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Für Markus
Und für meinen Bruder

ISBN 978-3-492-96574-3
März 2017
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: Zero Media
Covermotiv: plainpicture/Laura Petermann
und FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Die erste Sache, an die ich mich erinnere, ist, wie ich von meiner Mutter an Silvester eine Wunderkerze bekommen hab. Der Himmel war voll mit Raketen und Feuerwerkskörpern, die explodiert sind und sprühten; und es war laut. Aber ich hatte keine Angst, sondern hab meine Wunderkerze in den dunklen Himmel gehalten und wie wahnsinnig geschüttelt.

Absolute Giganten

Prolog

2004

Das Erste, woran ich mich erinnere, ist das Gesicht des Polizisten im Rückspiegel des Streifenwagens. Ich sitze mit gefesselten Händen auf der Rückbank, und Blut tropft auf meine Jeans. Es ist ganz still, als wäre mein Kopf in Watte gepackt. Und dann höre ich eine kratzige Stimme aus dem Funkgerät, verstehe aber kein Wort.

Draußen wird es gerade hell. Es sind kaum Autos auf den Straßen. Mein Blick gleitet über die Fassaden der Häuser, dann verschwimmt alles, und ich sehe meinen Bruder in einem dunklen Zimmer sitzen. Er trägt nur eine Unterhose, und das Zimmer steht voller Flaschen – an den Wänden ein paar Fotos.

Ich erkenne meine Mutter; mich als kleinen Jungen.

Ich spüre einen harten Schlag. Ich sitze noch immer in dem Streifenwagen. Wir stehen an einer roten Ampel, und der Polizist grinst.

»Nicht einschlafen, mein Freund«, sagt er und gibt Gas.

Wir fahren an einer Tankstelle vorbei, an alten Backsteingebäuden. In manchen Zimmern brennt Licht.

Ich laufe durch einen hellen Flur. Ein Mann in einem weißen Kittel sagt irgendwas, er läuft neben mir her, dann bin ich draußen.

Ich höre das Geräusch von splitterndem Glas. Ich sitze an einer Theke, laufe durch die Nacht.

Die Tür öffnet sich.

»Aussteigen«, sagt irgendjemand, von dem ich nur die Beine sehe. Er zieht mich aus dem Wagen, und mein Kopf knallt gegen den Türrahmen. Ich sehe noch mehr Polizisten, meine Füße auf einem gepflasterten Hof. Dann wieder ein Flur und wieder ein dunkles Zimmer.

Ich rufe nach meinem Bruder, aber er antwortet nicht.

Eins

2006

Es fing gerade an zu regnen, als ich durch das große Tor auf den Parkplatz trat. Ein Mann lehnte an einem blauen Ford, und als er mich sah, nickte er kurz. Er war schon etwas älter und hatte graue Haare. Vielleicht wartete er auf jemanden, den er abholen wollte, vielleicht war er aber auch nur zu Besuch hier und traute sich nicht rein.

Ich hatte niemandem von meiner Entlassung erzählt, und als ich jetzt zur S-Bahn lief, war ich froh darüber. Die Straße war schmal und führte an einem Feld entlang, an ein paar Gärten und einem kleinen See. Nach einer Weile tauchten ein paar Häuser auf und ein Industriegebiet. Und dann sah ich die Haltestelle. Ich lief die Stufen zu den Gleisen hinunter und kaufte mir am Fahrkartenautomat ein Ticket.

Die Bahn kam, und ich stieg ein und setzte mich auf einen Platz am Fenster. Ich wusste nicht so recht, wo ich zuerst hinsollte. Darüber hatte ich bis jetzt noch nicht nachgedacht. Also fuhr ich zum Hauptbahnhof und setzte mich in ein Café. Der Laden war klein, an den Wänden hingen ein paar vergilbte Kunstdrucke. Eins der Bilder zeigte die beiden Türme des World Trade Centers in New York. Ich trank einen Tee und blätterte in ein paar Zeitschriften. Dann trank ich noch einen Tee, und schließlich bezahlte ich und lief durch die Straßen.

