Eva Demski

Gartengeschichten

Mit Bildern von Michael Sowa

Insel Verlag

ebook Insel Verlag Berlin 2010

© Insel Verlag Frankfurt am Main 2009

© für die Bilder: Michael Sowa, 2009

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-458-73390-4

Inhalt

Der Garten meiner Mutter

Wo die Liebe hinfällt

Krieg und Frieden 96

Goldener Boden

Die Gärten der Misanthropen

Epikurs Garten

Eine Insel

Die sieben Todsünden

Vorgärten

Kleinerer Versuch über den Schmutz

Flugsamen

Marianne

Englands schönster Garten

Paare

Der Gärtner von der traurigen Gestalt

Gefährliches Terrain

Paradiesgärten

Die Gartengräfin

Gärtner der vier Jahreszeiten

Mein Garten

Für A.

Der Garten meiner Mutter

»diese dornen – sie sind der beste teil an dir.«

Marianne Moore

Sie starb im Dezember, als ihr Garten sich längst zur Ruhe begeben hatte. Sie war nicht krank gewesen, hatte ihn noch, wie es sich gehört, für den Winter bereitgemacht: die Töpfe in den Keller und ins Treppenhaus geschleppt, die Rosen angehäufelt und etwas zurückgeschnitten, Sorgenkinder abgedeckt, Zwiebeln gelegt. Die holländische Gartenmafia züchtet Zwiebeln, die ein einziges Mal blühen und dann nie mehr, hatte sie sich, wie in jedem Jahr, aufgeregt. Meine Mutter war eine Gartensozialistin mit immer wachem Mißtrauen gegen die Machenschaften der Industrie, die selbst vor so unschuldigen Bereichen wie ihrem Garten nicht haltmachte. Ganz im Gegenteil. Jedes Gartencenter war für sie eine Mahnung, die Revolution nicht zu vergessen.

Sie steckte voller Geschichten über die Pharmaindustrie, von Insektiziden vergiftete Billigarbeiter in Drittweltländern, genverseuchtes Saatgut und was dergleichen grüne Teufeleien mehr sind.

Natürlich hatte sie mit allem recht, ich mochte es aber nicht hören. Der Garten sollte politikfreies Gebiet sein, fand ich. Das sah sie nicht ein, ihr gelang es im Gegensatz zu mir, Entzücken an ihrem paradiesischen Stück Erde und Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit und Finsternis aller menschlichen Existenz jederzeit in Einklang zu bringen.

Nun war sie tot, wir begruben ihre Urne, und ihr Garten schlief noch immer tief. Schnee fiel in diesem Winter, nicht viel, aber genug, um alles gleich aussehen zu lassen – ihren Garten und die Nachbargärten. Über die hatte sie sich oft lustig gemacht: Schwarzwald für Arme. Nagelscherenrasen. Manchmal war sie auch neidisch: Schau dir diese Maréchal Niel an. Bei mir das reinste Läusefestival!

In den drei Jahren, die sie nach dem Tod meines Vaters allein verbrachte, beschwerte sie sich manchmal über ihren Garten wie über ein Lebewesen, das unmäßige Forderungen stellt.

Elfhundert Quadratmeter, viel zuviel für einen einzelnen Menschen. Du weißt ja nicht, was das heißt, du mit deinem Handtuch!

Und schon war es wieder da, unser zuverlässiges Begleitgespenst: das schlechte Gewissen.

Nicht, daß mein Vater der große Gartenhelfer gewesen wäre, sein Gebiet war eher die Grenzüberschreitung zwischen Erdarbeiten und Utopie: Da muß ein Teich hin! Hier könnte man ein Gartenhaus brauchen!

Jetzt fehlten ihr die Pläne, gegen die sie sich hätte wehren können, um dann irgendwann doch nachzugeben. Man könnte sagen, daß aus Zukunft eine zunehmend mühevolle Abfolge von Gegenwärtigkeit geworden war. Schon wieder Hecken schneiden, schon wieder mähen, schon wieder jäten.

Momente des Entzückens stellten sich seltener ein – die blühende Spalieraprikose an der Südwand, die lodernde weiße Strauchpäonie, unter der unser erster Kater, Angkor, begraben lag – er war ein ganz besonderer Liebling gewesen. Die Katzen, die ihm gefolgt waren, hatten ihr Friedhöfchen in der dunklen Kompostecke, jede mit eigenem Stein, auf dem ihr Namen stand: Michi, Afra, Amu, Thymian. Geblieben war ihr Pascha, der vierundzwanzigjährige Kater, der sie um eineinhalb Jahre überleben sollte.

Nicht einmal die Trauer über alles Verlorene konnte ihr Erstaunen über das, was in jedem Frühjahr aus unscheinbaren Samenkörnchen wurde, mindern. Sie hatte sich in ihrem letzten Winter schon Jiffy-Pots und vielversprechende Tütchen für den März zurechtgelegt.

Der Garten meiner Eltern war ein Sechzigerjahregarten auf zwei Ebenen, mit Pool in der oberen, am Haus. Das Grundstück war, als sie es kauften, eine bezaubernde Wildnis aus Flieder- und Brombeerbüschen, alten Obstbäumen und jeder Menge Kanadischer Goldruten gewesen, der Lieblingsplatz aller Kinder der Umgebung. Die haßten jetzt meine Eltern, die Käufer.

