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Leo Tolstoi

Familienglück

Ein Roman

Leo Tolstoi

Familienglück

Ein Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: August Scholz
1. Auflage, ISBN 978-3-954188-35-2

null-papier.de/399

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

Zwei­ter Teil

1.

2.

3.

4.

Dan­ke

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Erster Teil

1.

Wir hat­ten Trau­er nach un­se­rer Mut­ter, die im Herbst ge­stor­ben war, und leb­ten zu Drei­en – Kat­ja, Son­ja und ich – den gan­zen Win­ter still für uns auf dem Lan­de.

Kat­ja war eine alte Freun­din un­se­res Hau­ses, un­se­re Gou­ver­nan­te, die uns alle er­zo­gen hat­te. So­weit ich zu­rück­den­ken konn­te, hat­te ich sie ge­kannt und ge­liebt. Son­ja war mei­ne jün­ge­re Schwes­ter. Wir ver­leb­ten einen düs­te­ren, trau­ri­gen Win­ter in un­se­rem al­ten Hau­se in Po­krow­sko­je. Das Wet­ter war kalt und win­dig, der Schnee war zu­wei­len bis über un­ser Fens­ter hin­auf an­ge­weht; die Fens­ter wa­ren fast im­mer zu­ge­fro­ren und trü­be, und den gan­zen Win­ter hin­durch wa­ren wir kaum ein­mal aus­ge­gan­gen oder aus­ge­fah­ren. Nur sel­ten ein­mal be­such­te uns je­mand. Und wenn schon je­mand kam, trug er je­den­falls nicht dazu bei, daß Lust und Fröh­lich­keit in un­se­rem Hau­se herrsch­ten. Alle hat­ten be­trüb­te Ge­sich­ter, alle spra­chen lei­se, als fürch­te­ten sie je­man­den zu we­cken, ver­mie­den das La­chen, seufz­ten und wein­ten häu­fig, wenn sie mich oder die klei­ne Son­ja im schwar­zen Klei­de sa­hen. Es war, als füh­le man im Hau­se noch die An­we­sen­heit des To­des; die Trau­er und der Schre­cken des To­des schie­nen un­sicht­bar in der Luft zu schwe­ben. Ma­mas Zim­mer war ver­schlos­sen, und wenn ich an ih­rer Tür vor­über­kam, um mich im Zim­mer ne­ben­an schla­fen zu le­gen, ward mir ganz un­heim­lich zu­mu­te. Zu­gleich aber zog mich et­was dort­hin und dräng­te mich, in den öden, kal­ten Raum einen Blick zu wer­fen.

Ich zähl­te da­mals sieb­zehn Jah­re; und ge­ra­de in dem Jah­re, als Mama starb, hat­te sie nach der Stadt zie­hen wol­len, um mich in die Ge­sell­schaft ein­zu­füh­ren. Der Ver­lust der Mut­ter war für mich ein großer Schmerz ge­we­sen, doch muß ich be­ken­nen, daß ne­ben die­sem Schmerz mich auch das Ge­fühl be­drück­te, daß ich jung und, wie man mir sag­te, auch schön war und nun schon den zwei­ten Win­ter nutz­los in länd­li­cher Ein­sam­keit zu­brin­gen muß­te. Ge­gen Aus­gang des Win­ters hat­te die­ses Ge­fühl der Trau­er und Ver­ein­sa­mung oder, kurz ge­sagt, der Lan­gen­wei­le sich so in mir ge­stei­gert, daß ich gar nicht mehr aus dem Zim­mer ging, nicht mehr das Kla­vier öff­ne­te und kein Buch mehr in die Hand nahm. Wenn Kat­ja mir zu­re­de­te, mich doch mit die­sem oder je­nem zu be­schäf­ti­gen, ant­wor­te­te ich: »Ich habe kei­ne Lust, ich kann nicht« – in mei­nem Her­zen aber sag­te ich mir: »Wozu? Wel­chen Zweck hat es, über­haupt et­was zu tun, wäh­rend doch mei­ne bes­te Le­bens­zeit so nutz­los da­hin­geht? Wozu also über­haupt et­was tun?« Und auf die­ses »wozu?«, fand ich kei­ne an­de­re Ant­wort als Trä­nen.