Es war schon später Nachmittag, als ich bei Normans Werkstatt ankam. Auf dem Hof standen ein paar ausrangierte Autos und weiter hinten eine alte Segeljacht. Sie befand sich direkt neben dem Reifenlager, auf einem rostigen Trailer. Es war sicher einmal ein schönes Schiff gewesen, aber die Jahre hatten den Lack ausgebleicht, und der Rumpf war schon an mehreren Stellen geflickt.

Ich dachte daran, wie mein Bruder mich früher manchmal hier abgeholt hatte und wir in seinem Wagen zu seiner Wohnung gefahren waren. Da war ich siebzehn gewesen, vielleicht auch achtzehn. Das war jetzt fast zehn Jahre her, und seitdem war viel passiert. Doch hier hatte sich kaum etwas verändert, und als ich über den Parkplatz zu der Werkstatt lief, musste ich an Normans Vater denken, der den Laden damals noch leitete.

In der Werkstatt lief das Radio, es roch wie immer, und als ich die Tür hinter mir schloss, kam mir ein Hund entgegen. Er wedelte mit dem Schwanz und schnupperte an meiner Hose. Ich ging in die Hocke, und noch bevor ich ihn streicheln konnte, leckte er mir über das Gesicht. Er drückte sich gegen mich, und ich musste aufpassen, dass er mich nicht umwarf.

»Alex«, sagte Norman. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Er stand neben mir, lächelte und blickte zu mir herunter. Ich stand auf, und wir umarmten uns.

»Siehst gut aus. Warum hast du nicht angerufen?«

»Dein Hund?«, fragte ich.

»Vom alten Janssen … ist vor drei Wochen gestorben. Ich kann eigentlich keinen Hund gebrauchen.«

Wir sahen beide zu dem Hund, der noch immer ganz dicht neben mir stand, und ich musste an den alten Janssen denken; an sein faltiges Gesicht und seine dürren Arme. Ich hatte gewusst, dass er krank gewesen war, und damit gerechnet, dass er sterben werde. Aber es nahm mich jetzt doch mehr mit, als ich gedacht hätte.

»Scheint dich zu mögen.« Er grinste.

»Vergiss es«, sagte ich und boxte ihm in die Seite.

Norman hielt mir eine Zigarettenschachtel hin.

»Hab’s mir abgewöhnt.«

»Gut, dass du wieder da bist. Mir wächst die Arbeit langsam über den Kopf.«

Er zog an seiner Zigarette. Dann warf er sie auf den Fußboden und trat sie aus.

»Was meinst du, sollen wir was trinken gehen?«

Als wir in Normans Wagen stiegen, hatte es aufgehört zu regnen, und als wir durch die Straßen fuhren, war es, als wäre ich nie wirklich weg gewesen. Norman am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Nur der Hund auf der Rückbank war neu. Norman fuhr einen Umweg und sagte, dass die Werkstatt so gut laufe wie nie. Dann erzählte er vom alten Janssen.

»Er war fast einen Monat im Krankenhaus, aber als er wieder zu Hause war, dachte ich, dass es ihm besser geht. Er hat mich sogar noch ein paarmal in der Werkstatt besucht.«

Er machte eine kurze Pause. Dann sagte er: »Bei meinem letzten Besuch konnte er kaum noch sprechen. Das ist nicht mal einen Monat her. Eine Frau vom Pflegedienst war da, sie war sehr nett. Aber überall in der Wohnung lagen Medikamente herum, es roch nach Desinfektionsmitteln, und Janssen lag in einem Krankenbett, das mitten in seinem Wohnzimmer stand.«

Wir saßen nebeneinander im Wagen, fuhren durch unser Viertel, und niemand von uns sagte etwas. Die Zeit im Knast kam mir wie ein schlechter Traum vor – wie etwas, das mir jemand anderes erzählt hatte. Und obwohl ich heute Morgen noch dort gefrühstückt hatte, kam mir das alles schon weit weg vor. Ich dachte an das Geschirr, von dem ich fast zwei Jahre gegessen hatte, an die Gänge und den Blick aus meinem Fenster.

