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Über dieses Buch:

Sie ist erst 16 Jahre alt und hat schon viele Schicksalsschläge erleiden müssen. Wenn Rebecca über ihr Leben nachdenkt, liegt eine Lösung sehr nah: aufgeben. Ihren Vater und ihre kleine Schwester verlor sie bei einem Autounfall. Seitdem betrinkt sich ihre Mutter regelmäßig – putzen, waschen, kochen … alles bleibt an Rebecca hängen, zur Schule geht sie nur sporadisch. Der einzige Lichtblick in ihrem Leben ist Frau Richter, eine alte Frau, die Rebecca zufällig im Park trifft. Sie erzählt ihr eine Geschichte, die das Leben des Mädchens verändern wird …

Bewegend, fesselnd, einfühlsam – ein Roman über eine schicksalhafte Begegnung und eine einzigartige Freundschaft zwischen Jung und Alt.

Über die Autorin:

Ranka Keser, 1966 in Rijeka (Kroatien) geboren, lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Deutschland. Sie arbeitet als Autorin und Journalistin in München und leitet Schreibseminare für angehende Autoren.

Die Website der Autorin: www.ranka-keser.de

Bei dotbooks veröffentlicht sie auch:

Antek und die ganze Welt

Die Mitwisserin

Ein Somme ohne Zimmer

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eBook-Neuausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 2000 Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Aleshin_Andrei

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-730-7

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Ranka Keser

Rebeccas Freundin

Roman

dotbooks.

Für Milan

1. Kapitel

Rebecca war fast am Park angelangt, als sie Schillers Leine losmachte. Sie ging jeden Tag mit ihm nach der Schule in den Luitpoldpark, damit er sich austoben konnte. Er lief sofort los, hinter einem Baum konnte sie gerade noch seinen Schwanz erkennen, der aufgeregt hin und her wedelte. Sie schaute sich um. Die Alte war nirgends zu sehen. Sie kam fast täglich mit ihrem großen Mischlingshund hierher. Rebecca hatte noch nie mit ihr geredet, aber wenn sie sich über den Weg liefen, nickten sie einander kurz zu.

Sie ließ sich auf eine der Bänke fallen und sah ihrem Hund beim Schnüffeln zu. Er hatte einen Lieblingsbaum, an dem er grundsätzlich sein Geschäft verrichtete. Sie blickte in den grauen Himmel, der bedrohlich und irgendwie wütend aussah. Seit heute war Frühling, aber es war kalt. Sie steckte ihre Hände in die Taschen der weißen Nylonjacke und drückte die Arme an den Körper. Schiller kam auf sie zugerannt und machte ihr mit seinen Pfoten die Jeans schmutzig. Genau auf den Brian-Adams-Aufbügler. Sie ließ ihn. Jetzt war es sowieso zu spät, ihn wegzuschieben. Diesem Hund konnte man einfach nicht böse sein, wenn er den Kopf zur Seite neigte und seinen Hab-mich-lieb-Blick aufsetzte. Zärtlich kraulte sie ihm den Nacken. Schiller war ein Mischling unbekannter Herkunft, wie Rebeccas Mutter scherzend meinte. Man konnte ihn nicht so recht einordnen. Er sah aus wie ein zu klein geratener Schäferhund mit einem Dackelkopf. Es war ein tolles Gefühl, von jemandem so geliebt zu werden, auch wenn es »nur« ein Hund war. Sie hatte zwar noch die Mutter und ihre Freundin Natalie, aber das war nicht dasselbe. Die beiden brauchten sie nicht wirklich, aber Schiller brauchte sie.

Plötzlich hörte sie leise Schritte hinter sich. Sofort wusste sie, dass es die Alte war. Rebecca drehte den Kopf zur Seite, lächelte gezwungen. Die Alte lächelte auch und nickte ihr zu. Sie setzte sich auf die andere Bank, neben Rebecca. Die Alte glotzte. Rebecca sah es aus den Augenwinkeln. Wahrscheinlich starrte sie auf ihre Turnschuhe, wo groß »Leck mich am Arsch« stand. Oder auf ihren bis auf zahlreiche blonde und braune Zöpfchen kahl geschorenen Kopf. Damit konnte sie die Aufmerksamkeit von Omas und kleinen Kindern immer auf sich ziehen. Das fand sie cool. Früher hatte sie nie jemand beachtet. Die Mutter hatte ihr zwei brave Zöpfe geflochten und sie in Karohosen rumlaufen lassen.

