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G E K Ö D E R T

 

(EIN RILEY PAIGE KRIMI - BAND #4)

 

 

 

B L A K E   P I E R C E

 

Blake Pierce

 

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die bisher die spannungsgeladenen Thriller VERSCHWUNDEN (Band #1), GEFESSELT (Band #2), ERSEHNT (Band #3) und GEKÖDERT (Band #4) umfasst. Blake Pierce ist außerdem auch die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie und der AVERY BLACK Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!

 

Copyright © 2016 Blake Pierce

Aus dem Englischen von Marina Sun

 

Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig.

Copyright Umschlagsbild GongTo, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

 

 

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

 

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

 

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

 

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

Inhalt

 

 

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIẞIG

KAPITEL EINUNDDREIẞIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIẞIG

KAPITEL DREIUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERUNDDREIẞIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIẞIG

KAPITEL SECHSUNDDREIẞIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIẞIG

KAPITEL ACHTUNDDREIẞIG

KAPITEL NEUNUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

 

 

PROLOG

 

Der Mann machte sich Sorgen, während er im Auto saß. Er wusste, dass er sich beeilen musste. Heute Nacht war es wichtig, dass alles nach Plan verlief. Aber würde die Frau diese Straße zur üblichen Zeit entlangfahren?

Es war bereits elf Uhr Abends und es wurde knapp.

Er erinnerte sich an die Stimme, die er gehört hatte, die durch seinen Kopf gehallt war und ihn hergebracht hatte. Die Stimme seines Großvaters.

"Du solltest besser mit ihrem Zeitplan Recht haben, Scratch."

Scratch. Der Mann in dem Auto mochte diesen Namen nicht. Es war nicht sein richtiger Name. Es war ein Volksmärchenname für den Teufel. Soweit es seinen Großvater betraf, war er ein "schwarzes Schaf."

Sein Großvater nannte ihn länger Scratch, als er zurückdenken konnte. Obwohl ihn jeder andere beim richtigen Namen nannte, war Scratch ihm im Gedächtnis geblieben. Er hasste seinen Großvater. Aber er konnte ihn nicht aus seinem Kopf verbannen.

Scratch schlug sich mehrmals mit der flachen Hand gegen den Kopf, im Versuch die Stimme zu verjagen.

Es tat weh, aber für einen Moment beruhigte es seine Sinne.

Aber dann hörte er das stumpfe Lachen seines Großvaters, das irgendwo dort drinnen echote. Zumindest war es jetzt ein wenig leiser.

Er sah nervös auf seine Uhr. Kurz nach elf. War sie heute Abend spät dran? Nahm sie einen anderen Weg? Nein, das war nicht ihre Art. Er hatte ihre Bewegungen tagelang beobachtet. Sie war immer pünktlich, hielt sich immer an ihren Zeitplan.

Wenn sie nur wüsste, wie viel auf dem Spiel stand. Großvater würde ihn bestrafen, wenn er es vermasselte. Aber es war sehr viel mehr als das. Der Welt selbst lief die Zeit davon. Er hatte eine große Verantwortung, und sie lag schwer auf seinen Schultern.

Scheinwerfer tauchten am Ende der Straße auf und er seufzte vor Erleichterung. Das musste sie sein.

Die Landstraße führte nur zu ein paar Häusern. Zu dieser Zeit war normalerweise niemand auf der Straße, bis auf diese Frau, die von ihrer Arbeit direkt zu dem Haus fuhr, wo sie ein Zimmer gemietet hatte.

Scratch hatte seinen Wagen gedreht und in der Mitte der Straße angehalten, sodass er ihr gegenüberstand. Er stand vor seiner Motorhaube und benutzte mit zitternden Händen eine Taschenlampe, um hineinzuleuchten. Er hoffte, es würde funktionieren.

Sein Herz hämmerte wild, als der andere Wagen vorbeifuhr.

Stopp! flehte er leise. Bitte halt an!

Kurz darauf hielt der andere Wagen an.

Er musste sich ein Lachen verkneifen.

Scratch drehte sich um, und blickte zu den Lichtern. Ja, es war ihr zerbeulter kleiner Wagen, genau wie er gehofft hatte.

Jetzt musste er sie nur noch zu sich locken.

Sie drehte ihr Fenster herunter und er schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln.

"Ich fürchte, ich stecke hier fest", rief er.

Er wandte den Strahl seiner Taschenlampe kurz auf das Gesicht des Fahrers. Ja, das war zweifellos sie.

Scratch bemerkte, dass sie ein charmantes, offenes Gesicht hatte. Und sie war dünn, was seinen Plänen noch gelegener kam.

Es war eine Schande, dass er ihr das würde antun müssen. Aber es war, wie sein Großvater immer sagte. "Es ist für das Wohl aller."

Das stimmte und Scratch wusste es. Wenn die Frau es nur verstehen könnte, dann würde sie sich vielleicht freiwillig opfern. Schließlich war das Opfer einer der größten Vorzüge der menschlichen Natur. Sie sollte froh sein, dienen zu können.

Aber er wusste, dass das zu viel erwartet wäre. Die Dinge würden brutal und unschön werden, so wie immer.

"Wo liegt das Problem?" rief die Frau zurück.

Ihm gefiel die Art, wie sie redete. Er wusste nicht genau, warum.

"Ich weiß es nicht", sagte er. "Hat einfach den Geist aufgegeben."

Die Frau streckte ihren Kopf aus dem Fenster. Er sah ihr direkt ins Gesicht. Das mit roten Locken umrandete, sommergesprosste Gesicht war offen und freundlich. Sie schien in keinster Weise verärgert darüber zu sein, dass er ihr Umstände bereitete.

Aber würde sie vertrauensvoll genug sein, aus dem Wagen zu steigen? Wahrscheinlich, wenn sie sich wie die anderen Frauen verhielt.

Großvater sagte ihm immer, wie unglaublich hässlich er war, und er konnte nicht anders, als selbst so von sich zu denken. Aber er wusste, dass andere Menschen - insbesondere Frauen - ihn wohlwollend betrachteten.

Er zeigte auf die offene Motorhaube. "Ich habe keine Ahnung von Autos", rief er ihr zu.

"Ich auch nicht", erwiderte die Frau.