»Hast du eigentlich schon was, wo du schlafen kannst?«, fragte Norman, während er den Wagen in eine Parklücke steuerte.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du kannst gerne erst mal bei mir wohnen.«

»Danke«, sagte ich. »Was ist mit dem alten Segelboot auf dem Hof?«

Norman sah zu mir herüber.

»Ganz in Ordnung gekriegt haben die dich dort also doch nicht«, er lachte und schaltete den Motor ab. »Ist etwas chaotisch da drin, aber ich will dich nicht von deinem Glück abhalten.«

Wir gingen in einen Laden, der erst vor Kurzem geöffnet hatte und in dem außer uns und dem Barkeeper nur ein alter Mann am Spielautomaten stand. Nach dem dritten Bier war ich schon ziemlich angeschlagen. Also bestellte ich mir eine Cola und hörte Norman zu, der unablässig erzählte. Es fühlte sich gut an, neben ihm am Tresen zu sitzen und seinen Geschichten zu lauschen, während der Alte den Automaten fütterte. Es lief keine Musik, und obwohl wir fast die einzigen Gäste waren, mochte ich den Laden.

»Wann willst du wieder anfangen?«, fragte Norman nach einer Weile.

»Na ja, um ehrlich zu sein … viel vor hab ich nicht. Was hältst du von nächster Woche?«

Er lächelte, dann legte er seine Hand auf meine Schulter.

»Hört sich gut an – sehr gut sogar.«

Auf dem Heimweg hielten wir an einem McDonald’s an und bestellten uns Burger und Pommes. Wir aßen im Wagen auf dem Parkplatz und sahen zu der Tankstelle auf der anderen Straßenseite hinüber. Ein Mann betankte seinen Transporter, und eine Frau putzte die Scheibe ihres Cabrios.

Norman hatte das Radio eingeschaltet, und der Hund lag jetzt zu meinen Füßen.

»Wie heißt er eigentlich?«

»Flint«, sagte Norman. »Janssen war schon krank, als er ihn bekam, aber da wusste er es noch nicht.«

Ich sah zu dem Hund, der mich aus dunklen Augen anblickte. Und plötzlich musste ich an einen Tag in meiner Jugend denken, an dem ich mit Janssen in einem Boot zum Angeln auf die Ostsee gefahren war.

»Der ist immer hungrig.« Norman lachte. »Pass bloß auf deinen Burger auf.«

Als wir auf dem Hof bei der Werkstatt hielten, gab er mir einen alten Schlafsack.

»Wirst du brauchen«, sagte er und blickte Richtung Segeljacht. »Wir sehen uns morgen.«

»Danke«, sagte ich und stieg aus.

Aber als ich ein paar Schritte gegangen war, hörte ich, wie er das Fenster herunterkurbelte.

»Alex.«

»Ja.«

»Denkst du oft an ihn?«

»Jeden Tag«, sagte ich. Und dann ging ich zu der Segeljacht.

Am nächsten Morgen wurde ich von der Sonne geweckt, die durch das kleine Bullauge auf mein Bett schien. Ich war durstig, hatte aber nichts zu trinken, also kletterte ich aus meinem Schlafsack, zog mich an und ging an Deck. Normans Wagen stand neben der Werkstatt, und Flint lag vor dem Eingang in der Sonne. Es war der erste warme Tag des Jahres. Die Sträucher, die ich vom Boot aus sehen konnte, waren bereits grün, aber die meisten Bäume waren noch kahl. Ich stieg die kleine Leiter hinunter und pinkelte an eine Mauer, dann ging ich zur Werkstatt hinüber. Als der Hund mich bemerkte, wedelte er mit dem Schwanz, aber anstatt mich zu begrüßen, blieb er in der Sonne liegen.

»Guten Morgen«, sagte Norman. Er saß auf einem Stuhl neben der großen Werkbank und hielt einen Kaffeebecher in der Hand.

Ich nahm die Tasse, die er für mich auf den Tisch gestellt hatte, ging zum Waschbecken, füllte sie mit Wasser und trank sie aus.

»Gut geschlafen?«

Ich nickte.

»Wo hast du das Boot her?«

»Gegen meinen alten Honda getauscht. Steht schon fast zwei Jahre auf dem Hof.«

Ich nahm mir einen Kaffee und setzte mich neben ihn.