Man hat­te mir ge­sagt, ich sei wäh­rend die­ser Zeit ma­ger und häß­lich ge­wor­den, doch auch das ließ mich völ­lig gleich­gül­tig. »Wozu? Für wen?«, sag­te ich mir. Es war mir, als müs­se mein gan­zes Le­ben in die­ser ein­sa­men Ab­ge­schie­den­heit, die­ser hilflo­sen Schwer­mut ver­ge­hen, der mich zu ent­win­den ich nicht die Kraft, ja nicht ein­mal den Wunsch be­saß. Kat­ja hat­te ge­gen Ende des Win­ters wirk­lich schon Angst um mich und war ent­schlos­sen, mich um je­den Preis ins Aus­land zu brin­gen, um mich mei­ner trost­lo­sen Stim­mung zu ent­rei­ßen. Aber dazu war Geld nö­tig, und wir wuß­ten gar nicht, was uns ei­gent­lich nach dem Tode der Mut­ter zu­ge­fal­len war. Tag und Nacht er­war­te­ten wir den Vor­mund, der doch ein­mal kom­men muß­te, um un­se­re An­ge­le­gen­hei­ten zu ord­nen.

Im März kam der Vor­mund end­lich an.

»Nun, Gott sei Dank!«, sag­te ei­nes Ta­ges Kat­ja zu mir, als ich ohne Be­schäf­ti­gung, ohne Ge­dan­ken, ohne Wunsch wie ein Schat­ten von ei­nem Win­kel zum an­dern irr­te. »Ser­geij Micha­j­lytsch ist auf sei­nem Gute an­ge­kom­men, er hat her­ge­schickt, um nach un­se­rem Er­ge­hen zu fra­gen, und woll­te zum Mit­ta­ges­sen hier blei­ben. Du mußt dich auf­raf­fen, mei­ne klei­ne Ma­scha«, füg­te sie hin­zu – »was soll er denn sonst von dir den­ken? Er liebt euch alle so sehr.«

Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch war ein Nach­bar von uns, und er war ein Freund mei­nes ver­stor­be­nen Va­ters ge­we­sen, ob­schon er weit jün­ger ge­we­sen war als die­ser. Ab­ge­se­hen da­von, daß sei­ne An­kunft un­se­re Plä­ne än­der­te und uns die Mög­lich­keit ge­währ­te, vom Lan­de weg­zu­zie­hen, hat­te ich von Kind­heit an Lie­be und Ach­tung für ihn emp­fun­den, und als Kat­ja mich jetzt er­mahn­te, ich sol­le mich auf­raf­fen, war dies si­cher in der Er­war­tung ge­sche­hen, daß ich un­ter al­len un­se­ren Be­kann­ten mich am we­nigs­ten vor Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch in un­güns­ti­gem Lich­te wür­de zei­gen wol­len. Ich war ihm nicht nur, wie alle im Hau­se, von Kat­ja und sei­nem Pa­ten­kind Son­ja bis zum letz­ten Kut­scher, aus blo­ßer Ge­wohn­heit zu­ge­tan – es lag da viel­mehr noch ein be­son­de­rer Grund vor, wes­halb ich sei­nem Er­schei­nen mit Span­nung ent­ge­gensah. Eine Äu­ße­rung, die Mama ein­mal in mei­ner Ge­gen­wart ge­tan, war hier mit im Spie­le: sie wün­sche sich solch einen Gat­ten für mich, hat­te sie ge­sagt. Ihre Wor­te wa­ren mir da­mals son­der­bar vor­ge­kom­men, ja so­gar pein­lich ge­we­sen: mein Held sah ganz an­ders aus. Mein Held war ein schlan­ker, ha­ge­rer, blei­cher, me­lan­cho­li­scher Jüng­ling. Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch da­ge­gen war nicht mehr jung, er war groß, un­ter­setzt und, wie mir schi­en, im­mer ver­gnügt; gleich­wohl hat­ten jene Wor­te Ma­mas auf mei­ne Phan­ta­sie stark ein­ge­wirkt, und schon da­mals, vor sechs Jah­ren, als ich eben elf Jah­re zähl­te, als er mich noch duz­te, mit mir spiel­te und mich ein »klei­nes Veil­chen« nann­te, hat­te ich mir bis­wei­len nicht ohne Ge­fühl der Angst die Fra­ge vor­ge­legt, was ich wohl tun wür­de, wenn er plötz­lich um mei­ne Hand an­hiel­te.

