Vollständige eBook Ausgabe 2012


©2011 SPIELBERG VERLAG, Regensburg

Umschlaggestaltung: Spielberg Verlag

Umschlagfoto: Beate Aé-Karguth

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(eBook) ISBN:
978-3-95452-017-6


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eBook-Herstellung: GEPPCO MEDIA, Regensburg


Geschichte und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.



»Hier ist es«, sagte Klaus Hubertson zu Hauptkommissarin Beate Maiwald und blieb vor einem alten Haus in der Querstraße in Gothas Innenstadt stehen. Er schaute noch einmal in die Unterlagen, die er vom Kriminaldauerdienst erhalten hatte, dann beugte er sich zur Klingeltafel hinunter. »Scheint ganz oben zu sein, die Wohnung unterm Dach. Henriette Meerbarth.« Er hob die Hand und wollte den Finger auf den Klingelknopf legen, aber dann zögerte er doch. »Sagst du es ihr?«, fragte er und blinzelte in die Sonne. Es war früh am Morgen, noch war die Luft frisch, aber es würde ein heißer Tag werden. Nach dem kalten und nassen Mai wurde es auch Zeit, dass es endlich ein bisschen wärmer wurde.

Beate Maiwald lächelte abwesend. In Gedanken war sie schon bei der bevorstehenden Aufgabe. »Klar. Das kann ich dir doch noch gar nicht zumuten, oder? Du kannst ruhig läuten, ich pass schon auf dich auf.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein junger Mann kam heraus. Hubertson grüßte ihn knapp, hinderte die Haustür am Zufallen und trat in den Flur. Einen Moment sah es so aus, als wollte der andere ihn fragen, mit welchem Recht er um diese Tageszeit in das Haus eindrang, aber dann überlegte er es sich doch anders und verschwand mit langen Schritten in Richtung Siebleber Straße.

Hubertson hielt Beate die Tür auf. Er ärgerte sich, dass er diese Frage gestellt hatte. Natürlich riss er sich nicht darum, Angehörigen die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds zu überbringen. Kein Polizist gewöhnte sich jemals daran, auch nach langen Dienstjahren nicht. Doch so grün hinter den Ohren, wie Beate es mit herablassendem Spott andeutete, war er wirklich nicht. Es wurmte ihn, dass sie ihn ihren Erfahrungsvorsprung spüren ließ. In solchen Momenten hatte er immer das Wort »Besser-Wessi« auf der Zunge, obwohl er sich in dieser Hinsicht über seine Chefin wirklich nicht beklagen konnte. Sie war vor gut fünfzehn Jahren aus Regensburg nach Gotha gekommen, eigentlich nur für zwei Jahre, aber dann hatte sie sich in die schöne alte Stadt verliebt und war geblieben. Manchmal fand er ihren Eifer, sich möglichst perfekt anzupassen, schon fast ein bisschen übertrieben.

»Sagen wir einfach: Ladies first«, knurrte er. Er deutete eine ironische Verbeugung an. »Außerdem bringen einen solche Erfahrungen aus dem seelischen Gleichgewicht. Das stört beim Poppen.«

Beate Maiwald sagte nichts, sondern warf ihm nur einen irritierten Blick zu, den er aber nicht registrierte. Also trat sie mit einem Achselzucken ein. Als erstes fiel ihr der unangenehme Geruch auf. Irgendein scharfes Reinigungsmittel, Frittierfett und die typische Ausdünstung eines feuchten Kellers kämpften um die Vorherrschaft. Sie rümpfte die Nase und sah sich um.

Es war das alte Dilemma mit den malerischen, jahrhundertealten Gebäuden. Von außen sahen sie – soweit sie frisch renoviert waren – wirklich charmant aus. Aber drinnen waren sie manchmal recht kompliziert zu bewohnen. In diesem engen und steilen Treppenhaus ein größeres Möbelstück in die oberen Stockwerke zu schaffen, das war eine echte Herausforderung. Durch die schmalen Fenster fiel nur wenig Licht, so dass Beate trotz des strahlenden Sonnenscheins nach dem Lichtschalter suchte.

Trotzdem fand sie es immer verlockend, in so einem Haus zu leben, auch wenn die Dübel nicht in der Wand hielten, die Installationen abenteuerlich waren und Stromkabel an Stellen verliefen, wo man sie nie und nimmer vermuten würde. Sie hatte so ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht. Als sie kurz nach der Wende in die Residenzstadt versetzt worden war, hatte sie das Vergnügen gehabt, in so einem Denkmal zu wohnen. Inzwischen hatte sie sich eine moderne Eigentumswohnung unterhalb des Schlosses gekauft, aber manchmal bedauerte sie es doch, sich nicht auf die Renovierung eines solchen alten Schmuckstücks eingelassen zu haben. Es war eben doch etwas ganz Besonderes.

