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Lembke

Im digitalen Hamsterrad –

Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co.

Für meine Familie,
den analogsten und stärksten Akku.

Im digitalen Hamsterrad

Ein Plädoyer für den gesunden Umgang
mit Smartphone & Co.

von
Prof. Dr. Gerald Lembke




Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




ISBN 978-3-86216-303-8




© 2016 medhochzwei Verlag GmbH, Heidelberg

www.medhochzwei-verlag.de

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Illustration und Umschlaggestaltung: Andreas Becker, creative vision, Lünen
ePub: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

„Wer so tut, als bringe er die Menschen zum Nachdenken, den ­lieben sie. Wer sie wirklich zum Nachdenken bringt, den hassen sie.“

Aldous Huxley

Inhaltsverzeichnis

Das ist erst der Anfang – Wider die ­soziale Demenz

Die 10 Glaubenssätze der Digital-­Apostel und -Apologeten

1Abfüllanlage im Taschenformat – Wie Smartphones Angst und Neid füttern

Nutzungsrevolution statt digitale Revolution

Angst vor dem Sozialen

Neurowissenschaftliche Grundlagen

Auf Neugier folgt schlechte Laune

In den Depri wischen

24/7-Nachrichten ziehen runter

2Digitales Kommunizieren – ­Spielend leicht … in den Wahnsinn

3.000 Nachrichten im Monat

Wahnsinn WhatsApp-Gruppen

Warum WhatsApp-Gruppen irre machen

Von Bürsten und Brüsten

Zu doof selbst für Geheim-Datenbanken

Psyche im Eimer

Der Wandel der Kommunikation ist nicht nur positiv

3Stress und Resilienz – Zwei Seiten ­derselben Medaille

Produktivität hat ihren Preis

Digitale Resilienz – Persönlichkeit stärken

Schlechte Gewohnheiten

Es beginnt bereits früh morgens

Das „Höher-schneller-weiter-Phänomen“

Selbstbeobachtung und Selbstreflexion

Selbstwirksamkeit und Resilienz sind erlernbar

4Arbeiten im Unterbrechungsmodus – Digitale Produktivitätskiller

Mitarbeiterstress verursacht ökonomische ­Verluste

Wischen aktiviert den Stress-Turbo

Konzentration wird wichtiger Produktionsfaktor

So reagieren Unternehmen auf die Wischmania

Ein Selbstversuch: Besuch eines „Digital-Detox-­Seminars“

Und danach? Da fängt die Arbeit erst an

Aufmerksamkeitsdemenz in Meetings

5Überfahren und weggewischt – Auf zur Putz-Olympiade

Jeder Fünfte läuft blind durch die Welt

Digitaler Kick-off

Umgang mit Wahrnehmungsstörungen

Lieber tot als ohne Smartphone

Sozialer Zusammenhalt degeneriert

Vorne rein und hinten rausgefallen

Was Politik leisten sollte

Selbstverantwortung ade – Werde auch ich bald weggewischt?

6Paarschippen – Online-Baggern für ein Leben mit Glück

Tiefe Bedürfnisbefriedigung auf dem Sofa

Das Spiel mit den Zahlen

Lieber Paarschippen als Parship

War es früher besser?

