Buchcover: Das Gorbatschow Vermächtnis

Über dieses Buch

Der Agententhriller ,Das Gorbatschow Vermächtnis‘ webt virtuos ein atemlos spannendes Geflecht aus Intrige, Macht und Skrupellosigkeit, Vergangenheit und Gegenwart – explosiver Lesestoff bis zur letzten Seite.

Achim Albrecht

DAS

GORBATSCHOW

VERMÄCHTNIS

© 2016

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1. Auflage September 2016

©2016 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund

Verlag:
OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Produced in Germany

ISBN 978-3-942672-50-4

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Und ich hörte eine große Stimme aus dem Tempel,

die sprach zu den sieben Engeln:

Gehet hin und gießet aus die sieben

Schalen des Zornes Gottes auf die Erde!

Offenbarung 16:1.

Kapitel 1

Rose fühlte sich von ihrer Küche eingeengt. Sie fühlte sich von ihrem Leben eingeengt. Ein bedrängendes Gefühl, das sich nicht abweisen lassen wollte. Alles in ihrem Leben war schäbig und abgegriffen. Es war, als seien die unmodernen Tapeten mit den einfallslosen Blumenmustern, die billigen Holzfurniere der Möbel und die abgetretenen Teppiche, die nicht zueinanderpassen wollten, Relikte einer vertanen Vergangenheit, die die Gegenwart eingeholt hatte.

Rose sah sich um, als hätte sie die kleine Wohnung in London zum ersten Mal mit klarem Verstand gesehen. Sie wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung über das fleckige Metall der Dunstabzugshaube. ,Edelstahl‘ hatte der Verkäufer des Küchenstudios in Knightsbridge damals geraunt und genießerisch mit der Zunge geschnalzt, als garantiere die Haube lebenslänglichen Genuss. Damals konnten normale Menschen wie Edgar und Rose Stadtviertel wie Knightsbridge betreten, ohne über Banker, Schauspieler und reiche Ausländer zu stolpern.

Lange vorbei. Alles war lange vorbei. Auch Edgar war Vergangenheit und der Edelstahl hatte, wie zum Trotz, Flecken angesetzt, die durch nichts zu beseitigen waren.

Rose rührte in dem Topf, der auf dem Herd stand. Dampfschwaden schlugen sich auf dem Fenster zum Innenhof nieder und milderten die Fleckenlandschaft auf der Abzugshaube. Risotto. Rose kochte ein Risotto, von dem sie nicht wusste, wer es essen würde. Kochen beruhigte Rose. Sie atmete tief ein und aus, wie sie es in dem Meditationskurs gelernt hatte.

Früher hatte sich Edgar um ihre kleinen Ängste gekümmert aber Edgar war gegangen, als ihre beiden Töchter erwachsen geworden waren. Er hatte keine Erklärung angeboten und Rose hatte keine gefordert. Sie war müde. Das Leben hatte sie müde gemacht. Sie war eine alte Frau von 47 Jahren, die sich ihr Spiegelbild von einer welligen, fleckigen Dunstabzugshaube verzerren ließ, bis es grotesk zerlief und Rose ihren Blick abwenden musste.

Es geschah ihr recht, dachte Rose. Alles war ihr entglitten. Edgar, Eileen und Monica. Sie hatte sich andere Namen für die Kinder ausgesucht, aber Edgar hatte sich durchgesetzt. Edgar hatte sich immer durchgesetzt und Rose hatte geschwiegen. Jetzt schauten sie drei gerahmte Fotos aus besseren Zeiten von der Kommode im Wohnzimmer an. Sie schienen sie ständig anzuschauen, wo immer Rose auch saß.

Rose hatte Phasen, in denen sie zu viel trank und unsinnige Mengen Essen zubereitete. Sie hatte Phasen, in denen sie tagträumte und wieder ,Barbie‘ war, eine fast blonde Frau mit Erwartungen und einem Mann, den sie ,Ken‘ nennen durfte, wenn sie herumalberten. Später bezogen sie die Kinder in ihre harmlosen Albernheiten ein und beschlossen, ihr Leben ,glücklich‘ zu nennen. Die kleine Wohnung war Stückwerk, aber das störte nicht. Sie hatten Pläne. Gemeinsame Pläne. Nichts Großes. Vielleicht ein oder zwei Zimmer mehr und Teppiche, die zueinanderpassten. Dazu ein Urlaub auf dem Kontinent.

Frankreich.

Paris.

Sehnsuchtsorte für glückliche Familien mit kleinem Budget.

Dann hatte sich das Leben aufgemacht und war an ihr vorbeigehuscht, ohne dass sie es merkte.

Jetzt kochte Rose ein Risotto mit Parmesan und Kräutern, das niemand haben wollte und starrte auf Fotos aus ihrer Vergangenheit. Alles war so plötzlich passiert.