Reihenweise verschwanden damals die Kinderwildnisse – Brachen, Trümmergrundstücke, anarchische Traum- und Sündenorte, wunderbares, erwachsenenfreies Land, wo man rauchen und sich in der Liebe versuchen konnte. Die Erwachsenen holten es sich zurück und machten Besitz daraus. Ich fühlte mit den Vertriebenen, denn mir war es wenige Jahre zuvor genauso gegangen. Auf meinem Kinderkontinent am Frankfurter Alleenring wurden die Erweiterungsbauten des Hessischen Rundfunks errichtet. Kurz danach war ich dann erwachsen. So ging es den erbitterten Kindern aus unserer neuen Nachbarschaft auch, und später kamen sie zu uns zum Schwimmen.

Während der obere Teil des Gartens nach und nach völlig in elterliche Gewalt – gelegentlich auch in ihre widerstreitende Macht – geriet, hielt sich im unteren Teil immer ein wenig von der vergangenen glücklichen Wildnis. Die alten Obstbäume hatten alle stehenbleiben dürfen und standen auch noch, als die drei Trauerweiden, auf die mein Vater beim Einzug bestanden hatte, ihr ungestümes Gastspiel längst hatten beenden müssen. Der Wunsch, im Wasser badende Weidenzweige betrachten zu können, war mit drei derart besitzergreifenden Monstern im Garten offenbar zu teuer bezahlt. Weiden gehören an Bäche und Tannen in den Wald, wer es anders haben will, wird das bereuen. In kurzer Zeit hatten die Trauerweiden vom oberen Gartenteil Besitz ergriffen, unter ihnen war Wüste, neben ihnen kein Leben, und so wurden sie abgeholzt. Ein breiter Baumstumpf blieb übrig. Meine Mutter stellte einen Korb Geranien drauf. Manchmal streckte der Stumpf ein paar Zweige aus, nur mal so, um zu probieren, ob man es vielleicht wieder mit dem Wachsen wagen könnte? Aber die Gartenbesitzer waren gewarnt und paßten auf.

Seit dem Weidenexperiment hatte meine Mutter Oberwasser, und so entstand ihre bewunderte, kontrolliert wild blühende Simulation eines Bauerngartens mit Rosen, Margeriten, Schafgarben, Cosmeen, Schwertlilien und noch hundert anderen Blumenarten, in jeder Jahreszeit blühte irgendwas Schönes. Es gelang meiner Mutter, einer eleganten Städterin, die Blumen bisher nur mit Papier drum herum gekannt hatte, in wenigen Jahren die Geheimnisse eines Gartens zu entschlüsseln. Wahrscheinlich hat sie auch erkannt, daß der Garten die einzige Möglichkeit für sie war, ohne zu trauern alt zu werden.

Sie hatte vor dem Alter immer Angst gehabt. Entsetzlich, wenn nicht einmal die Bauarbeiter mehr pfeifen, sagte sie.

So wanderten die Schiaparelli- und St.-Laurent-Kleider in den Keller, ordentlich in alte Bettbezüge gehüllt wie in Leichentücher. Meine Mutter trug fürderhin Overalls, und wenn sie ihrer Schönheit nachtrauerte, ließ sie es keinen merken. Sie hatte der Welt den Rücken zugedreht und sah dafür ihrem Garten ins Gesicht. Sie war und ist nicht die einzige Frau, die das so macht, ob sie es sich eingesteht oder nicht.

Ein Garten ist eine von allen respektierte Art, der Welt mitzuteilen, daß sie einen nicht mehr interessiert. Da meine Mutter jeden Morgen um fünf Uhr Deutschlandfunk hörte und auch sonst keine Nachrichtensendung, keinen Dokumentarfilm über Pharma-, Wirtschafts-, Korruptions- und sonstige Politikskandale versäumte (nur solche über Tiertransporte konnte sie nicht anschauen), hatte sie eine ebenso klare wie düstere Meinung über das Leben. Von außen hätte man ihres für komfortabel, ja sogar glücklich halten können, aber das war es nicht. Sie war eine jener Pessimistinnen, die grade deshalb die schönsten Gärten zustande bringen. Sie zeigen nämlich der verrotteten, dreckigen und kranken Gegenwart, wie sie aussehen könnte, wenn gärtnerische Vernunft regierte. Plato wollte Philosophen als Könige haben, meine Mutter Gärtner. Natürlich keine professionellen, die waren Teil des weltweiten Mörder- und Vergifterkartells.

Es gelangen ihr geniale Kombinationen von Farben und Pflanzen, ich beneidete sie um vieles und konkurrierte niemals – ich mit meinem »Handtuch«. Zu Lebzeiten meines Vaters durfte sie keinen Kitsch aufstellen und hielt sich mit Geschenken an mich schadlos, Steinamphoren und allerlei Terrakotta. Ein abstraktes eisernes Gebilde, das er als Kunstwerk ernster Art in Sichtweite des Hauses auf den Rasen betoniert hatte, bepflanzte sie mit Clematis der Sorte Montana Rubens, ein wunderbares und temperamentvolles Gewächs, unter dem man auch das Frankfurter Polizeipräsidium schnell unsichtbar werden lassen könnte, wenn man nur wollte.

