Inhaltsverzeichnis

Systemische Erlebnispädagogik

Kreativ-rituelle Prozessgestaltung in Theorie und Praxis

1. Weiche Wirklichkeiten

Astrid Habiba Kreszmeier:

Im Spiel der Phänomene
Phänomene

Edmond Tondeur:

Menschen stärken – Sachen klären
Systemische Haltung

Robert Hepp, Susanne Doebel:

Von der Offenheit für das Geheimnis
Prozessorientierung

Stephan Schmid:

Bildwerfer
Menschenbild

Andreas Bühler, Peter Thomas, Karin Wabersich:

Posteingang (1): Stuttgarter Betrachtungen
Wahrnehmung, Handlungsorientierung, Ressourcen

Andrea Zuffellato:

In der Lösung liegt die Kraft
Lösungsorientierung

2. Pädagogischer Prozess

Konstanze Thomas:

Perspektiven systemischer Sprachführung
Sprachbegleitung

Evelyn Pöhl:

Die Geschichte vom Königreich
Leitung

Silvia Heller:

Handelnd lernen im Unternehmenskontext
Ziele & Auftrag

Andrea Guth:

Mit Jugendlichen auf Quellensuche
Naturerfahrung

Hilde Scheikl:

Suchtprävention in Szene gesetzt
Szenische Arbeit

Bettina Grote:

Wer spielt hier alles mit?
Szenische Arbeit

Claudia Fantz:

Eine Reise ins eigene Leben
Kreativtechnik

Hanspeter Hufenus, Astrid Habiba Kreszmeier:

Rituelle Raumstrukturen
Rituelle Gestaltung

Johannes Halsmayer:

Das Ineinanderfließen der vier Felder
Interventionsformen

3. Harte Wirklichkeiten

Catherine Meyer:

Über den Körper und die Einkörperung
Outdoor-Skills

Josef Eder:

Räumlich betrachtet
Raumgestaltung

Jürg Meier:

Unsicherheit als Werkzeug
Sicherheit

Dominik Schwindt:

Kleines Brevier in Sachen Marketing
Marketing & Präsentation

Hanspeter Hufenus:

Ein roter Faden ist eigentlich ein rotes Netz
Projektmanagement, Qualitätsmanagement, Logistik

Vollendung und Neubeginn

Dank

Die Herausgeberinnen

Der Krpg-Globo

Diese Übersicht umfasst stichwortartig alle Prinzipien und Faktoren der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung (Krpg). Daher dient sie im Folgenden immer wieder als inhaltlicher Bezugspunkt (vgl. auch Text Seite 8).

1. Weiche Wirklichkeiten

Einführung

Vor zehn Jahren entwickelten Astrid Habiba Kreszmeier und Hanspeter Hufenus die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung (Krpg), ein Konzept zur Begleitung von Personen und Gruppen, welches auf der Verbindung erlebnispädagogischer Methoden mit einer systemischen Haltung beruht. In der Verknüpfung von Naturerfahrung, Kreativtechniken, Szenischer Arbeit und ritueller Gestaltung wird ein Lernprozess gestaltet, der den Einzelnen darin unterstützt, sich wahrzunehmen, Verhaltensweisen und gegebenenfalls Muster zu erkennen sowie Lösungen zu entwickeln, um mit einem Bewusstsein der individuellen Ressourcen und im lebendigen Austausch mit der Umwelt den guten Platz in der Gruppe, im Team oder in der Familie einnehmen zu können.

Seit 1997 haben viele Personen am Lehrgang für systemische Erlebnispädagogik teilgenommen, die mit Menschen in unterschiedlichen beruflichen Kontexten arbeiten: Sozialpädagogen, Berater, Geschäftsführer, Personalleiter, Händler, Physiotherapeuten, Lehrer, Arbeitsagogen, Bergführer, Künstler, um nur einige zu nennen. Sie nahmen die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung in ihre professionellen Welten mit, verknüpften sie mit anderen Methoden oder passten sie den Anforderungen ihrer Zielgruppen an, und trugen so zur Vertiefung und Weiterentwicklung bei. Von ihren Erfahrungen, Wagnissen und Schritten berichten die Artikel dieses Herausgeberbandes.

In den Jahren der Lehrgangspraxis hat sich als theoretische und praktische Grundlage der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung eine Übersicht herauskristallisiert, der „Krpg-Globo“, der als Abbildung auf Seite 7 zu sehen ist. Im Zentrum steht der pädagogische Prozess, welcher von unterschiedlichen Faktoren bestimmt, getragen und geführt wird, die wir in der Fachsprache weiche und harte Wirklichkeiten nennen. Der Weg dieses Bandes führt uns Schritt für Schritt durch diesen Krpg-Globo, Ausgangspunkt sind die weichen Wirklichkeiten. Diese beinhalten all jene Prinzipien des pädagogischen Handelns, die sich aus unserem Selbstverständnis ergeben. Es sind Bedeutungen, die wir geben, Haltungen, die wir einnehmen, gedankliche Verbindungen, die wir herstellen, Ideen, denen wir vertrauen; kurz, es ist die pädagogische Brille, mit der wir schauen.

Im Spiel der Phänomene

Astrid Habiba Kreszmeier

Menschen stärken – Sachen klären

Edmond Tondeur

Von der Offenheit für das Geheimnis

Robert Hepp, Susanne Doebel

Bildwerfer

Stephan Schmid

Posteingang (1): Stuttgarter Betrachtungen

Andreas Bühler, Peter Thomas, Karin Wabersich

In der Lösung liegt die Kraft

Andrea Zuffellato

Im Spiel der Phänomene

Astrid Habiba Kreszmeier

Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik (wofür sich die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung hält) baut ihren Rahmen, ihre Rhythmik und ihre methodisch-didaktische Interventionsführung auf der Annahme auf, dass der pädagogische Prozess von Phänomenen unterstützt oder gar geleitet werden kann. Wenn ich hier einige Sichtweisen zu diesem „Spiel der Phänomene“ im pädagogischen Kontext darstelle, dann im Bewusstsein, dass ich mich auf ein weites Feld begebe, dem ich nicht umfassend gerecht werden kann. Das hat einerseits mit unserer eigenen Begrenztheit, aber ebenso mit dem Gegenstand der Betrachtung zu tun, an den sich die Menschheit schon seit langer Zeit und aus vielen verschiedenen Forschungsrichtungen letztlich immer nur herantastet. So werde auch ich mich einer solchen Pädagogik hier nur fragmentarisch und assoziativ annähern, hoffe aber dennoch, einige hilfreiche Bilder und Gedanken mitteilen zu können.