Die Alte schaute weg, jetzt glotzte Rebecca. Richtige Damenschuhe hatte sie heute an! Normalerweise lief sie immer in Turnschuhen rum. Wühltisch-Turnschuhe für zehn Mark. Meistens trug sie dunkle und einfache Sachen, was alte Frauen halt so anzogen. Der Hund und ihre blond gefärbten Haare waren wohl der einzige Luxus, den sie sich gönnte.

»Ganz schön kalt heute, nicht wahr?« Die Alte drehte den Kopf in ihre Richtung.

Rebecca zuckte etwas zusammen. Redete sie mit ihr? »Ja. Scheißwetter.«

Die Alte verzog den Mund. Anscheinend gefiel ihr diese Ausdrucksweise nicht. Eine ganze Weile saßen sie so nebeneinander, sagten nichts. Sie schauten den Hunden beim Toben zu.

Es dauerte lange, bis man die riesige Kreuzung am Mittleren Ring überquert hatte. Wenn Rebecca gerade aus dem Park kam, fand sie den Verkehr noch lauter als sonst. Sie ging auf der Schleißheimer Straße nach Hause. Schiller sah sie hin und wieder vorwurfsvoll an, um auf seine Leine aufmerksam zu machen. Ihn loszumachen kam auf Hauptstraßen nicht infrage, das musste er doch langsam begriffen haben. Sie bog in die Kantstraße ein und schaute auf die Uhr. Halb vier. Heute war sie lange weggeblieben. Es war Freitag und die Mutter war heute früher daheim, schon seit zwei Stunden.

Rebecca schob den Schlüssel ins Schloss und merkte, dass die Mutter ihren Schlüssel innen stecken hatte lassen. Das passierte ständig. Die Haustür war schon so alt, dass sie manchmal von selbst aufging, deshalb musste man immer zusperren. Sie klingelte zweimal, dann hörte sie schwere Schritte in der Wohnung. Der Schlüssel drehte sich. Schon an der Art, wie die Mutter aufsperrte, merkte sie, dass es wieder so weit war. Langsam und zögernd war sie dann in ihren Bewegungen. Die Tür ging endlich auf. Die Mutter sah sie mit zerstreuter Miene an. In diesem Zustand schaute sie aus wie ein Kind, das etwas angestellt hat. Naiv lächelnd, fast dümmlich. Ihr rotbraunes Haar war zerzaust, aber nicht ungepflegt. Auch sonst legte sie Wert auf ihr Äußeres. Sie kleidete sich gut und trug immer etwas Schminke auf. Die Mutter war groß, fast einsachtzig. Rebecca ging ihr bis zur Nase. Sie lief an ihr vorbei.

»Hallo», sagte die Mutter fröhlich. Warum tat sie immer so? Sie war doch eigentlich gar nicht fröhlich. Glückliche Menschen soffen nicht.

»Tag.» Rebecca zog sich die Schuhe aus. »Hast du gegessen?«

»Ja, gut war’s. Die Kartoffeln hätten noch fünf Minuten gebraucht, aber macht nichts.« Sie streichelte Rebeccas Kopf, während sich diese die Jacke auszog, beugte sich vor, um ihrer Tochter einen Kuss zu geben. Sofort roch Rebecca den Alkohol. Sie drehte sich einfach zur Seite und hängte die Jacke an den Haken. Die Mutter sagte nichts, streichelte stattdessen Schiller. Rebecca ging in die Küche um Teewasser aufzusetzen. »Möchte mal wissen, wann es endlich wärmer wird«, rief sie aus der Küche. Sie hörte die Mutter, wie sie mit Schiller redete. Jetzt war sie noch lieb, weil sie erst wenig intus hatte. In zwei Stunden sah alles ganz anders aus. Da war sie abgefüllt, wollte ihre Ruhe. Da waren ihr Schiller und Rebecca ganz egal.