In kurzer Zeit war aus dem Kunstwerk eine duftige, aber kompakte Wolke geworden, im April mit Hunderten von vierblättrigen rosa Blüten bedeckt, die sich in kleine gelbe Knöpfe und dann in sehr dekorative weiße Spiralnebelchen verwandelten. Wenn man etwas zu einem schönen Verschwinden bringen will, ist die Montana Rubens allererste Wahl.

Mein Vater hängte trotzig eine verdrehte, bearbeitete und etwa mannshohe Wurzel so hoch an die Hauswand, wie es ging, und sagte, die sei schließlich Natur, irgendwie.

Die Favoriten meiner Mutter wechselten. Sie ging mit Pflanzen um wie ein Intendant mit seinen Schauspielern. Wer in einer Spielzeit zu viele Hauptrollen hatte, mußte sich in der nächsten mit Nebenrollen begnügen. Und wie ein Intendant konnte sie sich manchmal nicht entscheiden, wen sie nun mehr liebte: die fulminant auftretenden Feuerwerkstypen, prachtvoll, aber schnell schlapp – zum Beispiel Schwertlilien –, oder die verläßlichen Darsteller, von sanfterer, aber haltbarer Schönheit wie manche Polyantharosen, die den ganzen Sommer unermüdlich Blüten nachschieben. Das ist ein verbreitetes gärtnerisches Dilemma.

Ich habe eine Freundin, die sich in einer bestimmten Zeitspanne im Monat Mai weder von lukrativen Jobs noch von verheißungsvollen privaten Terminen aus dem Garten locken läßt, weil sie darauf wartet, daß ihre chinesischen Päonien aufblühen, riesige, zarte Blütenschüsseln, die schon ein Windhauch oder ein kleiner Regenguß zur Strecke bringt. Ihre volle Schönheit haben sie nur für Stunden. Das ganze übrige Jahr machen sie sich mit furchtbar viel Grünzeug wichtig, nehmen eine Menge Platz weg und leben von der Erinnerung. Meine Freundin pflegt einen Regenschirm über sie zu halten, wenn es nötig ist.

Für solche Extravaganzen hatte meine Mutter nichts übrig. Allerdings brachte sie es fertig, eine von mir geteilte und ausgegrabene Veronica spicata (die einzige Pflanze in meinem Handtuchgarten, um die sie mich je beneidet hat: hohe Stiele mit kegelförmigen lila Pinseln, von denen wie bei einem Kronleuchter sternförmig kleinere Pinsel ausgehen) – mein Vater hatte sie beim Transport abgeknickt und Entsprechendes zu hören bekommen – mittels Stäbchen und Mullbinde zu schienen. Sie wuchs tatsächlich weiter.

Auch die Veronica spicata kam wieder, wie alles. Der Garten erwachte zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter ungerührt zum Leben, und ich hörte ihre kommentierende und nachdenkliche Stimme. Schneeglöckchen, die sich aus Steinritzen drängten, Ageratum in dicken Kissen, Krokusse, die geduldig unter der Erde herumgewandert waren und nun an unerwarteten Stellen wieder auftauchten. Eine ihrer stillen Belustigungen war es gewesen, Ausreißer zu finden und darüber nachzudenken, warum sie sich am neuen Platz angesiedelt haben mochten, zumal der oft weit weniger kommod war als der ihnen zugedachte. Ein Kind des Essigbaums war sogar unter dem Haus hindurch in den Vorgarten emigriert. Daß die alle nicht bleiben wollen, wo man sie mal hingepflanzt hat! Das war jetzt wieder so, im verwaisten Garten drängelte es sich allenthalben, gebeten und ungebeten. Maiglöckchen waren zehn Meter in Richtung Gartenzaun vorgerückt, das Blaukissen hatte Sendboten zwischen die Treppenstufen gequetscht, und ein winziger Eibensproß hockte dunkel und ernst im kahlen Rosenbeet.

Dann öffnete die Spalieraprikose an der warmen Südwand ihre ersten Blüten. Das war das schlimmste.

Niemals hatte ich darüber nachgedacht, was mit Gärten nach dem Tod ihrer Besitzer geschieht. Verwaiste Häuser hatte ich oft genug gesehen, ihre seltsame Agonie, die man sich nicht erklären kann. Fensterscheiben, die ohne Außeneinwirkung einfach zerbrechen, Dachziegel, die sich bei Windstille lösen, Regen und Tauben reinlassen und den Dreck sowieso. In jeder Nachbarschaft gibt es solche Häuser, wo sollten sonst Gespenster unterkommen.

Aber was ist mit den Gärten? Vielleicht verwandeln sie sich in kurzer Zeit einfach wieder zurück, es ist ihnen schließlich Gewalt angetan worden, wenn auch sanfte? Ein Garten will immer – immer – etwas anderes lieber wachsen lassen als das, was wir ihm einpflanzen. Das ist seine Natur, und Gärtner sein heißt, sein Stück Erde zu etwas zu bringen, was es von allein nicht täte. Da kann man noch so viel Feng-Shui oder Ökologie bemühen – selbst der gestaltetste und geliebteste Garten wird sich in eine Wildnis mit Brombeersträuchern und sonst noch viel Dornigem verwandeln, wenn er in Ruhe gelassen wird.