»Kann man auf jeden Fall was draus machen.«

»Ja, wenn ich irgendwann dazu komme. Mein Vater hat sich immer so ein Boot gewünscht, ich glaube, ich habe es deshalb genommen.«

Er stand auf, ging zum Tor und blickte zu der alten Jacht. Sie war bestimmt schon vierzig Jahre alt, und ich fragte mich, wie Norman es geschafft hatte, das große Schiff durch die schmale Einfahrt zu bekommen. Das Segel und der Mast fehlten. Der Rumpf war sicher über zehn Meter lang und mit alten Spanngurten am Trailer verzurrt.

Norman zündete sich eine Zigarette an, dann kam er wieder zu mir.

»Was hast du heute vor?«

»Muss ein paar Sachen besorgen.«

»Brauchst du Geld?«

»Nein, aber danke«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

Ich fuhr mit dem Bus zu einem Woolworth und kaufte mir eine Jogginghose, zwei Jeans, einen Arbeitsoverall und ein paar T-Shirts. Dann ging ich zu einer Drogerie und besorgte mir einen Rasierer, Duschgel, Zahnpasta und Rasierseife. Am Ende kaufte ich mir in einem Schuhgeschäft ein Paar Laufschuhe.

Nachdem ich fertig war, machte ich mich zu Fuß auf den Rückweg. Es war Nachmittag, als ich an dem Laden vorbeikam, in dem ich am Abend zuvor mit Norman gewesen war. Ich war hungrig, und vor dem Eingang stand eine Tafel, auf der ein paar Gerichte angepriesen wurden. Ich ging rein, setzte mich an einen Tisch neben dem Eingang und stellte meine Einkaufstaschen ab. Dann sah ich mir den Zettel mit den Tagesgerichten an.

»Sieht nach einem Großeinkauf aus«, sagte die Kellnerin. Sie sah zu den Taschen und lächelte. Sie war vielleicht Mitte zwanzig, hatte kurze braune Haare und trug eine Schürze.

»Ja, war mal wieder nötig.«

»Was kann ich dir bringen?«

»Ich nehme den Bohneneintopf und eine Cola.«

Die Kellnerin ging zurück zum Tresen, und ich sah mich im Laden um. Der Raum war einfach eingerichtet, in einer Ecke hing ein kleiner Fernseher, und an den Wänden klebten alte Filmplakate. Es gab zwei Sofas, die Stühle waren alle frisch gestrichen, und vor dem großen Fenster, neben dem Eingang, standen mehrere Pflanzenkübel mit Zimmerpalmen Der Mann, der am Abend zuvor am Spielautomaten gestanden hatte, saß jetzt am Tresen. Er trug ein zerknittertes schwarzes Hemd, Jeans und braune Lederstiefel. Es lief leise Musik, und an den Tischen saßen vereinzelt Gäste, aßen oder lasen Zeitung.

Nach ein paar Minuten brachte die Kellnerin mein Essen und stellte es vor mich auf den Tisch. Als sie das Besteck neben den Teller legte, blickte sie kurz auf die Narben an meinen Handgelenken.

»Lass es dir schmecken, und sag Bescheid, wenn du was brauchst.«

Ich nickte, und bevor sie wieder zum Tresen ging, lächelte sie mich an.

Der Bohneneintopf war großartig, und irgendetwas daran erinnerte mich an das Essen meiner Mutter.

Als ich fertig war, bestellte ich mir noch einen Kaffee zum Mitnehmen, bezahlte, nahm meine Sachen und ging.

Norman war nicht da, als ich bei der Werkstatt ankam. Ich kletterte an Deck der Jacht und stellte die Taschen ab. Dann ging ich in die kleine Kajüte. Die Möbel waren komplett aus Holz gefertigt. Das Bett befand sich im Bug des Bootes, es gab einen kleinen Schrank und eine Kochnische und daneben eine Sitzecke. Die Kajüte war nicht besonders groß, aber der Platz war perfekt genutzt. Und auch wenn es etwas muffig roch und einige der Türen schief in den Angeln hingen, konnte man hier wirklich was draus machen.