Rose schaltete den Herd aus und goss das Glas Weißwein, das sie unberührt gelassen hatte, in den Topf. Dampf wallte auf, als wolle er die bitteren Erinnerungen auslöschen. Rose kontrollierte noch einmal die Uhrzeit. Sie musste über sich selbst lächeln. Sie verhielt sich ordentlich wie immer. Am Nachmittag hatte sie sogar frische Bettwäsche aufgezogen und ihre Blusen gebügelt, bevor sie sie in den Schrank hängte. Man konnte nicht aus seiner Haut. Ein Satz, den sie von ihrem Pflegevater übernommen hatte.

Prüfend ging Rose durch ihr kleines Reich. Diele, zwei Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und ein Bad, das seinen Namen nicht verdiente. Für Londoner Verhältnisse eine gute Wohnung, auch wenn der Stadtteil Brixton in Verruf geraten war. Rose hatte nie Probleme gehabt, weil sie sich nicht in die Angelegenheit anderer einmischte. So hatte sie es gelernt und so war es gut.

Die gepackten Segeltuchtaschen standen bei der Ausgangstür. Gerade einmal zwei Taschen, die nach Urlaub und Fernweh aussahen. Mehr war aus Roses Leben nicht herauszuholen. Zwei Taschen und der Volvo, der noch immer zuverlässig fuhr, obwohl er längst seine besten Zeiten hinter sich hatte.

Der Geruch nach würzigem Risotto hing schwer in den Räumen, als Rose die Zeitschaltuhren prüfte. Es war wichtig, dass kein Fehler passierte. Fehler gehörten zu der alten Rose, die alles Edgar überließ und schon einmal die Schulzeiten der Töchter vertauschte. Die neue Rose war eine ganz andere. Niemand konnte das wissen. Noch steckte die neue Rose in dem gleichen unförmigen Overall der Reinigungsfirma, die die Transportmaschinen in Stansted säuberte. Das Logo mit dem geschwungenen roten Pfeil auf der weißen Erdkugel war aufdringlich und passte zu der eintönigen Arbeit, die im Akkord erledigt werden musste. Einen gesamten Frachtraum fegen und, wenn erforderlich, feucht wischen in nicht einmal einer halben Stunde. Nur die Kollegen im Personenbeförderungsbereich hatten noch engere Vorgaben.

Rose mochte ihre Arbeit. Sie mochte die weiten und hohen Flächen, den Hall und das Gefühl, sicher aufgehoben zu sein, wie in einem Mutterschoß. Manchmal summte sie ein Lied. Ein Lied für die Frachtmaschine, ein Lied für World Cargo, ihren Arbeitgeber und ein Lied für Rose, die sich in solchen Augenblicken seltsam lebendig vorkam.

Rose befestigte den Sicherheitsausweis an einem der Träger des Overalls. Das Bild auf der eingeschweißten Plastikkarte zeigte eine Rose, die unsicher lächelte, als wüsste sie nicht, wer sie in Wirklichkeit war. Sorgsam beendete sie ihre Vorbereitungen. Die nächtlichen Geräusche drangen von der Straße herauf in das Appartement. Wie immer schien der Lärm nachts zuzunehmen. Rose schaute sich um und nickte.

Wenig später trat sie hinaus in den rötlichen Schein der Straßenlaternen. Noch zwei Stunden bis zum Beginn ihrer Schicht. Der graue Volvo reihte sich in den Verkehr ein, der fast nur aus Taxen zu bestehen schien. Findige Unternehmer hatten Brixton nach den Rassenkrawallen als neues In-Viertel entdeckt und begannen mit Diskotheken und Clubs junge Leute anzuziehen. Bald würden Boutiquen und Künstler folgen und nach ihnen kämen die Immobilienspekulanten.

Rose warf einen Seitenblick auf die Karte auf dem Beifahrersitz. Sie war die ungewohnte Strecke mehrfach in Gedanken durchgegangen und hatte sich das verlassene Gebäude auf Google Street View angesehen.

,Sei wie immer‘, hatte die Stimme am Telefon gesagt.

Rose hatte das unförmige Satellitentelefon auf dem Kaminsims platziert und eine Schmuckdose darüber gestülpt. Streng nach Anweisung hatte sie von Zeit zu Zeit die Frequenzen justiert und die Akkus getauscht. Sie hatte es vermieden, das Telefon mehr als nötig zu berühren und behandelte es wie ein fremdartiges Wesen. Gerne hätte sie ihm die Schuld an ihrem verpfuschten Leben gegeben. Niemals hatte es Lebenszeichen von sich gegeben. Bis jetzt.

Es war eine überraschend weiche Stimme gewesen, eine Stimme, die nicht nach Befehlsgewalt klang, sondern eine gebildete, beinahe zögerliche Note hatte. Wahrscheinlich ein alter Mann hatte sich Rose gedacht, den Gedanken aber nicht weiterverfolgt, weil sie sich zu äußerster Disziplin zwang. Auch diese Stimme gehörte zur Vergangenheit und Rose hatte nicht mehr damit gerechnet, sie jemals zu hören.

,Leg nicht auf‘, hatte die Stimme gemahnt.

Der Mann hatte die Verwirrung von Rose bemerkt, als er sie mit dem anderen Namen ansprach, so als sei Rose niemals jemand anderer gewesen, so als sei die Identität der letzten Jahrzehnte nur eine Wucherung, die man ohne Gefahr wegschneiden könne.

