cover-imageToedl.png

Silvia Stolzenburg

TÖDLICHE Verdächtigungen

Kriminalroman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.

Copyright © 2016 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2016

Lektorat: Dorothée Engel

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

ISBN 978-3-95669-070-9

www.bookspot.de

Widmung

Für Eumel, das unendliche Blau und
die wundervollen Lügen meiner Kindheit

Kapitel 1

Stuttgart, 7. November 2015

»Roland! Hallo, Roland! Wo steckst du?«

Marilene Hübner drückte zum dritten Mal den Klingelknopf der Villa im Herdweg, deren Giebel und Erker vom dichten Nebel fast verschluckt wurden. Das verwaschene Licht der Straßenlaternen schaffte es kaum, die Nacht zu erhellen, und Marilene zog fröstelnd die Schultern hoch. Fast fünf Minuten stand sie jetzt schon hier draußen herum. Als es just in diesem Moment anfing zu nieseln, unterdrückte sie eine Verwünschung. Sie zog die Kapuze über den Kopf und stakste auf Zehenspitzen über den schlammigen Rasen bis zu einem der beiden Ecktürmchen. In keinem der von hier aus sichtbaren Fenster brannte Licht. Doch das hieß nicht viel bei Roland. Mehr als einmal hatte Marilene ihn schon in der Dunkelheit sitzend angetroffen – vor sich hin starrend, stocksteif wie eine Salzsäule. Er war einfach ein schräger Vogel. Dass er sie zu den unmöglichsten Uhrzeiten zu sich hinbestellte, um etwas mit ihr zu besprechen, ärgerte sie schon lange nicht mehr. So war er eben, daran hatte sie sich längst gewöhnt. Obwohl sie vor Nervosität zitterte, glaubte sie nicht, dass er … Sie schüttelte den Kopf, ging zurück zur Vordertür und benutzte den altmodischen Fußabstreifer an der Treppe, um den Schlamm von ihren Sohlen zu kratzen.

»Roland!« Anstatt erneut zu klingeln, hämmerte sie mit der Hand gegen die antik wirkende Holztür. Sie zog erstaunt die Brauen hoch, als diese nach innen aufschwang. Hatte Roland die Tür für sie offen gelassen? Oder steckte er mal wieder so in der Arbeit, dass er alles um sich herum vergaß – einschließlich ihrer Verabredung? Vermutlich war es so, so dass sie achselzuckend das Haus betrat und ihren Mantel an die Garderobe in der Diele hängte. Sie drückte den Lichtschalter, ordnete ihr Haar vor einem halb blinden Spiegel und rief ein weiteres Mal: »Roland!«

Keine Antwort.

Mit einem Seufzen steuerte sie auf die Treppe mit den ausgetretenen Stufen zu, die in die oberen Stockwerke der Villa führte. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche und das geräumige Wohnzimmer des Malers. Da er Marilene jedoch nicht gehört zu haben schien, war sie fast sicher, dass er sich in seinem Atelier im ausgebauten Dachstuhl aufhielt.

Am Treppenabsatz angekommen, rümpfte sie die Nase. Es roch feucht und modrig, als hätte Roland mal wieder tagelang nicht gelüftet. Das Haus war zwar in einem guten Zustand, dennoch drang die Feuchtigkeit des Kellers immer wieder durch den alten Dielenboden. Sie ignorierte den unangenehmen Geruch und machte sich auf den Weg hinauf ins Atelier. Bereits im ersten Stockwerk stach ihr die Verdünnung, mit der Roland seine Pinsel auswusch, in die Nase.

»Roland?« Sie zog die Schiebetür auf und betrat den Raum, in dem mehrere Halogenscheinwerfer für eine indirekte Beleuchtung sorgten. Auf einem halben Dutzend Staffeleien warteten Bilder auf ihre Fertigstellung. Doch es war die riesige Leinwand, die der Maler mit einem Holzrahmen an einer der Stirnwände befestigt hatte, die Marilenes Blick auf sich zog. Zahllose Rottöne tanzten einer Feuersbrunst gleich durcheinander, vermischten sich im Auge des Betrachters mit gelben und orangefarbenen Tupfern. Jedes Mal, wenn Marilene das Gemälde ansah, dachte sie, das Tosen eines gewaltigen Feuers zu hören. Es hatte eine beinahe hypnotische Wirkung. Egal aus welchem Winkel man das Bild betrachtete, die Flammen schienen lebendig zu sein und züngelnd nach jedem zu lecken, der ihnen zu nahe kam. Noch war es nicht fertig gestellt, da Roland seit Tagen nach einem ganz bestimmten Farbton suchte. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, dachte Marilene und riss sich von dem faszinierenden Gemälde los.

Suchend sah sie sich um. Wo war er bloß? Außer dem einen langgestreckten Raum mit den Fachwerkbalken gab es nur noch ein kleines Kabuff, in dem er seine Materialien lagerte.

Auch dort brannte Licht.

»Roland! Gib doch endlich ein Lebenszeichen von dir!«, schimpfte sie.

Es rumpelte in der Kammer. »Ich bin hier drin«, hörte sie es gedämpft rufen.

Meine Güte! Manchmal war er schlimmer als ein kleines Kind! Marilene verdrehte die Augen und suchte sich einen Weg durch die Farbeimer und Paletten. Als sie über ein Stück Rahmenholz stolperte, fluchte sie leise. »Was gibt es denn?«, fragte sie, nachdem sie sich zu der Tür durchgekämpft hatte. »Ich hab heute Abend noch eine Verabredung.« Sie duckte sich und schlüpfte in die Kammer.

»Das hat ja ewig gedauert«, empfing sie der Mann, der auf sie wartete.

Marilene sah das Messer in seiner Hand aufblitzen und stieß einen schrillen Schrei aus.

Es war zu spät, zu fliehen.

Mit einem einzigen langen Schritt war er bei ihr und setzte ihr die Klinge an die Kehle.

Kapitel 2

Tübingen, 8. November 2015

Das Klingeln des Telefons riss Anna Benz aus dem Schlaf. Lautstark und nervtötend röhrte ihr Handy Smells Like Teen Spirit von Nirwana – den Klingelton, den sie ihrem Vater, Roland Kirchberger, zugeordnet hatte.