Hubertson dagegen stand auf dem Standpunkt: Lieber Plattenbau als Denkmalschutz. Beate hatte manchmal den Verdacht, dass er sie damit nur provozieren wollte. Vor allem, wenn sie darüber räsonierte, dass es unverantwortlich wäre, die schönen alten Häuser einfach abzureißen. Typisch Wessi! Als ob wir nicht auch so schon Sorgen genug hätten!, brummte er dann vor sich hin.

Sie machten sich an den Aufstieg, die ausgetretenen Stufen knarrten bei jedem Schritt. Beate wandte sich wieder ihrem jungen Kollegen zu und kam jetzt doch auf seine Äußerung von vorhin zurück.

»Wieso eigentlich poppen? Kannst du mir mal verraten, wer sich solche Wörter ausdenkt?«

Hubertson zog die Augenbrauen hoch. »Du hast vielleicht Sorgen! Also ich wars jedenfalls nicht, falls du das meinst. Es gehört eigentlich zum allgemeinen Sprachschatz. Allerdings nicht unbedingt in deiner Altersklasse«, antwortete er.

»Das wäre ja auch noch schöner. Weißt du, mein Lieber, ich verstehe schon, dass jede Generation etwas Neues finden muss. Die Schmuddelwörter der Elterngeneration sind einfach abgegriffen. Aber poppen? Ich bitte dich, da vergeht einem doch alles.«

Hubertson zuckte die Achseln. Er hatte noch nie über das Wort als solches nachgedacht. Alle sagten es, zumindest alle jungen. Und die alten, brauchten die überhaupt noch ein Wort dafür? Na ja, vielleicht wenn sie sich ihren Erinnerungen hingaben. Immerhin hatten sie ja wohl eine Vergangenheit. Es war ihnen zumindest zu wünschen. Im Übrigen fand er nichts an dem Begriff poppen auszusetzen. An der Tätigkeit als solches übrigens auch nicht.

In Beates Vorstellung aber erzeugte dieses Wort Bilder eines mechanischen Vollzugs, hastig und roboterhaft. Völlig unerotisch. Es passte einfach nicht. Und hierher, in diesen uralten Treppenaufgang, passte es schon gar nicht.

Die nächste Frage, die sie sich während ihres Aufstiegs stellte, war, warum Hubertson diese Bemerkung überhaupt für notwendig hielt. Entweder, dachte sie, ist er naiv genug zu glauben, dass es einem irgendwann wirklich nichts mehr ausmacht, solche Nachrichten zu überbringen. Diesen Zahn sollte ich ihm möglichst bald ziehen. Oder er will durchblicken lassen, dass es bei mir nichts mehr gibt, wobei man mich stören könnte, rein poppungstechnisch.

Sie befürchtete, dass sie mit ihrer zweiten Vermutung richtig lag. Das ärgerte sie. Sicher, sie war nicht mehr jung, im September vor drei Jahren hatte sie ihren Fünfzigsten gefeiert. Heimlich, im Urlaub auf Naxos. Nur der betagte Besitzer des kleinen Hotels, in dem sie wohnte, hatte auf dem Anmeldeformular das Datum registriert und darauf bestanden, mit ihr anzustoßen. Von seinem wortreichen Toast auf ihr Wohl, den er mit leuchtenden Augen deklamierte, hatte sie nichts verstanden. Aber viel Phantasie brauchte es ja nicht, um den Inhalt solcher Glückwünsche zu erfassen, egal in welcher Sprache sie vorgebracht wurden. Die Peinlichkeit von ›Auf das zweite halbe Jahrhundert!‹ blieb ihr auf Griechisch zumindest erspart.

Was sie allerdings sehr wohl verstanden hatte, war dass der alte Herr immer noch nicht zu alt war, um ihr schöne Augen zu machen. Es fiel ihr schwer, darüber zu lachen. Sie fand einfach, dass sie mit fünfzig noch nicht in seiner Altersklasse spielte. Nach dem dritten Glas Rotwein gelang es ihr dann doch. Das Lachen, wohlgemerkt, nicht das Mitspielen.

