Heimatkinder 34 – Wenn Kinder ein Geheimnis haben

Heimatkinder –34–

Wenn Kinder ein Geheimnis haben

Roman von Kathrin Singer

»Du mußt den Schläger hier unten festhalten, sonst kannst den Ball ja gar net treffen.«

Christine stellte sich neben ihren Bruder und streckte ihm den Ping-Pong-Schläger zum ­drittenmal in die kleine Patschhand.

»Der Schläger ist zu schwer«, klagte der Bub.

»Er ist net zu schwer, du stellst dich nur so blöd an«, fuhr das Madl ihn an. »Schau, ich halt’ ihn doch auch ganz leicht.« Sie wirbelte mit dem Schläger durch die Luft.

»Du bist aber auch viel größer und älter«, jammerte der Kleine.

»Das stimmt«, gab Christine zu. »Aber mit sechs Jahren hab’ ich auch schon damit spielen können. Und richtig«, fügte sie triumphierend hinzu.

Sebastian schob die Unterlippe vor. »Das glaub’ ich net.«

»Es stimmt aber!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Frag doch den Papa.«

»Ich frag ihn aber net, bätsch!« Schnell streckte der Bub die Zunge heraus, und Christine gab ihm eine leichte Watschen.

»Immer mußt du mich hauen«, heulte Bastian, wie er zärtlich genannt wurde. »Du bist gemein. Wenn die Mama noch leben würd’…«

»Geh, sei stad!« fuhr die Schwester ihn an. »Ich mag das net hören.«

»Warum net?« Die Tränen des Buben versiegten, er schaute sie aus großen Blauaugen an. »Du vermißt die Mama doch auch, oder?«

Die Augen des Madls brannten. Immer, wenn sie an die Mutter dachte, hätte sie weinen mögen. Aber sie wollte die Tränen zurückhalten, schließlich war sie ja fast schon neun Jahre alt. Da mußte man vernünftig sein. Wenn sie weinte, fing Bastian auch an zu heulen, und dann war es so schwer ihn zu beruhigen.

»Komm, wir gehen auf die Weide«, schlug sie vor. »Der Grauli ist da, wir können versuchen, auf ihm zu reiten.«

»Au ja«, der Kleine war begeistert. Er ließ sich noch sehr schnell ablenken. »Aber ich darf zuerst!« Er begann zu laufen.

»Nein, ich komm’ zuerst!« Christine wollte ihn festhalten, er stolperte und fiel hin. Heulend lag er im Sand und faßte sich an den Arm.

»Hast dir weh getan?« Besorgt beugte das Madl sich zu dem Bruder hinunter. »Komm, laß mich nachschauen.« Sie streifte den Ärmel des Pullovers hoch und untersuchte die Schramme. Bastian weinte still vor sich hin.

Christine setzte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm.

»Ist ja schon gut«, flüsterte sie und wiegte den Bruder sanft hin und her. »Bald tut es nimmer weh.«

In ihren Armen beruhigte sich Bastian. Sein Schluchzen ließ nach, und bald liefen die Kinder weiter, zur Wiese hinter dem Haus, auf dem ein kleiner Esel graste.

Die Szene war beobachtet worden. Elfriede Riedlinger stand in der Küche am Tisch und knetete einen Teig. Dabei schaute sie aus dem Fenster hinaus. Sie drehte sich zu Martin, ihrem Bruder, um, der hinter ihr stand und das Zwischenspiel mit den Kindern auch gesehen hatte.

»Christine ist wie eine Mutter zu unserem Bastian«, sagte sie mit einem zärtlichen Lächeln. »Sie tröstet ihn und nimmt ihn in den Arm…«

»Ja, du hast recht«, mischte sich Martin ein und wandte den Blick vom Fenster ab, als er sah, daß die beiden Kinder weiterliefen. Er seufzte unterdrückt auf. »Manchmal mach’ ich mir Sorgen, ob das Madl net überfordert wird. Sie ist ja selbst noch ein Kind und bemüht sich so sehr, vernünftig zu sein, daß es mir manchmal weh tut. Ach, wenn doch Luise noch lebte.«

»Ja, es ist entsetzlich, daß sie so früh sterben mußte«, seufzte seine Schwester. »Und so ungerecht«, fügte sie leise hinzu.

Martin Riedlinger zuckte mit den Schultern. »Was ist auf dieser Welt schon gerecht«, murmelte er bitter.

Elfriede schaute ihn besorgt an. Es hatte Martin bis ins Herz getroffen, als er damals erfuhr, daß seine über alles geliebte Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Elfriede war sofort, nachdem sie die Unglücksnachricht erfahren hatte, auf den Hof gekommen, um dem Bruder zur Seite zu stehen und den Kindern soviel Liebe und Wärme wie möglich zu geben.

