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Man sagt, wir seien uns ähnlich. Das kann sein, schließlich sind wir miteinander verwandt. Dabei trennt uns mehr als eine Generation. Ich war zehn Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Er lebte in einem anderen Land, die Reise zu ihm war voller Hindernisse. Er war offenherzig und doch geheimnisvoll. Er sprach mit fremdem Zungenschlag. Na, Meiner, waren seine ersten Worte, ehe er mich überschwänglich in die Arme schloss. Reiner und inniger konnte eine Ansprache kaum sein, das spürte ich gleich, und obwohl ich anfangs Mühe hatte, ihn zu verstehen, war er mir sofort nah. Meiner, bei ihm klingt es anders, er sagt es noch heute so, und es rührt mich noch immer.

Wenn man Kind ist, weiß man nicht, was die Erwachsenen wissen und warum sie sagen, was sie sagen, und tun, was sie tun. Mir war nicht klar, warum ich ihn erst so spät kennenlernen sollte oder er uns nie besuchen durfte. Angeblich hatte er in der Jugend etwas ausgefressen, sogar im Gefängnis gesessen, das war nur eins der vielen Rätsel, die mir niemand lösen wollte. Aus all den Andeutungen und Auslassungen wusste ich mir keinen Reim zu machen, sie beflügelten die Fantasie, das genügte eine Weile. Aber je älter ich werde, desto mehr spüre ich das Verlangen, das Schweigen zu brechen. Ein Gefühl, etwas aufholen zu müssen, ich laufe dem Verstehen hinterher, als ginge es ums Leben. Dabei führt mich mein Weg beharrlich zu ihm, es gibt keine Hindernisse mehr. Und er hat im Alter zunehmend das Bedürfnis, alles loszuwerden, Ballast abzuwerfen, mir scheint, das ist seine Suche: Endlich erzählen, von allem Anfang an.  

1

Der Tag begann wie jeder Tag der großen Ferien. Meine Brüder schliefen noch, als ich früh um sechs Lore an den Strick nahm und mich auf den Weg zu Bauer Grothe machte. Nachdem ich zwei Sommer lang mit dem Huber als zweiter Hütejunge gegangen war, musste ich in diesem Jahr allein raus auf die Weide. Der Huber hatte eine Lehre angefangen, und ich war, obwohl erst zehn, sein Nachfolger geworden. Stolz war ich, vor allem aber froh: Fürs Hüten gab es eine anständige Mahlzeit, jeden Tag.

Grothes Hof mit der hohen Mauer und dem Blechtor wirkte wie eine Festung. Um den Misthaufen liefen Hühner und Gänse, im Koben grunzten die Schweine. Ansonsten gab es zwei Milchkühe, zwei Färsen, einen Jungbullen und ein paar Ziegen: meine kleine Herde, die ich morgens aus dem Stall holte. Der Bauer hinkte heran und reichte mir das Frühstück, das ich in meiner alten Armeetasche verstaute. Ein Bein war dem Grothe im Krieg zerschossen worden, und manchmal wirkte er schroff, doch im Grunde war er ein guter Mensch. Seitdem er wusste, dass er sich auf mich verlassen konnte, durfte ich unsere Lore mit auf seine Weide nehmen. So musste Opa August nach der Schicht nicht noch los, um Futter zu besorgen.

Ich trieb die kleine Herde durchs Dorf und über die Brücke in die Aue. Hinter der Elster-Mühle waren am Horizont die Buna-Werke zu sehen, der unaufhörlich dicke Qualm aus ihren Schloten. Der Weg führte an einem Wäldchen inmitten saftiger Wiesen vorbei. Ich musste achtgeben, dass kein Tier den Pfad verließ, und als ich schließlich die Weide erreichte, hatte ich alle Hände voll zu tun, sie von den Zuckerrüben fernzuhalten, die auf den angrenzenden Feldern wuchsen. Lieber brachte ich die Herde auf die Wiesen am Markgraben, doch die mussten erst gemäht werden. Am Markgraben gab es keine Felder, man musste nicht ständig auf der Hut sein und hatte mehr Zeit. Manchmal waren meine Brüder dorthin gekommen und wir hatten Indianer gespielt, so war der Tag schneller rumgegangen. Hier draußen aber konnte es einsam werden.

Punkt zwölf Uhr mittags röhrte der »Buna-Ochse«, die Werkssirene, übers ganze Land, und dann kam auch schon die Bäuerin, um mir mein Mittagessen zu bringen. Ich trieb die Tiere so lange in den Schatten der Büsche, damit sie nicht doch noch in die Rüben liefen. Nach dem Essen zogen sich die Stunden ewig hin, die Tiere wurden ruhiger. Ich legte mich ins warme Gras, mir fielen die Augen zu. Sofort hatte ich das Gefühl, weit weg zu sein, obwohl ich nicht hätte sagen können, von was oder von wem. Doch mehr und mehr war mir, als würde ich versinken, als würde sich der Boden unter mir auftun. Ich sank tiefer und tiefer, aber mit einem Mal, ich weiß nicht, nach wie langer Zeit, bekam ich keine Luft mehr. Ich öffnete die Augen. Lore stand über mir, Speichel troff ihr aus dem Maul. Sie sah aus, als wollte sie mit mir meckern. Vor Schreck sprang ich auf und schaute mich um. Glücklicherweise graste die ganze Herde friedlich auf der Weide.