»Scheiße«, murmelte sie, drehte sich auf die andere Seite und drückte das Kopfkissen aufs Ohr. Vor dem Fenster herrschte noch stockfinstere Nacht und sie hatte nicht vor, an diesem Sonntag vor den Vögeln aufzustehen. Falls es überhaupt noch Vögel in Tübingen gab und sich nicht alle in den warmen Süden verdrückt hatten. Wenn sie könnte, würde sie es ihnen nachmachen. Der verdammte Nebel ging ihr allmählich auf den Wecker, genau wie das triste Grau und Braun. Nur noch vereinzelt leuchteten bunte Blätter an den Bäumen. Aber auch die ließen immer mehr die Köpfe hängen. Bald würde es anfangen zu schneien und Anna konnte sich wieder jeden Morgen den Arsch abfrieren, bis ihr Audi endlich warm wurde.

Das Handy hörte auf zu klingeln.

Nur um sofort wieder anzufangen.

»Geh doch ran«, brummte Jens, ihr Mann. Er stupste sie in die Seite, als sie lediglich ein Grunzen von sich gab.

Smells Like Teen Spirit verstummte erneut. Dann legte das Telefon noch einmal los.

»Mann, es ist mitten in der Nacht!«, motzte Anna. »Was will er denn um diese Uhrzeit?« Sie wickelte sich ärgerlich in ihre Bettdecke und tapste aus dem Schlafzimmer, ohne das Licht anzumachen. Draußen tastete sie nach ihrem Handy und drückte ungehalten auf »Annehmen«.

»Ich hoffe, es ist wichtig«, grollte sie. Seit sie sich vor beinahe einem halben Jahr ein Herz genommen hatte und auf ihren leiblichen Vater zugegangen war, hatte sich ihre Beziehung von steifer Unbeholfenheit auf Annas Seite zu einer beinahe unheimlichen Vertrautheit entwickelt. Auch wenn sie bis vor eineinhalb Jahren nicht einmal etwas von seiner Existenz gewusst hatte, waren sie sich inzwischen näher als Anna ihrer Mutter jemals gewesen war. Der Frau, die ihren damaligen Schüler, Roland Kirchberger, im zarten Alter von siebzehn Jahren verführt hatte.

»Anna, du musst sofort kommen«, keuchte es ihr ins Ohr. Er klang benebelt.

»Was ist los?«, fragte sie ungehalten. »Hast du schon wieder deine Pillen abgesetzt?«

»Nein. Ja. Das ist nicht wichtig!«

Sie hörte, wie er um Atem rang.

»Das ist schon wichtig!«, brauste sie auf, nahm sich aber sofort wieder zusammen. »Warst du joggen? Du klingst abgehetzt.«

»Es ist alles …, alles rot!«, stammelte er. Seine Stimme überschlug sich. »Sie ist tot. Glaube ich.«

Mit jedem Wort hörte es sich mehr danach an, als sei er betrunken oder high.

»Wer ist tot?«, fragte Anna. Halluzinierte er? Hatte Dr. Heinemann nicht gesagt, dass es vorkommen könnte, dass jemand mit seinem Krankheitsbild Wahnvorstellungen hatte? Vor allem, wenn er seine Medikamente absetzte? Und das war leider immer wieder der Fall, wenn Roland sich in einer Schaffensphase befand. Auch wenn sein Arzt ihm davon abriet, befolgte er diesen Rat nur selten. Seiner Ansicht nach raubten ihm die Tabletten die Kreativität, fesselten seine Sinne, wie er es ausdrückte.

»Anna! Bitte! Kannst du kommen?« Er gab einen Laut von sich, der verdächtig nach einem Schluchzen klang.

Die Sorge um ihn verdrängte allmählich Annas Unmut. Roland konnte zwar eine Nervensäge sein, aber er bedeutete ihr inzwischen mehr als sie jemals für möglich gehalten hätte. Schon bei ihrer ersten Begegnung war etwas zwischen ihnen gewesen, das Jens im Nachhinein als »gruselig« beschrieben hatte. »Das war fast so, als ob wir uns schon ewig kennen würden«, hatte er gesagt.

Anna knipste das Licht an und setzte sich mitsamt Decke auf den Boden. »Roland, atme erst mal tief durch«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Und dann erzähl mir, was genau passiert ist. Wer ist tot?«

»Ich …«

Anna hörte im Hintergrund Dielen knarren. Entweder befand sich noch jemand mit ihm im Raum oder er tigerte rastlos auf und ab.

»Marilene!«, sagte er schließlich. »Oh, Gott, Marilene! Sie ist tot. Du musst sofort kommen!« Mit diesen Worten legte er auf und ließ Anna fassungslos auf dem Boden sitzend zurück.

»Was ist denn?« Jens erschien im Türrahmen und blinzelte in das Licht der Stehlampe.

»Das ist eine verdammt gute Frage«, erwiderte Anna und fasste das wirre Gespräch zusammen.

»Marilene? Seine Galerieassistentin?«

Anna nickte gedankenverloren. »Ja.«

»Ähm.« Jens kratzte sich am Kopf, der – wie immer – glatt rasiert war.

»Ich weiß, was du denkst«, seufzte Anna. »Geht mir nicht anders.« Sie warf das Handy auf einen Sessel und kam auf die Beine. »Aber ich kann ihn jetzt nicht im Stich lassen. Er schien ziemlich durch den Wind zu sein.«

»Meinst du nicht, dass er sich das zusammenspinnt?« Jens zog skeptisch die Brauen hoch. »Wie neulich, als er behauptet hat, dass ihm jemand nachspionieren würde?«

Anna zuckte die Achseln. »Du weißt, wie er ist, wenn er malt. Ich wünschte auch, er würde nicht dauernd die Pillen absetzen. Aber dann wäre er vielleicht nicht so gut.«

Jens zog die Oberlippe zwischen die Zähne. »Gut ist er schon«, gestand er ein.

Das war eine Untertreibung. Denn erst vor zwei Monaten hatte Roland Kirchberger einen der höchstdotierten Kunstpreise der Welt gewonnen. Seine Bilder wurden inzwischen in Galerien auf der ganzen Welt zu Irrsinnspreisen verkauft.