Die Einschätzung ihres jungen Kollegen dagegen fand sie nicht wirklich lustig. Wieso warf er sie eigentlich so mir nichts, dir nichts zum alten Eisen? Sie sah gut aus, war schlank, fast zierlich, nicht allzu groß, sportlich. Sie trieb zwar keinen allzu großen Aufwand mit sich, trug die blonden Haare kurz geschnitten, schminkte sich nur im Notfall und lief meistens in Jeans herum. Trotzdem war sie im Allgemeinen mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden, allerdings hatte übergroße Eitelkeit noch nie zu ihren Fehlern gezählt. Und dreiundfünfzig, verdammt nochmal, das war doch kein Alter! Aber das würde Hubertson erst dann begreifen, wenn er selbst so weit war.

Sie waren jetzt im ausgebauten Dachgeschoss des Hauses angelangt. Durch ein nachträglich eingesetztes Oberlicht schien die Morgensonne herein, alles war hier blitzsauber und üppige Topfpflanzen verliehen dem Treppenabsatz den Charme eines Wintergartens. So ließ es sich durchaus wohnen in alten Gemäuern, dachte Beate und blieb vor der Wohnungstür stehen. Sie sah Hubertson nachdenklich an.

»Kleine Atempause?«, sagte der Jüngere gönnerhaft. Beate runzelte die Stirn. »Mache ich auf dich den Eindruck einer alten Frau?«, fragte sie gereizt zurück. Hubertson lachte versöhnlich. »Nein, ganz und gar nicht. Ich bin sicher, du könntest hier mühelos heraufjoggen und dabei auch noch telefonieren, den nächsten Termin in deinen Palm eintragen und konzertreif Flügelhorn spielen. Ich weiß doch, du bist multitaskingfähig und unschlagbar fit für dein Alter.«

Für mein Alter, dachte Beate verärgert. Schon wieder musste er sie mit der Nase darauf stoßen! Das hättest du dir ruhig sparen können, Hubsi, ich bin fit, ganz schlicht und ergreifend. Mit meinem Alter hat das nichts zu tun. Und was Multitasking angeht, da musst du jedenfalls noch allerhand lernen.

Draußen fuhr mit heulender Sirene ein Krankenwagen vor. Beate sagte zu Hubertson gewandt: »Wenn ich dich richtig verstehe, dann willst du andeuten, dass sich meine Freizeitbeschäftigungen aufs Kegeln und Strümpfestricken beschränken sollten, stimmts? Hubsi, du hast wirklich keine Ahnung.«

»Was hast du gesagt? Ich versteh kein Wort!«, rief Hubertson über den Lärm des Krankenwagens. Der schien immer noch vor dem Haus zu stehen und für einen kurzen Moment hatte Beate die Befürchtung, dass er möglicherweise dasselbe Ziel hatte wie sie. Sie lauschte, spürte ihr Herz klopfen und erst als der Lärm sich doch entfernte, winkte sie ab, ohne ihre Bemerkung zu wiederholen. Hubertson zuckte wieder mal die Schultern.

Im Grunde konnte Beate ihren jungen Mitarbeiter verstehen und in einer weniger angespannten Situation hätte sie ihm die Bemerkung sicher nicht übel genommen. Er war noch keine dreißig, für ihn waren Frauen über fünfzig geschlechtslose Wesen. Das war Beate in diesem Alter nicht anders ergangen, sie erinnerte sich nur zu deutlich. Außerdem, sie gab sich innerlich einen Ruck, konnte es ihr schlicht egal sein, was Hubertson von ihr dachte. Er war ihrem Team vor kurzem zugeteilt worden und sie arbeiteten, soweit sich das bis jetzt sagen ließ, recht gut zusammen. Mehr konnte man nicht erwarten und mehr brauchte es auch nicht.

Sie wandte sich wieder der Tür von Henriette Meerbarths Wohnung zu und legte entschlossen den Finger auf den Klingelknopf.

»Hoffentlich ist sie schon auf«, murmelte sie. Sie hasste es, ungewaschenen und verschlafenen Menschen gegenüber zu sitzen und ihnen schlechte, oder wie in diesem Fall, katastrophale Nachrichten zu überbringen. Leider brachte ihr Beruf genau das immer wieder mit sich.

