön.«

»Beschweren sich die Nachbarn nicht?«, fragte ich und rubbelte meine roten Locken trocken.

»Um die Zeit liegen die alle im Tiefschlaf. Und wenn doch, juckt es mich nicht. Ich mach das ja nicht jede Nacht.«

»Mon aa-mour, mon amour«, sang sie lautstark den Refrain mit und machte mir ein Zeichen, ihr nach oben zu folgen. »Ich heiß übrigens Anna«, sagte sie zwischendurch. »Et je mourrais d’amour, et je mourrais d’amour, mon amour, mon amour«, trällerte sie weiter.

Anna Galli trug eine weinrote Samthose, um den Hals baumelten indische Ketten, die schwarzen Locken waren mit einem bunten Tuch hochgesteckt. Ich hatte sie schon einmal in der Linde gesehen. Sie gehörte zur Bürgerinitiative Legelsau.

»Katharina«, sagte ich zwischen den Amour-Arien.

Den Raum, in den sie mich führte, hätte ich in diesem Kaff genauso wenig vermutet wie Anna. Mittelpunkt dieses ungewöhnlichen Zimmers war zweifellos ein blutroter Diwan, der mit Kissen in sämtlichen Rot- und Goldtönen bestückt war. Gemütliche Kissen mit orientalischen Mustern luden auf dem Perserteppich davor zum Sitzen ein. Hinter dem Diwan eine Palme in einem großen Kupfertopf, daneben ein riesiger hellgrüner Farn auf einem Art-déco-Tischchen. An den Wänden große Ölgemälde in Goldrahmen, die verschiedene Sagen der Gegend darstellten, wie sie viel größer in der Trinkhalle in Baden-Baden hingen. »Das Edelfrauengrab«, »Die Mummelseenixen«, »Die Hex vom Dasenstein«. Von der Decke winkten ein Dutzend goldene Putten, und vor dem großen Eichenschreibtisch lag tatsächlich ein Eisbärenfell.

»Keine Sorge, er beißt nicht«, kicherte Anna. »Ich hab mal ein Foto von Sarah Bernhardts Salon gesehen. Die große Diva auf einer Chaiselongue ruhend, ein Bärenfell zu ihren Füßen. Seither wollte ich ein Bärenfell. Vor hundert Jahren war es kein Problem, an ein echtes Bärenfell zu kommen, schließlich hatte jeder Fotograf eines, um darauf süße Baby-Fotos zu machen. – Ich hab ewig gebraucht, um eines zu finden, und meines ist auch nicht echt. Es stammt aus einem Theaterfundus. Sieht trotzdem klasse aus, oder?«

Ich nickte. »Darf ich mal telefonieren?«, fragte ich dann.

»Klar doch.«

Sie drehte die Piaf leiser und zeigte auf ein vorsintflutliches schwarzes Riesentelefon auf dem Eichenschreibtisch, das sicher nicht aus dem Salon der Sarah Bernhardt, aber sehr wohl aus einem frühen Humphrey-Bogart-Film stammen konnte.

Ich steckte den Zeigefinger in die Wählscheibe und rief in der Linde an. Während das Freizeichen in meinem Ohr klingelte, betrachtete ich die Bilder hinter dem Schreibtisch. Die meisten mit kräftigen Ölfarben gemalte Stillleben, aus denen aber ein zartes Aquarell hervorstach. Es zeigte die verschwommenen Umrisse eines kleinen Landhauses, davor eine mächtige, schon fast kahle Linde, alles in Grau- und Brauntönen gehalten. Darunter stand: »Glück«. Ein merkwürdiger Kontrast zwischen Titel und Bild, fand ich. In der Linde ging keiner ans Telefon. Kein Wunder, um halb zwei Uhr morgens. Beim Taxiruf Kappelrodeck meldete sich nur der Anrufbeantworter, und das einzige Nachttaxi, das in Achern arbeitete, war für die nächsten zwei Stunden ausgebucht. Ich legte fluchend den Hörer auf. Sicherlich würde meine Mutter das Handy hören, aber die wollte ich auf keinen Fall anrufen. Ich wusste genau, welche Tiraden sie loslassen würde. Blieb nur noch mein Bruder, der in Waldulm wohnte.

