Die Kurfürstenklinik 22 – Heimliche Tränen

Die Kurfürstenklinik –22–

Heimliche Tränen

Ein Drama nimmt in der Kurfürstenklinik seinen Lauf

Roman von Nina Kayser-Darius

»Ist mit dir wirklich alles in Ordnung, Hannes?« fragte Felix Mahlberg seinen jüngeren Bruder. Er versuchte, nicht allzu besorgt auszusehen, denn darauf reagierte Hannes unwillig, wie er nur zu gut wußte. »Irgendwie siehst du krank aus, finde ich.«

»Ach was«, meinte der andere unbekümmert. »Ich rase zuviel in der Welt herum, das weißt du doch. Aber jung bin ich nur jetzt. Ausruhen kann ich mich später.«

Hannes war neunundzwanzig Jahre alt, sein Bruder Felix drei Jahre älter. Ihr Vater hatte ihre Mutter verlassen, als die beiden noch ziemlich klein gewesen waren – und im Laufe der Zeit war Felix so etwas wie ein Ersatzvater für Hannes geworden, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen gering war.

Rein äußerlich waren sie einander unglaublich ähnlich – man hätte sie für Zwillinge halten können. Beide waren mittelgroß und blond, hatten graue Augen und das gleiche klassische Profil. Allerdings war Felix bedeutend ruhiger und ausgeglichener als sein temperamentvoller Bruder, und vor allem war er viel vernünftiger.

Hannes wollte immer mit dem Kopf durch die Wand, der akzeptierte keine Grenzen, und er hatte sich vorgenommen, die Welt zu erobern. Ständig tauchte er mit einer neuen Freundin auf, fuhr schnelle Wagen, leistete sich teure Anzüge und eine aufwendige Wohnung. Aber er verdiente auch sehr viel Geld, was Felix ihm von Herzen gönnte. Hannes produzierte Werbefilme; ein aufwendiger Lebensstil gehörte dazu, wenn er seine Kunden beeindrucken wollte.

Felix selbst hatte einen Kinderbuchverlag, dessen Überleben immer mal wieder in Frage stand. Bisher war es ihm stets gelungen, alle kritischen Situationen zu umschiffen, und er hoffte, daß das so bleiben würde. Er hatte ein gutes Gespür für hoffnungsvolle junge Talente, und darauf setzte er. Dieses Gespür hatte ihn in den vergangenen Jahren immer wieder vor dem Untergang gerettet, manchmal buchstäblich in letzter Minute.

Was das Geldverdienen betraf, so konnte er mit seinem jüngeren Bruder jedenfalls nicht mithalten. Hannes hatte schon mehrfach angeboten, ihm zu helfen, wenn der Verlag wieder einmal in Schwierigkeiten steckte, aber bisher hatte Felix noch keinen Gebrauch von diesem Angebot machen müssen, und darüber war er froh. Er wollte ihr gutes Einvernehmen nicht durch geschäftliche Verwicklungen in Gefahr bringen.

»Ich fahre morgen für zwei Tage nach Süddeutschland«, sagte er.

»Hast du ein neues Talent entdeckt?«

»Ja. Eine junge Frau, die nicht nur zeichnen kann, sondern auch sehr hübsche Texte schreibt. Sie hat mir ein Bilderbuchmanuskript geschickt, das mir außerordentlich gut gefällt. Und da ich sowieso in die Gegend muß, weil ich noch einen anderen Geschäftspartner besuchen will, werde ich ihr bei der Gelegenheit gleich einen Besuch abstatten.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Sie hatte sich auf meinen Brief zuerst gar nicht gemeldet, ich dachte schon, es werde nichts mit unserem Treffen.«

Hannes schüttelte den Kopf. »Du bist garantiert der einzige Verleger in diesem Land, der ­seine Autoren persönlich aufsucht.«

»Kann sein. Aber ich habe gute Erfahrungen mit der Pflege persönlicher Kontakte gemacht. Ich will außerdem wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

»Ich könnte nicht so leben wie du, Felix – immer direkt am Abgrund. Sehnst du dich nicht danach, mal so viel Geld zu verdienen, daß du dir keine Sorgen machen mußt, ob es deinen Verlag im nächsten Jahr überhaupt noch gibt?«

»Doch«, gab Felix zu, »das wäre sehr schön. Aber es ist unrealistisch. Dazu gehört eine Menge Glück, und ich hatte davon bisher nur ein bißchen. Aber das immerhin hatte ich. Andere Verlage, die ungefähr so groß oder so klein sind wie meiner, haben längst aufgeben müssen.«

»Wenn ich mal mehr Zeit habe als jetzt, drehe ich einen richtig guten Werbefilm für dich«, versprach Hannes.