Kurz vor dem Es­sen, zu des­sen Menu Kat­ja noch ein Spi­nat­ge­richt und eine süße Spei­se hin­zu­ge­fügt hat­te, kam Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch an. Ich sah durchs Fens­ter, wie er in ei­nem klei­nen Schlit­ten sich un­se­rem Hau­se nä­her­te. Als er je­doch um die Ecke bog, eil­te ich in den Sa­lon: ich woll­te mir den An­schein ge­ben, als hät­te ich ihn gar nicht er­war­tet. So­bald ich aber im Vor­zim­mer das Geräusch sei­ner Schrit­te, sei­ne lau­te Stim­me und Kat­jas Schrit­te ver­nahm, hielt ich es nicht län­ger aus und ging ihm selbst ent­ge­gen. Er hielt Kat­jas Hand in der sei­nen, sprach laut und lä­chel­te. Als er mich er­blick­te, schwieg er und be­trach­te­te mich eine Wei­le, ohne mich zu grü­ßen. Ich wur­de ver­le­gen und fühl­te, daß ich er­rö­te­te.

»Ach, sind Sie es wirk­lich?«, sag­te er in sei­ner be­stimm­ten, schlich­ten Art, wäh­rend er mit ei­ner Be­we­gung der Hän­de, die sei­ne Über­ra­schung aus­drück­te, auf mich zu­trat. »Ist eine sol­che Wand­lung denn mög­lich? Wie groß Sie ge­wor­den sind! Das ist nun das Veil­chen von einst­mals – Sie sind ja zu ei­ner vol­len Rose er­blüht!«

Mit sei­ner großen Hand er­griff er die mei­ne und schüt­tel­te sie so bie­der und kräf­tig, daß es mir fast weh tat. Ich dach­te, er wür­de sie mir küs­sen, und hat­te mich be­reits zu ihm vor­ge­neigt, doch er drück­te sie mir nur noch ein­mal und sah mir mit sei­nem si­che­ren, kla­ren Blick ge­ra­de in die Au­gen.

Ich hat­te ihn seit sechs Jah­ren nicht ge­se­hen. Er hat­te sich sehr ver­än­dert: er war äl­ter ge­wor­den, sein Teint war dunk­ler, und er trug einen Ba­cken­bart, der ihn gar nicht klei­de­te; aber sei­ne schlich­ten Ma­nie­ren, das of­fe­ne, ehr­li­che Ge­sicht mit den kräf­ti­gen Zü­gen, die klu­gen, glän­zen­den Au­gen und das lie­bens­wür­di­ge, fast kind­li­che Lä­cheln wa­ren un­ver­än­dert ge­blie­ben.

Nach fünf Mi­nu­ten be­reits hat­te er auf­ge­hört, nur schlecht­weg ein Gast zu sein – er war ein­fach für uns alle, selbst für die Die­ner­schaft, die durch ihre Be­reit­wil­lig­keit ihre Freu­de über sei­ne An­kunft an den Tag leg­ten, ein lie­ber Haus­freund ge­wor­den.

Er be­nahm sich durch­aus nicht so wie die üb­ri­gen Nach­barn, die nach dem Tode der Mut­ter bei uns vor­ge­spro­chen und es für ihre Pf­licht ge­hal­ten hat­ten, schwei­gend da­zu­sit­zen und mit uns zu wei­nen; er war im Ge­gen­teil ge­sprä­chig und ver­gnügt und er­wähn­te die Mut­ter nicht mit ei­nem Wor­te, so daß ich an­fangs die­se Gleich­gül­tig­keit von­sei­ten ei­nes uns so na­he­ste­hen­den Man­nes ein we­nig son­der­bar und so­gar un­pas­send fand. Dann aber be­griff ich, daß dies nicht Gleich­gül­tig­keit war, son­dern Auf­rich­tig­keit, für die ich ihm dank­bar war. Am Abend ser­vier­te uns Kat­ja den Tee an der al­ten Stel­le im Sa­lon, ganz so, wie es zu Ma­mas Zei­ten ge­we­sen war; ich saß mit Son­ja ne­ben ihr; der alte Die­ner Gri­go­rij brach­te ihm Pa­pas Pfei­fe, die er ir­gend­wo ge­fun­den hat­te, und er be­gann ganz so wie in frü­he­ren Zei­ten im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

»Wenn ich so be­den­ke, wel­che furcht­ba­ren Ver­än­de­run­gen in die­sem Hau­se vor sich ge­gan­gen sind!«, sag­te er ste­hen­blei­bend.