"Nun, vielleicht können wir zusammen herausfinden, wo das Problem liegt", sagte er. "Macht es Ihnen etwas aus, es zu versuchen?"

"Überhaupt nicht. Erwarten Sie nur nicht, dass ich hilfreich bin."

Sie öffnete die Tür, stieg aus, und kam zu ihm. Ja, alles verlief perfekt. Er hatte sie aus ihrem Auto geködert. Aber die Zeit drängte noch immer.

"Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen", sagte sie, trat neben ihn und sah auf den Motor.

Jetzt verstand er, was er an ihrer Stimme mochte.

"Sie haben einen interessanten Akzent", bemerkte er. "Sind Sie aus Schottland?"

"Irland", erwiderte sie fröhlich. "Ich bin erst seit zwei Monaten hier. Ich habe eine Green Card bekommen, damit ich hier mit einer Familie arbeiten kann."

Er lächelte. "Willkommen in Amerika", sagte er.

"Danke. Bisher bin ich einfach nur begeistert."

Er zeigte auf den Motor.

"Einen Moment", sagte er. "Was denken Sie, was das da ist?"

Die Frau beugte sich weiter vor, um einen besseren Blick zu haben. Er schlug die Halterung beiseite und ließ ihr die Motorhaube auf den Kopf fallen.

Er öffnete die Haube und hoffte, dass er sie nicht zu hart getroffen hatte. Glücklicherweise war sie nur bewusstlos, ihr Gesicht und Oberkörper schlaff über dem Motor ausgestreckt.

Er sah sich um. Niemand war zu sehen. Niemand hatte mitbekommen, was passiert war.

Er erbebte vor Freude.

Er nahm sie in den Arm und bemerkte, dass sowohl ihr Gesicht, als auch die Vorderseite ihres Kleides jetzt mit Öl verschmiert waren. Sie war leicht wie eine Feder. Er trug sie zur Rückseite seines Autos und legte sie auf den Rücksitz.

Er war sich sicher, dass sie für seine Zwecke gut geeignet war.

 

*

 

Als Meara wieder zu Bewusstsein kam, wurde sie von einer ohrenbetäubenden Kakophonie von Geräuschen überwältigt. Es schien jede Art von Geräusch zu sein, die man sich nur vorstellen konnte. Da waren Gongs, Glocken, Schellen, Vogelklänge, und verschiedene Melodien, als kämen sie aus hunderten von Spieluhren. Sie schienen absichtlich feindselig zu sein.

Sie öffnete ihre Augen, aber sie konnte nichts fokussieren. Ihr Kopf schien vor Schmerz zu bersten.

Wo bin ich? fragte sie sich.

Irgendwo in Dublin? Nein, sie war jetzt in der Lage, Teile wieder zusammenzusetzen. Sie war vor zwei Monaten hergekommen und hatte sofort angefangen zu arbeiten. Sie musste in Delaware sein. Mit Mühe erinnerte sie sich, wie sie angehalten hatte, um einem Mann mit seinem Wagen zu helfen. Dann war etwas passiert. Etwas Schlimmes.

Aber was war dieser Ort, mit all den schrecklichen Geräuschen?

Sie wurde gewahr, dass sie wie ein Kind getragen wurde. Sie hörte die Stimme des Mannes, der sie trug, über den Lärm hinweg.

"Keine Sorge, wir haben es rechtzeitig geschafft."

Langsam war sie wieder in der Lage ihre Augen zu fokussieren. Ihr Blick viel auf eine unzählbare Anzahl von Uhren in jeder Form und Farbe. Sie sah große Standuhren, umrahmt von weiteren kleineren Uhren, einige Kuckucksuhren und andere mit kleinen Paraden von mechanischen Leuten. Auch die Regale waren mit Uhren vollgestellt.

Sie schlagen alle zur vollen Stunde, dachte sie.

Aber in all dem Lärm konnte sie die Zahl der Schläge nicht erfassen.

Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wer sie trug. Er sah auf sie herab. Ja, er war es – der Mann, der sie um Hilfe gebeten hatte. Sie war dumm gewesen, für ihn anzuhalten. Sie war ihm in die Falle gegangen. Aber was hatte er mit ihr vor?

Als der Lärm der Uhren versiegte, verloren ihre Augen wieder den Fokus. Sie konnte sie nicht offen halten. Sie fühlte, wie sie das Bewusstsein verlor.

Ich muss wach bleiben, dachte sie.

Sie hörte ein metallisches Rasseln, dann spürte sie, wie sie sanft auf eine kalte, harte Oberfläche gelegt wurde. Da war ein weiteres Rasseln, gefolgt von Schritten und schließlich dem Geräusch einer sich öffnenden und schließenden Tür. Die unzähligen Uhren tickten weiter.

Dann hörte sie weibliche Stimmen.

"Sie lebt."

"Zu dumm für sie."

Die Stimmen waren leise und kratzig. Meara schaffte es, ihre Augen wieder zu öffnen. Sie sah, dass der Boden aus grauem Beton bestand. Sie drehte sich mühsam um und sah drei menschliche Formen in ihrer Nähe auf dem Boden sitzen. Oder zumindest dachte sie, dass sie Menschen waren. Es schienen junge Mädchen zu sein, Teenager, aber sie waren mager, nicht mehr als Skelette, und ihre Knochen waren deutlich unter ihrer Haut zu erkennen. Eine schien kaum bei Bewusstsein zu sein, ihr Kopf hing nach vorne, ihre Augen starrten auf den grauen Boden. Sie erinnerten sie an Fotos, die sie von Gefangenen in Konzentrationslagern gesehen hatte.

Lebten sie überhaupt? Ja, sie mussten noch leben. Sie hatte sie gerade sprechen hören.

"Wo sind wir?" fragte Meara.

Sie musste sich anstrengen, um die gezischte Antwort zu hören.

"Willkommen", sagte eine von ihnen, "in der Hölle."

 

KAPITEL EINS

 

Riley Paige sah den ersten Schlag nicht kommen. Trotzdem reagierten ihre Reflexe gut. Sie spürte, wie die Zeit sich verlangsamte, als der erste Schlag in Richtung ihres Magens blitzte. Sie wich ihm perfekt aus. Dann flog ein weiter linker Haken auf ihren Kopf zu. Sie sprang zur Seite und wehrte ihn ab. Als er mit einem letzten Schlag auf ihr Gesicht zielte, riss sie die Arme hoch und ließ den Schlag gegen ihre Handschuhe prallen.