Wenige Augenblicke später öffnete eine Frau. Sie war groß, mit einer ausgesprochen weiblichen Figur, die sie in einer langen, weiten Bluse zu verbergen suchte. Ihr Haar war bereits komplett ergraut, obwohl sie nach Beates Schätzung nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Sie sah müde aus, als hätte sie seit längerer Zeit nicht mehr richtig geschlafen, aber die feuchten Haarspitzen verrieten, dass sie bereits geduscht hatte. Außerdem hatte sie schon die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt. Sie hielt sie in der Hand, zusammengefaltet und offensichtlich noch ungelesen. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Beate, dass es keinesfalls die aktuelle Ausgabe war. Das Titelbild zeigte die ›Urknall-Maschine‹ bei Genf. Lieber Himmel, wie lang war das her, dass diese Geschichte durch die Medien ging? Doch mindestens ein halbes Jahr oder länger. Beate erinnerte sich, damals ratlos den zugehörigen Artikel überflogen zu haben, während gleichzeitig im Radio ein ausgesprochen sympathischer Physiker davon sprach, dass das physikalische Nichts instabil sei. Beate konnte mit der Instabilität des physikalischen Nichts absolut nichts anfangen, auch wenn sie die Formulierung – unabhängig von ihrer Bedeutung – sehr apart fand. Sie wusste nur mit ziemlicher Sicherheit, dass die Psyche mancher Zeitgenossen ausgesprochen instabil war, während ihre geistigen Kapazitäten dem physikalischen Nichts bisweilen sehr nahe kamen. Damals genügte ihr diese Erkenntnis, sie wollte sich später darum kümmern, auch den Urknall-Versuch irgendwie zu verstehen. Aber natürlich hatte sie das vergessen, sobald die Riesenmaschine wieder aus den Schlagzeilen heraus war.

Beate stellte sich und Hubertson vor, zeigte ihren Dienstausweis und fragte, ob sie hereinkommen könnten. Henriette Meerbarth nickte nur und führte sie schweigend in eine geräumige Wohnküche. Trotz der schrägen Wände wirkte der Raum großzügig, Dachgauben sorgten für viel Licht und der Blick auf die alten Dächer von Gothas Innenstadt war bezaubernd. Vor allem aber war er – das fand Beate besonders angenehm – nicht durch dicke Gardinen verhängt. Auch hier standen überall Topfpflanzen, darunter einige reich blühende Orchideen. Frau Meerbarth schien einen grünen Daumen zu haben. Im Übrigen war die Wohnung recht sparsam eingerichtet, fast spartanisch, mit einfachen und ziemlich abgenutzten Möbeln. Auf einem Küchenstuhl stand ein Karton, auf dem Esstisch ein altes, handbemaltes Kaffeeservice. Offensichtlich war die Frau gerade damit beschäftigt gewesen, es zu verpacken. Jetzt war auch klar, was sie mit der alten Zeitung vorgehabt hatte.

»Sind Sie die Tochter von Artur Semring?«, fragte Beate Maiwald. Henriette Meerbarth bestätigte das.

»Wir haben leider sehr schlechte Nachrichten für Sie, Frau Meerbarth«, sprach Beate weiter. »Möchten Sie sich nicht lieber setzen?«

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie starrte die Kommissarin an, dann wanderte ihr Blick ausdruckslos zu Hubertson.

Beate hatte die Befürchtung, dass sie gleich umkippen würde, wenn sie mit der schlimmen Neuigkeit konfrontiert wurde, die sie ihr überbringen musste. Aber sie hatte sich getäuscht. Nachdem Beate Maiwald ihr gesagt hatte, dass ihr Vater tot war, ermordet, antwortete Henriette Meerbarth schlicht: »Ja, ich weiß. Das war ich. Ich habe Sie schon früher erwartet.«

Dabei sah sie an Beate vorbei an die Wand und vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Sie hielt noch immer die Zeitung fest, als wollte sie das Blatt gleich aufschlagen und lesen. Aber plötzlich glitt es ihr aus den Händen, flatterte zu Boden und lag vor ihren Füßen, ein unordentlicher Blätterhaufen, die Flügel ausgebreitet wie ein toter Vogel.

Kommissarin Maiwalds erster Impuls war: Das glaube ich nicht. Sie hätte nicht sagen können warum, aber sie dachte mehrmals hintereinander: Nie und nimmer. Ihr zweiter Gedanke war: Warum hebt Hubertson eigentlich die Zeitung nicht auf? Diese jungen Schnösel haben wirklich keine Manieren mehr heutzutage.

Die Frau ignorierte die Zeitung genauso wie Hubertson. Sie wirkte ruhig, etwas abwesend zwar, aber keineswegs verwirrt, überspannt oder unzurechnungsfähig. Sie schien allerdings auch nicht schockiert zu sein; die Kommissarin meinte nur, ein kurzes Erschrecken wahrgenommen zu haben. Konnte es wirklich sein, dass Henriette Meerbarth bereits wusste, dass ihr Vater ermordet worden war? Erstochen. Erwürgt. Und erschlagen.