Ich brachte die Polster der Sitzecke zum Lüften nach oben und nahm mir in der Werkstatt einen Eimer und Putzmittel. Dann machte ich mich an die Arbeit. Zuerst putzte ich die Bullaugen in der Schlafkoje und der Kochnische, dann wischte ich die Schränke aus. Ich zog die Schrauben an den Scharnieren nach und reparierte die Luke, die vom Wohnraum hinaus an Deck führte.

Nach drei Stunden hatte ich den gröbsten Schmutz beseitigt. Ich hatte meine Kleider in die Schränke geräumt und sogar den Kocher und den Kühlschrank wieder in Ordnung gebracht.

Ich ging in einen Supermarkt und kaufte drei Dosen Ravioli, Toastbrot und ein Sixpack Bier. Auf dem Heimweg kam ich an dem kleinen Kiosk vorbei, in dem wir uns früher hin und wieder Süßigkeiten gekauft hatten. Und ich dachte an den Besitzer, der uns manchmal die alten Ausgaben irgendwelcher Comics geschenkt hatte. Das Schaufenster sah noch genauso aus wie damals, aber die Scheibe war schmutzig, und die Waren in der Auslage waren mit einer Staubschicht überzogen.

Als ich wieder zurück war, öffnete ich ein Bier und wärmte mir eine Dose Ravioli auf. Es war das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass ich mir selbst etwas zu essen machte. Als ich fertig war, trank ich noch ein Bier, dann wurde ich müde. Ich legte mich aufs Bett und schlief ein.

Als ich wach wurde, war es schon dunkel. Ich setzte mich auf die Bettkante und blieb einen Moment lang sitzen. Dann stand ich auf, tastete mich zur Tür und ging an Deck.

Auf dem Hof gab es keine Lampe, das einzige Licht kam von einer Straßenlaterne, aber sie war ein gutes Stück entfernt, und von dem Licht kam kaum etwas an. Ich sah die Umrisse der Autos und die dunkle Silhouette der Werkstatt, ansonsten konnte ich nichts erkennen. Nach einer Weile gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich sah den Schrottcontainer und die Reifenstapel. In der Ferne fuhr eine S-Bahn vorbei, und ich dachte daran, wie Norman und ich vor Jahren Geldstücke auf die Schienen gelegt hatten und sie später platt gewalzt im Gleisbett suchten. Damals waren wir fünfzehn, rauchten unsere ersten Zigaretten und träumten von alten Autos; unsere Welt bestand aus Kinofilmen, Comics und den Straßen unseres Viertels. Normans Vater war noch am Leben, seine Werkstatt war der Mittelpunkt unseres Universums. Und auch wenn wir nicht wussten, wohin uns das Leben tragen würde, waren wir zuversichtlich.

Ich stand früh auf und ging laufen. Ich hatte im Knast mit Sport begonnen. Am Anfang hatte ich gerade einmal zehn Liegestütze geschafft, mittlerweile war ich bei achtzig.

Ich lief an der alten Bäckerei vorbei, an dem kleinen Supermarkt, dann bog ich in die Straße ein, in der wir früher gewohnt hatten und in der Norman immer noch lebte. Es war noch ziemlich früh, und auf der Straße war kaum etwas los. Die Bäume waren in den letzten Jahren ein gutes Stück gewachsen, aber die Vorgärten waren nach wie vor verwildert. Als ich an unserem alten Haus vorbeikam, blickte ich zu den Fenstern unserer Wohnung hinauf. Ich fragte mich, wer jetzt dort wohnte und wie sie eingerichtet war. Ich kam an der Stelle vorbei, an der Norman und ich uns vor Jahren kennengelernt hatten. Dann lief ich eine Weile an den S-Bahn-Gleisen entlang, an unserer alten Schule vorbei und durch die Unterführung.

Als ich nach einer guten Stunde wieder bei der Werkstatt ankam, fuhr Norman gerade einen Käfer auf die Hebebühne.

»Schöner Wagen«, sagte ich, als Norman die Tür öffnete und ausstieg. Der Käfer war rot, der Lack glänzte.