»Ja«, ent­geg­ne­te Kat­ja mit ei­nem Seuf­zer, leg­te den De­ckel auf den Sa­mo­war und sah den Gast an, wäh­rend ihr die Trä­nen in die Au­gen stie­gen.

»Ihres Va­ters wer­den Sie sich wohl noch er­in­nern?«, wand­te er sich an mich.

»Ja, ein we­nig«, ant­wor­te­te ich.

»Wie schön wäre es, wenn Sie ihn jetzt noch hät­ten!«, sag­te er lei­se, wäh­rend er nach­denk­lich über mei­ne Au­gen hin­weg auf mei­nen Schei­tel blick­te. »Ich hat­te Ihren Va­ter sehr gern«, füg­te er noch lei­ser hin­zu, und es schi­en mir, daß der Glanz sei­ner Au­gen bei sei­nen Wor­ten noch zu­nahm.

»Und nun hat Gott auch un­se­re Mut­ter zu sich ge­nom­men!«, sprach Kat­ja, und gleich dar­auf leg­te sie ihre Ser­vi­et­te auf die Tee­kan­ne, zog ihr Ta­schen­tuch her­vor und be­gann zu wei­nen.

»Ja, es sind furcht­ba­re Ver­än­de­run­gen, die hier statt­ge­fun­den ha­ben«, wie­der­hol­te er, wäh­rend er sich ab­wand­te. »Son­ja, zeig' mir doch ein­mal dei­ne Spiel­sa­chen«, füg­te er nach ei­nem Weil­chen hin­zu und ver­ließ das Zim­mer. Die Au­gen vol­ler Trä­nen, blick­te ich, wäh­rend er hin­aus­ging, auf Kat­ja.

»Ach, welch ein treff­li­cher Freund«, sag­te Kat­ja.

Und in der Tat ward mir warm und wohl ums Herz an­ge­sichts der Teil­nah­me die­ses gu­ten, wenn auch mir fern­ste­hen­den Men­schen.

Aus dem Zim­mer ne­ben­an ver­nah­men wir Son­jas fei­nes Stimm­chen und ihr La­chen – sie un­ter­hiel­ten sich of­fen­bar gut mit­ein­an­der. Ich schick­te ihm den Tee hin­ein. Gleich dar­auf hör­ten wir, wie er sich ans Kla­vier setz­te und Son­jas Händ­chen auf die Tas­ten los­häm­mer­ten.

»Ma­ria Alex­an­drow­na!«, ließ er sei­ne Stim­me ver­neh­men – »kom­men Sie doch her­ein und spie­len Sie et­was!«

Es war mir an­ge­nehm, daß er in die­ser ein­fa­chen, freund­schaft­lich be­stimm­ten Wei­se sich an mich wand­te; ich er­hob mich und ging zu ihm hin­ein.

»Spie­len Sie doch ein­mal das hier«, sag­te er, ein Heft von Beetho­ven bei dem »Ada­gio qua­si una fan­ta­sia« auf­schla­gend. »Wir wol­len ein­mal se­hen, wie Sie spie­len«, füg­te er hin­zu und trat mit sei­nem Gla­se in eine Ecke des Zim­mers.

Ich hat­te die Emp­fin­dung, daß es mir un­mög­lich sein wür­de, ihm die­se Bit­te ab­zu­schla­gen oder mich zu zie­ren, un­ter dem Vor­wan­de, daß mein Spiel nicht weit her sei; ich setz­te mich folg­sam wie ein Kind an das Kla­vier und be­gann zu spie­len, so gut ich es ver­stand. Da­bei war mir ins­ge­heim doch vor sei­nem Ur­teil ban­ge, denn ich wuß­te, daß er die Mu­sik lieb­te und ein Ken­ner war. Das Ada­gio war im Tone je­ner Emp­fin­dun­gen ge­hal­ten, die durch das Ge­spräch beim Tee und all die wie­der le­ben­dig ge­wor­de­nen Erin­ne­run­gen in mir ge­weckt wor­den wa­ren, und so spiel­te ich auch, wie mir schi­en, gar nicht übel. Das Scher­zo je­doch ließ er mich nicht spie­len.