Auch das noch: verschenkte Lebenszeit

Wäre ich bloß ein Rechtswisch …

Liebe als Produkt

7Wischbrett im Kopf – Tablets in Kita und Schule

Symposien zum „digitalen Lernen – Klassen­treffen der Apologeten“

Aus PISA-Schock wird Digital-Schock

Irrsinn schmerzt

Disruptive Bildung

Gamification – Warum Digital nicht schlauer macht

Die Zukunft: Anschalten, was geht

8Faul und bequem – Wisch-Roboter und andere

Die Sex-Roboter kommen

Frauen brauchen keinen Roboter

Frauen ticken anders

Algorithmus schlägt soziale Pflege

Die Wirkung des Roboters auf unser Leben

Ausblick: Vier Phasen der Roboternutzung in der Zukunft

Soziales Glück

Zum Schluss: Was Frau wirklich will

9Abhängig, inkompetent, selbst­unwirksam – Selbstfahrende und ­-fliegende Autos

Ein verträumter Selbstversuch

Deutschland fährt drauf ab

Wirkung auf die Menschen

Wischwütige Digitalfreaks

Sozialkultur vor Digital

Lernen und lernen lassen

Raubbau an Selbstwirksamkeit und Autonomie

1045 Grad – Bodengucker und Blindlenker

Nein, ich doch nicht

Besoffen an der Verkehrsampel

Automatisierte Ablenkung

Fragen Sie sich mal …

Physische Konsequenz: Stress, Stress, Stress

Juristische Konsequenz: Berühren verboten

Autofahren ist wie Tauchen im U-Boot

Eigenverantwortlich sich und andere schützen

Gesucht wird: Digitale Vernunft

11Digitalerziehung – Tranquilizer im ­Urlaubsauto

Der Blick ins Nachbarauto

Hirne im kollektiven Stand-by

Früher war alles besser?

Was der ADAC empfiehlt

Respekt und Umgangsformen unter Erwachsenen

Erziehungsfrage

Dialog statt Monolog

12Digitale Selbstoptimierung – Das ­„Fat-not-Fit“-Syndrom

Start am Morgen

Humaninventur für die Neidfalle: messen, ­wiegen, gut aussehen

Hawthorne-Effekt

Tools für den sportlichen Narzisten

Königsdisziplin „Quantify yourself“

Selbstoptimierung als Lebensziel

Alternative soziale Gruppe

13Big Data – Gefangen in der Digivalenz

Big Data erzeugt Angst

Big Data auf dem Klo

Livestream vom Klo

Der Egal-Mensch

Was hat der, was ich nicht habe?

Vom Wischegoisten zum Digitalaltruisten

Ego, Selbstüberschätzung und Neid

Fiktion wird Realität

Gefängnis „Digivalenz“

Und der Ausbruch

14Achtung Vorbild – Digitalerziehung für Große

Im digitalen Schwitzkasten

Die Seele des Smartphones

Jugendliche machen es den Erwachsenen vor

Erwachsene sollten es vormachen

Die Logik der Apologeten

Digitales Bewusstsein in der Schule

Am Schluss: Einfach Abschalten

15Always on – Wischen auf dem Klo

Verkappte Wischweltmeister

Entertainment – aber volles Rohr

Das Smartphone auf dem Klo raubt Lebenszeit und Wohlgefühl

Das Digitale Manifest – ­Sozial und ­digital

Wege aus dem digitalen Hamsterrad

Literaturverzeichnis

Quellen

Weiterführende Literatur

Einleitung

Das ist erst der Anfang – Wider die ­soziale Demenz

„Ich bin immer erreichbar und erreiche nichts.“

Revolverheld

Ergeht es Ihnen manchmal auch so wie mir? Ich bin genervt vom Internet und von der vielen Zeit, die ich mit Benachrichtigungen, sinnfreien E-Mails, Facebook, News und Spielen verbringe. Ein nicht zu durchbrechender Kreislauf. Laufend greifen wir zu Smartphone, Tablet & Co., und sei es auch nur, um die Uhrzeit zu erfahren … Wischen und Daddeln sind zu einer neuen Kernkompetenz für die digitale Ablenkungs- und Konsumökonomie geworden. Und das fängt schon früh an:

Letztens im Restaurant: Zwei Eltern beim Essen. Die beiden Kinder, geschätzt zwischen drei und sieben, ruhiggestellt mit digitalen „Wischbrettern“. Keiner sprach ein Wort.

Mobilcomputer bekommen vielerorts mehr Aufmerksamkeit als soziale Erlebnisse mit Freunden, Kollegen oder Familienmitgliedern. Die Realität wird verdrängt durch die Digitalität. Statt unseres Gegenübers haben wir den Bildschirm immer fest im Blick. Kinder und Jugendliche machen es den Großen vor. Die Allzeitverfügbarkeit von digitalen Medien hat nicht nur sie eingefangen, sondern lässt auch Erwachsene nicht mehr aus ihrem Bann.

Ein paar Tage später in der Innenstadt, dieses Mal umgekehrt: Ein Kind im Kinderwagen sucht mit aufgerissenen Augen nach der Aufmerksamkeit der Eltern. Beide traben hinterher, sind in ihre Smartphones vertieft. Der Moment der Aufmerksamkeitssuche geht unbemerkt an ihnen vorüber. Das Kind bekommt nur ein kurzes Lächeln, dann wandert der Blick zurück auf den Bildschirm. Das Kind spürt: Smartphones sind wichtiger als ich. Wääähhhh … Kind schreit – keine App hilft.