Die Mutter kam in die Küche und schenkte sich ein Glas Leitungswasser ein. »Sind die Schularbeiten fertig?«

»Mensch, du bist doch bescheuert, oder? Ich bin aus der Schule gekommen, hab Essen gekocht und bin mit dem Hund raus. Wann hätte ich die denn machen sollen? Vielleicht auf dem Heimweg?«

Die Mutter hob die Hand zur Abwehr. »Ja, ich weiß. Aber du musst unbedingt deine Noten verbessern, dann kannst du nächstes Jahr auf die Realschule.« Sie schwenkte beim Reden das Glas hin und her, dabei verschüttete sie etwas auf dem Boden. »Was willst du denn machen, wenn deine Noten weiter so mittelmäßig sind? In der Fabrik arbeiten?«

»Lass mich in Ruhe!«

»Ach … wenn ich an deiner Stelle wäre«, seufzte die Mutter in schwärmerischem Ton, »ich würde mir ein Hobby suchen.«

»Ja. Teppichknüpfen«, murmelte Rebecca.

»Ich würde lesen, mich mit Freude an die Hausaufgaben setzen und Zukunftspläne schmieden.«

»Und für deine Mutter den Haushalt schmeißen.«

»Ich hab doch so wenig Zeit. Außerdem spüle ich auch ab und erledige das Staubsaugen.«

»Ja, einmal im Jahr.«

Die Mutter verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Du hast nur Unsinn im Kopf, ziehst ewig mit dieser Natalie rum. Ich hab ja nichts gegen sie, aber ein guter Umgang ist sie nicht gerade.«

Rebecca holte die Teebeutel aus dem Hängeschrank. »Aber ich bin ein guter Umgang, was? Was glaubst du denn, wie die Mütter dieser braven Töchter das finden würden, wenn die so eine Freundin wie mich nach Hause bringen?«

Die Mutter setzte ihren schnippischen Gesichtsausdruck auf. »Das liegt aber nicht an mir, sondern an deinen Haaren und dieser … dieser Kleidung. Außerdem hast du dieses ungehobelte Benehmen bestimmt nicht von mir abgeschaut. Als ich in deinem Alter war, hat mich jeder gemocht. Ich war freundlich, höflich und immer guter Laune.«

»Schön für dich. Der Tee ist fertig.« Rebecca stellte die beiden Tassen auf den Küchentisch und setzte sich ans Fenster. Die Mutter stellte das Glas in die Spüle und setzte sich Rebecca gegenüber. »Manieren sind wichtig, Rebecca.«

»Drauf geschissen! Erzähl mir bloß nicht, was für ein glückliches Mädchen du warst. Bei der verblödeten Mutter und dem strengen Vater.«

»Rede du nicht in diesem Ton von meinen Eltern! Du hast doch keine Ahnung.« Laut und lange rührte sie in der Tasse herum.

»Klar hab ich Ahnung. Schließlich hab ich die beiden gekannt. Opa habe ich nie lächeln gesehen. Nie! Er hat immer nur geschrien und ist dann rot angelaufen wie eine Tomate. Und Oma hat immer nur kritisiert und gemeckert. Nie war ihr irgendetwas recht. Ihrer Meinung nach hast du immer alles falsch gemacht.«

Die Mutter nahm die Tasse in beide Hände und trank in kleinen Schlücken. »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Ich habe dich nie geschlagen.«

»Soll ich mich jetzt dafür bedanken, oder was?« Rebecca zündete sich eine Zigarette an und streckte die Beine auf dem Stuhl aus.

»Nein. Für mich war das immer selbstverständlich, dass ich so etwas nicht mache. Du kannst mir glauben, wenn ich mit meinen Eltern so geredet hätte«, sie blickte auf Rebeccas Zigarette, »oder mit sechzehn vor ihnen geraucht, die hätten mich halb tot geschlagen.«

»Ich sage doch, die hatten einen ordentlichen Knall.«

Eine Weile schwiegen sie, dann fragte die Mutter: »Gehst du heute noch weg?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Weiß noch nicht.« Sie zuckte gelangweilt mit den Schultern.

»Mit Natalie?«

»Mit wem denn sonst?«

Die Mutter schaute sie eindringlich an. Ihre Augen waren glasig. »Trefft ihr euch mit Jungs?«

Rebecca verdrehte die Augen. »Nein.«

»Lüg mich ja nicht an.« Sie hob drohend den Zeigefinger. Rebecca fand ihre aufgesetzte Autorität lächerlich, nahm sie nicht ernst. »Ich würd’s dir schon sagen, wenn ich schwanger bin.«

Die Mutter war aufgebracht. »Rebecca! Mach nicht solche Witze. Das ist nicht lustig, hörst du? Wenn du einen Freund hast, dann geh ich mit dir zum Frauenarzt. So was darf dir nicht passieren.«

»Auch nicht, wenn ich dreißig bin?«

Sie fasste sich in einer Geste der Verzweiflung an die Stirn.