Anna seufzte. »Jetzt bin ich sowieso schon wach. Da kann ich genauso gut zu ihm fahren.«

Jens gähnte und reckte sich. »Soll ich mitkommen?«

Anna winkte ab. »Ach was. Geh wieder ins Bett. Das dauert sicher nicht lange. Wenn ich zurück bin, frühstücken wir in aller Ruhe.«

»Wenigstens war es nicht die Dienststelle«, stellte Jens fest.

Anna hatte an diesem Wochenende Bereitschaft. Allerdings war sie im Moment nicht sicher, was ihr lieber gewesen wäre: ein Anruf vom PvD, dem Polizeiführer vom Dienst, oder der Anruf von Roland.

Während Jens wieder ins Bett kroch, ging sie ins Bad und machte eine Katzenwäsche. Dann schlüpfte sie in Jeans, T-Shirt und ein dickes Fleece, schnappte sich ihre Windjacke und stieg wenig später in ihren Audi. Da die Straßen um diese Uhrzeit vollkommen verwaist waren, dauerte es – trotz des dichten Nebels – nicht mal eine Dreiviertelstunde, bis sie vor Rolands Villa parkte. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 5:38 an, als sie ausstieg und zum Eingang rannte.

Die Tür war nur angelehnt. Das Erdgeschoss lag im Dunkeln, aber im ersten Stock schien Roland alle Lichter angeknipst zu haben.

»Roland?«, rief Anna.

»Hier oben!«

Sie hörte seine Schritte über ihrem Kopf. Kurz darauf tauchte er auf dem Treppenabsatz auf. Selbst aus der Entfernung war ihm anzusehen, wie verstört er war. Die dunklen Augen glänzten fiebrig und seine Hände kneteten das bereits vollkommen zerknitterte Hemd, in dem er steckte. Sein halblanges, dunkles Haar stand wirr vom Kopf ab – als wäre er gerade erst aufgestanden. Sein Gesicht war so bleich, dass der Dreitagebart wie aufgemalt wirkte. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

Anna nahm je zwei Stufen auf einmal. Bei Roland angekommen, sah sie entsetzt, dass es sich bei dem, was sie von unten für ein Muster auf seinem Hemd gehalten hatte, um rote Farbe oder Schlimmeres zu handeln schien. Seine Verzweiflung war so deutlich zu spüren, dass sie augenblicklich ein Gefühl der Beklemmung überkam. »Ist das …?« Sie zeigte auf sein Hemd.

Er nickte. »Ich hab sie angefasst.« Sein Schlucken war deutlich zu hören in der Stille des Hauses. Seine Aussprache war immer noch schwammig. Alle paar Sekunden fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen und wischte sich mit dem Handrücken eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht.

Anna schob sich an ihm vorbei und zog mehrmals die Luft durch die Nase ein. Kein Zweifel: Außer dem beißenden Geruch von Verdünnung lag noch etwas anderes in der Luft. Etwas, das Anna nur zu gut kannte. Verdammt!, dachte sie. Er hatte sich die Sache offenbar doch nicht nur zusammengesponnen.

Mit einem zentnerschweren Gewicht in der Magengegend fragte sie. »Wo ist sie?«

Roland zeigte mit einem zitternden Finger auf die Treppe, die ins Dachgeschoss führte. »Oben.« Es war kaum mehr als ein Flüstern.

Ohne auf ihn zu warten, sprintete Anna die Stufen hinauf und blieb auf der Schwelle des Ateliers wie angewurzelt stehen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Mitten im Raum lag eine Gestalt, die man auf den ersten Blick für eine Schaufensterpuppe hätte halten können. Ihre Glieder waren seltsam verdreht, die Haut wächsern und kreideweiß bis auf die bläulich-roten Totenflecken. Sie lag mit einer Wange in einer riesigen Blutlache. Ihre Kleider hatten sich bereits mit Blut vollgesogen. Über ihr prangte Rolands aktuelles Werk. Die Wand, an der die Feuersbrunst hing, ein Teil der Holzdecke und drei der anderen Bilder waren mit Blutspritzern besudelt. Ein wildes Durcheinander von blutigen Schuhspuren führte durch den Raum, und erst jetzt fiel Anna auf, dass auch die Treppenstufen Schuhabdrücke aufwiesen. Als sie sich umdrehte, um die Spur zu verfolgen, fiel ihr Blick auf Roland. Der stand mit angstvollem Blick am Fuß der Treppe und wippte auf den Fersen auf und ab wie ein Kind.

Obwohl Anna den Drang verspürte, sich die Tote genauer anzusehen, wusste sie, dass sie den Tatort auf keinen Fall verändern durfte. Als ihr Blick auf einen großen Pinsel neben der Leiche fiel, holte sie entsetzt Luft. Hatte Roland etwa …? Ihr Blick wanderte weiter zu dem großen Bild und blieb an einigen glänzenden Stellen haften. »Oh, Gott!« Plötzlich schien sich der Raum um sie zu drehen. Auf schwachen Beinen trat sie den Rückzug an und war wenig später wieder an Rolands Seite. »Was hast du getan?«, fragte sie tonlos.

Roland schwankte auf der Stelle wie ein Grashalm im Wind. Mit einer Hand massierte er sich die Schläfe, während sich die andere immer wieder öffnete und zur Faust ballte.

»Hast du sie getötet?« Annas Stimme klang schrill. Als Roland keine Antwort gab, fasste sie ihn bei den breiten Schultern und schüttelte ihn.

Er leistete keinerlei Widerstand.

»Hast du sie getötet, um an ihr Blut zu kommen?«, krächzte sie. »War das der Rotton, der dir noch gefehlt hat?«

Rolands Unterkiefer fing an zu beben.

»Antworte mir, verdammt!«, herrschte Anna ihn an.