Was ist (hier) ein Phänomen?

Ein Phänomen ist einfach gesagt „etwas, das sich zeigt“, „etwas, das sichtbar wird“, „etwas, das unter vielen anderen sichtbaren Ereignissen oder Dingen besonders hervorsticht“.

Wenn durch einen Seminarraum ein Tiger laufen würde, aber niemand sieht ihn, dann wäre er nicht nur kein Phänomen, sondern nicht einmal existent. Wenn sich in diesem Raum ein Schmetterling auf meinen Handrücken setzen würde, angenommen genau in dem Moment, in dem ich das berühmte Beispiel vom Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der dann in Südamerika ein Erdbeben mitbewegt, erzähle, dann wird dieser Schmetterling erst dann wirklich, wenn ich oder irgendjemand ihn wahrnimmt. Aber selbst dann muss er noch kein Phänomen sein. Zum Phänomen wird er erst, wenn etwas zwischen mir und dem Schmetterling oder zwischen anderen und dem Schmetterling geschieht, das dieser Begegnung Bedeutung schenkt und die Beteiligten „berührt“.

Ein Phänomen ist also nicht per se ein Phänomen, sondern wird erst durch den Akt der Wahrnehmung und Beziehung zu einem solchen. Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik ist also kurz gesagt eine Pädagogik der beziehungsstiftenden Wahrnehmung. Was die Sache nicht zwingend einfacher macht, weil die Wahrnehmung wohl einer der komplexesten Seinsvorgänge ist, mit denen wir uns befassen können.

Ein paar Gedanken zur Wahrnehmung

In uns allen fließt – weil über viele Jahrhunderte so gesehen und gelehrt – die Vorstellung, dass unsere Wahrnehmung ein Vorgang ist, durch den eine äußere Wirklichkeit objektiv und objektgetreu abgebildet wird. Das führt dazu, dass wir konsequent davon ausgehen, dass das, was wir wahrnehmen, genauso wirklich ist, dass es dort draußen, getrennt und unabhängig von uns, existiert.

Daran haben auch die Erkenntnisse der Physik, der Biologie, der Wahrnehmungspsychologie etc. der vergangenen 90 Jahre noch kaum etwas verändert, umso wichtiger, uns daran immer und immer wieder zu erinnern:

Das, was wir wahrnehmen, ist nichts Objektives, sondern das, was wir durch den Wahrnehmungsprozess, der von vielen vorbewussten Mustern und Selektionsverfahren geprägt ist, als Wirklichkeit herausfiltern.

Die Lebensfadenspinnmaschine

Demnach ist Wahrnehmung weit mehr als die Abbildung einer Wirklichkeit, sie ist ein Prozess, der aktiv an der Erschaffung dieser Wirklichkeit beteiligt ist. Meine Wahrnehmungsart beeinflusst nicht nur meine Wirklichkeit, sondern darüber hinaus auch die Wirklichkeit des Wahrgenommenen. Damit wird auch deutlich, dass Wahrnehmen kein einseitiger, sondern ein interaktiver Vorgang ist, bei dem die vorher so klaren Grenzen des Innen und Außen ziemlich rasch verschwimmen.

Für gewöhnlich geht der Wahrnehmungsprozess, das heißt auch der „Bedeutungsgebungsvernetzungsakt“ so schnell vor sich, dass er sich unserem Bewusstsein entzieht, wie die vielen Bilder im Film, die wir nie einzeln sehen, ohne die es beim schnellen Abspielen aber keine Bewegung gäbe. Und das macht auch Sinn, denn durch diesen Akt der Auswahl, Betonung, Ausblendung und Verknüpfung erzeugen wir eine kontinuierliche Ich-Identität und unser Leben erhält einen roten Faden.

Hinderlich ist, dass dieser sich hin und wieder ziemlich verheddert und auch, dass er uns manchmal hartnäckig von dem abhält, was das Leben auch noch zu bieten hätte, und wir an Lebendigkeit verlieren.

So gesehen ist die Wahrnehmung als bedeutungs- und wirklichkeitsstiftender Vorgang ein zentraler Faktor für menschliche Entwicklung. Wenn es gelingt, unsere Wahrnehmungsstruktur zu verändern, verändert sich unsere Welt – oder kurz gesagt, wer anders wahrnimmt, nimmt anderes wahr.

Ein Phänomen stört und erweitert die Kreise …

Davon ausgehend, dass Wahrnehmung ein stetiger Bedeutungsgebungsvernetzungsakt sein könnte, ist ein Phänomen (im pädagogischen Kontext) eine Erscheinung, die zunächst nicht ins Schema passt, die den Akt stört, die irritiert, schockiert, bremst, belustigt und anderes mehr. Ein Phänomen taucht aus der Fülle des Möglichen auf, materialisiert sich sozusagen vor der Nase des Protagonisten und bietet Begegnung und Beziehung an; es ist wie ein Angebot des Lebens, auch noch anders und anderes wahrzunehmen. Ob das dann auch geschieht, hängt freilich davon ab, ob der, um den es geht, in seiner Lebensfadenspinnmaschine dafür empfänglich werden kann. Denn wie schon weiter oben erwähnt: selbst ein überaus deutlicher Wink mit dem Zaunspfahl wird unbemerkt bleiben, wenn die Gemeinten ihn entweder nicht sehen oder sich nicht mit ihm in Beziehung bringen. Geschieht es jedoch, dass ein Phänomen wirkt, dann ist dies ein großes Geschenk für den Betroffenen und für den Pädagogen:

Es erhöht augenblicklich die Aufmerksamkeit, verdichtet den Moment, erweitert den Raum, in dem etwas Neues stattfinden oder ausprobiert werden kann, fördert Lernbereitschaft bzw. die Wirkfaktoren, die Lernen ermöglichen. Ein Phänomen ist vielleicht noch kein Torschuss, aber allemal ein präzises Zuspiel, das die Chance auf einen Treffer erhöht. Wobei ein Tor in diesem Kontext nichts anderes ist, als der nächste mögliche Lern- und Entwicklungsschritt, der jemandem zur Erweiterung seiner Lebenskreise offensteht.