»So was passiert mir nicht. Ich pass schon auf. Außerdem hab ich noch nicht mal einen Freund. Was regst du dich so auf?«

»Bleib nicht so lange weg, hörst du?«

»Wieso?«

»Was heißt hier ›wieso‹?« Die Mutter versuchte, einen strengen Blick aufzusetzen. »In deinem Alter bleibt man nicht bis in die Früh draußen. Wenn du achtzehn bist, kannst du das machen.«

Rebecca drückte die Zigarette aus und stand auf, um das schmutzige Geschirr zu spülen. »Komm mir bloß nicht damit«, sagte sie, »ich kümmere mich hier um alles, also kann ich auch wegbleiben, so lange ich will.«

»Kannst du nicht!«, schrie die Mutter.

»Kann ich schon! Was willst du denn dagegen machen?«

»Du bist um zwölf zu Hause.« Sie stand auf und ging aus der Küche.

»Du kannst mich mal«, murmelte Rebecca vor sich hin.

Nachdem sie das Geschirr gespült hatte, saugte sie die ganze Wohnung und wischte im Bad und in der Küche die Böden. Schularbeiten würde sie morgen machen. Dann räumte sie ihr Zimmer auf, schmiss die alten BRAVOs in eine Plastiktüte und sortierte die schmutzige Wäsche für die Waschmaschine, auch die Kleidung der Mutter. Nachdem sie die Maschine eingeschaltet hatte, ging sie in den Flur, um Natalie anzurufen.

»Kommst du später, so um acht?«, fragte Natalie, »ich mach uns Spaghetti. Später gehen wir dann ins Star, okay?«

»Klar. Bis dann.«

Sie ging ins Bad und machte sich zurecht. Wenig Make-up und Rouge, dafür viel Kajal und grünen Lidschatten. Sie nahm heute auch etwas rosa Lippenstift, dann fiel ihr ein, dass das wegen des Spaghetti-Essens sowieso umsonst war. Egal, sie würde ihn mitnehmen. Sie zog ihre Lieblingsjeans an, dazu den engen Ringelpulli und die schwarzen Stiefel. Die passten gut zu ihrer neuen Lederjacke. Eigentlich mochte sie ihre weiße Nylonjacke am liebsten, aber ein bisschen Abwechslung war auch ganz nett. Außerdem hatte die Lederjacke zweihundert Mark gekostet, von der Mutter zum Geburtstag. Sie hatte monatelang abwechselnd gebettelt und gemotzt. »Einen neuen Herd könnte ich mir fast dafür kaufen«, hatte die Mutter gesagt. Der war nämlich längst überfällig. Schließlich hatte sie ihr die Jacke doch gekauft.

Als sie mit Schiller vom Gassi gehen zurückkam, machte sie die Tür zum Wohnzimmer auf, um sich von der Mutter zu verabschieden. Die war auf der Couch eingeschlafen, im Sitzen. Im Fernsehen lief ›Jenseits von Eden‹ mit James Dean. Was für ein toller Typ! Warum gab’s die nur im Kino und nicht im wirklichen Leben? So toll sah der eigentlich gar nicht aus, überlegte Rebecca, während sie auf den Fernsehschirm starrte. Warum war er dann so toll? Was machte einen Typen zum James Dean?

»Wie lange brauchst du eigentlich für deine Haare, bis du sie so hast?«, wollte Natalie wissen, während sie die Spaghetti um die Gabel wickelte.

»Na ja – schon so zwei gute Stunden.«

»Echt? Macht dir das nichts aus?«

»Nö. Hält ja auch eine Weile.« Sie sah Natalie an. »Weißt du, dass du richtig brav ausschaust mit deiner Fönfrisur?« Natalie hatte braune Haare, die sie nach außen fönte, ein braves Gesicht mit Schmollmund und großen grauen Augen.

»Bin ja auch brav«, meinte Natalie mit gespieltem Entsetzen.