»Nein, das wer­den Sie nicht gut spie­len«, sag­te er, zu mir tre­tend, »das las­sen Sie lie­ber. Das ers­te aber war nicht übel. Es scheint, daß Sie Ver­ständ­nis für Mu­sik ha­ben.«

Die­ses ge­mes­se­ne Lob er­freu­te mich so sehr, daß ich so­gar er­rö­te­te. Es war mir so neu und so an­ge­nehm, daß er, der Freund und Ver­trau­te mei­nes Va­ters, mit mir so ganz ernst­haft sprach und nicht mehr in halb­scher­zen­dem Tone, wie frü­her, als ich noch ein Kind ge­we­sen. Kat­ja be­gab sich nach oben, um Son­ja zu Bett zu brin­gen, und wir blie­ben al­lein im Sa­lon zu­rück.

Er er­zähl­te mir von mei­nem Va­ter, wie er ihm nä­her­ge­tre­ten sei, und wie ver­gnügt sie da­mals, als ich mich noch mit mei­nen Schul­bü­chern und Spiel­sa­chen be­faß­te, zu­sam­men ge­lebt hät­ten; und in die­sen Schil­de­run­gen er­schi­en mir mein Va­ter zum ers­ten­mal als ein ein­fa­cher, lie­bens­wür­di­ger Mensch, wie ich ihn bis­her nicht ge­kannt hat­te. Er frag­te mich über dies und das aus, wo­für ich eine be­son­de­re Nei­gung hät­te, was ich läse, wel­che Plä­ne ich für die Zu­kunft hät­te, und gab mir Ratschlä­ge. Er war jetzt für mich nicht mehr der fröh­lich scher­zen­de Ka­me­rad, der mich neck­te und Spiel­zeug für mich ver­fer­tig­te, son­dern der erns­te, of­fe­ne Mann, der mir freund­lich ge­sinnt war, und für den ich un­will­kür­lich Hochach­tung und Sym­pa­thie emp­fand. Es war mir so leicht und so wohl ums Herz, als ich so mit ihm sprach, zu­gleich je­doch emp­fand ich eine ge­wis­se Be­klem­mung. Ich wog gleich­sam je­des Wort, das ich sprach; es lag mir so­viel dar­an, mich sei­ner Zu­nei­gung zu ver­si­chern, die er mir schon dar­um ent­ge­gen­brach­te, weil ich die Toch­ter mei­nes Va­ters war.

Als Kat­ja Son­ja zu Bett ge­bracht hat­te, kam sie wie­der zu uns und klag­te ihm ge­gen­über über mei­ne Apa­thie, von der ich ihm gar nichts ge­sagt hat­te.

»Wie denn? Von der Haupt­sa­che hat sie mir also gar nichts er­zählt?«, sprach er lä­chelnd und schüt­tel­te, wäh­rend er mich an­sah, miß­bil­li­gend den Kopf.

»Was hät­te ich auch da­von er­zäh­len sol­len?«, sag­te ich. »Das ist doch so lang­wei­lig, und dann wird's ja auch vor­über­ge­hen.« Ich hat­te in der Tat jetzt das Ge­fühl, daß mei­ne schwer­mü­ti­ge Stim­mung schwin­den wer­de, ja daß sie be­reits ge­schwun­den sei und nicht mehr wie­der­keh­ren wer­de.

»Es ist nicht gut, wenn je­mand die Ein­sam­keit nicht zu er­tra­gen weiß«, sag­te er. »Sie sind doch ein ge­bil­de­tes jun­ges Fräu­lein, nicht wahr?«

»Ich hal­te mich we­nigs­tens da­für«, ant­wor­te­te ich lä­chelnd.

»Nun denn – es ist kein Zei­chen wirk­li­cher Bil­dung, wenn eine jun­ge Dame nur so lan­ge klug und geist­reich ist, als sie von an­dern be­wun­dert wird, sich da­ge­gen ge­hen läßt und ge­gen al­les gleich­gül­tig wird, wenn sie al­lein ist. Al­les nur des Schei­nes we­gen, nicht um sei­ner selbst wil­len und für sich selbst tun – nein, das ist nicht das Rich­ti­ge!«

»Sie ha­ben ja eine schö­ne Mei­nung von mir!«, be­merk­te ich, um über­haupt et­was zu sa­gen.

»Nein«, ver­setz­te er nach ei­ni­gem Schwei­gen – »nicht um­sonst se­hen Sie Ihrem Va­ter ähn­lich, in Ih­nen steckt et­was!« Und sein gu­ter, auf­merk­sam be­ob­ach­ten­der Blick ruh­te wie­der freund­lich auf mir und ver­setz­te mich in eine freu­di­ge Er­re­gung.