Langsam, aber stetig haben sich die kleinen Computer fest in unser Leben, unsere Arbeit, ja bei manchen sogar ins Herz gefunkt. Ein Leben ohne die kleinen Wischbretter, ein Leben ohne digitale Medien können sich immer mehr Menschen immer weniger vorstellen.

Für die Zukunftsgestalter in unserem Land ist diese Liebe Anlass genug, die eine „Digitale Revolution“ auszurufen. Menschen und Kultur müssten sich daran anpassen. Denn nichts Geringeres als der Untergang des Abendlandes drohe, wenn dieses Land nicht endlich die digitale Revolution vollziehe. Und das geht allen Digital-Aposteln und -Apologeten nicht schnell genug. Daher möchte auch niemand etwas über Risiken und Nebenwirkungen hören oder lesen. Obwohl das Digitale schleichend und unbemerkt reale Lebenserfahrungen verdrängt. Wir drohen, einer sozialen Demenz anheimzufallen.

Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation mit einer geringen sozialen Kompetenz ausgestattet sind, sind besonders anfällig für digitale Ersatzbefriedigungen. Bei ihnen wird die digitale Kommunikation auch als Bereicherung empfunden. Die geht bis zur Substitution von sozialer mit digitaler Kommunikation. In dieser Zielgruppe ist das Abhängigkeitspotential besonders ausgeprägt. Denn die realen und sozialen Alternativen werden langsam aber sicher verdrängt und somit „entlernt“ – die soziale Demenz beginnt.

Schuld daran werden nicht die Digitalkonzerne sein, auch nicht die Politiker und schon gar nicht unsere kleinen Wischlieblinge. Schuld werden Sie sein, liebe Leserin und lieber Leser: die Nutzerin und der Nutzer, die sich noch immer nicht so verhalten, wie es digitale Wirtschaft und Politik gerne hätten, nämlich weniger ängstlich, dafür viel konsumfreudiger, euphorischer, unreflektierter und gewillt, Technologien noch intensiver zu nutzen, um endlich eine vernetzte und transparente Datenwelt zu bauen. Beliebte Adjektive sind: veränderungsresistent, unbeweglich, faul, ängstlich, rückwärtsgewandt, kulturpessimistisch.

Mit schonungsloser Rhetorik wird uns aufoktroyiert, die (digitale) Revolution in diesem Land endlich voranzutreiben. Überlegungen, was da eigentlich passiert und welche Wirkungen diese Entwicklungen auf Menschen und Gesellschaft haben wird, werden vorenthalten oder totgeredet – wie immer, wenn ökonomische Interessen für Denken und Handeln blind machen. Etwas Vergleichbares gab es schon einmal: die großflächige Nutzung von Atomkraft in den 1960er Jahren. Die Alternativlosigkeit war eine politisch beschlossene Sache. Heute sind jedem die Risiken bewusst – aufgrund der Langzeiterfahrungen. Und noch viel schlimmer: wir werden es nicht mehr los. Sehenden Auges in den brodelnden Reaktor hoffen wir, dass der Super-GAU bei uns nicht passiert. Wir haben gelernt, das Schlimmste zu verdrängen.

Heute sind es wieder ökonomische Interessen, die das Schicksal der neuen Technologien lenken. Entwickelt wird nicht, was uns Menschen guttut, sondern was das Erreichen wirtschaftlicher Ziele in besonders kurzer Zeit unterstützt. Und dieses Mal geht es nicht nur an den Geldbeutel jedes Einzelnen, sondern an unser Wohlbefinden und Glück.

Digital ist der Turbo für unser Hamsterrad.

Wir befinden uns in einem Hamsterrad, einer Schleife des Digitalkonsums, die uns wichtige reale Lebenszeit stiehlt und den Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens verstellt. Wir strampeln in diesem Hamsterrad ohne Richtung. Digital ist der Brandbeschleuniger für Unwohlsein, Stress, Krankheiten, aber auch für eine spürbare Individualisierung und in manchen Teilen der Gesellschaft für eine steigende Entsozialisierung. Wischkompetenz ist wichtiger als das Erlernen von Empathie und weiteren Sekundärfähigkeiten. Das darf nicht so weiter gehen.