Einige Erscheinungscharakteristika

Um verwirrenden Vorstellungen vorzubeugen: Ein Phänomen ist in diesem Sinn nicht unbedingt etwas Besonderes. Es kann ein kleiner Stein am Weg sein, ein Lufthauch, der durch Blätter streicht oder sonst etwas Kleines, das aus dem Moment heraus zu etwas Bedeutsamem wird.

Phänomene sind also Ereignisse, Zeichen, Begegnungen, die den Menschen von außen geschenkt werden, und die die Kraft besitzen, den kontinuierlichen Schöpfungsakt, in dem wir uns befinden, um neue Fäden oder Strickmuster zu erweitern.

Phänomene sind originell und einmalig, sie entziehen sich der Wiederholbarkeit, und ebenso den klassischen Kriterien von Überprüfbarkeit und Wissenschaftlichkeit. So gesehen gehören sie schon eher zur Welt der Magie, salopp gesprochen, weil da etwas wirkt und ins Wirken kommt, was rein rational unerklärlich bleibt. Phänomene lassen sich daher auch nicht klassifizieren, dennoch gibt es ein paar Auffälligkeiten, die immer wieder vorkommen und die auf einen Phänomenprozess verweisen können.

• Die Wiederholung

• Die Überraschung, das Absurde, das Unmögliche

• Das bescheidene Geschenk

• Begegnungen mit Tieren, Natur- und Wettererscheinungen

• Das Wunder

• Und über all dem die Zeit: der opportune Moment, die Wahrnehmung von Koinzidenzen und Synchronizitäten

Hinweise für phänomenologische Pädagogen und solche, die es werden wollen …

Eines sei gesagt: Phänomene kann man nicht machen, nicht planen, nicht steuern, man hat keinen Zugriff auf sie. Fast könnte man sagen: wer sie unbedingt will, verscheucht sie. Was man aber tun kann, ist, sie zulassen, ihnen Möglichkeiten geben, sich zu zeigen, sich von ihnen ergreifen lassen.

Oft fragen uns Studierende, wie wir es anstellen, dass so viel geschieht, während wir scheinbar so wenig tun, oder auch, worauf wir genau schauen, damit all das sichtbar wird, was sich zeigt. Cito antwortet dann manchmal zum Unverständnis einiger: „Wir schauen gar nicht so genau, richtig genommen übersehen wir ganz viel, damit das, was gesehen werden will, in Ruhe auftauchen kann.“ Das ist genauso paradox, wie es klingt; damit Phänomene wahrgenommen werden können, brauchen sie einen leeren oder vielleicht besser einen absichtslosen Raum.

Ein diagnostischer Blick, ein allzu schnelles Wissen, worum es geht, was es bedeutet und was zu tun ist, gezielte Beobachtung und Ähnliches verhindern, dass Phänomene wirksam werden können.

So ist der wichtigste Beitrag eines phänomenologisch orientierten Pädagogen nicht seine Fähigkeit, Phänomene zu erkennen, sondern seine Wahrnehmungshaltung, die hilft, den Raum mit zu kreieren, in dem diejenigen, um die es geht, ihren Phänomenen begegnen können. Dazu braucht es Schulung und Übung in einer Art des „Schauens“, die anders ist – die nicht trennt, sondern öffnet und verbindet mit den unendlichen sichtbaren und unsichtbaren Manifestationen des Lebens. Dieses Schauen oder diese Haltung, der man auch noch Qualitäten wie Durchlässigkeit, liebevolle Zeugenschaft oder freie Achtsamkeit zuschreiben könnte, erinnern eher an spirituelle „Skills“ als an pädagogische. Und so unpassend es auch scheinen mag: je länger, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass gewisse methodische und fachliche Fertigkeiten von Schlüsselqualifikationen spiritueller Natur abhängig sind, die nicht einfach vom Himmel fallen, sondern die man sich durch Zuwendung, Übung und Praxis erwerben kann.

Neben der beschriebenen Wahrnehmungsart spielen auch die Wahl des Raumes, die gesamte Raumdidaktik, die Rahmengestaltung des Lernsettings sowie die sprachliche Installation eine bedeutsame Rolle. Wer alles plant, alles weiß, alles erklärt, der lässt keinen Platz für Phänomene – wozu sollten sie denn auch noch kommen?

Eine allgemeingültige Gebrauchsanweisung für den Umgang mit Phänomenen gibt es nicht. Zu vielfältig, zu einmalig jede Situation, jeder Mensch. Als Leitlinien können aber gelten:

Alles einrichten, was nötig ist, dann aber gelassen auf den günstigen Moment warten, im Zweifelsfall selbst das scheinbar Auffälligste vorbeiziehen lassen, sich nicht weiter wundern, wenn alle Spatzen es schon von den Bäumen pfeifen, aber der Betroffene noch immer nichts ahnt, Interpretationen unterlassen und auf den Herzschlag des „Protagonisten“ lauschen.

Da uns die Phänomene oft auf spielerische, neckische Weise das Staunen wieder lehren, ist es hilfreich, mit ihnen auch so umzugehen. Spielerisches Staunen ist ihnen zuträglicher als allzu ernst gemeintes Erkennen. Freies Kombinieren und Wiederloslassen ist hilfreicher und lebensnäher als übereifrige Verknüpfung.

Als Anregung zum Weiterforschen möchte ich anstelle einer abschließenden Aussage lieber zwei interessante Fragen in den Raum stellen:

Welche Kraft dort draußen oder hier drinnen ist Bringerin der Phänomene?

Und wieso wählt solch eine kreative Kraft nicht einen direkteren Weg? Wozu die Verschlüsselungen? Wozu die Umwege?