Dieser Mörder – die Kommissarin hatte beim Anblick der schlimm zugerichteten Leiche spontan ausgeschlossen, dass es eine Frau gewesen sein könnte – war außer sich gewesen vor Wut. Eine Wut, die sich über viele Jahre angesammelt hatte wie schmutziges Wasser in einem Becken und sich dann in einem verzweifelten Gewaltakt entladen hatte. Ein Dammbruch lang aufgestauter Gefühle.

»Überlegen Sie genau, was Sie sagen, Frau Meerbarth«, antwortete Kommissarin Maiwald. Dann fügte sie die Belehrung an, die in dieser Situation unabdingbar war. Dass sie nichts aussagen musste, dass sie ein Recht auf einen Anwalt hätte und so weiter. Wie oft hatte sie diese Sätze in ihrem Leben schon formuliert? Henriette Meerbarth hörte zu, aufmerksam, soweit Beate das beurteilen konnte. Dann sagte sie, fast ein bisschen verärgert: »Interessiert es Sie nicht, was ich zu sagen habe?«

Beate beeilte sich, ihr zu versichern, dass es sie sehr wohl interessierte. Aber die Belehrung über ihre Rechte sei keine leere Formsache, sondern wichtig und unverzichtbar. Wenn sie jetzt aber Angaben machen wolle, dann könne sie ihr sicher erzählen, wie die Tat abgelaufen sei.

»Ja. Ja, das kann ich«, antwortete die Frau. Sie wirkte jetzt noch ruhiger als vorher. Als hätte sie nur darauf gewartet, endlich ihr furchtbares Wissen loszuwerden.

»Und, wie haben Sie ihn getötet?«, fragte die Kommissarin.

Frau Meerbarth überlegte eine Weile. »Es war in der Küche«, begann sie dann. Beate Maiwald nickte zustimmend, man hatte die Leiche vor der Spüle liegend gefunden. Sie war zwar in der Nacht nicht selbst am Tatort gewesen, aber die Fotos des Kriminaldauerdienstes standen ihr lebhaft vor Augen. »Er wollte Kaffee machen. Ich hatte Kuchen mitgebracht. Es sollte zu Mittag Kaffee und Kuchen geben.«

Auch das stimmte. Die Kaffeemaschine war geöffnet, Wasser bereits hineingegossen. Die offene Kaffeedose lag auf dem Fußboden, das Kaffeepulver hatte sich mit dem Blut zu einem schwarzbraunen Brei vermischt. Ein Paket mit Kuchen von der Bäckerei Bonsack stand ungeöffnet auf dem Küchentisch.

»Das Messer«, sprach die Frau weiter. »Sein bestes Küchenmesser – es lag auf der Anrichte. Er wollte zu Abend Schweinebraten machen. Er hat immer sehr früh zu Abend gegessen, so gegen vier. Sonst konnte er nicht mehr gut schlafen. Das Messer hat er benutzt, um die Schwarte rautenförmig einzuschneiden. Wissen Sie, es war ihm unglaublich wichtig, dass die Kruste des Bratens richtig knusprig war. Obwohl er sie mit seinem billigen Gebiss gar nicht mehr richtig kauen konnte. Er malmte darauf herum wie ein zahnloser Greis. Dann sabberte er noch mehr als sonst. Er hatte Tischsitten wie ein Schwein. Je älter er wurde, umso schlimmer wurde es.«

Sie hielt inne und sah aus dem Fenster. Dann, völlig unvermittelt, bückte sie sich und hob die Zeitung auf. Sie faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf den Tisch neben das Kaffeeservice.

»Sie haben also das Messer genommen?«, fragte die Kommissarin vorsichtig nach. Sie hätte es vorgezogen, wenn die Frau sich endlich hingesetzt hätte, es schien ihr völlig unpassend, dieses Gespräch im Stehen zu führen. Aber sie konnte sie schlecht mit Gewalt auf einen Stuhl zwingen.

»Ja. Ich habe das Messer genommen und ihm in den Rücken gestochen. Gestoßen. Man – es – es braucht mehr Kraft, als man vermuten würde. Ich glaube, ich habe zuerst genau die Knochen getroffen. Die Rippen. Ich habe ihn oben in den Rücken – also, das Messer, ich habe es oben in seinen Rücken stoßen wollen.«

»Wie oft?«

»Weiß ich nicht genau. Dreimal, viermal. Irgendwann glitt es hinein. In ihn. In seinen Rücken. Dort habe ich es stecken lassen.« Sie schwieg und strich mit der Hand abwesend über das Bild der Urknall-Maschine.

»Hat er sich nicht umgedreht und gewehrt?«, fragte Beate.

