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Klaus-Rainer Martin

Aus dem Leben gegriffen

5 Kurzgeschichten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Immer wenn ich musiziere, muss ich an Kurt denken

 

Zum ersten Mal im Leben wurde ich mit dem Problem Blindheit konfrontiert.

Mein Cousin Kurt ist dreizehn Jahre älter als ich. 1943 musste er nach Abschluss seiner Lehre als Maschinenschlosser als Achtzehnjähriger in den Krieg. Und dabei träumte er davon, einmal Maschinenbauingenieur zu werden. Kurz vor Kriegsende, im Februar 1945 erlitt er eine schwere Verwundung. Eine Granate hatte ihm sein Gesicht völlig zerfetzt. Dabei hat er auch sein Augenlicht verloren. In der Universitätsklinik in Leipzig wurden ihm in mehren Operationen aus dem Gewebe und der Haut aus seinen beiden Oberschenkeln die beiden Wangen, eine Nase ohne Nasenbein, welche nur die beiden Nasenlöcher verdeckte, und Augenhöhlen ohne Wimpern modelliert. Später wurden in die Augenhöhlen Glasaugen eingesetzt. Insgesamt sah Kurt schrecklich aus. So wurde er aus dem Universitätskrankenhaus nach Hause entlassen. Das Schlimmste war: Als Zwanzigjähriger war er für den Rest seines Lebens erblindet. Entsprechend heftig waren seine Gefühlsausbrüche. Seine Mutter konnte es nach wenigen Wochen nicht mehr ertragen. Sie bat ihre Schwägerin, meine Mutter, um Hilfe. Meine Mutter war damals Leiterin der Ortsgruppe „Mutter und Kind“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). In dieser Funktion musste sie häufig jungen Müttern in ihrem Schmerz um den gefallenen Ehemann beistehen. Sie hatte Erfahrung im Umgang mit menschlichem Leid. So zog Kurt bei uns ein.

 

Schon sehr bald vermittelte meine Mutter Kontakt zwischen einem schwer kriegsbeschädigten Musiklehrer und Kurt. Dieser bot Kurt an, ihm das Gitarrespiel beizubringen. Ich wurde als Siebenjähriger dazu verpflichtet, dreimal in der Woche vormittags Kurt zu diesem Musiklehrer zu führen, die Unterrichtsstunde da zu bleiben und ihn nach dem Gitarrenunterricht wieder nach Hause zu begleiten. Da bei uns im Erzgebirge in der sowjetischen Besatzungszone unmittelbar nach Kriegsende kein Schulunterricht stattfand, war das vormittags möglich. Die bisherigen Lehrer, alle ehemalige NSDAP-Mitglieder waren interniert worden und neue, junge Lehrer gab es noch nicht.

 

Und an jedem Nachmittag musste ich Kurt in den Wald begleiten. Wir setzten uns stets unter einen Baum, und Kurt hörte auf jedes Geräusch. Wenn ein Vogel hoch oben im Baum sang, musste ich beschreiben, wie der Vogel aussah, und Kurt riet anhand des Gesangs und meiner Beschreibung, um was für einen Vogel es sich handelte. – So verging der Sommer 1945 und Kurt begann, sich allmählich mit seinem Schicksal abzufinden. Im Herbst, als wir nicht mehr im Wald unter einem Baum sitzen konnten, musste ich Kurt vorlesen, zumeist Klassiker der Weltliteratur. Und Kurt begann damit, sich die Blindenschrift beizubringen. Das ging anfangs auch nicht ohne die Hilfe eines Sehenden. Aber bald war Kurt schon in der Lage, selbst Bücher in Blindenschrift zu lesen. In der Kreisstadt gab es eine Leihbücherei für Blinde. Einmal im Monat begaben wir uns auf die Reise dorthin. Wir waren immer einen ganzen Tag unterwegs.