Literatur

Sheldrake, McKenna, Abraham (2004): Denken am Rande des Undenkbaren. München (Piper)

Jung, C.G. (2001): Synchronizität, Akausalität und Okkultismus. München (dtv)

Astrid Habiba Kreszmeier

Geboren in der Steiermark, Österreich (1964), Buchhändlerin, Diplom Heil- und Sonderpädagogik, Diplom Erwachsenenbildung, Anerkennung als Systemische Psychotherapeutin und Supervisorin, seit 1994 Initiandin in Orixá-Traditionen und Naturkosmologien, Zusatzqualifikationen in Aufstellungsarbeit und körperorientierter Psychotherapie, Gründung und Leitung der Terra Sagrada (2006), seit 1994 Mitarbeit in der Wildnisschule, seit 2002 Mitbegründung und Leitung der Nachfolgeinstitution planoalto, Lehrtrainerin und Begleiterin in allen planoalto-Weiterbildungen, Autorin und Herausgeberin von sieben Büchern und zahlreichen Artikeln.

Menschen stärken – Sachen klären

Edmond Tondeur

Als „lebenslanger Autodidakt und Grenzgänger“ stellte ich mich 1998 auf der Teilnehmerliste im zweiten Lehrgang „Kreativ-rituelle Prozessgestaltung“ vor. Die Bezeichnung war nicht mutwillig gewählt, sie drückt vielmehr aus, wie ich mich, damals nahe 70, heute schon eher in Richtung 80, als Gast und Spross dieses Planeten verstehe.

Der Autodidakt hat sich also in die Lernerfahrung eines Outdoor-Didakten gewagt. Da lässt sich fragen, wie sich diese Erfahrung einfügte in das zuvor Gelernte, und gleich noch konkreter: Wie verbinden sich die Erkenntnisse und Erlebnisse aus dem Krpg-Lehrgang mit meinem Verständnis von Organisationsberatung und Führungsbegleitung, in der ich während Jahrzehnten tätig war und noch immer bin?

Dieser Frage werde ich im Folgenden nachspüren, und ebenso der Frage, wie sich Krpg im Selbstgebrauch nutzen lässt – womit sich der Kreis vom Outdoor- zum Autodidakten wieder schließen lässt. Dazu vorweg eine Beobachtung an mir selbst und anderen während des Lehrgangs: Keiner durchlief diese zwei Jahre unverändert, jeder und jedem sah man bestimmte Wirkungen des Lernprozesses an, in der Haltung und nicht nur in der methodischen Kompetenz. Diesem Zusammenhang zwischen Haltung und Methode begegne ich in der Führungsbegleitung ganz stark. Die Qualität des Führens verbessert sich nie primär durch die Anwendung neuer Methoden und Modelle, sondern durch die klarere, einfühlsamere Haltung der Leitenden gegenüber den Mitarbeitenden. Dies also vorweg, nun aber „der Reihe nach“.

Während Jahrzehnten habe ich Menschen in Organisationen, das heißt im Erfahrungsfeld Leistung / Zusammenarbeit / Wirtschaftlichkeit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen beraten, begleitet. Die Kompetenz für mein Mitwirken erwarb ich mir Schritt für Schritt, im Lernen durch das Tun, autodidaktisch eingeschworen, im Austausch mit Berufskollegen, im Studium der Fachliteratur und natürlich im Besuch ungezählter Kurse, Tagungen usw.

Noch wichtiger als die beruflich-fachliche Kompetenz war mir, schon frühzeitig und mit den Jahren immer bewusster, die Wahrnehmung und Würdigung der Menschen, die meine Mithilfe beanspruchten. Die Rolle des Experten, der sein (oftmals praxisfernes) Fachwissen für teures Geld an gutgläubige Klienten verkauft, lag mir nie. Mich interessierten die Menschen, mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten, in ihren so unterschiedlichen Leistungs- und Wirkungsfeldern. Als Lernender unter Lernenden versuchte ich meine Rolle je nach Auftrag so zu gestalten, dass aus dem Auftragsverhältnis auch so etwas wie eine „gute menschliche Begegnung“ erwuchs.

Dies, so erscheint es mir heute deutlicher denn je, ist ein zentraler Ansatz des Führens, dem wir auch im Krpg-Lehrgang sehr wachsam nachgegangen sind. Das Wort „ressourcenorientiert“ darf nicht zum trendigen Schlagwort verkommen. Es verlangt vom Führenden (Leitenden wo und wann auch immer) zunächst eine besondere Haltung sich selbst und anderen gegenüber. Ich bin erst dann ressourcengerichtet, wenn ich die Menschen wahrnehme und würdige, mit ihrem jeweils besonderen Potenzial, ihrer Einzigartigkeit (bis hin zum Fingerabdruck!), ihrem Lebensanspruch und Selbstwert.

Menschen so zu sehen und zu leiten ist keineswegs leicht, weil diese sich selbst oftmals nicht so einschätzen und aufführen. In der Tat wollen Menschen oft direktiv und als „unmündige“ Wesen be-handelt werden. Sie fordern die Leitenden auf, klar und deutlich auszusprechen, was sie von ihren „Untergebenen“ erwarten und verlangen. Das Dilemma der Leitenden ist es dann, zwischen direktiven Weisungen und zumutender (sprich: ressourcengerichteter) Aufgabenstellung das gute Maß zu finden. Manche der Methoden, die wir im Lehrgang kennen lernten, dienen gerade dazu, dass sich Menschen, zumindest für einige Momente, aus ihren selbstbegrenzenden Mustern herauslösen, mit ihren wirklichen Ressourcen vertrauter werden.

Anhand einiger Arbeitssituationen im betrieblichen Zusammenhang möchte ich die Bedeutung des Gesagten veranschaulichen.

Leitung von Arbeitsteams: Vorgesetzte, die im täglichen Kontakt mit Mitarbeitenden Leitungsverantwortung tragen, haben großen Einfluss darauf, ob sich die Mitarbeitenden verstanden, ernst genommen, als ganze Menschen wahrgenommen fühlen. Dies macht den Vorgesetzten noch keineswegs zum „Sozialarbeiter“ – Fordern und Fördern gehen in der Praxis Hand in Hand. Entscheidend finde ich die – jeden Tag erneuerte – Ausrichtung auf den Mitarbeiter als Ressource, als vielleicht noch nicht entdeckten Schatz, als wertvoll. Aus vielen Teambegleitungen weiß ich, wie sich dieses im besten Sinne zumutende Führungsverständnis auszahlt, menschlich und wirtschaftlich.