Der »Buna-Ochse« am Abend, der das Schichtende einläutete, war auch für mich das Zeichen, nach Hause zu gehen. Die Kühe wollten dringend gemolken werden, und hätte ich sie gelassen, sie wären quer über die Felder gelaufen. An den Elsterbrücken musste ich aufpassen, dass sie nicht durch den Fluss platschten, denn nass ließ der Bauer sie nicht in den Stall. Schließlich erreichten wir den Hof, das Tor stand wie jeden Abend bereits offen. Grothe begutachtete die Herde und nickte zufrieden. Ich führte die Tiere in den Stall und sperrte sie in ihre Boxen. Auf dem Weg hinaus klaubte ich schnell zwei Eier aus den Hühnernestern und schlürfte sie an Ort und Stelle aus. Den Trick hatte ich vom Huber. Dann fing ich unsere Lore ein, die sich bereits zu den anderen Ziegen gesellt hatte.

»Auf morgen, Meiner«, sagte Grothe und steckte mir ein paar Kornäpfel zu.

»Danke schön«, sagte ich. »Auf morgen.«

Die ersten Meter bockte Lore, doch bald war sie kaum zu halten und zog mich am Strick durchs Dorf. Beim Fleischer Jäckel bemerkte ich einen Tumult auf der Straße. Vor unserem Haus schien sich das halbe Dorf versammelt zu haben. Ich sah einen großen Wagen am Rinnstein stehen. Auf den ersten Blick wie ein Planwagen der Prärie, über der Deichsel befand sich eine Art Kutschbock, und darauf saßen meine Brüder. Sie winkten, als wären sie mitten in einem Spiel. Zwei fremde Männer stapften an mir vorbei, sie schleppten die alte Anrichte aus der guten Stube und luden sie auf den Wagen. Verwirrt drängte ich mich mit Lore durch die tuschelnde Menge. Im Hof schon hörte ich Vater brüllen und Mutter weinen. Vor dem geöffneten Küchenfenster lagen Porzellanscherben und zerschlagene Möbelstücke. Ich ließ die Ziege stehen und rannte ins Haus. Im Flur standen Umzugskisten, die Zimmer waren von Trümmern und Splittern übersät. Die ganze Einrichtung war verwüstet. In der Küche hockte Mutter und starrte mich fassungslos an. Vater nahm keine Notiz von mir, fluchend humpelte er an mir vorbei, riss in seiner Rage noch ein Bild von der Wand und stürmte hinaus, den Möbelpackern hinterher, die letzte Kisten verstauten. Mutter zog mich weinend an ihre Brust, so fest, als wollte sie mich nie wieder loslassen. Vor dem Haus heulte ein Motor auf, ich hörte das Getriebe krachen und dachte an meine Brüder. Mutter und ich lauschten dem davonfahrenden Wagen nach, bis es stiller und stiller wurde und es für einen Augenblick nur noch uns beide gab.  

2

Die wichtigsten Dinge im Leben können sich so schlagartig verändern, dass man völlig überrumpelt ist und im ersten Moment wie gelähmt. Was an diesem Tag geschehen war, schien wie zufällig, aus einer flüchtigen Laune heraus geschehen zu sein. Doch das stimmte nicht. Ich wusste noch nicht viel, ich hatte keine Ahnung, wohin Vater wollte oder was er vorhatte. Aber ein paar Dinge wusste ich bereits. Ich wusste, dass er vom Rande des Südharzes stammte und wie sehr es ihn mit Stolz erfüllte, dass man seinen Stammbaum weit zurückverfolgen konnte. All die Knechte und Mägde unter seinen Vorfahren waren seit über zweihundert Jahren im selben kleinen Dorf ansässig gewesen. Ich war nur ein oder zwei Mal nach Heringen gekommen, als Kleinkind noch während des Kriegs, doch ich kannte meine Großmutter, eine vollschlanke, strenge Frau, die das Oberhaupt der gesamten Familie war. Alle hörten auf ihr Kommando, Vater genauso wie Opa, ein hagerer, umgänglicher Eisenbahner, Tante Herta, die Schwester meines Vaters, genauso wie Onkel Albert. Tante und Onkel hatten zwei Kinder, Jens, in meinem Alter, und seine jüngere Schwester Bärbel, ein zartes, blondes Geschöpf. Großmutter spielte zudem die erste Geige in allen wichtigen Vereinen und Institutionen der Gemeinde. Und da sowohl mein Opa als auch mein Onkel in der Partei gewesen waren, waren beide nach dem Krieg in ein Lager weit weg von Heringen gekommen. Nach ihrer Entlassung hatte es sie mitsamt ihren Familien nach Braunschweig verschlagen, ich dachte auf Nimmerwiedersehen.

Opa August kam aus Westpreußen, aus einem kleinen Ort bei Danzig. Er war eines von dreizehn Kindern, von denen vier bereits im Säuglingsalter starben. Seine Eltern waren arme Kleinbauern und konnten die überlebenden Kinder kaum durchbringen. An eine gute Ausbildung war nicht zu denken, zu erben gab es erst recht nichts, und so zog er schon in jungen Jahren als Schnitter durch die Lande und half den Bauern bei der Ernte. Wenn in der Landwirtschaft keine Beschäftigung zu finden war, verdingte er sich als Hafenarbeiter, was ihn bis an die ferne Nordseeküste führte. Im Ersten Weltkrieg diente er als Füsilier in der Infanterie und kam nach Frankreich an die Front. Im Stellungskampf griff ihn ein feindlicher Soldat mit dem Bajonett an. Zum Glück traf der Franzose Opa nur am Kinn, wovon ihm eine lange, tiefe Narbe blieb.