»Logisch, weiß ich doch.« Natalie hatte schon mit mehreren Jungs geschlafen, dabei war sie sogar ein Jahr jünger als Rebecca. Sie fragte sich, ob Natalies Mutter davon wusste.

»Meinst du, der Walter ist heute da?«

»Wirst es ja sehen.« Rebecca zuckte mit den Schultern. »Was dir an diesem eitlen Socken bloß gefällt. Also echt.«

»Gut schaut er aus.«

»Eingebildet schaut er aus.«

»Dir gefällt doch keiner. An jedem hast du was auszusetzen.«

Rebecca schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht. Weißt du, wer mir gefallen würde? Also, richtig verknallt bin ich nicht in den, aber …»

»Sag schon!«

»Wehe, du behältst es nicht für dich.«

Natalie schloss für eine Sekunde dramatisch die Augen. »Ehrenwort.«

»Der Bernd.«

»Bernd Kölbl? Der wohnt doch bei dir im Haus.«

»Ja, und du bist mal mit ihm in die Klasse gegangen. Ihr redet manchmal miteinander.«

»Hmm.« Natalie senkte den Kopf und machte sich wieder über ihre Nudeln her.

»Du bist ja eine tolle Freundin! Ich erzähl dir, dass der mir gefällt, und dich interessiert das überhaupt nicht.«

»Du kannst ihn vergessen«, meinte Natalie bloß. Sie sah Rebecca dabei nicht an.

»Wieso?« Rebecca grinste. »Stehst du schon auf ihn?«

»Nein.«

»Warum dann? Jetzt red schon mal Klartext.«

Natalie stopfte sich einen Haufen Spaghetti in den Mund. »Er hat eine Freundin.«

»Das stimmt überhaupt nicht, da bin ich sicher. Wieso lügst du mich an? Da ist doch was oberfaul.«

Natalie legte die Gabel weg und sah sie ernst an. »Willst du es wirklich wissen?«

»Mensch, was soll denn dieser Zirkus? Sag schon.«

»Also gut. Er hat zu mir gesagt: Warum gibst du dich eigentlich mit diesem Proletenweib ab?«

Rebecca schluckte. »Meint der zufällig mich damit?«

Natalie nickte.

»Blödes Arschloch. Der kennt mich nicht mal richtig.«

»Ich war auch irgendwie überrascht, weil er sonst ganz in Ordnung ist. Mach dir nichts daraus.«

»Quatsch! Ist mir doch egal, was der sagt.« Sie hätte am liebsten geheult. Proletenweib! Was konnte sie dafür, dass die Mutter trank? Wenn nicht der Unfall damals gewesen wäre, dann würde ihr Leben jetzt ganz anders aussehen. Da würde sie den Bernd gar nicht kennen, weil sie nicht in so einem heruntergekommenen Haus wohnen würde und weil sie dann in eine andere Schule ginge und teure Klamotten hätte und andere Freunde und …

Sie fuhren mit der U-Bahn bis zur Giselastraße. Die ganze Zeit dachte sie darüber nach, was der Kölbl gesagt hatte. Was der sich einbildete! So toll war seine Familie auch nicht. Der Vater war Postbote und die Mutter arbeitete beim Augenoptiker.

Proletenweib!

Proletenweib!

Proletenweib!

Was wollte er damit sagen? Beleidigte er damit sie oder auch ihre Mutter? Sollte bloß jemand kommen und was gegen ihre Mutter sagen! Dem würde sie es schon zeigen. Ging niemanden was an, hatten alle selbst genug Scheiße am Hals!

»Bist du noch auf diesem Planeten?«, unterbrach Natalie ihre Gedanken, als die U-Bahn in die Haltestelle einfuhr. »Wir müssen aussteigen.«

Sie stellten sich auf die Rolltreppe, Natalie boxte sie leicht in die Schulter. »Hätte ich’s dir nur nicht erzählt.«

»Was?«

»Tu doch nicht so. Wieso denkst du jetzt ständig dran? Vielleicht hat er es auch nur so gesagt oder er hat eine andere gemeint.«

»Ist mir echt egal. Ich hab an ganz was anderes gedacht.«

»Lügenmaul!«

»Hast du deinen Ausweis dabei?« Rebecca fror, als sie nach draußen kamen.

»Klar.«

»Sag mal, glaubst du eigentlich, dass die uns abnehmen, dass wir achtzehn sind?«