Mitarbeitergespräch: Über die Wünschbarkeit solcher (periodischer) Gespräche ist längst alles gesagt, was es zu sagen gibt. Dennoch überwiegt manchenorts bei Leitenden so etwas wie Berührungsangst. Hundert Vorwände und nicht zuletzt der Zeitdruck (auch ein Vorwand!) versetzen das Mitarbeitergespräch in die Kategorie der „aufgeschobenen = aufgehobenen“-Dinge. So wird dann das obligatorische, jährliche Qualifikationsgespräch zum Horror für alle Beteiligten. Dabei könnte auch hier die Ausrichtung auf den Mitarbeiter als Ressource viel Gutes bewirken.

Weiterbildungsprogramme: Weiterbildung hat zu tun mit Anforderungen, Veränderungen und menschlichen Potenzialen. Die Anforderungen ergeben sich aus den zu erfüllenden Aufgaben, die Veränderungen hängen damit zusammen, dass sich Bedürfnisse (der Kunden) ändern, aber auch die Rahmenbedingungen der Leistung (Konkurrenz, behördliche Sparprogramme usw.). Um mit Veränderungen Schritt zu halten, sind oft Anforderungen zu erfüllen, die über schon Gelerntes hinausgehen, eventuell auch davon abweichen. Damit sind wir bei den Potenzialen der Mitarbeitenden, den Ressourcen. Weiterbildung, die den Namen verdient, findet nur statt, wenn sie von den beteiligten Menschen bejaht und mitgetragen wird. Daran führt kein Weg vorbei. Verordnete Weiterbildung ist keine, mögen die Programme noch so gescheit abgefasst sein.

Führen beginnt also damit, andere wahrzunehmen, die Realität und Potenzialität der anderen zu erkennen und zu schätzen. Nun ist Wahrnehmung anderer eng verknüpft mit dem Wahrnehmen seiner selbst, dem eigenen Selbstkonzept. Banal und doch wie wahr: Wer sich selbst nicht mag, wird kaum je andere mögen. Und wer zu seinen Ressourcen keinen Zugang hat, wird sie anderen nicht zugestehen oder allenfalls die Ressourcen anderer missbrauchen.

Die ganze Arbeit mit Kreativ-ritueller Prozessgestaltung hängt sehr davon ab, ob die Anleitenden selbst in der Achse sind, will heißen: bei sich und ihren Ressourcen. Fehlt diese Sender-Qualität, verkommt die Anleitung sehr bald zur bloßen Technik, eventuell zur Manipulation.

Psychotherapeutische Ansätze verfolgen, übers Ganze gesehen, ein ähnliches Ziel, nämlich die Befreiung des Individuums zu sich selbst. Im heute aktuellen Wortgebrauch lässt sich formulieren: Erst die Verbindung von Emotionaler Kompetenz mit Sozialer Kompetenz (uff!) begründet die Fähigkeit, andere zu würdigen. Sinn und Wirksamkeit der psychotherapeutischen Disziplinen stehen hier nicht zur Debatte. In Organisationen und Arbeitskontexten sind sie kaum anwendbar, im Unterschied zu manchen Methoden der Krpg, die niedrigschwelliger und spielerischer in die verschiedenen Bereiche der Führungspraxis eingebracht werden können.

Nun zu einem anderen zentralen Begriff: der systemischen Sicht. In der Führung von Organisationen hat diese Sicht schon seit langem ihre Entsprechung: Führen wird heute weithin charakterisiert als: in vernetzten Bezügen bewusst denken und handeln. Eine Zeit lang war dafür noch der Begriff des „Ganzheitlichen“ gebräuchlich.

Wer, in welcher Bildungsarbeit auch immer, den ganzen Menschen erreichen und bewegen will, kommt an der systemischen Betrachtungsweise nicht vorbei. Ganz ist der Mensch ja eben darin, dass er nicht nur für sich besteht, sondern Teil eines sich selbst organisierenden Universums ist. (Rupert Sheldrake hat dafür den Begriff der morphogenetischen Felder eingeführt, in deren Resonanz und Wandel sich die Evolution des Kosmos als unablässiger Lernprozess abspielt.)

In der Führungspraxis gerät dieses Denken und Handeln in Zusammenhängen leider nicht selten ins Hintertreffen. Kurzfristige (kurzsichtige) Handlungszwänge oder Erfolgsverheißungen engen das Visier ein. Der Virus des „Zupackens, ohne lange zu fackeln“ greift um sich, die „Macher“ beherrschen die Szene. Dabei ist gegen „zupackendes Führen“ (vgl. „in die Handlung gehen“) nichts einzuwenden. Nur bleibt der Stellenwert dieses Handelns zu prüfen, der Reifegrad, und es stellt sich die Frage, ob auf dem Deck des sturmgepeitschten Schiffes überhaupt noch jemand die Aufgaben des Weitblicks und des Steuerns wahrnimmt.

Dem „Systemischen“ ordne ich auch folgenden Gedanken zu: Unternehmen und Organisationen jeder Art sind so etwas wie Kreuzpunkte (oder eher: Kreuz-Räume) von Laufbahnen, Biografien, Reisen vom Ich zum Du, Lernfelder für soziales Zusammenleben. Dieses Biografie-Bewusstsein kann zur wichtigen Stütze werden im Gleichgewicht von Aufgabe / Ich / Wir (man denke an Ruth Cohn‘s Modell der Themenzentrierten Interaktion). Biografie-Bewusstsein kann auch in Organisationen entwickelt und genutzt werden, durch Methoden des „Sozialen Kosmos“, durch „Aufstellungen“ und „Psychodrama“. Da kommt es beispielsweise zu Fragen wie:

Welche Beziehungen und Beziehungsfelder sind für die Beteiligten (Führende und Geführte) energetisch bestimmend?

Welche Bündnisse, Vermächtnisse und Rollenerbschaften wirken sich auf die Zusammenarbeit aus?