Er wich vor ihr zurück. Als er mit dem Rücken gegen die Wand stieß, sackte er in sich zusammen und vergrub auf dem Boden sitzend das Gesicht zwischen den Knien. Nach einigen Sekunden hob er schließlich den Kopf und flüsterte: »Ich weiß es nicht. Gott, ich weiß es doch nicht!«

Kapitel 3

Stuttgart, 8. November 2015

Anna starrte fassungslos auf Roland hinunter. »Du weißt es nicht?«, fragte sie. »Willst du mich verarschen?!«

Er schüttelte schwach den Kopf. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Ich kann mich an nichts erinnern.«

Anna spürte Wut in sich aufsteigen. Solche Geschichten hatte sie schon oft genug von Leuten gehört, die sich dann sehr wohl an das erinnern konnten, was sie getan hatten.

»Du erzählst mir jetzt sofort, was passiert ist«, zischte sie. »Und dann rufst du die Polizei an!« Sie rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht. »Scheiße! Ich sollte überhaupt nicht hier sein!«

Roland schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht sagen, was passiert ist«, murmelte er. »Ich weiß nur, dass ich mit wahnsinnigen Kopfschmerzen aufgewacht bin. Und dann war ich plötzlich im Atelier. Und Marilene …« Er brach den Satz ab.

»Wo warst du?«, fragte Anna.

Er sah sie mit leerem Blick an.

»Warum bist du angezogen? Wie kommt das Blut an dein Hemd? Rede mit mir, verdammt! Hast du ihr Blut auf das Bild geschmiert?«

Roland stöhnte leise. »Ich weiß es nicht«, wiederholte er tonlos.

Anna hatte Mühe, an sich zu halten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Roland unmöglich getan haben konnte, wonach es aussah. Die Fakten ließen allerdings wenig Spielraum für Zweifel. Gott, das durfte doch einfach nicht wahr sein! Warum er? Wieso hier? Warum jetzt? Was zum Teufel war passiert? Hatte Dr. Heinemann nicht gesagt, dass Roland harmlos sei? Dass er, selbst wenn er einen psychotischen Schub hatte, eher ängstlich und getrieben sei bei seiner Art der Wahnvorstellungen? Anna betrachtete das Häuflein Elend, während ihr Gehirn fieberhaft arbeitete. Sie musste das Verbrechen selber melden. Auf keinen Fall konnte sie Roland bei ihren Kollegen anrufen und sich mit irgendwelchem Gerede noch tiefer in die Scheiße reiten lassen. Für ihre Anwesenheit am Tatort würde ihr irgendeine plausible Erklärung einfallen. Nur nicht jetzt. Jetzt musste sie erst einmal dafür sorgen, dass Roland wieder er selbst wurde. »Wo sind deine Tabletten?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln. »Im Bad?« Offenbar wusste er nicht, wo er sie vor sich selbst versteckt hatte.

»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Anna. »Bin gleich zurück.« Während irgendwo tief in ihrem Inneren etwas anfing zu schwingen wie eine Gitarrensaite, stürmte sie in Rolands Bad und durchwühlte das Kästchen unter der Spüle.

Nichts.

Wo hatte er die blöden Dinger hingetan? Sie wusste, dass er sie sogar schon einmal in den Müll gekippt hatte, um ja nicht in Versuchung zu geraten, seinen Schaffensrausch zu unterbrechen. Wie konnte man nur so dämlich sein? Sie sah sich um. Was Rainer Stemmler von der Kriminaltechnik ihr für eine Standpauke halten würde, weil sie seinen Tatort durchwühlte, wollte sie sich im Moment lieber nicht vorstellen. Sie konnte Roland einfach nicht in diesem Zustand mit den Kollegen sprechen lassen. Da die Leiche in seinem Haus lag und er Blut an seinem Hemd hatte, würde er auf jeden Fall als Tatverdächtiger behandelt werden. Auch wenn er es nicht gewesen sein konnte. Durfte! Anna stieß aus Versehen mit dem Ellenbogen gegen einen Zahnputzbecher, der mit einem Scheppern auf den Boden fiel.

»Scheiße!«

»Anna?«

»Bleib, wo du bist!«, rief sie und wühlte sich weiter durchs Bad. Als sie bereits aufgeben wollte, stieß sie unter einem Stapel Handtücher endlich auf eines der Plastikröhrchen mit Rolands Pillen. »Wurde aber auch Zeit«, murmelte sie. Ohne einen weiteren Blick auf das Chaos zu verschwenden, das sie angerichtet hatte, lief sie zurück in den Korridor und hielt Roland das Röhrchen vor die Nase. »Wie viele?«

Er hob zwei Finger. Seine Hand zitterte.

Anna drückte ihm die Tabletten in die Hand. »Brauchst du Wasser?«

Er schüttelte den Kopf.

Als er die Pillen geschluckt hatte, atmete Anna mehrmals tief durch. Dann zückte sie ihr Handy. »Anna Benz hier«, meldete sie sich, als der Polizeiführer vom Dienst abnahm. »Ich bin an einem Tatort. Verdacht auf Tötungsdelikt.« Sie beschrieb die Lage. Roland behielt sie dabei die ganze Zeit im Auge. Dass es sich bei dem Tatverdächtigen um ihren leiblichen Vater handelte, verschwieg sie geflissentlich.

»Alles klar«, sagte der PvD, als sie fertig war. »Ich schicke ein paar Streifenwagen, außerdem zwei KDD-Besatzungen. Du bist als Kommissionsbeamtin vom D11 ja schon vor Ort.«

Anna schielte auf die Uhr. Es war immer noch ziemlich früh. Deshalb würden die Kollegen vom Kriminaldauerdienst erst einmal übernehmen müssen und zusammen mit den Streifenbeamten den Tatort weitläufig absperren und die ersten Befragungen von eventuellen Zeugen durchführen.

»Was ist mit dem Täter?«, fragte der PvD.

»Ein«, sie zögerte kurz, »Zeuge am Tatort, sonst niemand zu sehen. Wie es aussieht, ist das Opfer schon eine ganze Weile tot.« Anna sah aus dem Augenwinkel, dass Roland zusammenzuckte.

»Ich sage Rainer Bescheid«, sagte der PvD, der im FLZ, dem Führungs- und Lagezentrum des Präsidiums, saß.

Anna schnitt eine Grimasse. Rainer Stemmler und seine Kriminaltechniker würden ihr den Kopf abreißen, weil sie durch ihren Tatort gelatscht war.