Fast ein halbes Jahr lang war Martin wie betäubt herumgelaufen. In seinem Leid übersah er eine Zeitlang sogar seine Kinder. Aber die sensible Christine, die unter der verzweifelten Trauer des Vaters litt, hatte sich immer wieder bemüht, ihn zu trösten. Bastian war ja noch zu klein, um völlig zu verstehen, daß die geliebte Mama niemals wiederkam.

Und das kleine Madl, ganz und gar Luises Tochter, mit ihrem feinen Blondhaar, den großen blauen Augen und dem liebevollen Wesen, hatte auch den Bruder getröstet. War sie nicht wirklich zu kurz gekommen? Hatte der Schatten, der über ihrer Kindheit lag, ihr Leben nicht zu sehr verdüstert?

»Martin, du solltest wieder heiraten«, sagte Elfriede plötzlich.

Er winkte ab. »Ich will net. Es gibt keine Frau, die sich mit Luise vergleichen läßt.«

»Ja, ich weiß«, antwortete die Schwester ruhig. »Aber es gibt Frauen, die dich lieben würden und deinen Kindern eine gute Mutter sein werden. Schau, ich mache mir solche Sorgen. In vierzehn Tagen verlass’ ich euch und dann…« Sie seufzte.

»Du hast ein Recht auf ein eigenes Leben, Schwester«, sagte Martin und legte den Arm um ihre Schultern. »Mach dir um uns keine Sorgen. Ich hab’ schon mit der Lisa Bruckner gesprochen. Sie wird kommen, uns den Haushalt führen und auf die Kinder achten. Christine und Bastian haben Lisa gern.«

»Ja, sie ist schon ein feines Madl«, stimmte Elfriede zu. »Ich bin froh, daß sie auf den Hof kommen und euch helfen wird.« Sie seufzte und schaute wieder nachdenklich auf den Hof hinaus. »Aber eine Haushälterin ist nun einmal etwas anderes als eine Ehefrau.«

»Ich kann net gegen meinen

Willen heiraten, nur um die Kinder zu versorgen«, sagte Martin schroff. »Deshalb müssen wir eben mit einer Haushälterin vorliebnehmen.«

»Ja, das sehe ich schon ein.« Elfriede zuckte mit den Schultern. »Gern geh’ ich net fort«, fügte sie hinzu. »Eigentlich hab’ ich ein schlechtes Gewissen, daß ich euch jetzt allein lass’.«

»Du gehst und heiratest deinen Peter«, erwiderte Martin fest und lächelte die Schwester an. »Er wartet viel zu lange auf dich. Ich bin egoistisch gewesen«, fuhr er nachdenklich fort. »Zwei Jahre bist du nun schon auf unserem Hof und hast fast völlig auf die Erfüllung deiner Wünsche verzichtet, um mir und den Kindern zu helfen. Jetzt wird es Zeit, daß du deinen eigenen Weg gehst. Der Peter ist ein sympathischer Mann. Ich bin sicher, daß du mit ihm glücklich wirst. Du wirst eigene Kinder haben, Elfriede.«

»Werd’ ich net immer daran denken müssen, was Christine und Bastian entgeht, wenn ich ein eigenes Kind in den Armen halt’…?«

»Die Beiden haben mich«, erklärte Martin mit traurigem Lächeln. »Ich kann ihnen zwar net die Mutter ersetzten, aber ich hab’ sie lieb. Sie stehen ja net ganz allein auf der Welt.«

»Ja, Gott sei Dank«, meinte Elfriede. »Aber ich mache mir auch Sorgen um dich, Bruder. Du bist noch zu jung, um dich zu vergraben und nur für die Kinder zu leben.«

»Bitte, Elfriede, laß uns jetzt dieses Thema beenden. So ungern ich dich verliere, ich bin doch froh, daß du glücklich werden wirst. Um uns mach dir keine Sorgen. Wir werden es schon schaffen.«

Er lächelte ihr noch einmal zu. Doch das Lächeln war nur in den Mundwinkeln zu erkennen, die Augen erreichte es nicht. Dann verließ er die Küche.

Die junge Frau knetete weiter den Teig. Armer Bruder, dachte sie traurig, ich hoffe ja so sehr, daß auch du noch einmal glücklich wirst.

*

»Tante Elfriede hat wunderschön ausgeschaut«, seufzte Christine und kuschelte sich in den Autositz.

»Ja, das hat sie.« Martin steuerte den Wagen geschickt durch den Stadtverkehr.

Bastian zappelte hin und her. »Warum durfte ich kein weißes Kleiderl anziehen?« maulte er.

»Du bist doch ein Bub«, wies die Schwester ihn zurecht. »Der Papa hat auch ein Anzug angehabt. Und er hat schön ausgesehen«, fügte sie stolz hinzu.