Auf der Suche nach Arbeit gelangte er in den dreißiger Jahren in die Gegend südlich von Halle, wo man zu der Zeit das Buna-Werk erbaute. Er nahm dort eine Stellung an und lernte meine Großmutter kennen, deren Familie schon lange in Döllnitz lebte. Mein Urgroßvater war viele Jahre Wildhüter auf dem Rittergut des Dorfes gewesen. August blieb in Döllnitz und heiratete Erna. Beide hatten vor meiner Mutter bereits einen Sohn gehabt, doch der war als Jugendlicher bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mein jüngster Bruder ist nach ihm benannt, sonst aber sprach in der Familie niemand über Onkel Wolfgang und dessen frühen Tod.

Zu Beginn des Krieges wurde Vater aus seinem Heimatdorf zum Arbeitsdienst nach Lochau abkommandiert, ein Nachbarort von Döllnitz. In dieser Zeit lernte er meine Mutter kennen. Sie war achtzehn, als ich auf die Welt kam. Vater war bereits zur Wehrmacht eingezogen worden, aber er bekam noch einmal Heimaturlaub, und schon war auch mein Bruder Richard auf dem Weg. Vater diente als Fernmelder mit Fahrrad bei einer Nachrichtentruppe an der Ostfront. Im Einsatz erlitt er einen Kopfschuss. Seine halbe Schädeldecke musste durch eine Silberplatte ersetzt werden. Die Delle auf der rechten Seite war trotzdem nicht zu übersehen. Auch nicht, dass seine linke Körperhälfte nahezu gelähmt war seitdem.

Ich kannte Vater nur mit der Delle im Kopf und dem schwachen linken Arm. Vielleicht war er einmal anders gewesen. Er war ein Bücherfreund und Musikliebhaber. Wagner und Beethoven interessierten ihn besonders. In guten Zeiten sprach er davon, dass ich, sein ältester Sohn, Geige lernen und Musiker werden sollte. Häufig kamen Nachbarn aus dem Dorf, um sich Bücher auszuleihen. Er gefiel sich in dieser Rolle, er belehrte gern. Das Ansehen nach außen war ihm wichtig, er legte auch Wert auf gute Manieren und ordentliche Kleidung. Zuweilen musste ich ihn im Sonntagsanzug begleiten, wenn er fremden Frauen im Dorf ein Buch brachte. Ich bekam Kekse und Limonade und musste warten, während er mit der Frau im Nebenraum verschwand. Doch zu Hause in den eigenen vier Wänden, da herrschte er mit kühlem Kommandoton, und alle, meine Mutter und die ganze Familie, hatten schwer unter seinen jäh ausbrechenden Wutanfällen zu leiden.

Bevor Wolfgang geboren wurde, wohnten wir zur Untermiete in Osendorf zwischen Döllnitz und Ammendorf. Zu Weihnachten hatte Mutter aus den spärlichen Vorräten ein festliches Mahl gekocht, aber Vater schmeckte es nicht. Richard und ich fielen vor Angst fast von den Stühlen, als er ohne Vorwarnung den gefüllten Teller durchs geschlossene Fenster auf den Hof schleuderte. Wir mussten sofort ins Bett, konnten aber beide nicht einschlafen. In der Stube brüllte Vater, Mutter hörten wir weinen. Mitten in der Nacht, als es still geworden war im Haus, standen Richard und ich auf und zogen uns an. Wir wollten uns an der Reide bis zur Weißen Elster nach Döllnitz zu Oma Erna und Opa August durchschlagen. Doch es war tiefer Winter und wir kamen nicht weit, die Schneeverwehungen waren doppelt so hoch wie wir.

Gegen Kriegsende zogen wir zu den Großeltern. Vater übernahm sogleich das Kommando im Haus, Opa August hatte nicht mehr viel zu sagen. Häufig mussten wir in die neue Schule gegenüber laufen, wo die Keller mit Holzbalken verstärkt und als Luftschutzbunker ausgebaut worden waren. Eines Nachmittags hatte es wieder Alarm gegeben, wir saßen bald mit der gesamten Nachbarschaft in diesem Gewölbe zusammen.

»Seid mal ruhig«, rief jemand.

Ein eigenartiges Summen war zu hören, im Keller wurde das Geräusch immer beklemmender. Ein paar Männer hielten es nicht mehr aus und stiegen hinauf. Als Mutter nicht aufpasste, schlich ich ihnen hinterher und stellte mich zwischen die Erwachsenen. Geschützt von einer Hecke, die vor dem Dorfbrunnen den Schulhof eingrenzte, sahen wir hoch oben am Himmel unzählige Flugzeuge Richtung Osten fliegen.

»Die machen Leipzig platt«, meinte einer der Männer. Ich zitterte am ganzen Leib. Was im Keller ein beklemmendes Summen gewesen war, schwoll hier draußen an zu bedrohlichem Donnern und Grollen. Die Bomberstaffeln am Himmel wollten kein Ende nehmen. Wir sahen ihnen hinterher und lauschten, und mit einem Mal wurde es totenstill. Ich erstarrte, doch nichts geschah. Opa erzählte mir später, dass nicht Leipzig ihr Ziel gewesen war, sondern Dresden, und dass die Stadt in Schutt und Asche lag.