Dann nahm die Zeit ihre übliche Geschwindigkeit wieder auf. Sie wusste, dass die Kombination der Schläge nicht länger als zwei Sekunden gedauert hatte.

"Gut", nickte Rudy.

Riley lächelte. Rudy tänzelte jetzt vor ihr umher, duckte sich und war mehr als bereit für ihren Angriff. Riley tat es ihm gleich, täuschte an, duckte sich weg, versuchte ihn raten zu lassen, welchen Zug sie machen würde.

"Keine Eile", sagte Rudy. "Denk darüber nach. Stell es dir wie ein Schachspiel vor."

Sie spürte ein kurzes Aufblitzen von Ärger, während sie weiter in Bewegung blieb. Er schonte sie. Warum musste er sie schonen?

Aber sie wusste, dass es einerlei war. Das war ihr erstes Mal im Boxring mit einem richtigen Gegner. Bis jetzt hatte sie ihre Kombinationen an einem Sandsack geübt. Sie musste sich daran erinnern, dass sie bei dieser Art von Kampf nur ein Anfänger war. Es war besser, nichts zu überstürzen.

Es war Mike Nevins' Idee gewesen, mit dem Boxen anzufangen. Der, für das FBI als Berater tätige, forensische Psychiater, war ein guter Freund von Riley. Er hatte ihr durch eine Vielzahl persönlicher Krisen geholfen.

Sie hatte sich kürzlich bei Mike darüber beschwert, dass es ihr schwerfiel, ihre aggressiven Impulse unter Kontrolle zu behalten. Sie verlor zu oft ihr Temperament. Sie war angespannt.

"Versuche es mit Boxen", hatte Mike gesagt. "Das ist ein guter Weg, um Dampf abzulassen."

Jetzt war sie sich ziemlich sicher, dass Mike Recht hatte. Es fühlte sich gut an, schnell zu reagieren, mit wahren Bedrohungen umzugehen, anstatt mit eingebildeten, und es war entspannend, mit Bedrohungen umzugehen, die dennoch nicht wirklich tödlich waren.

Es war auch gut, dass sie einem Fitnessstudio beigetreten war, das sie von dem Hauptquartier in Quantico wegbrachte. Sie verbrachte dort zu viel Zeit. Das war eine willkommene Abwechslung.

Aber sie hatte schon zu lange getrödelt. Und sie konnte in Rudys Augen sehen, dass er sich auf einen weiteren Angriff vorbereitete.

Sie wählte mental ihre nächste Kombination. Sie warf sich ihm abrupt entgegen. Ihr erster Schlag war ein linker Stoß, dem er auswich und den er mit einer rechten Geraden parierte, die ihren Kopfschutz streifte. Sie ließ einen rechten Stoß folgen, den er mit seinem Handschuh abwehrte. Sofort setzte sie zu einem linken Haken an, dem er durch einen Sprung zur Seite auswich.

"Gut", sagte Rudy wieder.

Für Riley fühlte es sich nicht gut an. Sie hatte nicht einen Treffer gelandet, während er sie sogar mit seiner Verteidigung erwischt hatte, und sie spürte, wie sich der Ärger ihn ihr aufstaute. Aber sie erinnerte sich daran, was Rudy ihr am Anfang gesagt hatte:

"Erwarte nicht, viele Treffer zu landen. Das tut niemand wirklich. Zumindest nicht beim Sparring."

Sie beobachtete jetzt seine Handschuhe und spürte, dass er bereit war, erneut anzugreifen. Aber in diesem Moment fand eine seltsame Verwandlung in ihrer Vorstellung statt.

 

Die Handschuhe verwandelten sich in eine einzelne Flamme – die weiße, zischende Flamme einer Propangasfackel. Sie war wieder in der Dunkelheit eingesperrt, eine Gefangene des sadistischen Mörders Peterson. Er spielte mit ihr, ließ sie der Flamme ausweichen, um der sengenden Hitze zu entkommen.

Aber sie hatte es satt, erniedrigt zu werden. Diesmal war sie entschlossen, zurückzuschlagen. Als die Flamme auf ihr Gesicht zusprang, duckte sie sich und warf ihm einen heftigen Schlag entgegen, der nicht sein Ziel traf. Die Flamme tänzelte um sie herum und sie konterte mit einer Geraden, die ebenfalls ihr Ziel verfehlte. Aber bevor Peterson einen weiteren Zug machen konnte, landete sie einen Aufwärtshaken, von dem sie spürte, wie er gegen sein Kinn prallte.

 

"Hey!" rief Rudy.

Seine Stimme brachte Riley zurück in die Gegenwart. Rudy lag flach auf dem Rücken auf der Matte.

Wie ist er nach da unten gekommen? fragte Riley sich.

Dann wurde ihr klar, dass sie ihn geschlagen hatte – und zwar hart.

"Oh mein Gott!" rief sie. "Rudy, es tut mir leid!"

Rudy grinste und rappelte sich wieder auf.

"Braucht es nicht", sagte er. "Das war gut."

Sie nahmen ihr Sparring wieder auf. Der Rest der Stunde verlief ereignislos und keiner von beiden landete einen Treffer. Aber jetzt fühlte sich die ganze Sache auch für Riley gut an. Mike Nevins hatte Recht. Das war genau die Therapie, die sie brauchte.

Trotzdem fragte sie sich, wann sie wohl in der Lage sein würde, diese Erinnerungen abzuschütteln.

Vielleicht nie, dachte sie.

 

*

 

Riley schnitt enthusiastisch in ihr Steak. Der Chef in der Küche von Blaine's Grill, hatte bei verschiedenen, weniger konventionellen Gerichten einen guten Job gemacht, aber das Workout im Fitnessstudio, hatten ihr Appetit auf ein gutes Steak und einen Salat gemacht. Ihre Tochter, April, und ihre Freundin, Crystal, hatten Hamburger geordert. Blaine Hildreth, Crystals Vater, war in der Küche, aber er würde jeden Moment zurück sein, um seinen Mahi-Mahi aufzuessen.