Jetzt erst fiel mir die­ser nur ihm al­lein ei­ge­ne, zu­erst hell leuch­ten­de, dann im­mer ein­dring­li­cher wer­den­de, ein we­nig schwer­mü­ti­ge Blick auf, der gleich­sam hin­ter dem ers­ten, hei­te­ren Aus­druck sei­nes Ge­sich­tes auf­tauch­te.

»Sie dür­fen um kei­nen Preis die Lan­ge­wei­le auf­kom­men las­sen«, sag­te er – »Sie ha­ben die Mu­sik, für die Sie Ver­ständ­nis be­sit­zen, Sie ha­ben Ihre Bü­cher, Ihre Stu­di­en, Sie ha­ben ein gan­zes Le­ben vor sich, auf das Sie sich nur jetzt vor­be­rei­ten kön­nen, wenn Sie spä­ter kei­ne Reue emp­fin­den wol­len. In ei­nem Jah­re schon wird es dazu zu spät sein.«

Er sprach mit mir wie ein Va­ter oder wie ein äl­te­rer Ver­wand­ter, und ich fühl­te, wie er sich fort­wäh­rend Mühe gab, um sich nach Mög­lich­keit mei­nem Stand­punk­te an­zu­pas­sen. Aber es ver­letz­te mich ei­ner­seits, daß er der Mei­nung war, ich ste­he geis­tig un­ter ihm, wäh­rend es mir and­rer­seits schmei­chel­te, daß er sich über­haupt die Mühe mach­te, von sei­ner Höhe zu mir her­ab­zu­stei­gen.

Den Rest des Abends ver­brach­te er da­mit, mit Kat­ja über ge­schäft­li­che An­ge­le­gen­hei­ten zu re­den.

»Nun le­ben Sie wohl, mei­ne lie­be Freun­din«, sag­te er, sich er­he­bend, kam auf mich zu und er­griff mei­ne Hand.

»Wann se­hen wir uns wie­der?«, frag­te Kat­ja.

»Im Früh­jahr«, ant­wor­te­te er, noch im­mer mei­ne Hand hal­tend. »Jetzt fah­re ich nach Da­ni­low­ka« – so hieß un­ser zwei­tes Gut – »sehe mich dort um, ord­ne al­les, so­weit ich das ver­mag, und gehe dann in mei­nen ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten nach Mos­kau. Im Som­mer wer­den wir uns wie­der­se­hen.«

»Wa­rum wol­len Sie uns denn so lan­ge fern blei­ben?«, sag­te ich auf­rich­tig be­trübt – ich hat­te wirk­lich schon ge­hofft, ihn von nun an täg­lich zu se­hen. Es ward mir plötz­lich so trau­rig ums Herz, und ich fürch­te­te, daß mei­ne Schwer­mut und Lan­ge­wei­le wie­der­keh­ren wür­de. In mei­nem Blick und mei­ner Stim­me muß das wohl zum Aus­druck ge­kom­men sein.

»Su­chen Sie sich so viel wie mög­lich zu be­schäf­ti­gen, wer­den Sie nicht zur Gril­len­fän­ge­rin!«, sag­te er in ei­nem Tone, der mir all­zu kühl und gleich­gül­tig klang. »Im Früh­jahr wer­de ich Sie dann ex­ami­nie­ren«, füg­te er, ohne mich an­zu­se­hen, hin­zu und ließ mei­ne Hand los.

Im Vor­zim­mer, wo­hin wir ihm das Ge­leit ge­ge­ben hat­ten, zog er ei­lig sei­nen Pelz an. Auch hier wür­dig­te er mich kei­nes Blickes.

»Er strengt sich ganz ver­geb­lich an«, dach­te ich. »Meint er viel­leicht, ich emp­fin­de es schon als ein be­son­de­res Glück, wenn er mich nur an­sieht? Er ist ein gu­ter Mensch, ein sehr gu­ter Mensch, ge­wiß – aber wei­ter auch nichts …«

Wir konn­ten an die­sem Abend lan­ge nicht ein­schla­fen und plau­der­ten mit Kat­ja – nicht so­wohl von ihm, als da­von, wie wir den Som­mer ver­le­ben, und wo wir den nächs­ten Win­ter zu­brin­gen woll­ten. Die schreck­li­che Fra­ge: »Wozu?«, be­drück­te mich nun nicht mehr. Ich sag­te mir ganz ein­fach und klar, man müs­se le­ben, um glück­lich zu sein, und ich stell­te mir eine Zu­kunft voll hel­len, freu­di­gen Glückes vor. Le­ben und Licht war gleich­sam plötz­lich in un­ser al­tes, düs­te­res Haus in Po­krow­sko­je ein­ge­zo­gen.