In unserem Dorf befand sich eine Malzfabrik, in der polnische Kriegsgefangene arbeiteten. Offenbar waren die Flieger über Dresden nicht alle Bomben losgeworden, denn auf ihrem Rückweg, als wir den Keller schon wieder verlassen hatten, waren noch welche für die Malzfabrik übrig. Niemand hat die Opfer je gezählt, doch bei dem Angriff starb auch ein kleines Mädchen, das ich kannte. Eine Bombe hatte ihr Elternhaus neben dem alten Friedhof getroffen, keine fünfhundert Meter von uns entfernt.

Nach dem Fliegerangriff kam uns zu Ohren, dass sich in den Kellerräumen des Ritterguts Unmengen an Fleisch- und Wurstkonserven befänden. Niemand wusste, woher sie stammten oder wem sie gehörten. Sofort machten sich meine Großeltern und Mutter mit dem Handwagen auf den Weg. Ich musste mitkommen. Das gesamte Dorf schien dieses Ziel zu haben. Und tatsächlich waren die Keller bis unter die Decke mit Konserven gefüllt. Wie alle beluden wir unseren Wagen, so voll es ging, und bunkerten die Dosen zu Hause.

In den letzten Tagen des Krieges kamen Flüchtlinge aus den Ostgebieten und wurden im Dorf untergebracht. Den meisten Leuten gefiel das nicht. Angeblich hatte niemand etwas gegen Flüchtlinge, im eigenen Haus aber wollte man sie nicht haben. Vater fühlte sich ungerecht behandelt, denn bei unserem Nachbarn, der ein hohes Tier bei der Feuerwehr war, wurde niemand einquartiert. Wir dagegen mussten eine Frau mit ihrem achtzehnjährigen Sohn bei uns aufnehmen. Ich hatte nichts gegen diese Leute, sie waren nett und lebten sehr zurückgezogen. Im April war der Junge nach Eisleben gefahren, um andere Familienmitglieder zu treffen. Eines Nachmittags kamen Richard und ich vom Spielen am Schulberg nach Hause, als an unserem Hoftor große Aufregung herrschte. Vater, Großvater und einige Nachbarn standen um den Burschen mit seinem Fahrrad versammelt. Er wäre auf dem Rückweg von Eisleben bis kurz vor Halle vor den Amerikanern hergefahren, erzählte er. Vater wollte es nicht glauben.

Nur wenige Tage später rückten die Amerikaner auf unser Dorf vor. Richard und ich schlichen mit den anderen Kindern zum Ortsrand. Erst war nur ein stetig lauter werdendes Brummen von schweren Motoren zu vernehmen. Als dann Panzer vor uns auftauchten, hörten wir das scheppernde Rasseln der Ketten. Wir bekamen es mit der Angst zu tun und liefen nach Hause. Versteckt hinter dem Gartenzaun, beobachteten wir die fremden Soldaten, die mit Gewehren auf den stählernen Ungetümen hockten.

Sie errichteten ihr Lager in der Schule, und da wir genau gegenüber wohnten, quartierten sich zwei Offiziere bei uns ein. Sowohl das Wohnzimmer der Großeltern als auch die gute Stube wurden in Beschlag genommen. Mutter war damals hochschwanger. Zu allem Überfluss kam in diesen Tagen auch noch das Gerücht auf, es solle eine Razzia geben, weil Konserven aus den Kellern des angrenzenden Ritterguts gestohlen worden waren. In Windeseile räumte Opa den Verschlag fürs Brennholz leer, verstaute unsere Beute dort und stapelte die Holzscheite davor. Richard und ich mussten am Hoftor Schmiere stehen. Allerdings benutzte auch der Adjutant der amerikanischen Offiziere die Küche der Großeltern, und immer wenn er den Ofen anheizte, wurde die Wand aus Scheiten niedriger. Opa blieb nichts anderes übrig, als jeden Tag nach Feierabend neues Holz zu hacken.

Einen schwarzen Mann hatten wir alle noch nicht gesehen, nun kam täglich einer ins Haus. Der Adjutant mochte uns Kinder, für eine Weile fühlten Richard und ich uns wie Könige, denn Schokolade und andere Süßigkeiten gab es sonst höchstens an Weihnachten. Auf dem Schulhof standen Lastwagen und Kanonen der Amerikaner, der Weg nach Lochau war gesäumt von Schützenpanzern und Geländewagen. Von überall her kamen Kinder angelaufen. Die kleineren bettelten um Kaugummi, die älteren um Zigaretten. Und wenn Oma am Abend die Tiere versorgt, Opa sein Holz gehackt hatte und wir im Hof auf der Bank unter dem Pflaumenbaum saßen, setzten sich häufig die beiden amerikanischen Offiziere zu uns. Wir konnten uns kaum mit ihnen verständigen, aber ich schätze, sie hatten Heimweh.