Welche Geschichte hat die Organisation, welchem „Mythos“ ist sie entsprossen, und auf welche Vision hin bewegt sie sich?

Zu meinen, für solcherlei „gründliche“ Sichtweisen bestünde im „Durcheinander der Postmoderne“ kein Platz mehr, ist ein grobes Verkennen der Wirklichkeit, in der wir leben und durch die wir, oft ahnungslos und auf banalsten Pragmatismus fixiert, eben doch geformt werden. Führungspersonen, die von alledem nichts wissen wollen, holt früher oder später ihre Kurzatmigkeit ein; davon soll später noch die Rede sein.

„Wir arbeiten mit dem, was geschieht“ und nicht nach vorgefassten Konzepten, diese Botschaft war im Krpg-Lehrgang wegleitend, implizit noch mehr als explizit (ging es doch nicht um Doktrin). Heute hört man und liest man es allerorten: Wir sind prozessorientiert.

Doch was es wirklich bedeutet, dem Prozess zu folgen und sich selbst als Teil dieses Prozesses zu verstehen, erfahre ich in der Führungsbegleitung regelmäßig als Stolperstein. Selbst aufgeschlossene Vorgesetzte neigen leicht dazu, den Prozess in ihrer Organisation gleichsam von außen zu beobachten und je nach Ermessen (sprich: Ungeduld) laufen zu lassen, ohne zu intervenieren. Sie erkennen nicht, wie sie auch mit dieser Beobachterrolle Teil des Prozesses sind, indem sie die Macht, einzugreifen oder geschehen zu lassen, bei sich behalten.

Die Gratwanderung zwischen Ermöglichen (facilitate!) und Manipulieren folgt der Bruchlinie von Vertrauen versus Widerstand (bei den Geführten). Lebendigkeit des Führens hat viel damit zu tun, ob und wie die Leitenden im Biotop ihrer Arbeitsbeziehungen fassbar und transparent sind. Ränkeschmiede, Karrieristen und Graue Eminenzen führen jedenfalls nicht prozessorientiert; sie bleiben an der Peripherie des sozialen Kosmos, den jede Arbeits- und Erwerbsgemeinschaft in ihrem menschlichen Kern darstellt.

Sicher scheint mir zu sein: Die hohe Zeit der Konzepte und generalstäblichen Planung ist zu Ende. Sie macht einem neu verstandenen Lernen-durch-Tun Platz, neu verstanden deswegen, weil es nicht um einen Rückfall in Pragmatismus geht, sondern um die stärkere Gewichtung des Prozesses. In die Handlung gehen, um miteinander zu lernen und zu wachsen. Wie einfach erschien doch Führen noch in den Jahren der Stab-Linien-Organisation: Hier die Vor-Denker, dort die Ausführenden, und dazu die „drei K-Prinzipien“: Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren. Der Chef als Befehlshaber, als Kapitän auf dem Schiff, oder idyllischer: als Kutscher, der die Zügel seiner Pferde fest in Händen hält. Ganz andere Metaphern drängen sich heute auf, zum Beispiel die des Architekten (Führen als Systembau und -gestaltung), das des Orchesterdirigenten (Führen als Anleiten und Inspirieren zur konzertierten Aktion). Gewiss gibt es noch heute auch die Metapher des Spielers: Team-Player, Global Player, Games Man. Doch spätestens im Money-Power-Game wird der gnadenlose Ernst des Spiels unverkennbar.

Zurück zur Führungsachse, zur Haltung, auf die es in jedem Führen ganz wesentlich ankommt. Wer sich die Merkmale dieser Führungsachse näher anschaut (und Führende in ihrem Wirken näher anschaut), erkennt Eigenheiten, die viel mit individueller Lebensgeschichte und Persönlichkeitsstruktur zu tun haben. Wir alle haben im Zusammenhang mit Führen und Geführtwerden unsere persönliche Geschichte, die mit dem ersten Erleben der Eltern begann, sich über die Erfahrung mit Autoritätspersonen in den Jahren des Heranwachsens fortsetzte, bis hin zu den später folgenden Rollen als Untergebene und / oder Führungsverantwortliche.

Schon daraus lässt sich folgern: Führen ist nur teilweise eine Disziplin (eine Methodenkomposition), die man / frau lernt wie irgendeinen Beruf. Vorverständnisse, Beweggründe, Ängste, Erfolgsbedürfnisse usw. wurzeln in der individuellen Geschichte der Führenden wie der Geführten. Damit diese Grunderfahrungen in der Führungssituation nicht zum Störfaktor werden (zum Beziehungsdrama!), müssen sie von den Exponenten (und Exponierten!) mindestens ein Stück weit aufgearbeitet und geklärt werden.

Führen hat immer mit Menschen zu tun, also mit Beziehungsarbeit. Menschen mit Leitungsaufgaben müssen sich als Beziehungsarbeiter verstehen und bewähren. Sind sie darin ungeschickt und unsensibel, wirkt sich dies auf die ganze Atmosphäre im organisatorischen Umfeld aus. Ein Altmeister der Wirtschaftswissenschaft, der Amerikaner Herbert A. Simon, erhielt 1978 (!) den Nobelpreis für seine „Verhaltenstheorie der Unternehmung“. Diese Theorie lässt sich in sechs Punkten wie folgt zusammenfassen:

• Unternehmungen (jedwelcher Art, also nicht nur Firmen) bestehen zuallererst aus Menschen, deren Verhalten durch ihre Individualität (Einmaligkeit) geprägt wird.

• Menschen lassen sich auch in ihren Berufstätigkeiten von ihren persönlichen Wünschen und Zielen leiten (bewusst oder unbewusst).

• Besonders gilt dies für Führungspersonen, das heißt Menschen mit einer Laufbahn-Perspektive und dem Anspruch, auf die Dinge Einfluss zu nehmen.

• Leistung und Entwicklung in einer Organisation hängen somit in erster Linie von menschlichen Beweggründen und deren Dynamik ab. Was wiederum bedeutet: Frustrierte Menschen behindern die Leistung und Entwicklung einer Organisation.