»Baujahr zweiundsiebzig, kein bisschen Rost. So was findet man selten.« Er fuhr mit der Hand über die Motorhaube.

»Hör mal«, sagte er. »Ich bin heute den ganzen Tag unterwegs, könntest du dich um Flint kümmern?«

»Klar.« Ich sah zu der Tür des Pausenraums. Sie war geschlossen, aber ich hatte den Raum genau vor Augen – die schmutzigen Wände, den alten Tisch und die wackligen Bänke.

»Funktioniert die Dusche eigentlich?«

»Ja, Handtücher sind in dem Spind neben dem Kühlschrank. Da ist übrigens auch eine Waschmaschine. Sie ist nicht angeschlossen, aber sie funktioniert.«

Ich holte frische Kleider und ging duschen.

Als ich aus der Kabine kam, blickte ich durchs Fenster hinaus auf den Hof. Normans Wagen war weg, und Flint lag in der Sonne und schlief. Ich ließ Wasser in einen Kanister laufen und ging zum Boot. Dann kochte ich mir einen Kaffee, bestrich zwei Scheiben Toastbrot mit Erdnussbutter und setzte mich an Deck. Es war warm, aber windig, und während ich auf der Reling saß, fiel mir ein kleiner Vogel auf, der nur zwei Meter von mir entfernt auf der Ankerwinde saß. Er war braun, und sein Gefieder war etwas struppig. Er bewegte sich kaum, und es wirkte fast, als würde er mich beobachten. Ich brach ein kleines Stück Toast ab und legte es vorsichtig zwischen uns auf den Schiffsboden. Dann setzte ich mich wieder. Der Vogel sah abwechselnd zu mir und dem Brot, aber er blieb auf der Ankerwinde sitzen.

»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich. Der Vogel drehte seinen Kopf, piepste und hüpfte auf den Boden, dann flatterte er mit den Flügeln, machte einen weiteren Satz, nahm das Brot und flog davon. Ich sah ihm nach, wie er immer kleiner wurde und schließlich verschwand.

Gegen Mittag ging ich mit Flint zu einem kleinen Park. Der Wind war stärker geworden, der Himmel bewölkt, und es sah nach Regen aus. Als wir im Park ankamen, spielte ich eine Weile mit ihm. Dann legte ich mich auf die Wiese. Eine alte Frau saß auf einer Bank und las in einem Buch, und ein Vater spielte mit seinem Jungen Fußball. Flint lag die ganze Zeit neben mir und kaute auf einem Stock herum. Manchmal kamen andere Hunde vorbei, dann stand er auf und lief zu ihnen, aber er kam jedes Mal schnell wieder zurück.

Auf dem Rückweg nahm ich eine Abkürzung durch ein Industriegebiet. Ich lief an einem Baustoffhandel vorbei, an einer Spedition und einer Weingroßhandlung. Ich kannte zwar die Richtung, war die Strecke aber noch nie gegangen, und irgendwann merkte ich, dass ich mich verirrt hatte. Ich bog in die nächste Straße ein und lief sie bis zum Ende, und plötzlich stand ich vor der Friedhofsmauer. Ich war seit Dennis’ Beerdigung nicht mehr hier gewesen. Damals hatten mich zwei Polizisten begleitet, und ich wusste nicht, ob ich das Grab finden würde. Eine Weile stand ich einfach so da. Dann lief ich die Mauer entlang bis zum Eingang und durch das schmiedeeiserne Tor hindurch.

Obwohl ich mich kaum noch an die Beerdigung erinnerte, fand ich das Grab sofort. Es lag im alten Teil des Friedhofs, neben verwitternden Grabsteinen und in der Nähe einer knorrigen, kahlen Eiche. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern hatte Dennis nur ein einfaches Holzkreuz. Aber das Grab war gepflegt, und in der Mitte stand eine Petroleumlampe. Ich kramte in meiner Jackentasche nach einem Feuerzeug, aber ich hatte keins dabei.

Ich ging in die Hocke und berührte die Erde. Flint setzte sich neben mich, und als mir die Tränen kamen, leckte er mir über das Gesicht.