»Gut. Ich rufe Alex an«, ließ sie den PvD wissen. Ihr Chef, Alex Wolf, würde dann alle verfügbaren Leute zusammentrommeln. »Einen ersten Überblick habe ich mir schon verschafft.«

Sie spürte, dass dem PvD die Frage auf der Zunge lag, die sie fürchtete. Doch er sagte lediglich: »Okay. Soll ich Dr. Schiller auch informieren?«

Da Anna sicher war, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, sagte sie: »Ja. Bea werden wir hier brauchen.« Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, überlegte sie fieberhaft, wie sie ihre Anwesenheit erklären sollte. »Hör zu«, sagte sie schließlich zu Roland. »Du darfst niemandem sagen, dass wir verwandt sind.«

Er hob den Blick und blinzelte.

»Hast du verstanden?«

»Mhm.«

Anna blies die Wangen auf und ließ die Luft durch die gespitzten Lippen entweichen. Das konnte ja heiter werden! »Du hast mich angerufen, weil wir uns aus der Galerie kennen. Ich habe ein Bild von dir gekauft und du wusstest, dass ich bei der Polizei bin.«

Roland nickte. »Woher hatte ich deine Telefonnummer?«

Anna fiel ein Stein vom Herzen. Sein Hirn schien wieder zu funktionieren. »Die hattest du in deinen Kundenunterlagen.«

»Hier?« Roland sah sie skeptisch an.

»In deinem Handy. Kannst du dir das merken?«

Er blinzelte erneut, dann stemmte er sich in die Höhe und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich kann mich nicht erinnern, was heute Nacht passiert ist«, sagte er. »Aber dämlich bin ich nicht.«

Anna lächelte schief. Da war er wieder: der Roland, den sie bei ihrem ersten Treffen kennengelernt hatte, als er die Besucher seiner Vernissage einfach hatte stehen lassen, um auf Anna zuzusteuern wie ein Eisbrecher. »Ich habe mich schon gefragt, wann du wiederkommen würdest«, waren seine ersten Worte gewesen. Direkt, ehrlich, ohne hohle Höflichkeitsfloskeln. Offenbar hatte nicht nur Anna ihn am Tag zuvor in seiner Galerie gesehen. Bevor sie vor lauter Panik die Flucht ergriffen hatte, weil sie doch nicht mehr so sicher war, ob sie ihn wirklich kennenlernen wollte. Auch ihm war sie offenbar aufgefallen und er hatte sofort erkannt, wer sie war. Ohne Umschweife hatte er ihr die Hand hingehalten und sie voller Neugier von oben bis unten gemustert. Für Anna war es die bis dahin verstörendste Begegnung in ihrem ganzen Leben gewesen. Denn auch sie hatte das Gefühl gehabt, ihn schon ewig zu kennen.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, mischte sich Roland in ihre Gedanken ein. »Aber ich glaube, ich war in irgendeinem Club. Oder einer Bar.« Er zuckte mit den Achseln. »Da sind diese Bilder in meinem Kopf.«

»Was hast du da gemacht?«

»Keine Ahnung. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Erinnerungen von heute Nacht sind.« Die Verzweiflung schlich sich zurück in seine Stimme.

Annas Magen knurrte.

»Hast du noch nichts gegessen?«, fragte Roland.

»Wann denn?«

Roland trat auf sie zu. »Ich kann dir was zum Frühstück machen. Ich könnte auch was vertragen.«

Anna schüttelte den Kopf. »Wir sollten besser nichts mehr anrühren, bis meine Kollegen hier sind.« Sie zog ihr Handy wieder aus der Tasche. »Ich rufe kurz Jens an und sag ihm, dass er mit dem Frühstück nicht auf mich zu warten braucht.«

Es dauerte ein Weilchen, bis er ans Telefon ging.

»Bist du auf dem Heimweg?«

Anna hörte, dass er ein Gähnen unterdrückte. »Leider nicht«, sagte sie und erklärte, was sie bei Roland vorgefunden hatte.

»Ach, du liebes bisschen! Ist nicht dein Ernst, oder?«

»Mir wäre es auch lieber, wenn wir beide halluzinieren würden und sich der ganze Schlammassel in Nichts auflösen würde. Aber ich fürchte, daraus wird nichts.«

Jens stöhnte. »Gott, ausgerechnet bei Roland!«

»Meine Worte.« Anna schnaubte. »Ist nur leider nicht zu ändern. Hör mal«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »sprich bitte mit niemandem über Roland und mich. Außer Bea weiß keiner meiner Kollegen …«

»Solltest du denen nicht lieber reinen Wein einschenken?«, warf Jens ein.

»Nein!« Anna war überrascht von ihrer eigenen Heftigkeit. »Ich will den Fall selber bearbeiten«, sagte sie etwas ruhiger. Für die anderen ist sonst sofort klar, dass Roland der Täter ist, setzte sie in Gedanken hinzu.

»Tu, was du für richtig hältst. Ruf mich einfach an, wenn du reden möchtest. Ja?«

»Mach ich«, versprach Anna. Auch wenn sie wusste, dass dafür in den nächsten Stunden vermutlich keine Zeit sein würde. Nachdem sie das Gespräch mit Jens beendet hatte, drehte sie sich wieder zu Roland um. »Hör zu, wenn meine Kollegen hier eintreffen, wird Folgendes passieren.« Während auch der letzte Rest Blut aus seinem Gesicht wich, erklärte sie ihm, was ihn erwartete.

Kapitel 4

Stuttgart, 8. November 2015

Eine Viertelstunde später trudelten die ersten Streifenbesatzungen ein. Kurz darauf erreichten auch die KDDler Rolands Villa.

Anna empfing sie an der Haustür.

»Wieso bist du vor uns hier?«, wollte einer ihrer Kollegen vom Dauerdienst wissen.

»Ich kenne ihn aus seiner Galerie«, erklärte Anna.

Roland stand schweigend im Hintergrund und verfolgte das Geschehen beinahe teilnahmslos.