»Und du meinst, der rettet mich dann aus allen Schwierigkeiten?« Felix lächelte, aber er war auch gerührt über diesen Beweis brüderlicher Anhänglichkeit. Er wußte, daß Hannes sein Angebot ernst gemeint hatte.

»Die ganz großen Geschäfte laufen heutzutage nur mit entsprechender Werbung«, erklärte Hannes. »Guck dir bloß die Hollywood-Filme an. Wenn die nicht mit gigantischem Werbeaufwand den Leuten nahegebracht würden, wären sie nicht halb so erfolgreich.«

»Mag sein«, gab Felix zu und rührte nachdenklich in seinem Kaffee. Das Abendessen war sehr gut gewesen – Hannes hatte ihn eingeladen, und Felix hatte sich sehr über diese Einladung gefreut. Ihre gemeinsamen Abende waren in letzter Zeit selten geworden, weil sein ›kleiner‹ Bruder ständig unterwegs war.

»Mag sein«, wiederholte er, »aber mir geht es nun einmal nicht ums ganz große Geschäft, Hannes. Ich liebe es, Bücher herauszubringen, die Kinder gern lesen – das ist alles. Mehr will ich gar nicht.«

Hannes schwieg einen Augenblick. »Wir sind sehr verschieden, nicht wahr?« erwiderte er schließlich. »Wenn man uns so sieht, käme man gar nicht auf die Idee. Ich bin jedenfalls froh, daß ich so einen vernünftigen und idealistischen Bruder habe!«

»Paß auf dich auf, Hannes«, sagte Felix leise. »Du siehst wirklich ziemlich mitgenommen aus. Dein Leben kann nicht gesund sein. Früher hast du so viel Sport getrieben – dazu hast du jetzt garantiert überhaupt keine Zeit mehr!«

»Stimmt!« musste Hannes zugeben. »Ich bin ziemlich aus der Form – wenn ich wieder laufen oder Fahrrad fahren wollte, müßte ich ganz von vorn anfangen.«

»Je eher, desto besser«, sagte Felix. Nach einem raschen Blick auf das Gesicht seines Bruders beschloß er, das Thema zu wechseln. Er wollte die gute Stimmung nicht verderben, letztlich mußte Hannes selbst wissen, was er tat. Er war erwachsen, es war sein Leben und seine Gesundheit.

Er trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Das Essen war sehr gut, ich danke dir noch einmal für die Einladung«, sagte er. »Das nächste Mal bin ich dran.«

Hannes schüttelte den Kopf. »Das wäre wirklich unsinnig«, sagte er. »Ich hab’ genug Geld, das weißt du doch. Und ich gebe es lieber für ein Essen mit dir aus als für irgend etwas anderes.«

»Keine neue Freundin?« erkundigte sich Felix, allerdings nur mäßig interessiert. Die Frauen in Hannes’ Leben wechselten zu schnell, er hatte den Versuch, auf dem Laufenden zu bleiben, schon seit langem aufgegeben.

Die Antwort seines Bruders überraschte ihn. »Nein«, sagte Hannes. »Ich bin’s leid, die Frauen zu wechseln wie die Hemden, Felix. Meine Freunde heiraten allmählich oder sind in festen Händen, und irgendwie wirken sie glücklicher als ich. Manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich gern eine Frau hätte, auf die ich mich verlassen könnte. Die da wäre, wenn ich sie brauche. All diese schönen Frauen, mit denen mich eigentlich überhaupt nichts verbindet, fangen an, mich zu langweilen.«

Felix war höchst erstaunt. »Na, das sind ja völlig neue Töne aus deinem Munde«, meinte er. »Vielleicht wirst du am Ende doch noch erwachsen.«

Sein jüngerer Bruder grinste ihn schweigend an, während er seinen Kaffee austrank. Felix spürte, daß seine Beunruhigung wuchs. Hannes’ Gesicht war heiter, aber seine Augen blickten völlig ernst. Und er sah wirklich schlecht aus! Aber noch einmal wollte er das nicht erwähnen.

Als sie sich eine Viertelstunde später voneinander verabschiedeten, beschloß Felix, Hannes in den nächsten Tagen anzurufen, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung sei. Vielleicht, das war zumindest seine Hoffnung, hatte sein Bruder ja nur ein paar Nächte zu wenig geschlafen.

*

»Der Verleger kommt wirklich selbst hierher, um sich mit dir zu treffen?« fragte Henrietta Tinzmann ihre Freundin Karen Werner. Ihre Stimme klang etwas ungläubig.