»Er war zuerst sehr erschrocken. Dann hat er mich angeschrien. Was das werden solle und ob ich noch ganz dicht wäre. Ich habe gesagt, ich schon, aber du gleich nicht mehr.«

Jetzt lachte die Frau verlegen. »Ich bin immer für eine dumme Bemerkung zu haben, auch in den seltsamsten Situationen«, sagte sie mit abwesendem Blick.

Kommissarin Maiwald sah sie angeekelt an. Wenn ihr Geständnis der Wahrheit entsprach, dann hatte sie am Vortag ihren Vater ermordet, nein, geschlachtet. Und das nannte sie eine seltsame Situation, in der ihr auch noch schale Witze einfielen? Gespenstisch.

»Weiter«, bat sie mit belegter Stimme.

»Er hat versucht sich umzudrehen und mir das Messer aus der Hand zu nehmen, aber ich bin einfach immer hinter ihm geblieben und habe weiter zugestochen. So besonders flink war er ja nicht mehr, in seinem Alter, mit seinen operierten Knien. Ich bin zwar auch nicht mehr ganz jung, aber einen wie ihn schaffe ich noch.«

»Wie alt sind Sie?«, fragte die Kommissarin automatisch.

»Neunundvierzig«, antwortete die Frau. »An meinem Fünfzigsten bin ich dann wahrscheinlich in U-Haft. Nächste Woche.«

»Finden Sie das nicht erschreckend?«

»Ganz ehrlich, es ist mir egal. Ich feiere schon seit vielen Jahren keine Geburtstage mehr. Warum auch? Was für ein Grund zum Feiern sollte es sein, wenn man wieder ein Jahr älter ist, aber keinen Schritt weiter? Er hing an mir wie ein Bremsklotz. Immer, wenn ich gedacht habe, ich komme von ihm los, ist ihm etwas Neues eingefallen, wie er mich bremsen konnte. Wie er mich behindern konnte. Hindern am Leben. Seit ich denken kann, hat er mich daran gehindert zu leben. Ein halbes Jahrhundert lang. Da kann einem schon die Luft ausgehen, finden Sie nicht?«

Die Kommissarin reagierte nicht darauf. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie Verständnis für einen Mord hatte. Egal aus welchen Motiven.

»Wie ging es weiter?«

»Nach dem letzten Stich, bei dem das Messer so schön in ihn reinging, ist er hingefallen. Auf den Bauch. Der Kaffee war überall. Es war wenig Blut da. Nur Kaffeepulver. Die billigste Sorte. Er hat immer die billigste Sorte genommen, wenn jemand zu Besuch kam. Wenn er allein war, dann durfte der Kaffee ein bisschen mehr kosten. Das hat er auch jedem gesagt, der es hören wollte oder auch nicht. Er fand so etwas völlig normal.«

»Ich will hoffen, Sie haben ihn nicht deshalb erstochen, weil er Ihnen billigen Kaffee vorgesetzt hat«, bemerkte die Kommissarin sarkastisch. Ihr begann dieses Gespräch auf die Nerven zu gehen. Sie war allerhand gewöhnt, aber die trostlose Resignation dieser Frau war schwer zu ertragen. Hubertson räusperte sich. Beate war klar, ihre letzte Bemerkung war entschieden unpassend. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er stand hinter ihr in der Tür, folgte dem Gespräch und machte sich Notizen in seinem kleinen Moleskin-Notizbuch, das ihm Beate zum Einstand geschenkt hatte.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Frau Meerbarth. »Obwohl er es verdient hätte. Oder finden Sie es in Ordnung, dass er einem immer – immer! – auch bei der kleinsten Kleinigkeit, das Gefühl geben musste, es nicht wert zu sein? Nichts wert zu sein? Nicht einmal einen anständigen Kaffee?«

»Sie erwarten nicht von mir, dass ich einen Mord in Ordnung finde?«, fragte Kommissarin Maiwald zurück. »Egal aus welchem Motiv. Das Einzige, was ich gelten lassen könnte, wäre Notwehr. Aber so wie ich Sie verstehe, ging es nicht um Notwehr. Bei einem Messerstich in den Rücken wäre das auch schwer zu beweisen.«

Die Frau zuckte die Schultern. »In gewisser Weise war es Notwehr«, sagte sie. »Leider zu spät. Ich hätte es längst machen sollen. Vor Jahren schon. Dann hätte ich vielleicht noch eine Chance gehabt. Vielleicht käme ich in ein paar Jahren schon aus dem Gefängnis, dann könnte ich noch ein bisschen leben.«

Kommissarin Maiwald atmete tief durch. Die Verzweiflung der Frau schien sie in einen Abgrund zu ziehen. Die Trostlosigkeit dieses Lebens. Wie konnte eine Zukunft so aussichtslos sein, dass sogar ein Leben im Gefängnis verlockender war?