Aber man soll sich nicht irren – es dauert herzzerreißend lang, bis ein Garten, ob riesig oder winzig, sich der Spuren seines Gärtners oder seiner Gärtnerin entledigt. Und weil das nicht auszuhalten ist, wenn man die Betreffenden geliebt hat, ist es besser, ihn fremden Händen und Hoffnungen zu überlassen.

Der Sommer kam, ich bezahlte jemanden, der ihren Garten goß, den Rasen mähte und sich um die Bäume kümmerte. Sie hatte Herrn R. gelegentlich beschäftigt und seinen Fähigkeiten mißtraut, was sich dadurch äußerte, daß sie ihn nicht aus den Augen ließ. Seltsamerweise brach er zweimal, als ich mit ihm sprach, in Tränen aus. Sie fehlte ihm sehr. Auch mein Vater, den er als Gartenpläne schmiedenden Zeus in Erinnerung zu haben schien. Die Rosen blühten im ersten Sommer nach ihrem Tod noch verrückter als sonst, und ich hörte noch immer ihre nachdenkliche Stimme, mir schien, als deute sie mir über die Schulter auf ihre lachsfarbenen Sorgenrosen: Da, jetzt geben sie sich endlich Mühe, wenn man sie nicht mehr braucht.

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Sie hatte gewußt, daß ich ihren Garten nie übernehmen würde. Aber sie war sich sicher, noch viel Zeit zu haben, bis Entscheidungen getroffen werden mußten. Immer wieder hatte sie über den Verkauf des Hauses geredet, eine kleinere Wohnung mit Terrasse in der Stadt erwogen: Man wird nicht jünger, und ich bin allein.

Das ging mich an, aber ich habe nicht geantwortet. Sie wäre ohne ihren Garten tatsächlich allein gewesen, und niemand hätte etwas daran ändern können, auch ich nicht.

Ich schaute mir noch einmal alles an, bevor ich mich endgültig verabschiedete.

Von der Kletterhortensie nahm ich einen Ableger mit. Der kränkelte ein paar Jahre bei mir herum, bis er mit mir einverstanden war. Dann eroberte er zügig eine ganze Wand und das Garagendach und bestreut seither Mensch und Tier Ende Mai verschwenderisch mit weißen Sternchen.

Den Katzenfriedhof gab ich in die Fürsorge zweier kleiner Mädchen, Töchter der Käufer, die das sehr romantisch fanden. Auf die nekrophile Ader von Kindern kann man sich verlassen. Sie erinnerten mich an mich selber. Was hätte ich in ihrem Alter nicht für einen eigenen Friedhof gegeben.

Adieu Sommeräpfel, die schaumig schmeckten, wenn man hineinbiß, adieu launischer Zwetschgenbaum, Spender von Überfluß oder totalem Mangel, wie es ihm paßte, ja, und adieu Schattenmorelle, Trägerin der besten Sauerkirschen, die ich je gegessen habe. Sie hatten eine hauchdünne Haut, und wenn man sie entsteinte, flossen Ströme von köstlichem Kirschblut. Man kriegte die Hände tagelang nicht sauber.

Mit den Produkten von der eigenen Scholle war es auch bei meinen Eltern eine besondere Sache. Ich glaube, sie konnten beide nicht fassen, daß zwei Intellektuellen, wie sie es waren, die Erzeugung von eßbarem Obst und, in sehr bescheidenem Rahmen, sogar von Gemüse gelang. Daran erkennt man zuverlässig Gartenbesitzer, die ursprünglich Städter waren: Ein selbstgezogenes Radieschen, eine Handvoll Schnittlauch, eine Schüssel Kirschen lösen eine gleichsam sakrale Zeremonie des Aufessens aus.

Ich brachte es nicht fertig, mich vom Aprikosenbaum meiner Mutter, der jetzt Früchte mit rotgetupften Bäckchen trug, zu verabschieden. Sie hatte ihre Aprikosen immer gegen uns verteidigt – nicht aus Geiz, sondern weil mein Vater und ich nicht den richtigen Reifegrad abwarteten. Manchmal hatte ich sie in ihrem dreckigen Overall an der Spalierwand stehen sehen, schmal, mit ihren kurzen schwarzen Haaren und ihrem schönen Profil, und eine Aprikose wie eine Hostie verspeisen. Es war übrigens schon ihr zweiter Baum gewesen, Aprikosenbäume werden nicht alt.

Am Tag des Abschieds kam mir der Garten plötzlich kleiner vor. Das ist eine alte Geschichte bei Kindheitsgärten. Aber dieser hier war kein Kindheitsgarten für mich gewesen, dieses fast genau dreißig Jahre lang bearbeitete, immer wieder veränderte, geliebte und vielbenutzte Stück Erde war Elternland. Aus einer schönen Wildnis hatten sie den Garten gemacht, dann war er seiner eigentlichen Regentin, meiner Mutter, ganz zugefallen. Sie hätte ihn ohne Hilfe wohl nicht mehr allzulang beherrschen können, aber das war kein Trost. Es gab überhaupt keinen Trost, nur den Gleichmut der Blumen, die wuchsen wie die Jahre zuvor und ihre Farben zeigten, ob jemand sie anschaute oder nicht. Ich hatte im Juni die alten Steintröge bepflanzen lassen, mit Petunien, wie meine Mutter es immer getan hatte. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, einmal, zum letztenmal, andere Blumen zu nehmen, obwohl ich Petunien nicht mag.