Riley sah sich mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung in dem gemütlichen Speiseraum um. Ihr wurde klar, dass ihr Leben nicht genug dieser warmen Abende, mit Freunden, Familie und einem guten Essen, beinhaltete. Ihre Arbeit bot weitaus hässlichere und beunruhigendere Szenen.

In einigen Tagen würde sie vor einem Bewährungsausschuss für einen Kindsmörder aussagen, der hoffte, vorzeitig entlassen zu werden. Und sie musste sicherstellen, dass es ihm nicht gelang.

Erst vor wenigen Wochen hatte sie einen verstörenden Fall in Phönix abgeschlossen. Sie und ihr Partner, Bill Jeffreys, hatten einen Mörder gefasst, der es auf Prostituierte abgesehen hatte. Riley kämpfte immer noch mit dem Gefühl, durch die Lösung des Falles keinen wirklichen Beitrag geleistet zu haben. Jetzt wusste sie mehr als ihr lieb war, über die Welt der Ausbeutung von Frauen und Mädchen.

Aber sie war entschlossen, diese Gedanken vorerst aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie spürte, wie sie sich nach und nach entspannte. Mit einem Freund und ihren beiden Kindern in einem Restaurant zu essen, erinnerte sie daran, wie es sein könnte, ein normales Leben zu führen. Sie lebte in einem schönen Haus und kam einem netten Nachbarn näher.

Blaine kam zurück und setzte sich. Riley fiel wieder einmal auf, dass er attraktiv war. Seine leichten Geheimratsecken gaben ihm ein angenehm reifes Aussehen und er war schlank und fit.

"Sorry", sagte Blaine. "Das Restaurant läuft problemlos, wenn ich nicht hier bin, aber sobald ich in Sichtweite bin, scheint jeder plötzlich meine Hilfe zu benötigen."

"Ich weiß, wie das ist", nickte Riley. "Ich hoffe, dass mich das BAU für eine Weile vergisst, wenn ich außer Sichtweite bleibe."

April sagte, "Keine Chance. Die rufen dich bald an. Dann bist du wieder auf dem Weg in einen anderen Teil des Landes."

Riley seufzte. "Ich könnte mich daran gewöhnen, nicht ständig angerufen zu werden."

Blaine kaute genüsslich auf einem Bissen Mahi-Mahi.

"Hast du darüber nachgedacht, den Job zu wechseln?" fragte er.

Riley zuckte mit den Schultern. "Was sollte ich stattdessen tun? Ich bin den größten Teil meines erwachsenen Lebens Agent gewesen."

"Oh, ich bin sicher, dass es eine Menge gibt, was eine Frau mit deinen Talenten machen könnte", sagte Blaine. "Die meisten davon sicherer, als ein FBI Agent zu sein."

Er dachte einen Moment nach. "Ich könnte dich mir als Lehrer vorstellen", fügte er hinzu.

Riley lachte leise. "Denkst du, das wäre sicherer?" fragte sie.

"Hängt davon ab, wo du unterrichten würdest", erwiderte Blaine. "Was ist mit dem College?"

"Hey, das ist eine Idee, Mom", sagte April. "Dann müsstest du nicht immer reisen. Und du würdest trotzdem Menschen helfen."

Riley schwieg, während sie darüber nachdachte. Am College zu unterrichten wäre wahrscheinlich ähnlich wie der Unterricht, den sie an der Akademie in Quantico geleitet hatte. Das hatte ihr Spaß gemacht. Es gab ihr immer die Möglichkeit, sich ein wenig zu erholen. Aber würde sie ein Vollzeit-Lehrer sein wollen? Konnte sie wirklich den ganzen Tag in einem Gebäude verbringen, ohne aktiv zu sein?

Sie spießte einen Champignon mit ihrer Gabel auf.

Dann würde ich vielleicht wie einer von diesen hier enden, dachte sie.

"Was wäre mit Privatdetektiv?" fragte Blaine.

"Ich denke eher nicht", sagte Riley. "Dreckige Geheimnisse von in Scheidung lebenden Paaren ausgraben erscheint mir nicht erstrebenswert."

"Das ist nicht alles, was Privatermittler machen", beharrte Blaine. "Was wäre mit der Untersuchung von Versicherungsbetrug? Hey, ich habe diesen Koch, der angeblich einen schlechten Rücken hat und arbeitsunfähig ist. Ich bin sicher, das spielt er nur vor, aber ich kann es nicht beweisen. Du könntest mit ihm anfangen."

Riley lachte. Blaine machte natürlich nur einen Scherz.

"Oder Sie könnten nach vermissten Leuten suchen", warf Crystal ein. "Oder vermissten Haustieren."

Riley lachte wieder. "Also das würde mir wirklich das Gefühl geben, die Welt ein Stückchen besser zu machen!"

April beteiligte sich nicht mehr an der Unterhaltung. Riley sah, dass sie jemandem schrieb und kicherte. Crystal lehnte sich über den Tisch zu Riley.

"April hat einen neuen Freund", sagte Crystal. Dann formte sie ein stummes, "Ich mag ihn nicht."

Riley war genervt, dass ihre Tochter alle anderen am Tisch ignorierte.

"Hör auf damit", sagte sie zu April. "Das ist unhöflich."

"Was ist daran unhöflich?" wollte April wissen.

"Wir haben uns darüber unterhalten", mahnte Riley.

April ignorierte sie und tippte eine Nachricht.

"Leg das weg", sagte Riley streng.

"In einer Minute."

Riley unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte schon vor einer Weile gelernt, dass "in einer Minute" so viel hieß wie "nie."

In dem Moment vibrierte ihr eigenes Telefon. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie es nicht ausgestellt hatte, bevor sie das Haus verlassen hatte. Sie sah auf das Telefon, das eine Nachricht von ihrem FBI Partner, Bill, zeigte. Sie dachte darüber nach, sie ungelesen zu lassen, aber konnte sich letztendlich nicht dazu bringen.

Als sie die Nachricht aufrief, sah sie aus den Augenwinkeln, wie April sie angrinste. Ihre Tochter genoss ganz offensichtlich die Ironie der Situation. Insgeheim kochend, las Riley Bills Textnachricht.