»Erzählen Sie mir, was dann geschehen ist.«

»Er lag da. Er hat gestöhnt. Blut kam aus seinem Mund. Seine Jacke am Rücken wurde langsam rot. Er hat dann versucht, mit den Händen das Messer zu packen. Aber er schaffte es nicht, er kam nicht ran. War nicht beweglich genug. Aber ich hatte plötzlich Panik. Dass er es überlebt, meine ich. Dass alles umsonst war. Ich habe mich umgesehen, nach irgendwas, um ihn zu schlagen. Etwas Schweres. Da lag im Flur der Hammer. Er hatte einen Nagel in die Wand geschlagen, um einen neuen Kalender aufzuhängen. Einen Kalender mit Bildern von seiner einzigen Enkelin. Nein – Urenkelin. Er hat sie noch nicht oft gesehen, weil meine Tochter ihn seit einigen Jahren nicht mehr besucht. Sie hatte die Schnauze voll von seinen Beleidigungen und seinem ewigen Gemecker. Aber sie hat ihm immer zum Geburtstag Fotos von der Kleinen geschickt. Diesmal einen Fotokalender.«

»Er hat ihn also aufgehängt?«

»Ja. Komisch, nicht? Er hat sich zwar über ein Vierteljahr damit Zeit gelassen, aber gestern hat er ihn aufgehängt. Ich habe gedacht, er hätte ihn längst in den Müll geworfen. Mich meckerte er an, so oft er mich gesehen hat, warum sich keiner bei ihm blicken ließ. Seine Kinder nicht, seine Enkel erst recht nicht. Die dämlichen Fotos könnten sie sich sonst wohin schieben. Es wäre typisch für ihn gewesen, den Kalender wegzuwerfen. Ich habe mich gewundert, dass er ihn aufgehängt hat.«

»Vielleicht hätte er sich über Besuch von der Kleinen gefreut? Ich nehme an, das ist sie.« Die Kommissarin deutete auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Es zeigte ein blondes, etwa dreijähriges Mädchen in einem Planschbecken. Irgendjemand, der auf dem Bild nicht zu sehen war, schüttete ihr mit einem roten Spielzeugeimer Wasser über die Schultern. Das Kind verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse. Das Wasser spritzte nach allen Seiten und die Tropfen umgaben den blonden Lockenkopf wie eine Art Heiligenschein.

»Gefreut? Ich weiß nicht, ob er sich überhaupt freuen konnte. Wenn ja, dann hat er es gut verborgen. Als meine Tochter ihn noch besucht hat, hat er sie ständig nur angeraunzt.«

Vorsichtig wandte die Kommissarin ein: »Ist ein gewisses Maß an – wie Sie es nennen – Raunzen ab einem bestimmten Alter nicht vielleicht verständlich?«

Frau Meerbarth schaute sie völlig konsterniert an. »Sie sind nicht von hier«, bemerkte sie dann. Beate Maiwald nickte. »Stimmt, aber ich bin schon seit über 15 Jahren in Gotha. Ich komme aus Franken, aus der Nähe von Nürnberg«, sagte sie rasch und hoffte, dass Henriette Meerbarth das nicht an ihrem Zungenschlag gehört hatte. Seit Jahren versuchte sie nämlich, den fränkischen Dialekt loszuwerden. Aber das war ein schwieriges Unterfangen, schwieriger und vor allem langwieriger als die Aufklärung ihrer Fälle.

»Unsere Familie stammt ursprünglich auch nicht von hier«, erklärte Frau Meerbarth. »Meine Eltern kamen gleich nach dem Krieg aus Unterfranken, aus Aschaffenburg. Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Sie sah einen Augenblick vor sich hin, dann kam sie wieder auf das ursprüngliche Gesprächsthema zurück. »Ich weiß schon, was Sie meinen, aber glauben Sie mir, Frau Kommissarin, Altmänner-Geraunze und das, was mein Vater getan hat – da liegen Welten dazwischen. Wenn die alten Herren so ein bisschen herummeckern, das hat – trotz allem – immer etwas Versöhnliches.«