Ich habe ihren Garten danach nie wiedergesehen. Aber ich bin sicher: Ich würde sie dort wiederfinden, jetzt noch, nach all den Jahren.

Wo die Liebe hinfällt

»Ich wußte nicht, daß ich diesem Stück Welt / So unwiderruflich verwachsen bin. / Es kam mir bisher niemals in den Sinn, / Daß es mich wirklich am Leben erhält.«

Eva Strittmatter

Eva Strittmatters Gedicht Grasnelken beschreibt ein Stück märkischen Sands, karg und trocken. Es handelt von der Liebe. In diesem Fall zum Boden, auf dem man zu Hause ist, dem man vertraut und dem man etwas zu entlocken gelernt hat. Man muß das nämlich lernen, und manchmal dauert es lang. Jeder Gartenbesitzer träumt von einem anderen Boden als dem, den er hat. Zum Teil ist das Koketterie, weil eine Pracht, die renitentem Boden entsprossen ist, mehr Beifall bringt als die Üppigkeit in Oberbayern oder in den Tropen, von der man ja weiß, daß sie dort von allein entsteht. Auf mancherlei Art kommt man zu seinem Boden, und oft merkt man erst nach geraumer Zeit, daß man da jetzt hingehört und nicht mehr wegwill. Das heißt aber keinesfalls, daß man ihn kennt, seinen Boden, die Erde, mit der man künftig zu tun haben wird.

Wenn junge Erwachsene zu ihrem ersten eigenen Garten kommen, weil sie einen kleinen Bauplatz dort kaufen, wo sie Arbeit gefunden haben und eine Familie, schauen sie nicht nach dem Boden. Der erste Besitz ist so aufregend, daß kaum jemand sich darum kümmert, woraus er besteht und was der Untergrund versprechen könnte. Wenn die neuen Grundbesitzer schon als Kind mit und in einem Garten gelebt haben, wissen sie, wonach sie schauen müßten: nach Trockenheit und Nässe, lockerem oder lehmigem Boden, Schatten oder Licht. Das kriegt sogar ein gartenhassendes Kind mit, zwangsläufig. Das ist wie lesen lernen. Meist aber schauen sie nur, wo das Klettergerüst hin kann oder ein Gummipool, da wäre ein guter Grillplatz, und man möchte natürlich Blumen und vielleicht einen Zwetschgenbaum. Der Boden? Der ist untendrunter und spielt erst mal keine Rolle. Später werden dann vielleicht ein paar Fuhren sogenannter Mutterboden abgekippt und verteilt, wobei die Mutter des Bodens meistens so wenig bekannt ist wie der Vater. Dafür ist er teuer.

Da machen wir Rollrasen hin, wird beschlossen, und dort ein paar schnellwachsende Büsche, als Sichtschutz. Es gibt im Gartencenter viele schöne Blütenpflanzen, bunt, mit respektgebietenden lateinischen Namen und ein paar für Analphabeten gedachten Symbolen auf einem Plastikschildchen, das im Topf steckt. Ein, zwei Kaufräusche später ist so der erste Garten entstanden, und der kann sogar hübsch aussehen. Glücklich macht er jedenfalls, und das ist das wichtigste. Die Erde bleibt fürs erste unsichtbar und stumm. Irgendwann allerdings meldet sie sich. Und zeigt, wer sie ist und daß sie sich von ein paar Zentimetern Fremderde nicht den Mund verbieten läßt.

Mit dem Rollrasen fängt es an. Der grüne Teppich sieht im zweiten Jahr schon ganz anders aus, und je nachdem, wo unser Stück Erde ist, kommen unterschiedliche ungebetene Gäste. In manchen Städten sind das oft noch, über ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg, Trümmerpflanzen – Disteln, Huflattich, Königskerze und Goldrute. Ich kenne Gärten, in denen man immer noch Ziegelbrocken findet, man muß gar nicht tief graben. Jeder Garten ist nur der oberste Teil eines Turms von Geschichten. Was war vorher da? Felder? Brachland? Eine Tankstelle, ein Haus, ein Friedhof? Oder Wald? Was würde manch eine Erde sagen, wenn der Gärtner sie fragen würde? Daß sie erschöpft ist, vielleicht, und daß sie mit ein bißchen Stickstoff eine Zeitlang in Ruhe gelassen werden möchte.

Lehmboden bleibt Lehmboden, und wenn man hundert Säcke Torf hineinwirft. Der Gärtner sagt sich, Ökologie hin oder her, der verdammte Boden soll machen, was ich will. Der wird sich für kurze Zeit fügen, wird eine Menge Geld und Nerven in sich begraben, aber aus einem schweren Boden wird nicht wirklich ein leichter, das ist wie bei den Menschen.