Im Juni kam Mutter im heimischen Schlafzimmer nieder und es wurde noch enger im Haus. Vielleicht ist Wolfgang deshalb etwas aus der Art geschlagen und kleiner als der Rest der Familie. Die Amerikaner verschwanden jedoch so überstürzt, dass unseren beiden Offizieren und ihrem Adjutanten kaum Zeit blieb, ihr Zeug zu packen. Mit einem Mal war der Schulhof geräumt. Über Nacht, von den meisten Dorfbewohnern kaum bemerkt, rückten die Russen ein. Sie belegten das Rittergut und zwei Bauernhöfe. Die Truppe kam ohne einen einzigen Lastwagen oder Panzer, sie hatten nur Pferde und Wagen. Jeden Morgen beobachtete ich gebannt, wie sie eine ganze Herde durchs Dorf trieben. Ihre kleinen, stämmigen Pferde sahen aus wie die Mustangs in meiner Fantasie.

»Nein«, sagte Opa August, »das sind keine Mustangs, das sind Panjepferde. Sie stammen aus den weiten Steppen im Osten.«

Wir kamen mit den Russen nicht in Berührung. Opa sagte, es wäre ihnen verboten, mit der Bevölkerung zu sprechen. Und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder, zumindest aus unserem Dorf. Jahre später erst sah ich andere russische Soldaten, aber die kamen nicht mit Pferden.

In der Mansarde unseres Hauses wohnte nun Familie Möller, im Kinderzimmer und in der Küche wurde Frau Kreutzer mit zwei Mädchen und zwei Jungen einquartiert, Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Opa August gab Vater die Schuld.

»Das haben wir nun davon, dass er ein Hundertprozentiger war«, fluchte er einmal, als er sich alleine wähnte.

Ich verstand es nicht: Erst waren Flüchtlinge bei uns einquartiert worden, weil wir anscheinend keine guten Beziehungen gehabt hatten, und nun sollten sie von uns beherbergt werden, weil wir angeblich zu eng verstrickt gewesen waren. Da unsere Familie inzwischen auf fünf Personen angewachsen war, belegten wir noch ein Zimmer der Großeltern, die Küche wurde gemeinsam genutzt. Um alle durchzubringen, arbeitete Oma beim Bauern, außerdem hatten die Großeltern ein Stück Land gepachtet, auf dem sie Kartoffeln und Rüben anbauten. In dieser Zeit entband meine Großtante ihren vierten Sohn. Wenige Tage später musste sie wegen einer offenen Tuberkulose ins Krankenhaus, wo sie bald verstarb. Oma nahm den Säugling zu sich, doch es dauerte nicht lang und auch er erlag dieser Krankheit. Ich sehe ihn noch fleckig blau und winzig klein auf einem Paradekissen in der guten Stube der Großeltern liegen. Und nun hatte sich auch Oma angesteckt, sie kam ins Krankenhaus nach Rothenburg.

Einmal nahm Opa mich zu einem seiner Besuche mit. Wir fuhren ab Halle mit einem Dampfer die Saale hoch, das war ein solches Ereignis, dass ich den traurigen Anlass beinahe vergaß. Von den Äpfeln, die wir ihr mitgebracht hatten, steckte mir Oma bei der Verabschiedung einen zu. Sie meinte es gut und ahnte nicht, welche Folgen es haben würde. Wenig später wurde ich geröntgt und war der Nächste in der Familie. Ich wurde nach Ammendorf in die Mottenburg eingewiesen, wohin mittlerweile auch Oma verlegt worden war. Drei Wochen später war sie tot.

Die Diagnose bei mir lautete: Hilusdrüsen-Tbc. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Aber man schickte mich zum Aufpäppeln für einige Wochen ins Heim des ehemaligen Herrenhauses im Rittergut. Als Dorfkind wurde ich von den Betreuerinnen besonders gut umsorgt. Gleich danach ging es für sechs Wochen weiter in ein Genesungsheim nach Thüringen. So verfehlte ich am Ende des dritten Schuljahres das Klassenziel und musste es wiederholen. Außerdem durfte ich wegen der Erkrankung nicht am Schulsport teilnehmen. Während die anderen turnten oder Fußball spielten, musste ich am Rand sitzen und zuschauen. Manchmal hatte der Lehrer Mitleid und rief mich, wenn es einen Elfmeter gab, aufs Feld, um ihn auszuführen. Den Mitschülern gefiel das nicht, und für mich waren diese Kurzeinsätze noch enttäuschender als das Zuschauen. Besonders wenn ich nicht ins Tor traf.

Nach Omas Tod musste sich Mutter eine Anstellung suchen. Die Lebensmittelmarken und Bezugsscheine reichten bei weitem nicht aus. Wolfgang war gerade drei Jahre alt. Vater war als Telefonist in Halle tätig und kam nur noch am Wochenende. Er hatte sich in der Stadt ein Zimmer genommen, offenbar war es ihm zu umständlich, jeden Tag zu uns nach Hause zu kommen. Mutter fand Arbeit im Braunkohlekombinat. Zunächst in der Küche, dann im Schichtdienst als Mischerin in der Ziegelei, wo die Kohle im Rührwerk zerkleinert und zu Briketts gepresst wurde. Diese neue Arbeit war hart, verschaffte uns aber einige Vorteile. Zum einen durften wir hin und wieder die betriebseigenen Waschräume benutzen, um zu duschen. Zu Hause musste das Wasser erst mühsam herbeigeschafft und dann mit Holz oder Kohle erhitzt werden, bis wir baden konnten. Außerdem wurde ein Teil ihres Lohnes in Brennmaterial, ein weiterer in Alkohol ausgezahlt. Den Deputatschnaps tauschte Mutter gegen Nahrungsmittel, der Rest wurde mit Kräuteressenzen für den Eigenverbrauch veredelt, denn die meisten Erwachsenen hatten regelmäßig einen Schluck nötig. Mit dem Schnaps wurde auch der Hausschlachter entlohnt. Wegen der jahrelangen Arbeit von Großmutter beim Bauern bekamen wir jedes Frühjahr ein Ferkel, das über Monate gemästet wurde, bis es sich zu einem ansehnlichen Schlachtschwein entwickelt hatte.