»Warum hat er denn keinen weißen Anzug getragen?« fragte Sebastian neugierig. »Müssen Männer immer schwarze Sachen anziehen?« Er runzelte die Stirn. »Ist eine Hochzeit so was wie eine Beerdigung?«

Martin zuckte zusammen. »Nein, Bastian, natürlich net«, erwiderte er hastig. Schon zu früh war der Bub mit dem Tod in Berührung gekommen. »Die Tante Elfriede hat den Onkel Peter lieb«, erklärte er, »deshalb haben sie geheiratet. Nun werden sie zusammen leben…«

»Hast du die Mama auch geheiratet?« fragte der Bub mit großen Augen.

»Natürlich«, fuhr die Schwester ihn an, »sonst wären wir doch net da!«

»Ach, du meinst, die Tante Elfriede kriegt jetzt auch einen Buben und ein Madl?«

Christine nickte.

»Ja, bestimmt.«

»Dann können die mit uns spielen«, meinte Bastian vergnügt.

Die Schwester seufzte tief auf. »Du bist dumm, Bastian«, rügte sie ihn. »Die sind doch noch gar net geboren. Und wenn sie zur Welt kommen, dann sind sie viel zu klein, um mit uns zu spielen.«

»Aber sie werden doch größer«, wandte der Bub ein. »Dann sind sie genauso alt wie wir.«

»Das geht net«, behauptete die Schwester.

»Was geht net?« Sebastian wurde ärgerlich. Er hob seine kleine Hand und hielt den Daumen der anderen dazu. »Ich bin jetzt sechs Jahre. Und in sechs Jahren ist Tante Elfriedes Kind genauso alt wie ich.«

»In sechs Jahren bist du zwölf, du Depp.« Christine gab ihm einen leichten Stoß in die Seite.

»Ich bin kein Depp«, schluchzte Bastian und haute zurück. »Papa, ich bin doch schlau, net wahr? In sechs Jahren ist man sechs und net zwölf. Die Christine ist gemein!«

»Nein, sie ist net gemein, Bastian«, erklärte Martin lächelnd.

»Sie hat schon recht. Du mußt die Jahre immer dazuzählen.«

»Sie hat mich geboxt«, sagte der Bub widerstrebend. »Sie ist doch gemein, und das hat nix mit dem Zählen zu tun.«

»Ich kann es halt net leiden, wenn du so dummes Zeug redest«, verteidigte sich die Schwester.

»Christinerl, bitte, sei net so bös’ mit ihm«, bat Martin, »er ist doch noch so klein.«

»Ja, aber manchmal…«, brauste das Madl auf, »da geht er mir so auf die Nerven!«

Martin lachte. »Wo hast denn diesen Ausdruck her?«

»Das sagt die Vroni Weghofer immer.« Christine äffte die hohe, schrille Stimme der Krämersfrau aus dem Dorf nach. »Kinder gehen mir auf die Nerven. Gehen wir dir auch auf die Nerven, Papa?« fragte sie ein wenig ängstlich.

»Nein, Liebes.« Martin lächelte. »Ich hab’ euch doch lieb, wie könntet ihr mir da auf die Nerven gehen.«

»Ist das etwas Schlimmes?« mischte Bastian sich ein. »Warum sagt die Tante Vroni das immer?« Der Bub sagte noch zu allen im Dorf Tante und Onkel.

»Weil sie keine eigenen Kinder hat«, erklärte Martin.

»Aber Tante Elfriede hat auch keine Kinder und keine Nerven«, meinte der Bub triumphierend.

»Tante Elfriede ist auch anders als die Frau vom Krämer.« Das Madl setzte sich gerade hin.

»Warum ist sie anders?«

Christine schaute ihren Bruder ärgerlich an. Sie konnte es nicht leiden, wenn er Fragen stellte, die sie nicht beantworten konnte.

»Warum ist sie anders?« wiederholte Bastian seine Frage.

»Alle Menschen sind anders«, sagte der Vater. »Das ist nun einmal so, Bastian.«

»Ist das gut?«

Martin lachte.

»Ja, ich denk’ schon. Wenn wir alle gleich wären, wär’ es langweilig.«

»Aber ich bin so wie die Mama«, behauptete Christine stolz. »Das hat Tante Elfriede immer gesagt. Und ich hab’ auch gehört, wie sie im Dorf geredet haben. Christine ist wie ihre Mutter, haben sie immer gesagt und mir über den Kopf gestreichelt. Ich mag es net, wenn man mir über den Kopf streichelt«, fuhr sie heftig fort.

»Warum net?« Bastian war neugierig.

»Darum net«, gab Christine schnippisch zurück. Sie wandte sich an den Vater. »Gell, Papa, ich bin wie die Mama!«