Muß man dem Boden etwas abtrotzen, oder schenkt er freiwillig? Eva Strittmatters Grasnelken sind so ein Geschenk, nur auf sandigem Boden wachsen sie gut, auf diesem mageren Boden, durch den das Wasser wie durch ein Sieb läuft und verschwindet, ohne sich um den Durst der Wurzeln zu kümmern. Kiefern kommen mit wenig Wasser aus oder Wacholderbüsche. Und so schöne Blumen wie die wilden Nelken. Das kümmernde Rosa harter Grasnelken. / Ihr bläuliches Spiel unterm spärlichen Tau.

Gerade auf kargen Böden werden oft die üppigsten Gärten gestaltet. Für besonders bunte und vielfältige Beispiele haben malende Gärtner gesorgt, zum Beispiel Emil Nolde und Max Liebermann, auf ihren Magerböden in Seebüll und am Wannsee. Eine bis heute in Wirklichkeit und auf vielen Bildern bewahrte Farbenfülle. Beide Gärten kann man besuchen, wobei Emil Noldes Garten nach seinem Tod weiter gehegt und geliebt wurde, während der des Max Liebermann Enteignung und Barbarei auszuhalten hatte und erst jetzt wieder wunderbar rekonstruiert worden ist. Beide Künstler haben sich viele Gedanken um ihren Garten gemacht, der Gesamteindruck ist der einer unbändigen Schöpfungsfülle.

Im Überfluß der Tropen, in denen Wachstum und Fäulnis schnell aufeinanderfolgen, gelten dagegen strenge und formalistische Gärten als schön. Ein Beispiel dafür ist der Garten des alten Railway Hotel in Hua Hin. In der fetten Erde würde auch ein in den Boden gesteckter Spazierstock Blätter und Blüten treiben, deswegen heißt das Gesetz dieses tropischen Gartens Zähmung, Ordnung, Niederhalten. Die gesamte Anlage ringt dem Chaos der Fruchtbarkeit strenge Formen ab, in diesem Fall Tierformen. Mächtige Mammuts und zierliche Vögel, Scharen von Hasen und Hirschen, ein aus Liguster und Bougainvilleen gezüchteter Zoo, dessen Tiere sich in der Dämmerung in Bewegung zu setzen scheinen. Den ganzen Tag über sind Gärtner mit Scheren unterwegs, um selbst das kleinste Zweiglein, das vom Tier wieder zur Pflanze zurückwill, zu kappen. Vielleicht muß ein Garten immer eine Art Gegenentwurf zur Umgebung sein.

Die Gleichförmigkeit hat in der Architektur fast auf der ganzen Welt gesiegt. Lochfassaden und Reihenhauszeilen, von Nord bis Süd und Ost bis West. Auch wenn das eine oder andere Dekorationselement verwegen aus der Norm ausschert – der Schuhkarton als Gestaltungsprinzip hat sich durchgesetzt. Da bleiben die Gärten, um sich von anderen zu unterscheiden. Und es ist immer wieder zum Staunen, welche Vielfalt auf gleichem Boden gedeihen kann.

Daß in jedem Boden ein Garten schläft, habe ich vor ein paar Jahren in Israel gesehen. Nach einem ziemlich nassen Winter fuhr ich mit dem Schriftsteller Meir Shalev in die Wüste. Es war inzwischen Frühling geworden, und Meir Shalev hatte ein neues Auto, mit Vierradantrieb. Er wollte sich in der Wüste auf die Lauer legen und warten, bis andere Autos im Sand feststeckten, um sie dann im Triumph rauszuziehen. Ganz nebenbei versprach er mir einen erstaunlichen Anblick, und er versprach nicht zuviel. Der Garten Eden, der lang im Wüstensand geschlafen hatte, war wach geworden, die Hügel hatten plötzlich einen dichten grünen Graspelz, und die Ziegen der Beduinen waren wie besoffen von all dem köstlichen Grün. Wo viele Jahre nur Felsbrocken gewesen waren, sprudelte eine Quelle, und um sie herum wuchsen wilde Tulpen und Narzissen. Mohnfelder und bauchhohe Margeriten bedeckten den Sand. Ich traute meinen Augen nicht. Sogar der Dornbusch aus der Bibel war da, und er brannte tatsächlich, mit tausend feuerroten Blüten. Menschen wälzten sich in den Blumen, rissen sie büschelweise aus, waren auf ihre Weise genauso verrückt wie die Ziegen. Ein Auto nach dem anderen fuhr sich im Sand fest, und Meir Shalev verbrachte mitsamt seinem neuen Jeep einen glücklichen Nachmittag. Gott oder die Götter, wer auch immer für diesen schwierigen Landstrich verantwortlich sein mag, sorgten in diesem Frühling dafür, daß sichtbar wurde, wie die Welt aussehen könnte. Das Ganze dauerte natürlich nicht lang, der Rausch verflog, die Wüste bekam ihre fahle Farbe zurück, aber die Erinnerung an diesen Garten Eden blieb seinen Besuchern, und den Ziegen vermutlich auch.