• Jede Art von Struktur und Führungsinstrumenten bleibt dieser psychischen Dynamik nachgeordnet und hat ihr Rechnung zu tragen.

• Die Unternehmung ist also nicht primär ein formales Gebilde, sondern eine Koalition von Menschen, die sich immer wieder entscheiden, ob sie auf eine gemeinsame Aufgabe hin zusammenwirken wollen oder nicht.

Als diese Leitsätze des Nobelpreisträgers publiziert und gefeiert wurden, war ich 45, seit gut zehn Jahren freiberuflich in der Unternehmensberatung tätig und wie viele meiner damaligen Weggefährten davon überzeugt, dass der Erfolg einer jeden Organisation primär von einer menschengerechten Führung und Personalentwicklung (damals als Human-Resource-Development neu definiert) abhängen würde.

Dreißig Jahre später blicke ich in eine Führungslandschaft, in der dieser Vorrang des Menschen von dramatischen Neuentwicklungen in der Wirtschaft, im Management und vorab auch in den öffentlichen Finanzhaushalten abgelöst oder zumindest überlagert wurde. Die sachbezogenen Kriterien der Leistungserbringung und -bewirtschaftung haben ein Gewicht und eine Dringlichkeit bekommen, die schon beinahe als erdrückend bezeichnet werden müssen. Besonders im Bereich der Nonprofitdienstleistungen (öffentlich oder privat) wurden neue Führungsinstrumente eingesetzt, die allesamt auf eine rigorose Transparenz und Messbarkeit der Leistungsprozesse hinzielten.

So verständlich und sogar unumgänglich diese Durchforstung aller Tätigkeiten und Aufwendungen im Zeichen der öffentlichen Sparpolitik sein mochte, so unübersehbar waren die Auswirkungen auf das Arbeitsklima und die Leistungsmotivation bei den Mitarbeitenden. Es soll hier nicht schwarz-weiß gemalt werden. Der anhaltende Druck auf den Leistungs- und Qualitätsnachweis im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen hat auch Gutes bewirkt. Ebenso trifft aber zu, dass unter dem „Ansturm“ neuer Instrumente und Formulare, bis hin zu umwälzenden Reorganisationen der Arbeitsprozesse, vielerorts eine (sogar beabsichtigte!) Entmenschlichung der betrieblichen Kultur Platz gegriffen hat. Die Mitarbeitenden erleben sich manchenorts als Sparpotenzial, als Vollstrecker eines digitalen Perfektionismus, mit dem sie gleichsam den Nachweis ihrer eigenen Überflüssigkeit (Stellenabbau!) erbringen sollen.

Aus Sicht der Führungs- und Teambegleitung fällt mir vor allem auf, dass durch die starke Gewichtung der sachlichen und finanziellen Aspekte im letzten Jahrzehnt die Beziehungsarbeit, der menschenbezogene Teil der Führungsaufgabe erheblich gelitten hat. Das, was die Amerikaner leadership nennen und dabei deutlich von management abgrenzen, ist nun schon als Folge der zeitlichen Beanspruchung der Leitenden durch die neuen „Führungssysteme“ an den Rand gerückt. Vorgesetzte eilen von Sitzung zu Tagung, werden in neue Projekte eingespannt und „erfolgreich“ daran gehindert, der Beziehungsarbeit im eigenen Führungsumfeld den notwendigen Platz einzuräumen. Die Mitarbeitenden wiederum fühlen sich von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen, distanziert und schlimmstenfalls verraten an die Sparstrategien der obersten Leitungsgremien. Ich male nicht schwarz, ich sehe auch nicht schwarz, ich blicke nur, kritisch-engagiert, in die derzeitige Führungslandschaft. Und frage mich: Wie kann ich in meinem Wirken als Führungsbegleiter (neudeutsch: Coach!) zu einem Führungsverständnis beitragen, das den einzelnen Menschen mit seinen besten Kräften, seinem Potenzial an Lebendigkeit, seiner Sehnsucht nach dem guten Leben (wieder) in die Mitte rückt?

Dieser Spur bin ich in den letzten Jahren gefolgt, nicht zuletzt mit dem Vermächtnis des Krpg-Lehrgangs in meinem Herzen und in meinem Kopf. In der Einzelarbeit wie auch in zyklisch angelegten Retreats mit Führungspersonen gewann die Leitidee, wonach jede Führungsperson in sich selbst die wichtigste Führungsressource für die Organisation darstellt, an Konturen und Anwendungsbreite: Jede, jeder hat in sich die Ressourcen, die sie / er braucht. In der Hast des Alltags wird dies oft vergessen; wir re-agieren dann nur mehr auf Situationen und Probleme und handeln nicht aus der Fülle unserer Möglichkeiten, unseres wirklichen Potenzials. Burn-out ist dafür eines von vielen Indizien, Burn-in meine Antwort darauf: wieder zum inneren Feuer finden in der Nähe zu sich selbst. Ich konnte darin so etwas wie die Essenz meiner Erkenntnisse und Erfahrungen im weiten Feld des Führens (und der Selbstführung) einfließen lassen, dies nicht so sehr als Experte, sondern als gereifter Mensch mit einer eigenen Lebens- und Führungsgeschichte.

Ich will mich mit diesen Hinweisen nicht brüsten, sondern die Qualität der Begegnung mit meinen Klienten ansprechen: eine Begegnung von Mensch zu Mensch, im gegenseitigen Respekt vor der Einmaligkeit und Würde des anderen.

Als Fazit dieses Bestrebens, „gutes Führen“ und „gutes Leben“ innig aufeinander einzustimmen, mögen die nachfolgenden fünf Kriterien für gutes Führen verstanden sein:

Erstens: Überblick wahren, Zusammenhänge erkennen

Dies bedeutet, mich selbst als Teil des ganzen Feldes, in dem ich arbeite und wirke, zu erkennen. Führen erfordert eine besondere Qualität im Wahrnehmen von Aufgaben, einerseits auf Ziele hin, anderseits in der Wechselwirkung mit anderen Aufgaben. Wem dieser Überblick abgeht, erledigt einfach Pendenzen, lebt von der Hand in den Mund, reagiert nur, ohne zu gestalten.