Karen nickte. »Ja«, antwortete sie düster. »Es wird eine Katastrophe werden.«

»Wieso denn?« fragte Henrietta entgeistert und nippte an ihrem Rotwein. Karen war vor einer Stunde gekommen und hatte ihr die große Neuigkeit erzählt: Ein Verlag interessierte sich für ihr Bilderbuchmanuskript, und der Verleger wünschte, sie kennenzulernen. »Wenn er sich die Mühe macht, dich persönlich zu besuchen, spricht das doch eher dafür, daß er wirklich interessiert ist. Das ist bestimmt nicht die Regel.«

»Das glaube ich auch. Aber wenn er mich sieht, wird er schreiend davonlaufen. Du kennst mich doch, Henry! Ich bin die perfekte Chaos-Königin, und das kann ich überhaupt nicht verbergen. So eine wie ich muß für jeden Verlag ein Gräuel sein. Er wird sofort wissen, daß auf mich keinerlei verlaß ist, und sich höflich verabschieden. Ich werde nie wieder etwas von ihm hören.«

»Du mußt ihn ja nicht unbedingt in deine Wohnung lassen«, meinte Henrietta vorsichtig. »Und du mußt ihm nicht sofort alle deine Fehler aufzählen. Er kann unmöglich auf den ersten Blick wissen, daß es mit dir nicht ganz einfach werden wird. So viel Menschenkenntnis hat niemand.«

»Und wie erkläre ich ihm dann, daß er nicht in meine Wohnung darf? Ich habe kein Geld, um ihn irgendwohin einzuladen.«

»Na, er wird doch wohl für dich bezahlen, wenn ihr euch in einem Lokal trefft«, meinte Henrietta aufgebracht.

»Wahrscheinlich, aber sicher kann man nicht sein. Es ist auf alle Fälle ein Risiko. Außerdem kann ich ihm ja nicht gut sagen: Sie dürfen nicht hereinkommen, weil es bei mir immer furchtbar aussieht – oder?«

»Du könntest einen Vorwand benutzen«, schlug Henrietta vor. »Zum Beispiel könntest du sagen, daß deine kranke Mutter in der Wohnung ist und nicht gestört werden darf – oder etwas in der Art.«

Karen sah sie völlig entgeistert an. »Meine kranke Mutter? Aber sie ist quietschfidel, wie du weißt, und außerdem…«

»Karen! Es war nur ein Beispiel, was du ihm sagen könntest, um zu vermeiden, daß er deine chaotische Wohnung sieht! Du kannst ihm auch etwas ganz anderes sagen. Hauptsache, es hört sich halbwegs überzeugend an.«

Aber Karen war mit ihren Gedanken schon weiter. »Was soll ich bloß tun? Bitte, Henry, hilf mir. Ich bin sonst verloren. Außerdem ist das alles deine Schuld. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich das Manuskript niemals abgeschickt, das weißt du ganz genau.«

Henrietta stieß einen unerhörten Seufzer aus. Karen hatte mit ihrer Selbstbeschreibung keineswegs übertrieben. Sie war tatsächlich eine Chaotin erster Güte. Sie hielt keinen Termin ein, verlegte ihre Zeichnungen und Texte und fand sie erst nach Monaten wieder, sie bezahlte keine Rechnung rechtzeitig, und sie vergaß ausnahmslos jede Verabredung.

Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Lehrerin, aber sie litt darunter, daß sie gezwungen war, uninteressierten Kindern das nahezubringen, was für sie selbst das Wichtigste im Leben war: Kunst. Henrietta fragte sich manchmal, wie sie es überhaupt schaffte zu überleben, ohne daß jemand ihren Alltag organisierte, aber auf eine geheimnisvolle Art und Weise schien es trotz allem zu funktionieren. In der Schule jedenfalls ging Karen immer pünktlich, und ihren Unterricht bereitete sie sorgfältig vor.

»Du hast mir das eingebrockt!« jammerte Karen wieder. Ihre lustigen braunen Locken standen wie immer widerspenstig um ihren Kopf, und ihre blauen Kulleraugen waren vorwurfsvoll auf die Freundin gerichtet.

Karen war eine sehr anziehende Frau, die in Männern sofort Beschützerinstinkte weckte. Doch so chaotisch sie auch war: Sie hatte einen stählernen Willen, und der führte dazu, daß sie mit Männern überhaupt nicht zurechtkam – oder besser gesagt: Die Männer kamen mit ihr nicht zurecht. Sie machten sich ein falsches Bild von ihr und ergriffen regelmäßig die Flucht, sobald sie das festgestellt hatten.

»Ich ziehe die falschen Männer an«, hatte Karen schon mehr als einmal ziemlich gleichgültig festgestellt. »Schade, daß ich nie einen treffe, der so eine wie mich aushält. Sind eigentlich alle Männer Idioten, Henry?«