Was für Erde gibt es auf Erden? Schwarze, braune, gelbe, rote und weiße, es ist wie bei den Menschen. In den bayrischen Gärten, schwarzerdig und fett, wächst fast alles. Neiderfüllt schauen die Touristen auf die unter Blumen versinkenden Zäune und die meterlangen Blütenwasserfälle, die sich von den Balkonen stürzen. Man schiebt die Fruchtbarkeit gern auf die Luft des Voralpenlandes oder das gute Wasser, aber es ist diese Erde, die den Gärtnern ihre Sache leichtmacht, wohlgenährte, gut gehaltene Gartenerde, die außer vielleicht ein paar Erbstreitigkeiten noch nicht viel hat durchmachen müssen.

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Es gibt lehmige und tonige Erde, Erde, die das Wasser nicht aufnimmt, sondern in Pfützen stehenläßt und nur zögerlich trinkt. Es gibt die saure, braune Erde, auf der der Rhododendron ganze Wälder bildet, den Gefallen tut er seinen Liebhabern anderswo nicht. Was in manchen Gegenden, im Norden oder in England, unaufhaltsam wuchert, wird auf anderen Böden mühsam mit großen Gruben, in die der saure Boden gefüllt worden ist, festgehalten und gehegt. Kann sein, daß er trotz aller Liebesmüh kümmert, der Rhododendron. Komischerweise mag er Aristokratengärten, auch wenn der Boden nicht ganz stimmt.

Auf hellem Kalkboden gedeihen Skabiosen, Steinkraut, Euphorbien und manche Heilkräuter. Sogar in der Ödnis alter Steinbrüche entdeckt man Blümchen, sie sind klein und zäh, haben wunderschöne Farben, aber sie springen einem nicht ins Auge, sondern verstecken sich gern.

Im thailändischen Dschungel ist die Erde rot, das ist sie auch in den Kautschuk- und Bananenplantagen oder in den Parks und Gärten wie dem von Hua Hin, denen der Dschungel hat weichen müssen. Selbst unter den wüstesten Neubaugebirgen lebt er noch, und seine fette Erde lauert auf die kleinsten Ritzen, um etwas hinauszutreiben aus dem Beton. Rote Erde gibt es auch bei uns, nach ihr heißen im Ruhrgebiet Sportstadien und Schaustellervereine.

Wann und wo sieht man eigentlich Erde? Wenn die Felder gepflügt daliegen, für kurze Zeit nackt und schutzlos. Viele Menschen kennen Farbe, Eigenschaften und Vorlieben ihrer Erde gar nicht. Für sie ist Erde braun und, zu zwanzig oder fünfzig Litern abgepackt, in Tüten erhältlich. Sie ist mittlerweile ebenso ein Kunstprodukt wie die Pflanzen, die man hineinsteckt. Manche haben deswegen das Kompostieren wieder gelernt, das ist eine Wissenschaft, und es gibt so viele Rezepte für den ultimativen Kompost, wie es Komposthaufen gibt. Der Einsatz der selbstgemachten Supererde entlockt auch unwilligem Boden die eine oder andere schöne Überraschung – verändern tut es ihn aber nicht. Vielleicht in hundert Jahren. Erde braucht Zeit. Zeit der Ruhe, der Erholung, der Abwechslung. Zeit hat aber niemand mehr, und so gibt man ihr Medikamente, damit sie schneller tut, was von ihr verlangt wird.

Manchmal helfen die aber nicht mehr, und dann muß ein ganzer schöner Garten weggeräumt werden, wie einem herrlichen Rosengarten geschehen ist, den viele jedes Jahr bewunderten. Schön brotbraun hatte die Erde ausgesehen und Hunderte von Rosenbüschen und -bäumen aller möglicher Sorten ernährt. Aber in ihr hatten sich Nematoden angesiedelt, winzige, in der Vergrößerung eklig aussehende Würmer, die nützlich sein sollen und schädlich sein können. Man kann sie paketweise bestellen, dann machen sie Dickmaulrüsslern und anderem Schädlingszeug den Garaus, wenn sie aber in großer Zahl unter die Rosen geraten, gibt es keine Rettung mehr.

Im Garten begegnen wir der Erde eigentlich nie mit Neugier und Geduld von Angesicht zu Angesicht. Entweder reißen wir etwas aus ihr raus oder pflanzen etwas in sie hinein. Sie nackt zu sehen behagt höchstens dem Gemüsegärtner, für kurze Zeit, bis Salat und Möhrengrün sie bedeckt haben. Im sogenannten Ziergarten hat sie bekleidet zu sein, dem Erfindungsreichtum der Gartenindustrie sind da keine Grenzen gesetzt. Polster, Zwergstauden, kriechendes und sich verzweigendes Gestrüpp, Moose und was sich sonst noch eng auf den Boden legt, tausend und abertausend Sorten bieten sich an. Daß nur keine Löcher, durch die man Erde sehen könnte, bleiben.