Meredith hat einen neuen Fall. Er will ihn mit uns besprechen. ASAP.

Der leitende Spezialagent Brent Meredith war Rileys und Bills Boss. Sie fühlte ihm gegenüber enorme Loyalität. Er war nicht nur ein guter und fairer Chef, er hatte sich auch mehr als einmal für Riley eingesetzt, nachdem sie im Büro in Schwierigkeiten geraten war. Dennoch war Riley entschlossen, sich nicht wieder in die Sache hineinziehen zu lassen, zumindest vorerst nicht.

Ich kann jetzt nicht verreisen, schrieb sie zurück.

Bill antwortete, Es ist direkt hier in der Gegend.

Riley schüttelte entmutigt den Kopf. Es würde nicht einfach werden standhaft zu bleiben.

Sie schrieb ihm zurück, Ich melde mich wieder bei dir.

Da sie darauf keine Antwort erhielt, legte sie das Telefon zurück in ihre Tasche.

"Ich dachte du hast gesagt, das sei unhöflich, Mom", sagte April in einer leisen, schmollenden Stimme.

April schrieb noch immer Nachrichten.

"Ich bin fertig mit meinen", sagte sie und versuchte nicht so genervt zu klingen, wie sie sich fühlte.

April ignorierte sie. Dann vibrierte Rileys Handy noch einmal. Im Stillen fluchte sie. Sie sah, dass es eine Nachricht von Meredith selbst war.

Seien Sie morgen früh um 9 Uhr im BAU.

Riley suchte fieberhaft nach einem Weg abzusagen, als eine weitere Nachricht folgte.

Das ist ein Befehl.

 

KAPITEL ZWEI

 

Rileys Stimmung sank, als sie die beiden Fotos auf dem Bildschirm über dem Konferenztisch des BAUs betrachtete. Das eine zeigte ein sorgenfreies Mädchen mit hellen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Auf dem anderen sah man ihre Leiche, schrecklich ausgemergelt und mit ihren Armen in seltsamer Position. Da ihr befohlen worden war, an diesem Meeting teilzunehmen, wusste Riley, dass es ein weiteres Opfer wie dieses geben musste.

Sam Flores, ein kluger Labortechniker mit einer schwarz umrandeten Brille, führte die anderen Agenten, die mit ihm am Tisch saßen, durch die Fotos.

"Diese Bilder zeigen Metta Lunoe, siebzehn Jahre alt", sagte Flores. "Ihre Familie lebt in Collierville, New Jersey. Ihre Eltern haben sie im März als vermisst gemeldet – eine Ausreißerin."

Er fügte dem Bildschirm eine Karte von Delaware hinzu und zeigte mit dem Laserpointer auf eine bestimmte Stelle.

Er sagte, "Ihre Leiche wurde am sechzehnten Mai in einem Feld vor Mowbray, Delaware, gefunden. Ihr Genick wurde gebrochen."

Flores zeigte ein weiteres Fotopaar – auf dem einen ein anderes, lebhaftes junges Mädchen, auf dem anderen das gleiche Mädchen, fast bis zur Unkenntlichkeit dahingeschwunden, ihre Arme in ähnlicher Weise ausgestreckt.

"Das ist Valerie Bruner, ebenfalls siebzehn, eine als vermisst gemeldete Ausreißerin aus Norbury, Virginia. Sie ist im April verschwunden."

Flores zeigte einen weiteren Punkt auf der Karte.

"Ihre Leiche wurde am zwölften Juni auf einer Landstraße in der Nähe von Redditch, Delaware, gefunden. Scheinbar die gleiche MO wie bei dem anderen Mord. Agent Jeffreys wurde zu den Ermittlungen hinzugezogen."

Riley horchte überrascht auf. Wie hatte Bill an einem Fall arbeiten können, von dem sie nichts wusste? Dann erinnerte sie sich. Im Juni hatte sie im Krankenhaus gelegen und sich von den schrecklichen Qualen erholt, die sie in Petersons Käfig hatte aushalten müssen. Aber Bill hatte sie häufig im Krankenhaus besucht. Er hatte nie erwähnt, dass er an einem Fall arbeitete.

Sie drehte sich zu Bill.

"Warum hast du mir nicht davon erzählt?" fragte sie.

Bills Gesicht wirkte grimmig.

"Es war kein guter Zeitpunkt", sagte er. "Du hattest deine eigenen Probleme."

"Wer war dein Partner?" fragte Riley.

"Agent Remsen."

Riley kannte den Namen. Bruce Remsen war aus Quantico versetzt worden, bevor sie wieder zur Arbeit gekommen war.

Dann, nach einer Pause, fügte Bill hinzu, "Ich konnte den Fall nicht lösen."

Riley wusste, was sein Gesichtsausdruck und seine Stimme bedeuteten. Nach Jahren der Freundschaft und Partnerschaft, verstand sie Bill so gut wie kaum jemand. Und sie wusste, dass er von sich selbst enttäuscht war.

Flores rief die Fotos der nackten Rücken der Mädchen auf, die der Gerichtsmediziner gemacht hatte. Die Leichen waren so ausgemergelt, dass sie fast surreal erschienen. Beide Rücken zeigten alte Narben und frische Striemen.

Riley wurde von einem nagenden Unbehagen gepackt. Das Gefühl überraschte sie. Seit wann wurde ihr anders, bei dem Anblick von Leichenfotos.

Flores sagte, "Sie waren beide so gut wie verhungert, bevor ihnen das Genick gebrochen wurde. Sie wurden außerdem brutal geschlagen, vermutlich über einen langen Zeitraum. Die Leichen wurden an den beiden gezeigten Stellen abgelegt. Wir haben keine Ahnung, wo sie tatsächlich getötet worden sind."

Riley versuchte, sich nicht von der wachsenden Unruhe überwältigen zu lassen und dachte über Ähnlichkeiten mit Fällen nach, die Bill und sie in den letzten Monaten aufgeklärt hatten. Der sogenannte "Puppenmörder" hatte seine Opfer an einfach zu findenden Stellen abgelegt und sie dort wie Puppen drapiert. Der "Kettenmörder" hatte seine Opfer in Ketten gewickelt und aufgehängt.

