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© 2016 VG Bild-Kunst / Nachlass Ré Soupault

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Gestaltung & Satz: Leonard Keidel

eISBN: 978-3-88423-547-8

Ré Soupault

Katakomben der Seele

Eine Reportage über
Westdeutschlands
Vertriebenen- und
Flüchtlingsproblem 1950

Herausgegeben von Manfred Metzner

Wunderhorn

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

I. Heute noch 580 Massen-Wohnlager im Bundesgebiet. Tiefbunker: Katakomben der Seele.

II. Not der Flüchtlingsjugend. Eltern- und Heimatlose ohne Arbeit.

III. Illegale Grenzgänger. Flucht vor der Furcht.

IV. Flüchtlingstransporte aus den polnisch besetzten Gebieten und den Satellitenstaaten. Kinderrückführung.

V. Pioniere unter den Vertriebenen.

VI. Vertriebenenorganisationen: Landsmannschaften und Landesverbände.

VII. Gespräch mit dem Chef der deutschen Flüchtlingspartei. Lastenausgleich. »Unser Schicksal ist das Schicksal Europas!«

Anmerkungen des Herausgebers

Ré Soupault (1901–1996) Leben/Ausstellungen/Publikationen

Vorwort des Herausgebers

Ré Soupault verfasste 1950 ihre letzte Fotoreportage – in den 1930 er/1940 er Jahren hatte sie für französische Zeitungen Bildreportagen gemacht – unter dem Titel »Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem«.

Seit 1928 in Frankreich lebend, war sie 1938 mit ihrem Mann, dem Mitinitiator der Surrealismus-Bewegung, Schriftsteller und Journalisten Philippe Soupault, nach Tunis gekommen. Von dort konnten beide im November 1942 vor General Rommels Nazitruppen, die schon den Flugplatz von Tunis bombardierten, in letzter Sekunde mit dem letzten Autobus, der Tunis verließ, fliehen. Ré und Philippe erreichten Algerien, von dort gelangten sie 1943 über Marokko in die USA. Nach Kriegsende lebte Ré Soupault in New York und verdiente ihr Leben mit Zeichnungen und Reiseberichten. Nach ihrer Rückkehr aus New York lebte sie von 1948–1955 in der Schweiz und arbeitete als Übersetzerin und Journalistin. Unter großen Schwierigkeiten erstand sie Ende der 1940 er Jahre auf dem Schwarzmarkt in Berlin für 25 Stangen amerikanische Zigaretten eine Rolleiflex-Kamera 6 × 6, da sie bei ihrer Flucht aus Tunis ihre gesamte Fotoausrüstung zurücklassen musste.

Vom 3.–26. September 1950 reiste sie nach Bayern, Niedersachsen und nach Schleswig-Holstein, um sich einen Überblick über die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen zu verschaffen. Sie besuchte u. a. Flüchtlingslager in Geretsried, Dachau, München, Neu-Schönbuch bei Erlangen, Friedland und Uelzen, und führte Gespräche mit den Verantwortlichen der Lager, mit Politikern und mit vielen Flüchtlingen und Vertriebenen.

Sie beschreibt die erschütternden Zustände in Massenunterkünften, berichtet über neue Flüchtlingssiedlungen, schreibt über den Verlust der Heimat und die Hoffnungen auf einen Neuanfang. Berichtet über die am Tag der Heimat am 5./6. August 1950 verkündete »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« und über die Wahlerfolge der Partei BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten). Ihre Reportage wollte sie in der amerikanischen Presse veröffentlichen, diese war aber nicht interessiert, ebenso wenig die französischen Zeitungen. Auch die Neue Zürcher Zeitung lehnte ihre Beiträge mit der Begründung ab, in der Zeitung seien schon alle notwendigen Informationen zu diesem Thema erschienen. Gleichzeitig lobte die NZZ Ré Soupault für diese »bewundernswerte« Reportage.

Wer heute diese Reportage liest, kann dieses Urteil nur teilen. Ré Soupaults Text ist von besonderer Klarheit, an Fakten orientiert und gleichzeitig das bewegende Zeit-Zeugnis einer Frau, die 1928 Deutschland verlassen, eigene Flucht- und Heimatverlusterfahrungen gemacht hatte und bis zu ihrem Tod 1996 nur noch für kurze Besuche dorthin zurückkehren wird. Ihre Fotografien schließen an ihr großes fotografische Werk aus den 1930/40 er Jahren an. Und ihr Text ist erschreckend aktuell im Vergleich mit den heutigen Reportagen über das Schicksal der Flüchtlinge z. B. aus Afrika oder Syrien. Ihre Reportage ist ein wichtiges Zeitdokument, das zum Nachdenken zwingt und uns vor Augen führt, wie schnell wir vergessen, und wie sich vieles wiederholt, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – um Überleben, Identität und Heimatverlust geht.

Manfred Metzner

I. Heute noch 580 Massen-Wohnlager im Bundesgebiet.
Tiefbunker: Katakomben der Seele.

Wohin ich auch kam auf meiner Reise durch das herbstliche Deutschland: Sei es zu dem Universitätsprofessor, der im besten Viertel der niedersächsischen Universitätsstadt eine 6-Zimmerwohnung sein eigen nennt, sei es zu der Schlossbesitzerin in einer der schönsten Gegenden Bayerns, sei es zum Bauern in Schleswig-Holstein … sie alle verfügen nicht mehr frei über ihren Wohnraum. Unzählige Namen stehen anstelle eines einzigen an den Wohnungstüren: Soundso 2 × klingeln, Soundso 3 × klingeln usw. Niemand hat Anspruch auf mehr als ein Zimmer. Übrige Wohnräume werden beschlagnahmt, und der Wohnungsbesitzer muss die vom Wohnungsamt eingewiesenen Personen aufnehmen. In sehr vielen Fällen leben sogar ganze Familien in einem Raum. Und viele Hunderttausende müssen mit Baracken oder sogar mit Bunkern vorlieb nehmen, diesen katakombenähnlichen, zwar bombensicheren aber fensterlosen Betonbauten, die oft bis zu drei Etagen unter der Erde liegen und – soweit sie nicht gesprengt worden sind – heute als Notwohnungen für Flüchtlinge dienen.

Allerdings gibt es eine kleine Klasse von deutschen Neureichen, die mit barbarischer Empfindungslosigkeit jede Einschränkung ihrer Bequemlichkeit zu umgehen verstehen. Dies sind zwar Ausnahmen, aber sie täuschen oft den Fremden über die wahren Verhältnisse in dem geschlagenen Deutschland, wo tatsächlich die Mehrzahl – Millionen und aber Millionen von Menschen – unter so