Woraus besteht sie eigentlich? Die Frage ist nicht so dumm, wie sie klingt. Sie gilt zwar wie Luft, Feuer und Wasser als Element, von diesen allen hat sie aber vermutlich die komplizierteste Struktur. Ein Gemisch aus abgestorbenen Pflanzenteilen, Vulkanasche, zermahlenen Muscheln und anderem Urgetier ist sie, eigentlich ein Friedhof für Totes und Nährboden für unzählige Mikroben, Bakterien und anderes Lebendiges. Sie verbirgt allerlei hingeschiedene Kulturen, Edelsteine, Erze und andere Rohstoffe. Wenn man torfige Erde in den Fingern zerreibt, spürt man die Pflanzenfasern. Was durch den Darm eines Regenwurms gewandert ist, bildet kleine, schwarze Häufchen und ist allerfeinster Boden. Vergangene Zeiten haben in manche Gegenden fruchtbare Erde geschaufelt und andere hungern lassen. In Berggegenden spuckt sie Steine aus, jedes Jahr neue. Das ist gut, daraus kann man Mäuerchen bauen, damit sie nicht abrutscht. Sie braucht Halt durch Wurzeln, wenn der Boden nicht eben ist, sonst wird sie weggespült. Manchmal ahnt man etwas von ihrer Vorgeschichte, zum Beispiel, wenn der Garten beim Gießen plötzlich durchdringend nach Pilzen zu riechen anfängt. Waldbodengeruch, woher auch immer er kommen mag.

Erde ist ein lebendiges Wesen und liebt lebendigen Dünger, Blut und Scheiße: Blutmehl, Hornspäne, Pferdeäpfel, Kuhdung oder Guano, was auch nichts anderes als Vogelmist ist. Nur keine Fleischfresserfäkalien. Ich glaube nicht, daß all die appetitlichen Plastikflaschen mit geruchlosem, wasserklarem Inhalt und vielversprechenden Namen, die lausfreie und glückliche Riesenblumen verheißen, dem barbarischen Dünger von einst ebenbürtig sind.

Erde schluckt und verdaut vieles, aber manchmal kann selbst sie nicht verdauen. Als ich zum erstenmal die Ebene von Verdun sah, auf dem Weg nach Paris, wußte ich nicht, wo ich war. Ich hatte das Schild nicht gesehen, aber eine so düstere, abweisende Erde war mir noch nie zuvor begegnet. Obwohl das Schlachten schon so viele Jahrzehnte zurücklag, schien sich die Erde bis heute nicht erholt zu haben von dem, was sie hatte schlucken müssen. Man könnte denken, daß auf Todesfeldern eine besonders üppige Vegetation gedeihen würde. Das war hier nicht so. Krüppliges, unwilliges Gewächs habe ich gesehen, von einem grauen Himmel niedergedrückt. Auf richtigen Friedhöfen dagegen ist die überfütterte Erde nicht unfreundlich und gibt den kleinen Vierecken, in die man sie zerteilt hat, an Fülle, was sie kann. Auf einem Friedhof meiner Kindheit gab es besonders schöne Apfelbäume, und es galt als Kühnheitsbeweis, die Äpfel zu essen. Wir nannten sie Leichenäpfel.

Vielleicht mag man der Erde wegen ihrer Verbindung zum Tod nicht so gern ins Gesicht schauen. Auch das Getier, auf das der Gärtner beim Graben stößt, löst keine Begeisterung aus, trotz mancher Nützlichkeit. Regenwürmer, Asseln, Tausendfüßler, Ameisen, Schlupfwespen, Engerlinge – sie mögen das Licht nicht, suchen so schnell wie möglich wieder im Dunkel zu verschwinden, sie machen abstoßende huschende oder kriechende Bewegungen, und man braucht eine gewisse Energie, um sich ihnen ohne Gänsehaut zu nähern. Sie haben mit Fressen und Verdauen zu tun, sie können auch Großes langsam und geduldig im Dunklen zum Verschwinden bringen. Diese Gedanken will man schnell los sein, also Erde drüber und sich freuen an den Dingen, die aus ihr wachsen.

Erde zu lieben ist noch immer eine ganz verdächtige und kontaminierte Angelegenheit, Liebe zur Scholle das Reaktionärste, was es gibt. Der kultivierte Gärtner redet also nicht von seinem Boden, sondern von dessen Möglichkeiten, verändert zu werden. Der Boden ist potentiell unwillig und feindselig und muß sich manipulieren lassen. Deshalb sehen wir Mais- oder Weizenfelder bis zum Horizont, keine Heckenstreifen mehr, keine Knicks, in denen Vögel wohnen. Die nostalgische Klage über die verödende Kulturlandschaft ist alt und abgenutzt, wobei meines Wissens Saatgut, Feldblumen, Hecken und Vögeln viele ihre Stimme geliehen haben, der Erde aber eigentlich niemand. Sie ist einfach da und muß sich bearbeiten lassen, sie muß aufnehmen und wieder hergeben und für Verwesung ebenso sorgen wie für Neubeginn. Manchmal, wenn sie irgendwo völlig verschwunden ist, jammert man ihr hinterher und pflanzt ein bißchen Bergwald, damit sie sich festhalten kann. Aber auf den hundertsten Skilift wird nicht verzichtet.

Das große Ganze kann der Gärtner nicht ändern. Seine Erde kann er aber fragen, was sie will, und ihr zuhören, ganz für sich, und vielleicht geht es ihm dann wie der Dichterin Eva Strittmatter:

Ich dachte immer, ich könnte mich trennen,

Wenn ich nur wollte. Das ginge leicht.

Doch jetzt: was mich aus der Ferne erreicht,

Das werde ich niemals gut genug kennen –

Krieg und Frieden 96

»zwischen fast nichts und nichts / wehrt sich und blüht weiß die Kirsche.«

Hans Magnus Enzensberger