Jetzt zeigte Flores das Foto einer anderen jungen Frau – eine fröhlich aussehende Rothaarige. Daneben war das Foto eines verbeulten, leeren Toyotas.

"Das Auto gehört einer vierundzwanzig Jahre alten, irischen Einwanderin namens Meara Keagan", sagte Flores. "Sie wurde gestern Morgen vermisst gemeldet. Ihr Auto wurde verlassen in der Nähe ihres Wohngebäudes in Westree, Delaware, gefunden. Sie hat dort für eine Familie als Zimmer- und Kindermädchen gearbeitet.

Jetzt sprach Spezialagent Brent Meredith. Er war ein respekteinflößender, großer Afroamerikaner mit kantigen Gesichtszügen und geradlinigem Auftreten.

"Sie hat vorgestern um elf Uhr Abends ihre Schicht beendet", sagte Meredith. "Das Auto wurde früh am nächsten Morgen entdeckt."

Der leitende Spezialagent Carl Walder lehnte sich in seinem Stuhl vor. Er war wiederum der Boss von Brent Meredith – ein Mann mit einem sommersprossigen, runden Gesicht und gelockten, kupferfarbenen Haaren. Riley mochte ihn nicht. Sie hielt ihn nicht für sonderlich kompetent. Es half auch nicht, dass er sie schon einmal gefeuert hatte.

"Warum denken wir, dass dieses Verschwinden in Zusammenhang mit den anderen Morden steht?" fragte Walder. "Meara Keagan ist älter als die anderen Opfer."

Jetzt meldete sich Lucy Vargas zu Wort. Sie war eine schlaue, junge Anfängerin mit dunklen Haaren, dunklen Augen und einem ebenso dunklen Teint.

"Sie können es auf der Karte sehen. Keagan ist in dem gleichen Gebiet verschwunden, in dem die beiden Leichen gefunden worden sind. Es könnte Zufall sein, aber das ist eher unwahrscheinlich. Nicht über einen Zeitraum von fünf Monaten und alle so nahe beieinander."

Trotz ihrem zunehmenden Unbehagen, verspürte Riley eine gewisse Befriedigung, als Walder zusammenzuckte. Unabsichtlich hatte Lucy ihn zurechtgewiesen. Riley hoffte, dass er keinen Weg finden würde, um sich später an ihr dafür zu rächen. Walder traute sie solche kleinlichen Schikanierungen zu.

"Das ist korrekt, Agentin Vargas", nickte Meredith. "Wir nehmen an, dass die jüngeren Mädchen entführt wurden, als sie versucht, haben per Anhalter zu fahren. Vermutlich entlang der Bundesstraße, die durch dieses Gebiet läuft." Er zeigte auf eine bestimmte Linie auf der Karte.

Lucy fragte, "Ist per Anhalter zu fahren nicht verboten in Delaware?" Dann fügte sie sofort hinzu, "Auch wenn das natürlich schwierig durchzusetzen ist."

"Da haben Sie Recht", sagte Meredith. "Und es ist nicht einmal eine Autobahn, oder die Hauptverkehrsstraße, also würden Anhalter wahrscheinlich diese nutzen. Der Killer offensichtlich auch. Eine Leiche wurde entlang dieser Straße gefunden und die anderen in weniger als zehn Meilen Entfernung. Keagan wurde etwas sechzig Meilen weiter nördlich auf der gleichen Strecke entführt. Bei ihr hat er einen anderen Köder genutzt. Wenn er seinem üblichen Muster folgt, dann wird er sie festhalten, bis sie kurz vor dem Hungertod ist. Dann wird er ihr das Genick brechen und die Leiche auf gleiche Weise ablegen."

"Das werden wir nicht zulassen", sagte Bill mit gepresster Stimme.

Meredith sagte, "Agenten Paige und Jeffreys, ich will, dass Sie sich sofort des Falles annehmen." Er schob einen Ordner mit Fotos und Berichten über den Tisch in Richtung Riley. "Agentin Paige, hier sind alle Informationen, die Sie benötigen, um auf dem neuesten Stand zu sein."

Riley griff nach dem Ordner. Aber ihre Hand zuckte in einem Anflug von Panik zurück.

Was ist denn los mit mir?

Ihr Kopf schwamm und undeutliche Bilder fingen an vor ihren Augen Form anzunehmen. War das der posttraumatische Stress von dem Peterson Fall? Nein, das war etwas anderes. Etwas vollkommen anderes.

Riley sprang auf und floh aus dem Konferenzraum. Während sie über den Flur zu ihrem Büro eilte, wurden die Bilder schärfer.

Es waren Gesichter – Gesichter von Frauen und Mädchen.

Sie sah Mitzi, Koreen, und Tantra – junge Callgirls, deren seriöse Aufmachung die Erniedrigungen versteckte, sogar vor ihnen selbst.

Sie sah Justine, eine alternde Nutte, an einer Bar über einen Drink gebeugt, müde und verbittert und bereit einen hässlichen Tod zu sterben.

Sie sah Chrissy, durch ihren gewalttätigen Zuhälter-Freund gefangen in einem Bordell.

Und vor allem sah sie Trinda, ein fünfzehn Jahre altes Mädchen, die bereits den Albtraum sexueller Ausbeutung gelebt hatte und sich nicht mehr vorstellen konnte, ein anderes Leben zu haben.

Riley erreichte ihr Büro und klappte auf ihrem Bürostuhl zusammen. Jetzt verstand sie die plötzliche Abscheu. Die Bilder, die sie gesehen hatte, waren ein Auslöser gewesen. Sie hatten die düsteren Zweifel an die Oberfläche gebracht, die sie wegen des Phönix Falles verspürte. Sie hatten einen brutalen Mörder gestoppt, aber sie hatten den Mädchen und Frauen, die sie getroffen hatten, keine Gerechtigkeit gebracht. Die ganze Welt der Ausbeutung blieb unberührt. Sie hatten nicht einmal die Oberfläche angekratzt.

Und jetzt wurde sie auf eine Weise verfolgt und gequält, die sie noch nie erlebt hatte. Das schien ihr schlimmer als die Folgen ihrer Gefangenschaft zu sein. Schließlich konnte sie ihre private Angst und Wut im Boxring lassen. Sie hatte keine Möglichkeit diese neuen Gefühle loszuwerden.