Zweitens: Die Menschen in meinem Umfeld wertschätzen

Führen ist zu einem bedeutenden Teil Gestaltung von Beziehungen, zu Kollegen, Mitarbeitenden, Vorgesetzten. Diesen Menschen in Wertschätzung zu begegnen, sie mit ihren jeweils besonderen Fähigkeiten, ihren unterschiedlichen Charakteren wahrzunehmen und zu stärken, ist ein Dauerauftrag. Diese Sensibilität für Menschen darf nie so genannten Sachzwängen geopfert werden.

Drittens: Die Sachen klären, um handlungsfähig zu sein

Das Leben ist komplex und letztlich unergründlich. So sind auch Führungsaufgaben häufig komplex, in ihrer Herkunft und Tragweite kaum wirklich auszuloten. Dennoch heißt gut führen: zur Einfachheit und Eindeutigkeit des Tuns zu finden, Komplexität immer wieder auf den Punkt zu bringen. Gelebte Einfachheit inmitten aller Komplexitäten ist die (nur scheinbar paradoxe) Ergänzung zum erstgenannten Kriterium.

Viertens: Die verschiedenen Führungsrollen erkennen und dosiert ausfüllen

Mit den verschiedenen Aufgaben und Situationen des Alltags sind verschiedene Führungsrollen verbunden, so etwa beim Vereinbaren von Zielen, beim Auswerten von Ergebnissen, bei Konfliktinterventionen, im persönlichen Mitarbeitergespräch, usw. Führen erfordert ein gutes Maß an Rollenbewusstsein und -flexibilität. Hinter jeder Rolle muss dennoch die Führungsperson als Mensch erkennbar und spürbar sein.

Fünftens: Mich selbst so führen, dass die Kriterien eins bis vier zum Tragen kommen Wer führt, muss sich selbst gegenüber Sorge tragen. Der Führungsauftrag ist immer auch der Auftrag, sich (beim Führen) zu entwickeln, an Schwierigkeiten zu wachsen, zur eigenen Mitte zu finden, bei sich zu sein. Dies ist kein Egotrip, sondern die Voraussetzung dafür, auch andere in ihrer Entwicklung stärken zu können. Dazu noch eine radikale Aussage: Führen ist nicht primär die Ausübung von Macht, sondern: Ermächtigung anderer (neudeutsch: Empowerment).

Schließen möchte ich diesen Beitrag mit einigen Bemerkungen zum Selbstgebrauch der Krpg. Tatsächlich war meine Anmeldung zu diesem Lehrgang (1997) vor allem vom Wunsch bestimmt, mich in einem für mich ungewohnten Setting neuen Erfahrungen mit dem Lernen und mit mir selbst auszusetzen. Ungewohnt waren die Menschen, denen ich begegnete; die Situationen draußen und drinnen; die Arbeitsweisen und Lebenstechniken; die Erlebnisse, die mich bis zu Grenzerfahrungen hinführten (z. B. im Boot auf dem Meer).

Mein Lernen in diesem Lehrgang war also primär dem Selbstgebrauch zugedacht, meinem Lebensalter entsprechend keine Vorbereitung auf neue Berufsaufgaben, dennoch das beherzte Wagnis eines neuen Anfangs. Dieses Anfangserlebnis, von Tag zu Tag, von Situation zu Situation, war wohl der größte Gewinn, den ich aus dem Lehrgang zog. Erfinderisch leben im Zeichen von Wandel und Vergänglichkeit! Mit dem, was geschieht, leben und arbeiten. Meinen 1001 Vorverständnissen und Vorurteilen entkommen. Die ganze dichte Präsenz der Menschen, der Dinge, der Natur genießen und gegebenenfalls auch erleiden.

So weiß ich jetzt: Kreativ-rituelle Prozessgestaltung kann meinen Alltag befruchten und verändern, wo auch immer und wie auch immer, in der Essenz, in den Grundhaltungen und natürlich auch in einzelnen Methoden. Kleines Beispiel dafür: Wenn ich den Ablauf meiner täglichen Lebenshandlungen, vom ersten Aufstehen bis zur Vorbereitung der Nachtruhe als rituelle Gestaltung auffasse und begleite, entwickelt mein Leben eine höhere Schwingungsfrequenz und Wachheit. Ich erliege dann weniger der Macht meiner Gewohnheiten, den Wiederholungszwängen, den eingespielten Mustern meiner Selbstbegrenzung. So bleibt mir (will‘s hoffen!) einiges von den Trostlosigkeiten erspart, die sich mit dem Älterwerden so oft einschleichen.

Es geht ums Verbundensein! Mich immer wieder verbinden mit dem Leben, das gerade geschieht; mit den guten Kräften; mit der Gnade in jedem Einatmen und Ausatmen. Etwa so kann ich den Auftrag zusammenfassen, den mir dieser Lehrgang mitgab. Ein Auftrag mir selbst und anderen gegenüber. Rose Ausländer, die Dichterin, hat den Auftrag wie folgt in Sprache gegossen: Was du noch nicht warst/ wirst du einmal sein /Nichts bleibt dir erspart/im unendlichen Wandel / Sei was du jetzt bist/ein Mensch.

Edmond Tondeur

Jahrgang 1931, lebt in Zürich (Schweiz)

Bisher: Kaufmännische Ausbildung, zehn Berufsjahre in Werbung und Marketing, Sozialarbeiter bei Pro Juventute, autodidaktische Weiterbildung in Sozial- und Humanwissenschaften, nebenbei freier Journalist und Publizist; ab 1965 selbstständiger Unternehmensberater; 1980 dreijähriges Timeout; anschließend Entwicklungsprozesse in Nonprofitorganisationen begleiten; seit 1985 Berater und Begleiter von Führungspersonen, Führungsgremien, Arbeitsteams; seit 1995 Beschäftigung mit den Themen „Neues Altern“, Reife, Lebenswandel; mehrjährige Ausbildung in Astrologischer Psychologie

Derzeit: Lebens-Wandel-Beratung für Menschen jeder Altersstufe; ‚Erfinderisch leben im Zeichen von Vergänglichkeit‘.

Homepage: www.lebenswandel.ch

E-Mail: tondeur.e@bluewin.ch