»Komm, ich fahr dich«, sagte Anna da. »Du musst jetzt keinen mehr wecken. Mir macht’s nichts aus. Ich bin doch in einer halben Stunde zurück. Edith Piaf kann man auch wunderbar im Auto hören.«

Auf dem Weg nach draußen fielen mir in einem Regal ein paar bunte Flaschen auf, die mit verschiedenen Früchten verziert waren.

»Was sind das?«, fragte ich.

»Die neuen Flaschen für meinen Schnaps«, sagte Anna. »Zurzeit sind ja diese schmalen, hohen, durchsichtigen, weißen Flaschen modern. Dem wollte ich was Verspieltes, Buntes entgegensetzen. Wenn man etwas Außergewöhnliches machen will, darf man nie mit dem Trend gehen.«

»Brennst du selbst?«, fragte ich ziemlich erstaunt. Ich hatte noch nie von einer Brennerin gehört. Brennen taten hier in der Gegend die kleinen Bauern, um neben dem kargen Einkommen aus der Landwirtschaft noch ein bisschen was zu verdienen. Schon ein Hobby-Brenner wie Konrad war eine Ausnahme. Auf keinen Fall konnte ich mir so einen schillernden Paradiesvogel wie Anna in diesem Geschäft vorstellen.

»Ja«, sagte Anna, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Mein Vater hat mir sein Brennrecht vermacht, und ich habe noch drei weitere dazu gepachtet. Meine Spezialität sind Quitten und Haferpflaumen.«

Sie schlüpfte in Gummistiefel und Regenjacke, ich in meine nassen Schuhe. Sofort gefroren mir die Zehen zu Eisklumpen. Anna schloss einen alten Ford Kombi auf, in dem es nach Farben und Terpentin stank. Mit dem Starten des Wagens erklang wieder die Piaf, die jetzt passenderweise »Il pleut« sang. Anna summte sofort mit.

»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte ich.

»Auf was?«

Anna lenkte den Wagen auf die L 87 und drückte dort kräftig aufs Gas. Regen und Wind waren ihr ziemlich egal.

»Das Brennen.«

»Durch meinen Alten. Er war so der Typ Mann, der mit Kindern nichts anfangen konnte. Von wegen Spielen, mal einen Ausflug machen oder ins Kino gehen. Hat mich mit in seine Brennküche genommen. Fand ich als Kind furchtbar. Der Geruch von Maische und Alkohol. Brrr.« Sie schüttelte sich. »Aber natürlich habe ich genau mitbekommen, wie’s geht. Und der Holzofen hat mir Spaß gemacht. Ich durfte immer die Holzstücke nachlegen und ihn kräftig durchstochern.«

Sie trommelte mit den Fingern im Takt der Musik aufs Lenkrad.

»Als ich vor zwei Jahren hier in die Gegend zurückzog, bin ich nach langer Zeit mal wieder mit meinem Vater in die Brennküche und habe es spaßeshalber selbst probiert. Seither habe ich einen Narren daran gefressen und mache heute einen besseren Schnaps, als mein Vater es jemals geschafft hat. Geschieht ihm recht, dem alten ›Bruddler‹. Außerdem verdiene ich ganz gut damit.«

»Brennst du auch Kirschwasser?«

»Kirsch! Vergiss es.«

Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge.