Würde sie in der Lage sein, an einem ähnlichen Fall wie in Phönix zu arbeiten?

Sie hörte Bills Stimme an der Tür.

"Riley."

Sie sah zu ihrem Partner, der ihr einen traurigen Blick zuwarf. Er hielt den Ordner, den Meredith versucht hatte ihr zu geben.

"Ich brauch dich an diesem Fall", sagte Bill. "Es ist persönlich für mich. Es macht mich verrückt, dass ich ihn nicht lösen konnte. Und ich frage mich immer, ob ich nicht richtig bei der Sache war, weil meine Ehe in die Brüche gegangen ist. Ich habe Valerie Bruners Familie kennengelernt. Das sind gute Leute. Aber ich bin nicht in Kontakt geblieben, weil ... na ja, ich habe sie enttäuscht. Ich muss die Sache mit ihnen in Ordnung bringen."

Er legte den Ordner auf Rileys Schreibtisch.

"Schau es dir an. Bitte."

Er verließ Rileys Büro Sie starrte unentschlossen auf den geschlossenen Ordner.

Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste.

Während sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich an etwas von ihrer Zeit in Phoenix. Sie war in der Lage gewesen, ein Mädchen namens Jilly zu retten. Oder zumindest hatte sie es versucht.

Sie nahm ihr Telefon und wählte die Nummer für eine Unterkunft für Teenager in Phoenix, Arizona. Eine vertraute Stimme antwortete.

"Hier ist Brenda Fitch."

Riley war froh, dass Brenda abgenommen hatte. Sie hatte die Sozialarbeiterin bei ihrem letzten Fall kennengelernt.

"Hi, Brenda", sagte sie. "Hier ist Riley. Ich dachte, ich horche mal nach, wie es Jilly geht."

Jilly war ein Mädchen, das Riley vor dem Sexhandel bewahrt hatte – ein schlaksiges, dunkelhaariges, dreizehn Jahre altes Mädchen. Jilly hatte keine Familie, außer ihrem gewalttätigen Vater. Riley rief öfter an, um herauszufinden, wie es Jilly ging.

Riley hörte ein Seufzen von Brenda.

"Es ist gut, dass Sie anrufen", sagte Brenda. "Ich wünschte mehr Leute würden sich kümmern. Jilly ist noch bei uns."

Rileys Stimmung sank. Sie hoffte, dass sie eines Tages anrufen würde und gesagt bekam, dass Jilly von einer liebevollen Pflegefamilie aufgenommen worden war. Heute war nicht dieser Tag. Jetzt machte Riley sich Sorgen.

Sie sagte, "Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, stand die Sorge im Raum, dass Sie sie zurück zu ihrem Vater schicken müssen."

"Oh, nein, das haben wir gerichtlich geklärt. Wir haben sogar eine einstweilige Verfügung erwirkt, damit er sich von ihr fernhält."

Riley seufzte erleichtert auf.

"Jilly redet immerzu über Sie", sagte Brenda. "Würden Sie gerne mit ihr reden?"

"Ja. Bitte."

Brenda setzte Riley in die Warteschleife. Riley fragte sich plötzlich, ob das wirklich eine so gute Idee war. Jedes Mal, wenn sie mit Jilly sprach, fühlte sie sich danach schuldig. Sie konnte nicht genau sagen, woher das Gefühl kam. Schließlich hatte sie Jilly vor einem Leben der Ausbeutung und Misshandlung bewahrt.

Aber für was habe ich sie gerettet? Welche Art von Leben stand Jilly jetzt bevor?

Sie hörte Jillys Stimme.

"Hey, Agentin Paige."

"Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht so nennen sollst?"

"Sorry. Hey, Riley."

Riley lachte leise.

"Selber hey. Wie geht es dir?"

"Okay, denke ich."

Ein Schweigen folgte.

Typisch Teenager, dachte Riley. Es war immer schwer, Jilly zum Sprechen zu bringen.

"Was machst du so?" fragte Riley.

"Wache gerade erst auf", antwortete Jilly und klang müde. "Gleich geht's zum Frühstück."

Riley erinnerte sich erst jetzt daran, dass es in Phönix drei Stunden früher war.

"Es tut mir leid, dass ich so früh anrufe", sagte Riley. "Ich vergesse immer wieder den Zeitunterschied."

"Ist okay. Nett, dass du anrufst."

Riley hörte ein Gähnen.

"Gehst du heute zur Schule?" fragte Riley.

"Ja. Sie lassen uns dafür jeden Tag aus dem Knast."

Das war Jillys Running Gag, die Unterkunft "Knast" nennen, als wäre es ein Gefängnis. Riley fand es nicht sonderlich lustig.

Sie erwiderte, "Na, dann lasse ich dich mal zum Frühstück gehen und dich fertig machen."

"Hey, warte noch einen Moment", sagte Jilly.

Wieder folgte ein Schweigen. Riley dachte, dass sie ein unterdrücktes Schluchzen von Jilly hörte.

"Niemand will mich Riley", stieß Jilly dann hervor. Sie weinte leise. "Die Pflegefamilien sehen immer über mich weg. Sie mögen meine Vergangenheit nicht."

Riley war erstaunt.

Ihre "Vergangenheit"? dachte sie. Meine Güte, wie kann denn eine Dreizehnjährige eine "Vergangenheit" haben? Was ist nur los mit den Leuten?

"Das tut mir leid", sagte sie laut.

Jilly sprach verhalten durch ihre Tränen.

"Es ist irgendwie ... na ja, du weißt, es ist ... ich meine, Riley, es scheint so, als wärst du die einzige, die sich etwas aus mir macht."

Rileys Kehle wurde eng und ihre Augen stachen. Sie konnte nicht antworten.

Jilly sagte, "Kann ich nicht bei dir wohnen? Ich mache auch nicht viele Umstände. Du hast eine Tochter, oder? Sie könnte wie meine Schwester sein. Wir könnten aufeinander aufpassen. Ich vermisse dich."

Riley fiel es schwer zu sprechen.

"Ich ... Ich glaube nicht, dass das möglich ist, Jilly."

"Warum nicht?"

Riley war fassungslos. Die Frage traf sie wie eine Kugel mitten ins Herz.

"Es ist einfach ... nicht möglich", sagte Riley.