Auch nach Großmutters Tod behielt Opa August Ackerland. Im ersten Jahr bauten wir Futterrüben für die Tiere und Kartoffeln an. Die Saatkartoffeln bekamen wir vom Bauern. Schon in der ersten Nacht aber wurden die meisten von ihnen wieder ausgegraben und gestohlen. Opa und ein paar andere Männer hielten daraufhin ständig Wache, bis die Kartoffeln austrieben. Bei der Ernte, beim Lesen und Sortieren der gelben Knollen konnte ich es kaum erwarten, dass endlich das Kraut angezündet wurde und das Feuer loderte. Sobald sich genügend Glut gebildet hatte, legten wir die frische Ernte hinein. Als schließlich der dichte Rauch über die Felder zog, näherten sich schüchtern drei Kinder unserem Feuer. Sie kamen aus dem Flüchtlingslager in Lochau. Opa August musterte sie erst misstrauisch, lud sie dann aber zur Vesper ein.

Im Jahr darauf pflanzten wir Roggen an. Bei der Ernte halfen uns Frauen aus dem Dorf. Opa legte mit der Sense Schwade an Schwade. Aus dem Stroh stellten Mutter und die Frauen Seile her und banden damit Garben, die zu Puppen zusammengefügt wurden. Drei oder vier Tage blieben sie unter ständiger Bewachung auf dem Feld, ehe es zum Dreschen ins Dorf ging. Opa wuchtete die Strohgebinde zum Pferdewagen, wo der Kutscher sie in Empfang nahm und stapelte. Ich rannte umher und sammelte die verstreuten oder heruntergefallenen Garben ein. Auf dem Weg zurück ins Dorf durfte ich oben auf dem Fuder mitfahren. Die Fuhre wurde zum Trocknen auf dem Hof des Bauern abgestellt. Wir hatten Glück mit dem Wetter und waren zwei Tage später schon mit dem Dreschen dran.

Opa August hatte eine neue Lebensgefährtin gefunden, Frau Kern, eine Kriegerwitwe, die nun auch bei uns wohnte. Familie Kreutzer erhielt hundert Meter weiter bei Familie Schaaf auf dem Schulberg eine größere Wohnung. Wenige Tage später zog Frau Höpfner mit ihren Kindern Elfriede und Erwin bei uns ein. Elfriede war in meinem Alter, Erwin zwei Jahre älter. Häufig mussten wir zusammen in den Wald raus, denn Frau Höpfner hatte eine Anstellung beim Förster von Burgliebenau und besaß deshalb einen Bezugsschein für Holz. Außerdem zogen Mutter, Opa, Frau Kern und wir Kinder so oft wie möglich mit den Rädern zum Stoppeln auf die Felder, wo wir übriggebliebene Kartoffeln, Zuckerrüben oder Möhren auflasen, immer in Sorge, vom Bauern entdeckt zu werden. Zu Hause verfütterten wir das Kraut ans Schwein, an die Kaninchen und an Lore. Die Rüben wurden zerkleinert und im großen Waschkessel gegart, danach wurde in einer Presse der Saft gewonnen und zu Rübensirup verkocht. Auch Weißkohl und Obst machten wir in großen Mengen ein. Dafür brauchte es alle verfügbaren Steinguttöpfe und Einweckgläser. Einige waren bereits mit sauren Gurken gefüllt, andere für das Pökelfleisch im Winter zur Seite gestellt, denn ein Topf oder Glas, in dem schon einmal Gurken oder Kraut gewesen waren, durfte auf keinen Fall für Fleisch benutzt werden.

Fünf Häuser weiter wohnte Familie Süßmilch. Sie hatten zwei Jungen in unserem Alter, Martin und Jochen. Martins Sprachfehler reizte meinen Bruder Richard häufig zu Hänseleien, was immer wieder Zoff gab. Dann musste ich ihn raushauen, zuweilen in erbitterten Kämpfen. Wenn wir uns aber vertrugen, zogen wir gemeinsam los, ständig auf der Suche nach Essbarem und verfolgt von den Flurhütern. Der alte Lessing, ein ehemaliger Aufseher des Ritterguts, erwischte uns einmal in einem Schotenfeld und jagte uns mit der Pferdepeitsche bis auf einen Baum. Stundenlang mussten wir dort ausharren, ehe er aufgab. Wollten wir Kirschen ernten, mussten wir an der Elster-Mühle vorbei, wo Müller Böker ebenfalls mit der Peitsche wartete. Kamen wir durch, führte uns der Weg in die Aue bis zur langen Eisenbahnbrücke, die das Überschwemmungsgebiet der Elster überspannte. Jedes Mal staunten wir über die komischen Kreidezeichnungen, die ältere Jungs auf die Metallträger gemalt hatten. Während Richard und ich und die Süßmilch-Brüder in aller Ruhe die Bilder begutachteten, musste Wolfgang oben auf den Gleisen warten. Wir konnten zwar nur ahnen, was die krakeligen Bilder bedeuteten, waren aber der Meinung, er wäre noch zu klein dafür. Jenseits der Elster erstreckte sich dann auf einer Wiese eine ganze Reihe Kirschbäume. Sogar Walnüsse gab es hier und sechs bis acht Meter hohe Bäume mit amerikanischen Nüssen, wie wir sie nannten. An die aber kamen wir nicht ran. Wir konnten nur ihre reifen Früchte vom Boden auflesen, und meist verputzten wir sie gleich an Ort und Stelle.