Wir sind mit der digitalen Entwicklung komplett überfordert.

Hohe Erwartungen und Ängste schwirren in unseren Köpfen herum: Was passiert mit uns in der digitalen Transformation? Wie werden wir in Zukunft leben? Was bedeutet das für die Kultur, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft und schließlich für uns Menschen? Antworten darauf bleiben uns die Digital-Apostel bis heute schuldig.

Was mich wütend macht: Völliges Ausblenden von wissenschaftlichen Erkenntnissen – geblendet durch unreflektierte Digitaleuphorie, keine realistischen Ziele für die Lebenswelt einer digitalen Zukunft, keine Strategien für das digitale Leben in der Zukunft, blinder Aktionismus beim Einsatz von Smartphones und Tablets in Kitas und Grundschulen, Kategorisches Ignorieren von Risiken und Nebenwirkungen, Herumwerfen von Digital-Buzzwords und -Anglizismen, die kein Mensch mehr versteht, fehlende Wertschätzung und Respekt des Gegenübers auf digitalen Kanälen, Verdrängen sozialer Werte und bewährter Kulturtechniken durch jede noch so unsinnige Digitalentwicklung.

Es wird Zeit für eine kritische Reflexion unseres Umgangs mit Digital & Co. Und diese lohnt sich: Denn ein Mehr an Zufriedenheit und Unabhängigkeit kann das reale Leben aktiver und sinnvoller und das Arbeiten kreativer und produktiver machen.

Dieses Buch wurde motiviert durch unzählige Diskussionen, Dialoge, Beobachtungen und Forschungsergebnisse zur digitalen Mediennutzung in Gesellschaft, Familien, Schulen und Unternehmen. Es verfolgt ein hehres Ziel, nämlich Sie unterhaltsam und mit einem Augenzwinkern zum Nachdenken anzuregen, zu überzeugen und vielleicht auch zu überreden.

Dafür begebe ich mich systematisch, unterhaltsam und kritisch auf die Suche nach Lösungsansätzen. Dabei verfolge ich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Meine Haltung?

Digital ist nicht überall gut. Es wirkt sich dort negativ aus, wo es den Nutzer blind macht und zugleich das Menschliche beherrscht. Das digitale Hamsterrad benötigt einen Bremsmechanismus, um dann in Ruhe sinnvolle und nachhaltige Lösungen zu entwickeln.

Sie werden es nicht bereuen. Sie werden zwar keine Lösungen, aber Denkanstöße zu einigen der wichtigsten Fragen der Digitalnutzung in Familie, Unternehmen und Bildung erhalten. Ich freue mich auf eine fortführende Kommunikation mit Ihnen: E-Mail: Hallo@Gerald-Lembke.de.

Enttarnt

Die 10 Glaubenssätze der Digital-­Apostel und -Apologeten

„Die große Stärke der Narren ist es, dass sie keine Angst haben, Dummheiten zu sagen.“

Jean Cocteau

1. Das Lebensziel ist die Optimierung des Lebens und Verhaltens.

2. Digital ist besser als analog.

3. Glauben ist stärker als Wissen.

4. Sofort dabei sein ist alles.

5. Laute Rhetorik überzeugt Gläubige.

6. Wischen ist das Schreiben der Zukunft.

7. Maschinen machen die Welt sicherer.

8. Künstliche Intelligenz ist schlauer als menschliche.

9. Polemik ist die beste Waffe gegen Vernunft.

10. Smartphones und Tablets machen schlau.

Kapitel 1

Abfüllanlage im Taschenformat – Wie Smartphones Angst und Neid füttern

„Man will nicht nur glücklich sein, sondern glücklicher als die ­anderen. Und das ist deshalb so schwer, weil wir die anderen für glücklicher halten, als sie sind.“

Charles-Louis de Montesquieu

Ich erinnere mich gut: In einem Vortrag in Mannheim berichtete ich 2012 das erste Mal von steigenden Zahlen mobiler Mediennutzung. Und die entwickelte sich bis heute rasant weiter. Die Nutzungszahlen sind exponentiell gestiegen. Das ist die wirkliche digitale Revolution in unser „digitalen Welt“, die eigentlich eine „mobile Revolution“ heißen müsste.