»Er ist Maler. Ich hab ein Bild von ihm gekauft«, log Anna, als der KDDler sie schief ansah. »Er weiß, dass ich bei der Polizei bin, also bin ich ihm als erste eingefallen, als er die Tote in seinem Atelier vorgefunden hat.« Sie zeigte mit dem Daumen nach oben.

»Er hat die Leiche gefunden?«

»Scheint so«, sagte Anna.

»Aha.« Der Kollege schielte an ihr vorbei auf Rolands Hemd. »Ist das Blut?«, fragte er.

Anna nickte. »Er hat sie wohl angefasst, um zu sehen, ob sie noch lebt«, antwortete sie an Rolands Stelle. »Rainer wird oben auch seine Schuhabdrücke finden. Und meine. Auf der Treppe«, setzte sie hinzu.

»Du bist …?«, hob der KDDler an.

»Ja, ja«, gab Anna zurück. »Ich wusste ja nicht, dass es wirklich ein Tatort ist. Es klang ein bisschen seltsam am Telefon.« Sie wandte sich an die Uniformierten. »Sperrt ihr bitte den Tatort ab und bleibt bei ihm. Wir klingeln derweil die Nachbarn aus dem Bett und fangen an, Fragen zu stellen.« Sie warf Roland einen kurzen Blick zu. Hoffentlich verplapperte er sich nicht!

»Tatwaffe?«, fragte einer der Uniformierten, ein Polizeiobermeister mit einem runden Jungengesicht, knapp.

Anna schüttelte den Kopf. »Hab ich auf den ersten Blick nicht gesehen. Vielleicht findet ihr sie im Garten oder irgendwo in der Nähe.«

Sie trat mit den anderen KDDlern in den wenig einladenden Morgen hinaus. Es war immer noch stockdunkel und der Nebel schien noch dichter geworden zu sein als bei Annas Ankunft. Die Jungs von der Streife würden ganz schön starke Scheinwerfer benötigen, um in dieser Suppe etwas zu sehen. Ihr Magen gab ein weiteres Knurren von sich. Wenn sie nicht umfallen wollte, musste sie dringend etwas zwischen die Zähne kriegen. »Ich hol mir kurz einen Müsliriegel«, sagte sie. »Komme gleich nach.« Ohne auf eine Antwort zu warten, trabte sie zum Audi und kramte im Handschuhfach herum. Irgendwo musste sie doch noch eine Notration haben. Nach einigem Graben zwischen alten Straßenkarten und benützten Tempos fand sie schließlich den halb zerflossenen Riegel, den sie im Sommer nach einer Radtour dort gebunkert hatte. Auch wenn das Ding nach Plastik und Staub schmeckte, würgte sie es hinunter.

Sie wollte sich gerade den Kollegen vom KDD anschließen, als mehrere Autoscheinwerfer die Dunkelheit durchschnitten: Markus Hauer sowie Rainer Stemmler und seine Leute. Die Kriminaltechniker parkten den Tatortwagen gegenüber von Rolands Villa, während sich Annas Kollege Markus Hauer aus einer silbernen C-Klasse schälte. Sein blondes, halblanges Haar hatte er – wie meistens – zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die grauen Augen waren gerötet, als ob er darin gerieben hätte, und sein Vollbart wirkte weniger perfekt gestutzt als sonst.

»Wo ist Bea?«, begrüßte ihn Anna. Seit beinahe einem halben Jahr steckten Markus und die Rechtsmedizinerin buchstäblich unter einer Decke, was Anna zuerst ziemlich genervt hatte. Inzwischen hatte sie sich an das verliebte Turteln der beiden gewöhnt. Auch wenn sie täglich auf den großen Knatsch wartete, der ihrer Meinung nach nicht ausbleiben konnte. Ihrer Ansicht nach benahm sich Markus viel zu oft wie ein Zehnjähriger, der zu viel Cola intus hatte – also ganz und gar nicht so, wie Bea ihr immer ihren Traummann beschrieben hatte.

»Kommt gleich«, gab er zurück. »Sie musste noch kurz ins Krankenhaus, um ein paar Unterlagen zu holen.« Er beäugte Anna verwundert. »Warum hast du die Sache hier gemeldet?«

Anna verkniff sich ein Stöhnen. Das konnte ja heiter werden. Allerdings würde auch ihr Chef eine Antwort auf diese Frage haben wollen. Deshalb leierte sie dieselbe Erklärung herunter wie vor ein paar Minuten. Bevor Markus etwas darauf erwidern konnte, rief sie: »Rainer!«

Der Kriminaltechniker zwängte sich auf einem Bein hüpfend in einen Einwegoverall der Spurensicherung. Im Tatortwagen lagen außerdem blaue Füßlinge und zwei Paar Handschuhe, damit keine Spuren verunreinigt wurden. »Was gibt’s?«, brummte er.

Anna ließ Markus stehen und ging zu ihm. »Versprich mir, dass du dich nicht aufregst«, hob sie an.

Rainer warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Seine Brille war beschlagen. »Warum?«

»Weil ihr meine Finger- und Schuhabdrücke im Haus finden werdet.«

»Was?« Rainer hätte beinahe den Spusi-Overall zerrissen, als er das zweite Bein über seinen Schuh zog. »Sag mir, dass ich mich verhört habe!«

Anna spürte Markus im Hintergrund lauern. »Du hast dich nicht verhört«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Ich war schon im Haus.« Sie hob beschwichtigend die Hand. »Es war nicht klar, dass es sich um einen Tatort handelt. Okay?«

»Als ob du die Regeln nicht kennen würdest!«, schimpfte Rainer. »Ich frage mich, wie oft ich euch das noch sagen muss: Haltet euch von allem fern, was auch nur im Entferntesten wie ein Tatort aussieht!« Er funkelte Anna ärgerlich an. »Manchmal komme ich mir vor wie ein Kindergärtner.«

»Hör auf zu bruddeln«, kam Markus ihr zur Hilfe. »Kann doch jedem mal passieren.«

»Mal«, brummte Rainer. Er fuchtelte in der Luft herum und stach mit dem Zeigefinger nach Anna und Markus. »Eins sage ich euch. Ab jetzt ist das mein Revier. Alle raus! Und glaubt mir, alles Drängen wird euch nichts helfen. Ich gebe den Tatort erst frei, wenn ich absolut sicher bin, dass wir alles abgearbeitet haben.« Er schlüpfte in die Handschuhe und zog sich die Füßlinge über die Schuhe. »Und wenn es Wochen dauert.« Er befestigte den Mundschutz. »Schafft mir alle, die sich noch im Haus aufhalten, hier weg. Sofort!«

Anna sah ihm nach, wie er mit zwei Koffern in der Hand und mehreren Kollegen im Schlepptau auf die Villa zustakste.