Im Winter tobte ich oft mit meinen Brüdern durch unser Zimmer. Wir kletterten auf den Schrank und krochen unter die Betten, wie knöpften die Bezüge auf und lieferten uns Kissenschlachten. Einmal, in der Adventszeit, wollten wir unbedingt wissen, welche Geschenke es geben würde zum Fest. Die Suche im Wohnzimmer verlief ergebnislos und die Schlösser des großen Schranks waren nicht zu knacken. Das Elternschlafzimmer durften wir nicht betreten, aber sie waren gerade nicht zu Hause. In den Nachtschränken konnten wir nichts finden, unter den Betten nicht, auch auf dem Kleiderschrank nicht. Doch nach einer Weile bekamen wir selbst ohne Schlüssel die Schranktüren auf. Zuerst sahen wir nur Wäsche, Mäntel, Jacken, Röcke und Hosen, dann entdeckten wir ein großes Paket. Wir öffneten es vorsichtig und sahen hinein. Abends plapperte Wolfgang aus, er wisse, was es zu Weihnachten geben würde. Als Vater nach Hause kam, konnte ich mit einer Tracht Prügel und ohne Abendessen ins Bett gehen.

Feiertage wie Weihnachten waren Vater heilig, es schien, als wollte er uns und der ganzen Welt zeigen, wie man ein anständiges Familienfest feiert. Aus der guten Stube, in die wir Kinder nur zu besonderen Anlässen durften, wurde die Anrichte entfernt, um Platz für den Weihnachtsbaum zu schaffen. Richard und ich mussten dann mit dem Handwagen die vier Kilometer nach Ammendorf zur Straßenbahnhaltestelle laufen, um auf Vater zu warten. Er wollte aus Halle einen Baum mitbringen. Schräg gegenüber der Haltestelle befand sich eine Schmiede, in der er sein Fahrrad über die Woche unterstellte. Als Vater schließlich vor uns stand, gab er mit strengen Anweisungen den Baum an uns weiter, stieg auf sein Rad und fuhr voraus.

Die Tanne reichte fast bis an die Zimmerdecke, es blieb kaum Platz für die Spitze mit dem silbernen Engelshaar. Die Kerzenhalter mussten gewissenhaft angebracht werden. Danach wurde der Baum mit Plätzchen und Fondant-Ringen geschmückt, die Mutter gebacken und Vater vorher abgezählt hatte, damit wir Kinder nicht heimlich naschten. Zum Schluss kam Lametta auf die Zweige. Nachmittags wurden wir drei Brüder für die Kirche fein gemacht. Wir waren froh, wenn das Krippenspiel vorbei war, nicht nur in Erwartung der Geschenke, sondern auch weil im Gotteshaus nicht geheizt wurde.

Zu Hause mussten wir die Hände waschen und uns brav an den Tisch setzen. Für jeden gab es eine Tasse Milch und ein Plätzchen, Kleckern war verboten. Vater zündete die Kerzen an und suchte im Radio einen Sender mit passender Musik. Nach dem Kaffee durften wir das Geschenk auspacken. Wir wurden ausgelassen und sprangen in der Stube herum. Wolfgang fiel hin, schrie wie am Spieß und blutete aus der Nase. Ohne sich um seinen Jüngsten zu kümmern, griff Vater sich den Schürhaken und drosch auf Richard und mich ein. Mutter hob den Kleinen auf, alles schrie durcheinander, wir vor Angst und Schmerz, Vater rasend vor Zorn.

In einem anderen Jahr bekamen wir drei einen Holzroller mit großen Vollgummireifen. Wolfgang konnte noch nichts damit anfangen. Richard und ich aber bettelten so lange, bis wir auf die Straße durften. Es lag kein Schnee in diesem Jahr. Im Wechsel fuhren wir auf dem Fußweg zum alten Friedhof und zur Kirche. Auf dem Rückweg kamen wir auf die Idee, beide zusammen auf dem Trittbrett zu stehen. Auf halber Strecke brach der neue Roller entzwei. Wir trauten uns kaum nach Hause.

Das Schlimmste an den regelmäßigen Züchtigungen war, dass Vater nur seine rechte Hand benutzen konnte. Wenn er den Gürtel schwang, konnte er mich nicht gleichzeitig festhalten. Deshalb musste ich mir eigenhändig die Hose runterziehen und mich bäuchlings über den Stuhl legen. Die zwei Jüngeren heulten in sicherer Entfernung, Mutter versuchte, Vater unter viel Geschrei abzuhalten, und kriegte am Ende häufig mehr ab als ich. Oft kam dann Opa August die Treppe hoch, blieb jedoch wie angewurzelt an der Tür stehen. Sobald alles vorbei war, packte Vater seine Sachen und fuhr zurück in seine Stadtwohnung.  