2.

Es war Früh­ling ge­wor­den. Mei­ne schwer­mü­ti­ge Stim­mung war ver­schwun­den, und an ihre Stel­le war je­nes schwär­me­ri­sche Seh­nen und Hof­fen ge­tre­ten, das der Früh­ling in der See­le er­weckt. Ich führ­te nun nicht mehr das­sel­be Le­ben wie im Be­ginn des Win­ters, son­dern be­schäf­tig­te mich mit Son­ja, trieb Mu­sik, las viel, ging häu­fig im Park spa­zie­ren und mach­te lan­ge Pro­me­na­den in den Al­leen, oder ich saß auf ei­ner Bank und träum­te, hoff­te und schwärm­te Gott weiß, wo­von. Zu­wei­len brach­te ich, na­ment­lich wenn der Mond schi­en, die gan­ze Nacht bis zum frü­hen Mor­gen am Fens­ter mei­nes Zim­mers zu; mit­un­ter ging ich ganz lei­se, da­mit Kat­ja nichts merk­te, in der blo­ßen Nacht­ja­cke in den Gar­ten hin­un­ter und lief über das taui­ge Gras nach dem Park­teich, und ein­mal wag­te ich mich so­gar aufs Feld hin­aus und ging mit­ten in der Nacht ganz al­lein um den gan­zen Park her­um.

Es fällt mir jetzt schwer, mir jene Träu­me­rei­en, die da­mals mei­ne Phan­ta­sie be­schäf­tig­ten, ins Ge­dächt­nis zu­rück­zu­ru­fen und sie zu ver­ste­hen. Und wenn sie mir wie­der ein­fal­len, kann ich es kaum glau­ben, daß dies wirk­lich mei­ne Träu­me­rei­en sind, so selt­sam und le­bens­fremd schei­nen sie mir.

Ge­gen Ende Mai kehr­te Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch, wie er ver­spro­chen hat­te, von sei­ner Rei­se zu­rück.

Das ers­te­mal be­such­te er uns am Abend, zu ei­ner Zeit, da wir ihn gar nicht er­war­te­ten. Wir sa­ßen auf der Ter­ras­se und woll­ten so­eben Tee trin­ken. Der Gar­ten prang­te be­reits in fri­schem Grün, und in den dicht­be­laub­ten Bos­ketts lie­ßen die Nach­ti­gal­len schon ihre Lie­der er­klin­gen. Die bu­schi­gen Flie­der­sträu­cher wa­ren da und dort mit et­was Weißem oder Lila­far­bi­gem be­streut – es wa­ren die Blü­ten, die je­den Au­gen­blick auf­bre­chen konn­ten. Das Laub der Bir­ken­al­lee er­schi­en ganz durch­sich­tig in den Strah­len der un­ter­ge­hen­den Son­ne. Auf der Ter­ras­se lag ein küh­ler Schat­ten. Ein dich­ter Abend­tau hat­te sich auf den Ra­sen ge­senkt. Vom Hofe her ver­nahm man das Brül­len der ein­ge­trie­be­nen Her­de und die letz­ten Geräusche des schwin­den­den Ta­ges. Der schwach­sin­ni­ge Ni­kon fuhr mit dem Was­ser­faß auf dem Wege vor der Ter­ras­se vor­über, und der küh­le Was­ser­strahl sei­ner Gieß­kan­ne zeich­ne­te schwar­ze Krei­se auf dem frisch ge­lo­cker­ten Bo­den um die an Stä­be ge­bun­de­nen jun­gen Ge­or­gi­nen. Vor uns blink­te und bro­del­te auf dem wei­ßen Tisch­tuch der blank­ge­putz­te Sa­mo­war, da­ne­ben stand die Rahm­kan­ne, und Bre­zeln und sons­ti­ges Ge­bäck fehl­ten nicht. Kat­ja spül­te als sorg­sa­me Haus­frau mit den run­den, wei­chen Hän­den die Tas­sen aus. Ich konn­te den Tee nicht er­war­ten und aß, da ich nach ei­nem Bade Hun­ger hat­te, eben eine mit fri­scher, di­cker Sah­ne be­stri­che­ne Brot­schnit­te. Ich trug eine lei­ne­ne Blu­se mit of­fe­nen Är­meln und hat­te das feuch­te Haar mit ei­nem Tu­che um­hüllt. Kat­ja war die ers­te, die den Gast durch das Fens­ter kom­men sah.