»Mann, der ist mal wieder mit dem falschen Fuß aufgestanden«, bemerkte Markus trocken.

Bevor Anna etwas antworten konnte, führten zwei Streifenbeamte Roland aus dem Haus.

»Wir bringen ihn auf die Dienststelle«, sagte einer der Uniformierten.

Ein Kriminaltechniker zeigte auf Rolands Kleider. »Wir fahren euch hinterher. Volles Programm?«

Anna nickte. Definitiv. Volles Programm.

Roland warf ihr einen hilfesuchenden Blick zu, den sie so gut sie konnte ignorierte. »Dann lass uns mal die lieben Nachbarn aus dem Bett klingeln«, sagte sie stattdessen zu Markus. »Die werden vermutlich entzückt sein.« Sie sah auf die Uhr. »Sonntagmorgen, kurz nach halb sieben.«

Markus lachte. »Vielleicht ist jemand Frühaufsteher und hat was gesehen. Ansonsten würde ich sagen, steht der Typ, dem das Haus gehört, ganz oben auf meiner Liste.«

Anna schluckte den Protest, der ihr auf der Zunge lag, herunter. Für einen objektiven Ermittler musste es so aussehen, als ob Roland der heißeste Tatverdächtige war. Sie hoffte inständig, dass ihm in den nächsten paar Stunden einfallen würde, wo er gewesen war. Sonst sah es verdammt düster für ihn aus. »Na, dann komm«, sagte sie und steuerte auf eines der Häuser zu, bei denen die Kollegen vom KDD noch nicht geklingelt hatten.

Als nach dem dritten Klingeln endlich das Licht im Haus anging, schob Anna alle Gedanken an Roland beiseite. »Guten Morgen«, sagte sie, sobald ein unrasierter Mittvierziger im Bademantel die Tür öffnete. »Polizei.« Sie hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Um diese Uhrzeit?«, fragte er verdattert. Er schielte an Anna und Markus vorbei zu Rolands Villa – zu den Streifenwagen und den Uniformierten, die das Gelände inzwischen mit rot-weißem Absperrband gesichert hatten. »Ist was passiert?«

»Ja«, erwiderte Markus.

»Was denn? Ist jemand verletzt?«

Obwohl Anna dem PvD gesagt hatte, dass es sich um eine Leiche handelte, hatte der offenbar den Rettungsdienst informiert. Das Blaulicht des vorfahrenden Rettungswagens und des Notarzteinsatzfahrzeuges erhellte zusätzlich zu den Scheinwerfern der Spurensicherer die Dunkelheit.

»Wir müssen Ihnen nur ein paar Fragen stellen«, sagte Anna, ohne seine Neugier zu befriedigen.

***

Während Anna und Markus dem Mann ins Haus folgten, nahm Rainer Stemmler das Türschloss der Villa in Augenschein. Das Holz war alt, wies reichlich Kerben auf und auf den ersten Blick war es unmöglich, zu sehen, ob sich jemand an dem Profilzylinder zu schaffen gemacht hatte. Er wartete, bis seine Kollegen auch in voller Montur steckten, dann sagte er zu einem von ihnen: »Untersuch diesen Bereich hier ganz genau. Außerdem sämtliche Fenster, durch die sich jemand Zutritt verschafft haben könnte.«

Der KTler nickte.

»Ihr zwei kommt mit mir nach oben«, wandte sich Rainer an zwei weitere Michelin-Männchen. »Und ihr nehmt euch den Garten und den Keller vor«, scheuchte er zwei Nachzügler davon. Er selbst sah sich in der kleinen Diele um. An einer Garderobe neben einem halb blinden Spiegel hing ein Mantel, der eindeutig einer Frau gehörte. Die übrigen Kleidungsstücke waren wesentlich größer – und vor allem nicht pink. »Wir fangen bei der Leiche an«, sagte Rainer. Dann konnte Dr. Schiller sie so schnell wie möglich zur Obduktion abtransportieren lassen. Die Kapuze des Einwegoveralls verursachte ein Rascheln, als er sich auf den Weg ins Dachgeschoss machte.

»Sind wir sicher, dass sich hier keiner mehr versteckt?«, wollte einer seiner Kollegen wissen.

»Sicher sind wir doch nie«, gab Rainer zurück. Wie sein Kollege dachte auch er an einen Tatort, an dem der Täter nach der Freigabe durch das SEK aus einer Versandkiste gesprungen war – mit einem Sturmgewehr bewaffnet. »Haltet einfach die Augen offen.«

Je näher sie dem Atelier kamen, umso intensiver wurde der metallische Geruch von Blut. Am letzten Treppenabsatz wurden zudem die ersten blutigen Schuhspuren sichtbar, die Rainer und seine Kollegen mit einer Digitalkamera dokumentierten. Einer der Männer blieb zurück, um sie zu vermessen.

Als Rainer die offen stehende Schiebetür erreichte, zog er mit einem Zischen die Luft durch die Zähne ein. »Mein lieber Schwan«, murmelte er. Die Gestalt, die in einer immensen Blutlache lag, war eindeutig tot. Wie Anna dem PvD bereits gesagt hatte, wies sie deutlich sichtbare Totenflecken auf. Und diese waren neben Totenstarre, Fäulnis, Hirntod und Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind – wie etwa ein fehlender Kopf –, eines der sicheren Todeszeichen.

Obwohl sie alle schon viel Schlimmes gesehen hatte, verschlug es auch Rainers Kollegen die Sprache. »Hat der mit ihrem Blut gemalt?«, fragte einer von ihnen.