»Wieso nicht? Schwarzwälder Kirschwasser ist der berühmteste Schnaps überhaupt.«

»Das war mal so. Aber du kennst doch den Fluch des maschinellen Fortschritts. Früher mussten die kleinen schwarzen Schnapskirschen von Hand von den Bäumen geschüttelt werden. Daran kannst du dich doch bestimmt erinnern, oder?«

»Ja. Unter die Bäume legte man große Sacktücher, um die Kirschen aufzusammeln.«

»Genau. Und diese Tücher hat man dann zu mehreren vorsichtig hochgehoben und in Fässer geschüttet. Eine mühsame Handarbeit, für die man ein paar Leute brauchte. Jeder hat sich überlegt, ob er Schnapskirschen anbaut. Heute«, schnaubte Anna, »gibt es dafür maschinelle Schüttler. Riesige Greifarme umklammern den Baumstamm, rütteln einmal kräftig, und alle Kirschen fallen in eine dafür konstruierte Auffangschale, von der aus sie mittels Förderband direkt in Fässer transportiert werden. Großer Effekt. Wenig Manpower. Weißt du, wozu das geführt hat?« Anna sah mich fragend an.

»Weniger Arbeit?«

Anna schnaubte wieder. »Alle haben wie verrückt neue Kirschbaumplantagen angelegt, so viele, dass sie den zusätzlichen Schnaps überhaupt nicht mehr abgesetzt bekommen. Der Schwarzwälder Kirsch wird dir heute nachgeschmissen. Die Bauern haben sich die Preise damit völlig versaut, und die Qualität hat auch gelitten.«

Sie bog jetzt von der L 87 auf die B 3, und vor uns tauchte das gelbe Ortsschild von Fautenbach auf.

»Nur mit was Besonderem kannst du dir heute beim Brennen noch was verdienen. Auf keinen Fall mit einem Kirsch. – So, da sind wir.«

Sie setzte den Blinker und fuhr langsam auf die Linde zu.

»Hierher kommst du also. Da finde ich dich auf alle Fälle wieder.«

Anna lächelte mich zum Abschied an.

»Tausend Dank für alles«, sagte ich beim Aussteigen.

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Anna und fuhr davon.

In der Gaststube zog ich mir die nassen Schuhe aus und holte eine Flasche Kirschwasser aus dem Regal. Nach dem ganzen Gerede über Schnaps musste das sein. Das Kirschwasser stammte von Bohnert, dem bekanntesten Großbrenner der Gegend. Ein mittelmäßiger Schnaps, da hatte Anna Recht. Aber die Wärme, die er in meinem Körper entfachte, brauchte ich jetzt dringend.

*

Ozzy Osbourne grölte »I’m a dreamer« durch die Lindenküche, und Carlo panierte schon die zwanzig Schnitzel, die wir jeden Tag verkauften. Ich holte mir als spätes Frühstück ein Glas Milch aus dem Kühlschrank und stellte das kleine Transistorteil leiser. Carlo hörte immer »Radio Regenbogen«, den hiesigen privaten Rundfunksender. So wurden wir täglich mit aktuellen Hits bedudelt, waren immer über das Wetter, alle Staus auf der A 5, alle Kulturereignisse der Ortenau und das, was sich sonst so in der Region tat, informiert. Ich öffnete den Kühlschrank noch mal. Der Jörger-Metzger hatte mir einen zwei Kilo schweren, gut abgehangenen Tafelspitz und ein paar prächtige Markknochen ausgesucht. In den angelieferten Gemüsekörben auf dem Pass fand ich Rote Bete, zwei kräftige Meerrettichwurzeln und die kleinen Bamberger Hörnchen, die ich als Pellkartoffeln servieren wollte.

»Revolutionieren wir die Küche meiner Mutter mit Roter Bete und Meerrettich, Carlo«, schlug ich vor. »Als badischen Klassiker servieren wir ›Rindfleisch mit Meerrettichsoße und Rote-Bete-Salat‹, als vegetarisches Gericht ›Rote Bete in Bierteig mit Frischkäse-Meerrettichsoße‹ und als Vorspeise ›Carpaccio von der Roten Bete mit frisch geriebenem rohen Meerrettich und einer Walnussöl-Vinaigrette‹. Na, wie klingt das?«

»Mir gefällt’s. Hoffentlich finden’s die Gäste auch besser als die Wiener Schnitzel«, meinte Carlo.