Sie konnte Jilly leise weinen hören.

"Okay", sagte Jilly niedergeschlagen. "Ich muss jetzt zum Frühstück gehen. Tschüss."

"Tschüss" sagte Riley. "Ich rufe bald wieder an."

Sie hörte ein Klicken, als Jilly den Anruf beendete. Riley beugte sich über ihren Schreibtisch, die Tränen an ihrem Gesicht herunterlaufend. Jillys Frage hallte ihr immer wieder durch den Kopf.

"Warum nicht?"

Es gab tausend verschiedene Gründe. Sie hatte schon mit April alle Hände voll zu tun. Ihre Arbeit war aufreibend, sowohl was die Zeit, als auch ihre Energie anging. Und war sie überhaupt dafür qualifiziert oder darauf vorbereitet, sich mit den psychologischen Schäden auseinanderzusetzen, die Jilly erlitten hatte? Natürlich war sie das nicht.

Riley wischte sich über die Augen und setzte sich auf. In Selbstmitleid zu versinken würde niemandem helfen. Es war Zeit wieder an die Arbeit zu gehen. Dort draußen starben Mädchen und die brauchten sie.

Sie nahm den Ordner und öffnete ihn. Sie fragte sich, ob es an der Zeit war, an den Ort des Geschehens zurückzukehren.

 

KAPITEL DREI

 

Scratch saß auf der Hollywoodschaukel seiner Veranda und beobachtete die Kinder, die in ihren Halloweenkostümen unterwegs waren. Normalerweise genoss er die "Süßes oder Saures"-Tradition. Aber dieses Jahr schien es eine bittersüße Angelegenheit zu sein.

Wie viele dieser Kinder werden in ein paar Wochen noch leben? fragte er sich.

Er seufzte. Wahrscheinliches keines von ihnen. Der Tag rückte immer näher und niemand achtete auf seine Nachrichten.

Die Hollywoodschaukel knarzte. Ein leichter, warmer Regen fiel und Scratch hoffte, dass die Kinder sich nicht erkälten würden. Er hatte einen Korb mit Süßigkeiten auf dem Schoß und er war sehr großzügig. Es wurde spät und bald würden keine Kinder mehr unterwegs sein.

In seinem Kopf beschwerte sein Großvater sich noch immer, auch wenn der griesgrämige, alte Mann schon vor Jahren gestorben war. Und es machte auch keinen Unterschied, dass er jetzt erwachsen war. Er würde nie von den Kommentaren des alten Mannes frei sein.

"Sieh dir den da an, in dem Umhang und der schwarzen Plastikmaske", sagte Großvater. "Nennt der das etwa ein Kostüm?"

Scratch hoffte, dass er und sein Großvater sich nicht wieder streiten würden.

"Er ist als Darth Vader verkleidet, Großvater", sagte er.

"Mir ist egal, was zur Hölle er darstellen soll. Das ist ein billiges, gekauftes Kostüm. Wenn ich dich zum "Süßes oder Saures" begleitet habe, dann habe ich auch immer ein Kostüm für dich gemacht."

Scratch erinnerte sich an diese Kostüme. Um ihn in eine Mumie zu verwandeln, hatte Großvater ihn in zerrissene Bettlaken gewickelt. Um aus ihm einen Ritter in glänzender Rüstung zu machen, hatte Großvater ihn in einen sperrigen Pappkarton gesteckt, der mit Aluminiumfolie beklebt war und er hatte eine Lanze getragen, die aus einem Besenstiel bestand. Die Kostüme von Großvater waren immer einfallsreich gewesen.

Trotzdem erinnerte Scratch sich nicht gerne an diese Halloweens. Großvater würde immer fluchen und sich beschweren, während er ihn in diese Kostüme verfrachtete. Und wenn Scratch wieder nach Hause kam ... dann fühlte er sich für einen Moment wieder wie ein kleiner Junge. Er wusste, dass Großvater immer Recht hatte. Scratch verstand nicht immer warum, aber das war egal. Großvater hatte Recht und er hatte Unrecht. So war es nun einmal. So war es schon immer gewesen.

Scratch war erleichtert gewesen, als er zu alt dafür wurde, von Haus zu Haus zu ziehen. Seitdem konnte er auf der Veranda sitzen und Süßigkeiten an die Kinder verteilen. Er freute sich für sie. Er war froh, dass sie ihre Kindheit genießen konnte, auch wenn es bei ihm anders gewesen war.

Drei Kinder kamen die Veranda herauf. Ein Junge war als Spiderman verkleidet, ein Mädchen als Catwoman. Sie sahen aus, als wären sie etwa neun Jahre alt. Das Kostüm des dritten Kindes brachte Scratch zum Lächeln. Ein kleines Mädchen, etwa sieben Jahre alt, trug ein Bienenkostüm.

"Süßes oder Saures!" riefen sie zusammen und stellten sich erwartungsvoll vor Scratch auf.

Er lachte leise und suchte durch den Korb nach Süßigkeiten. Er gab ihnen welche, sie bedankten sich und gingen wieder.

"Hör auf denen Süßes zu geben!" knurrte Großvater. "Wann hörst du endlich auf die kleinen Bastarde zu ermutigen?

Scratch hatte sich Großvater nun seit einigen Stunden schweigend widersetzt. Er würde später dafür bezahlen.

Großvater grummelte noch immer. "Vergiss nicht, wir haben morgen Abend Arbeit vor uns."

Scratch antwortete nicht, sondern hörte einfach dem Knarzen der Hollywoodschaukel zu. Nein, er hatte nicht vergessen, was in der nächsten Nacht anstand. Es war eine dreckige Arbeit, aber sie musste getan werden.

 

*

 

Libby Clark folgte ihrem großen Bruder und ihrer Cousine in die dunklen Wälder, die hinter den Gärten der Nachbarschaft lagen. Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte sich zu Hause in ihr Bett kuscheln.

Ihr Bruder, Gary, führte sie an und leuchtete mit der Taschenlampe. Er sah seltsam aus in seinem Spiderman-Kostüm. Ihre Cousine Denise folgte Gary in ihrem Catwoman-Kostüm. Libby trottete hinter den beiden her.

"Kommt schon ihr beiden", sagte Gary und schob sich weiter.