Nutzungsrevolution statt digitale Revolution

Die „digitale Revolution“, die uns von Internetunternehmern, Medien und Politik seit Jahren angetragen wird, ist in Wahrheit eine Nutzungsrevolution, die durch mobile Geräte getragen wird. Seit einiger Zeit schlagen vor allem Mediziner, Psychologen und Suchttherapeuten Alarm. Sie sehen in der exzessiven und unreflektierten Nutzung von digitalen Medien deutlich Suchtpotential und warnen vor den langfristigen Folgen. Das klingt in den Details dramatisch – und das ist es auch.

2012 waren nur 14 Prozent der Deutschen per Mobile regelmäßig online. Zwei Jahre später waren es 41 Prozent und im Jahr 2016 werden es 85 Prozent sein.

Zu diesen Zahlen tragen die überdurchschnittlichen Nutzungszeiten bei. Die Nutzung in den jüngeren Generationen ist bereits gesättigt. Das Wachstum wird seitdem vor allem von Erwachsenen ab dem 29. Lebensjahr nach oben getrieben. Selbst die Nutzungszeiten der Ü50-Generation steigen mittlerweile stetig an.

Angst vor dem Sozialen

Je höher die Nutzung, desto höher der Bedarf an Handlungsempfehlungen. Die ersten Seminare und Workshops zur „Digitalen Entgiftung“ werden bereits in Deutschland angeboten. „Digital Detox“ ist eine mental-beeinflussende Methode, die darin besteht, für einige Tage auf das Smartphone gänzlich zu verzichten und den Fokus mehr auf die Kommunikation mit dem eigenen Inneren („Was will ich aktuell wirklich?“) und nach außen, auf die Mitmenschen zu richten. Dank Smartphones in der Hosentasche wissen wir das oft zu verhindern. Oder wann haben Sie das letzte Mal einen Passanten in einer fremden Stadt nach dem Weg gefragt? „Das ist ja viel zu aufwändig.“ „Auf eine fremde Person zugehen? Nö.“ „Die könnten mich ja blöd angucken und sich fragen, wo kommt die Person denn her?“ „Dem sage ich mal gar nichts.“ Es handelt sich dabei um Antworten von Kongressteilnehmern auf die Frage, warum sie nicht Passanten nach dem Weg, sondern lieber ihr Smartphone fragen.

Haben wir Angst, dass uns ein falscher Weg gezeigt wird? Möchten wir gar nicht mehr so gern auf Menschen zugehen? Ersetzen wir nicht zunehmend den sozialen Kontakt durch mobile Daten? Wir könnten uns ärgern, weil wir wieder wichtige Wischzeit – Entschuldigung: Lebenszeit – verdaddeln, statt den sozialen Kontakt zu suchen.

Diese vielfältigen Ängste, Scham und Introvertiertheit lassen immer mehr Menschen lieber die App-Maschine aus der Tasche zücken und einem fremden Kartendienst vertrauen als den sozialen Dialog zu suchen. Immer mehr sehen darin sogar einen wichtigen Vorteil ihrer eigenen Smartphonenutzung.

Doch es lohnt sich auch ein völlig anderer Blick auf das Phänomen. Welche Wirkungsmechanismen entstehen bei häufiger und anhaltender Smartphonenutzung bei uns Menschen? Und haben diese wiederum Konsequenzen für unsere Gesundheit, Glück und Wohlbefinden?

Neurowissenschaftliche Grundlagen

Was uns Menschen an den zahlreichen Digital-Geräten hält, ist mit Hilfe der neurologischen Wissenschaft und der Psychologie zu erklären. Die Begeisterung für Neues entspringt unserer Neugier. Diese stimuliert das limbische System in unserem Kopf, das wiederum im Zusammenspiel mit anderen Hirnarealen für die Verarbeitung unserer Emotionen und für unser Triebverhalten verantwortlich ist; vor allem für die Ausschüttung von Endorphinen. Endorphine sind körpereigene Morphine. Sie werden mitverantwortlich gemacht für die Entstehung von Euphorie.

Wussten Sie schon, dass Neugier die Triebfeder für gute und schlechte Laune ist?