3

Ich hatte mir nie eine andere Welt vorstellen können als diese, und mit einem Mal war es nicht mehr dieselbe Welt. Sie war so leergefegt und verwüstet wie unsere Wohnung, eine öde Prärie, in der wir beinahe unsichtbar waren, Mutter und ich. Nach diesem Tag im Sommer, nachdem der Möbelwagen davongefahren war, veränderte sich alles. Das Leben meiner Eltern änderte sich, das Leben meiner Brüder, mein Leben. Was an diesem Tag geschehen war, konnte niemand jemals wieder ungeschehen machen.

So ungestüm, wie mich Mutter erst an sich gedrückt hatte, stieß sie mich dann weg. Großvater kam von der Arbeit nach Hause und sah sich entsetzt in der Wohnung um. In den Sommermonaten brachte er auf dem Heimweg von einer gepachteten Wiese Futter für die Kaninchen mit. Jetzt erfuhr ich, dass Vater aus Halle gekommen war und die Wohnung leergeräumt hatte, während Mutter bei der Arbeit gewesen war. Eine Nachbarin war mit dem Rad die zwei Kilometer zur Ziegelei rausgefahren und hatte ihr erzählt, was zu Hause passierte. Andere Nachbarn hatten weniger Mitgefühl, sie spähten schadenfroh durch die Gardinen und genossen die Vorstellung. Offenbar war der Möbelwagen zu klein gewesen und Vater hatte alles, was er nicht mitnehmen konnte, mit dem Beil kurz und klein geschlagen.

Mir war, als wollte dieser Tag im Sommer nicht enden. Die Dunkelheit ließ lange auf sich warten, und während Opa August nur wetterte und Mutter unaufhörlich weinte, kümmerte sich Frau Kern um mich, Opas neue Freundin. Trotz allem hatte ich nach dem Tag auf der Weide Hunger, außerdem musste ich Lore in den Stall bringen, sie stand noch dort, wo ich sie stehen gelassen hatte, und das Schwein und die Kaninchen wollten auch versorgt werden. Spätnachts lag ich neben meiner zitternden Mutter im einzigen Bett, das uns geblieben war, und konnte nicht einschlafen.

Erst am nächsten Morgen sah ich das gesamte Ausmaß von Vaters Wutanfall. Mutter ging zum Hausarzt, der ihr ein Attest ausstellte und sie einige Tage krankschrieb. Sie hatte durch Vaters Schläge Blutergüsse im Gesicht und an den Augen davongetragen, außerdem eine schwere Blutung im Innenohr bei Trommelfellabriss. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu sich kam. Dann, nach fast einem Monat, schrieb sie mit Hilfe eines Anwalts ein Telegramm an ihren Mann in Halle. Sie forderte ihn auf, ihr binnen drei Tagen Richard und Wolfgang sowie die mitgenommenen Möbel, Bettwäsche und Federbetten, die Kleiderkarte für mich und den Trauring ihrer Mutter zurückzubringen. Andernfalls werde sie diese Angelegenheit dem Gericht übergeben.

Solange noch Ferien waren, ging ich weiterhin zu Bauer Grothe, um sein Vieh zu hüten. Die zweite Mahd war vollendet, das Heu in die Scheune gebracht. Nun durfte die Herde auf die Wiese am Markgraben. Am ersten Tag begleitete mich der Bauer. In der Rechten hielt er eine Peitsche, mit der Linken führte er sein Fahrrad, weil er den Weg nicht zurücklaufen wollte. Von der Elsterbrücke ging es nach Süden durch den Auenwald. Zunächst wurde der Weg von Gebüsch und vereinzelten Eschen und Buchen gesäumt, auch die Telefonleitung nach Kollenbey führte hier entlang. Bald gelangten wir in einen lichten Mischwald. An einer Stelle saß ein Neuntöter auf dem Mast. Dieser Vogel, erklärte mir Grothe, habe eine seltsame Art, seine Beute zu töten: Er spießte die kleinen Nager auf Dornen wilder Rosen. Nach einem weiteren Kilometer hatte man einen freien Blick auf die grünen, gelegentlich von Laubholz unterbrochenen Wiesen. Wir erreichten den Stern, eine Kreuzung von fünf Wegen, einer führte nach Kollenbey, ein anderer am Mordbusch vorbei nach Burgliebenau. Den Mordbusch mieden wir als Kinder lieber. Ein Gedenkstein erinnerte an einen Jäger, der dort kurz nach dem Ersten Weltkrieg von einem Wilderer erschossen worden war.

Grothes Weide lag direkt am Markgraben. Ein kleiner Steg eignete sich ideal als Schutz vor Sonne und Regen. Die Nachbarwiese gehörte Großbauer Klette. Seine gut zwanzig Kühe wurden von Monika gehütet, sie war ein paar Jahre älter als ich. Einmal kam sie um Hilfe schreiend vom Waldrand her über die Wiese gelaufen, völlig aufgelöst und verstört: Ein Mann sei aus dem Wald gekommen und habe sich vor ihr entblößt. Ich konnte es nicht glauben, gleichzeitig ließ mich die Geschichte nicht los. Später hörte ich von den Erwachsenen, man habe den Kerl geschnappt und er sei, obwohl seine Unschuld beteuernd, ins Gefängnis gewandert.