Sie verzog das Gesicht und plötzlich, mit verstellter Stimme, imitierte sie den Toten: »Kann dieses Balg nicht stillsitzen? Kann dieser verzogene Fratz nicht seinen Teller leer essen? Warum muss dieses Mistbalg den Kuchen so zerkrümeln? Und so weiter. Balg. Verzogener Fratz. Nicht gerade versöhnlich, oder? Irgendwann einmal hat meine Tochter dann die Geduld verloren und zu ihm gesagt, meine Tochter hat einen Namen. Sie heißt Lucie, nach deiner Mutter übrigens. Vielleicht könntest du dich daran gewöhnen, sie wenigstens bei ihrem Namen zu nennen?«

»Was hat er dann gesagt?«, fragte die Kommissarin. Sie gab der Frau insgeheim recht, es klang wirklich bösartig und verletzend. Sie konnte sich vorstellen, dass die Familie dem Alten aus dem Weg gegangen war.

»Gesagt? Wenn er etwas gesagt hätte, wäre es ja vielleicht noch auszuhalten gewesen. Aber er hat geschrien. Er ließe sich nicht in der Art von seiner Enkelin runtermachen. Und seine Mutter sei ihm egal, außerdem sei sie seit Jahrzehnten tot. Und Lucie sei – wenn überhaupt – ein Name für Hunde. Und so weiter und so weiter. Sie glauben nicht, was ihm zu einem derart harmlosen Vorgang alles an Beleidigungen einfiel. Es war das letzte Mal, dass meine Tochter ihn besucht hat.«

»Kann ich verstehen.«

Jetzt lächelte die Frau plötzlich. »Amüsiert Sie das?«, fragte Kommissarin Maiwald irritiert.

»Nein, ich finde es gut, dass Sie es verstehen. Viele verstehen es nämlich nicht. Man hat uns vorgeworfen, wir – also meine Tochter und ich – würden ihm seine Urenkelin entziehen.«

»Was ich, ehrlich gesagt, nicht verstehe, Frau Meerbarth, ist Ihr Verhalten. Sie haben ihn weiterhin besucht und sich um ihn gekümmert, oder? Warum sind nicht auch Sie einfach weggeblieben?«

»Ich war die Tochter. Die Töchter werden gefressen.«

Kommissarin Maiwald zuckte zusammen. Dieser Satz, so schlicht dahingesagt ohne jedes Pathos, offenbarte ein Ausmaß von Resignation, das sie schon fast abstoßend fand. Warum wehrte sich diese Frau nicht? Und die wollte ihr vormachen, sie hätte diesen blutigen Mord begangen? Nie und nimmer.

»Sie waren doch nicht die einzige Tochter!«, wandte sie ein. Sie musste sich sehr anstrengen, ihren Unwillen nicht zu zeigen.

»Stimmt. Wir sind vier Kinder. Drei Töchter, ein Sohn.«

»Und Ihre Geschwister haben sich um nichts gekümmert, sehe ich das richtig?«

»Ja, so war es. Sie haben den Absprung geschafft, ich nicht. Ich bin die Jüngste. Die Letzte musste bleiben. Man konnte ihn nicht allein lassen. Er wäre völlig verkommen. Die einzigen Dinge, um die er sich gekümmert hat, waren seine Kocherei und seine Pflanzen. Aber putzen, abspülen, Wäsche waschen, das war unter seiner Würde.«

»Sie hätten jemanden bezahlen können, der ihm den Haushalt macht.«

»Ha ha.«

»Was heißt das?«

»Ich habe ungefähr acht oder neun Frauen dafür bezahlt. Keine hat es länger als eine Woche mit ihm ausgehalten. So viel Geld können sie keinem Menschen geben, dass er sich so behandeln lässt. Allenfalls vielleicht jemandem aus dem fernen Osten, aus Asien. Die haben ein anderes Verständnis für das Alter. Aber das hätte er nie und nimmer zugelassen. Da war er regelrecht rassistisch.«

Die Kommissarin unterdrückte einen resignierten Seufzer. »Gehen wir zurück zu Ihrem Vater. Sie haben also den Hammer im Flur liegen sehen.«

»Ja. Zum Glück. Ich wollte verhindern, dass alles umsonst war.«

»Sie haben zugeschlagen?«

»Ja. Auf den Hinterkopf. Aber das war furchtbar. Das Geräusch. Und er hat gestöhnt. Und gegurgelt, da war auf einmal sehr viel Blut in seinem Mund.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe einen Gürtel geholt.«

»Woher?«

»Aus dem Wohnzimmer. Als er so grauenhaft gestöhnt hat, bin ich vor Schreck davongerannt. Dann habe ich den Gürtel auf dem Sofa liegen sehen. Er hing über der Lehne. Ich habe ihn genommen und um seinen Hals gelegt und dann zugezogen.«