Euphorie steuert das Denken und Handeln von Menschen, die man als neugierig, humorvoll, spaßgetrieben, hedonistisch, ­offen, kreativ, extravagant beschreiben kann. Neugier geht der Euphorie voran. Sie ist ein angeborener Trieb, um Menschen im Alltag zu stimulieren und bei Laune zu halten. Verhalten sie sich neugierig, zum Beispiel indem sie immer hinter den neuesten Nachrichten und Benachrichtigungen her sind, so halten sie sich bei Laune. Doch irgendwann tritt die digitale Sättigung ein und die gute Laune schlägt ins Gegenteil um.

Auf Neugier folgt schlechte Laune

Damit die dauernde Neugier befriedigt werden kann, suchen Menschen nach Neuem und Unerwarteten. Das Smartphone ist ein Mekka des Neuen. Die neuen Funktionen, die neue App, der neue Kontakt, die neue Nachricht eines Kontaktes, ein neues Like in Facebook, eine weitergeleitete Nachricht in Twitter, die neue E-Mail die vielen Updates. Die meisten bergen Neues und Überraschendes, zum Beispiel, dass Sie ein „Jesus von Nazareth“ als Facebook-Freund eingeladen hat oder eine Nachbarin auf Facebook ihren Beziehungsstatus geändert hat. Sie ist plötzlich und unerwartet verheiratet. Das wäre doch ein schöner Grund für eine persönliche Einladung zu einem realen Kaffeekränzchen ;-)

Die Vielzahl an Informationen fließt in das neuronale Sammelbecken. Unser Frontalhirn, verantwortlich für die gesamte Informationsaufnahme und für die Weiterleitung der Information in den relevanten Hirnbereich, arbeitet dauerhaft auf Hochtouren. Es sehnt sich nach Erholung und mittelfristiger Entlastung von der steigenden Reizüberflutung. Die Orientierung gerät durcheinander und das kann dem Menschen erheblichen Schaden zufügen. Sie leben dann „in einem Nebel euphorisierender Neurotransmitter“ (Teuchert-Noodt 2016). Reflexion kann nicht mehr stattfinden. Der heranschleichenden Abhängigkeit sind dann Tür und Tor geöffnet.

In den Depri wischen

Der Stresspegel steigt, ohne dass wir unmittelbar körperliche Symptome wahrnehmen. Die Temperaturen im Wechselbad von Glücks- und Unglücksgefühlen durch die allzeitliche Nachrichtenlage auf den mobilen Endgeräten schlagen über die Zeit immer höher aus. Die Wiederholung schürt das (vermeidbare) Unglück. Das neue Fahrzeug des Nachbarn, der tolle Urlaub ­eines Bekannten – meist sind es materielle Dinge und Statusunterschiede, die den größten Neid verursachen.

24/7-Nachrichten ziehen runter

Nachrichten aus dem Heute-Journal oder der Frankfurter Allgemeinen bringen Menschen selten zum Lachen. Stattdessen meldet die Medienwelt uns meist verdächtiges Fehlverhalten von Menschen aus allen Lebensbereichen und gesellschaftliche Konflikte.

Auf der anderen Seite zeigt uns die digitale Medienwelt die Schönen und Reichen flanierend auf den Catwalks der Metropolen dieser Welt. Digitale Medien machen fremde Realitäten sofort verfügbar. Ich frage mich, was für einen Sinn es für das Wohlbefinden und die eigene Arbeit jenseits des Journalismus stiftet, sofort über Katastrophen und Fehltritte informiert zu sein. Bedrohen sie das Leben? Bedrohen sie unmittelbar die Existenz? Nein, sie befriedigen die Neugier und die Sensationslust des Menschen. Die römische Arena halten wir heute in unseren Händen und lehnen uns in dem Glauben zurück, wir würden das Arenaprogramm bestimmen können.

Angst, Neid und Missgunst sind eingehüllt in kleine Benachrichtigungs-Pingpongs. Das Smartphone degeneriert zur Abfüllanlage im Taschenformat. Und so werden täglich Angst und Neid in unseren Taschen und Händen herumgetragen. Wir penetrieren uns geistig selbst. Und dann fragen mich Zuhörer nach einem Vortrag, warum Menschen gefühlt immer neidischer und ängstlicher werden, und Erwachsenenmalbücher (zum Beispiel Basford 2013) Verkaufsschlager werden …