Rainers Blick wanderte von einem Pinsel neben der Leiche zu dem riesigen Bild an der Stirnseite des Raumes. »Sieht so aus. Nach dem Blutvortest wissen wir es.«

»Ich weiß ja, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen soll«, brummte der Kriminaltechniker. »Aber, wenn ihr mich fragt, ist die Sache so klar wie Kloßbrühe.«

»Immer mit der Ruhe«, gab Rainer zurück und hob erneut die Digitalkamera. Bevor sie irgendetwas anderes taten, mussten sie den Raum zuerst komplett, im Uhrzeigersinn überlappend, fotografieren.

Kapitel 5

Stuttgart, 8. November 2015

Roland Kirchberger fühlte sich, als wäre er unter Wasser. Ein seltsamer Druck auf seinen Ohren machte ihn schwindelig, die Wirkung der verhassten Pillen war deutlich zu spüren. Wie immer raubten sie seinen Sinnen die Schärfe, benebelten ihn und sorgten dafür, dass ihm alles stumpf und blass vorkam. Trotzdem spürte er den forschenden Blick des Polizeibeamten, der neben ihm auf dem Rücksitz des Streifenwagens saß. Die Kriminaltechniker hatten Tüten über Rolands Hände gestülpt und ihn gebeten, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Deshalb fühlte er sich noch mehr wie ein Goldfisch im Glas und widerstand nur mühsam der Versuchung, den Finger durch das Papier zu bohren.

Während vor dem Fenster des Streifenwagens die nebelige Stadt vorbeizog, spürte er sein Herz gegen die Rippen hämmern. Auch wenn die Tabletten ihn beruhigten, konnten sie die Furcht, die Aufregung und vor allem die Selbstzweifel nicht auslöschen. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Die Bilder in seinem Kopf machten ihm entsetzliche Angst. Alles war rot und er sah ständig die tote Marilene vor sich. Wie sie da so leblos auf dem Boden gelegen hatte. In all dem Blut … Er verkniff sich ein Stöhnen.

Hast du sie getötet?, fragte er sich zum wohl hundertsten Mal. Hatte Anna Recht gehabt mir ihrer Frage? War es Marilenes Blut gewesen, das ihm den fehlenden Rotton geliefert hatte? Er wusste es einfach nicht! Wusste nicht einmal mehr, ob er den Pinsel tatsächlich in die Hand genommen hatte. Die gesamte letzte Nacht war wie ausgelöscht. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er aus der Galerie nach Hause gefahren war. Allein. Was dann passiert war, war wie ein schwarzes Loch. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde ihm flauer im Magen. Obwohl Anna ihm gesagt hatte, was ihn auf dem Präsidium erwarten würde, war die Ungewissheit wie eine alles zerfressende Säure.

»Auf keinen Fall darfst du ihnen sagen, dass wir verwandt sind«, hatte sie ihm eingeschärft. Wie immer hatte sie das Wort »Vater« vermieden. Ihm war es recht. Auch er fühlte sich nicht besonders väterlich in Anbetracht dessen, wie es zu Annas Zeugung gekommen war. Ganze drei Mal hatte Sabrina, ihre Mutter, ihn in ihr Bett gelassen. Dann hatte sie abrupt das Interesse an ihm verloren wie an seiner Malerei. Die Erinnerung an sie war inzwischen ziemlich verblasst. Allerdings hatte Anna sie wieder aus der Versenkung hervorgeholt. Er schloss die Augen; das grelle grüne Licht einer Ampel blendete ihn. Ob sich Anna für ihn schämte? Es bereute, dass sie auf ihn zugegangen war? Er könnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Auch wenn es ihn unendlich traurig machen würde, sie wieder zu verlieren.

Das plötzliche Bremsen des Streifenwagens riss ihn aus den Gedanken. Er öffnete die Augen und sah, dass sie vor einem Rolltor angehalten hatten. Als der Pförtner sie einließ, fuhr der Wagen an einem Gebäude vorbei in einen Hinterhof, wo sie neben einigen Zivilfahrzeugen parkten.

»Kommen Sie«, forderte ihn der Kriminaltechniker auf, nachdem er ausgestiegen und die Hintertür des Streifenwagens geöffnet hatte.

Roland befreite seine Beine aus dem engen Zwischenraum hinter dem Beifahrersitz und beäugte die vergitterten Fenster im Erdgeschoss des Gebäudes, hinter dem sie gehalten hatten. Im Nebel wirkte das Präsidium abweisend und mehr als nur ein bisschen schaurig. Das Licht der Straßenlaternen erreichte kaum den Weinberg hinter dem Gebäude. Lediglich einige der kahlen Rebstöcke hoben sich von der Nebelwand ab.

Der Kriminaltechniker entriegelte die elektronisch verschlossene Tür und führte Roland in ein von Neonröhren beleuchtetes Treppenhaus. »Zweiter Stock«, sagte er und ging voran.

Einer der Streifenbeamten folgte – eine Hand an der Waffe.

Roland konnte es dem Mann nicht einmal verdenken. Wenn er selbst nicht sicher war, ob er Marilene getötet hatte …

Im zweiten Stock wandten sie sich nach rechts und trotteten einen Korridor mit grauem PVC-Bodenbelag entlang. Dieser warf spiegelnd das kalte Licht der Neonröhren zurück. Zusammen mit den hellblau angestrichenen Türrahmen und einem unverkennbaren Krankenhausgeruch erweckte der Flur den Eindruck klinischer Sterilität.

»Hier entlang«, sagte der Kriminaltechniker und führte Roland in einen kleinen Raum. Dieser war spärlich möbliert – mit einem Tisch und zwei Plastikstühlen. An der Wand hing ein weißes Metermaß mit roten und schwarzen Zahlen. Gegenüber lag allerhand in Plastik eingeschweißtes Zeug in einem offenen Regalschrank. »Bin sofort wieder da«, informierte der Techniker den Uniformierten. Kurz darauf kehrte er mit Papiertüten für die Kleidungsstücke zurück. »Setzen Sie sich«, forderte er Roland auf. Dann trat er zu ihm und entfernte die Tüten an seinen Händen. »Strecken Sie bitte die Hand aus.«

Während der Techniker seine Fingernägel schnitt und eintütete, versuchte Roland, nicht an Anna zu denken. Oder an Marilene.

»Mund auf.«