»Ah, Ser­geij Micha­jlo­wi­tsch!«, rief sie aus. »Wir ha­ben so­eben von Ih­nen ge­spro­chen.«

Ich stand auf und woll­te fort­ge­hen, um mich um­zu­klei­den, doch traf er mich ge­ra­de in der Tür und such­te mich zu­rück­zu­hal­ten.

»Nun, was für Um­stän­de ma­chen Sie hier auf dem Dor­fe«, sag­te er lä­chelnd, mit ei­nem Blick auf das Tuch, mit dem ich den Kopf be­deckt hat­te. »Sie ge­nie­ren sich doch auch vor Gri­go­rij nicht, und ich bin doch für Sie, denk' ich, eben­so­viel wie Gri­go­rij.« Doch ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick schi­en es mir, als bli­cke er mich so ganz an­ders an als Gri­go­rij, und ich ward ein we­nig ver­le­gen.

»Ich bin gleich wie­der hier«, sag­te ich und ent­fern­te mich.

»Was ist denn an Ih­nen aus­zu­set­zen?«, rief er hin­ter mir her – »Sie se­hen ganz wie eine jun­ge Bäue­rin aus!«

»Wie selt­sam er mich an­sah!«, dach­te ich, wäh­rend ich mich oben in mei­nem Zim­mer rasch um­zog. »Nun, Gott sei Dank, daß er ge­kom­men ist, es wird jetzt hier bei uns lus­ti­ger wer­den.«

Ich warf einen Blick in den Spie­gel und eil­te ver­gnügt die Trep­pe hin­un­ter. Ich gab mir durch­aus kei­ne Mühe zu ver­heim­li­chen, daß ich mich be­eilt hat­te, und kam ganz atem­los auf die Ter­ras­se zu­rück. Er saß am Ti­sche und sprach mit Kat­ja über un­se­re An­ge­le­gen­hei­ten. Als er mich er­blick­te, lä­chel­te er, fuhr je­doch fort zu spre­chen. Un­ser Ver­mö­gens­stand war, wie er sag­te, in bes­ter Ord­nung. Wir soll­ten nach sei­ner Mei­nung noch den Som­mer auf dem Lan­de zu­brin­gen und dann nach Pe­ters­burg zie­hen, um Son­jas Er­zie­hung zu vollen­den, oder ins Aus­land rei­sen.

»Ja, wenn Sie mit uns ins Aus­land rei­sen woll­ten!«, sag­te Kat­ja. »Aber so wer­den wir uns dort wie im Ur­wal­de vor­kom­men.«

»Ach, wie gern möch­te ich mit Ih­nen um die gan­ze Welt her­um­rei­sen!«, sag­te er halb scher­zend, halb im Ernst.

»Nun denn«, sag­te ich, »so ma­chen wir also zu­sam­men eine Rei­se um die Welt!«

Er lä­chel­te und schüt­tel­te den Kopf.

»Und mein Müt­ter­chen? Und mei­ne Ge­schäf­te?«, sag­te er. »Re­den wir nicht da­von. Er­zäh­len Sie lie­ber, was Sie in der letz­ten Zeit ge­trie­ben ha­ben. Ha­ben Sie wie­der Gril­len ge­fan­gen?«

Als ich ihm er­zähl­te, daß ich mich in sei­ner Ab­we­sen­heit mit al­ler­hand nütz­li­chen Din­gen be­schäf­tigt und durch­aus kei­ne Lan­ge­wei­le emp­fun­den hät­te, und als dann Kat­ja mei­ne Wor­te be­stä­tig­te, da lob­te er mich und lieb­kos­te mich gleich­sam mit sei­nen Bli­cken und Wor­ten wie ein ar­ti­ges Kind, als hät­te er ein be­son­de­res Recht dazu. Ich hielt mich für ver­pflich­tet, ihm ganz aus­führ­lich und auf­rich­tig über al­les zu be­rich­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­