Rose hatte nicht aufgelegt. Allerdings war es mehr ihr Instinkt als ihr Verstand gewesen, der ihr befahl nicht mit einem knappen ,falsch verbunden‘ die Leitung zu unterbrechen. Stattdessen hatte Rose atemlos gelauscht, als eine Stimme eine Stelle aus Gogols ,Die toten Seelen‘ vortrug. Es war eine alte Aufnahme. Rose wusste nur zu gut, wann diese Aufnahme erfolgt war. Sie sah das alte Tonbandgerät vor sich. Sie sah, wie sich die Spulen drehten und ihre eigene Stimme, die sie immer wegen ihrer Farblosigkeit gehasst hatte, ihre Lieblingsstelle vortrug. Sie konnte das Atemholen, das Bemühen um Festigkeit im Ausdruck und das Verhaspeln kurz vor Beendigung der Aufnahme hören.

Der Geruch des Verwaltungsgebäudes, das Gluckern der riesigen Heizkörper und die abgewetzte Schreibunterlage, auf der die monströse Schreibmaschine thronte. Alles war wieder präsent.

,Mach dir keine Notizen‘, hatte die Stimme gesagt. Es war notwendig gewesen mit den Anweisungen sorgfältig umzugehen und die selbstverständlichsten Dinge zu betonen. Der Anrufer wusste das. Er war geduldig. Geduld und Beharrungsvermögen waren seine Haupttugenden. Er hatte fast ebenso lange gewartet wie die Angerufenen. Große Dinge brauchten Zeit, um zu reifen. Die Leitung war sicher. Sie konnten sich Zeit lassen.

Rose beschränkte sich aufs Zuhören. Sie war zu klug, um Fragen zu stellen. ,Wende die Technik an‘, hatte die Stimme geraten. Rose wusste, dass der Rat gut war. Sie übersetzte die knappen Informationen in eine Bilderfolge, die sich leicht einprägen ließ und memorierte die Abfolge der Bilder, bis sie automatisch vor ihrem geistigen Auge aufstieg, sobald sie an ihren Auftrag dachte.

Es war wie damals. Sie hatte eine Begabung für Physik und Mathematik. Die anderen Kinder im Waisenhaus nannten sie einen ,Zahlenkopf‘. Die Leiterin der Anstalt stellte sie einer Gruppe von Herren in schweren Mänteln vor. Es wurden ihr Aufgaben gestellt, die sie mit Leichtigkeit löste. Das Mädchen konnte den zufriedenen Gesichtsausdruck der Männer sehen. Dann hieß man sie, ihre Sachen zu packen. Eine schwarze Limousine verschluckte sie und brachte sie zu einem Ort, an dem alle Bewohner Zahlenköpfe waren.

Rose war damals nicht Rose. Sie war ein Rohdiamant, der geschliffen und in Form gebracht werden musste. So sagte man es ihr und so handelte man. Nach ihrer Ausbildung wurde sie zugeteilt. Kurz vor ihrer Abreise bat man sie noch, ein Tonband mit ein paar Sätzen aus ihrem Lieblingsbuch zu besprechen.

Rose sah in der Ferne das schimmernde Band der Themse und die Hochhäuser des Bankendistrikts. Am Piccadilly Circus würde Touristentrauben überteuertes Bier trinken und über die Leuchtreklamen staunen. Rose verlangsamte die Fahrt und bog in rascher Folge in immer enger werdende Seitenstraßen ein.

Das Gebäude war ein Schandfleck. Rose hatte in Erfahrung gebracht, dass es ein Hotel, danach ein Einkaufscenter und nach der Insolvenz einer dubiosen Investorengruppe ein Parkhaus hätte werden sollen. Die letzten sieben Jahre war das Gerippe aus Beton und Stahl mit den leeren Fensterhöhlen dem Zerfall preisgegeben und wartete vergeblich auf seine Rettung. Auf Rettung hoffte das gesamte triste Stadtviertel, das sich so grundlegend von den prächtigen neuen Bauwerken der Inner City unterschied.

Rose parkte den Volvo auf einem Grasstreifen, der mit Schutt und Abfall übersät war. Das Gebäude war mit Metallzäunen gesichert aber Obdachlose, Drogenabhängige und Sprayer hatten die Eingeweide des Baus längst für sich entdeckt. Selten ließen sich Polizei und Wachdienste sehen, um für einige Stunden eine Art Normalzustand herbeizuführen. Kaum waren die barschen Stimmen und die Sirenen verklungen, sickerten die Hoffnungslosen in die Ruine zurück, wo ihr angestammter Platz war. Graffitis bedeckten jeden Zentimeter des Mauerwerks.

Rose zögerte keinen Augenblick. Sie vertraute der Stimme am Telefon. So hatte sie es gelernt.

,Sei unbesorgt. Wir haben ein Auge auf dich‘, hatte die Stimme gesagt, als ob sie Gedanken lesen könnte. ,Wir haben uns der Sache angenommen‘. Rose richtete den Strahl der Taschenlampe auf einen Verhau aus Brettern, der einen klaffenden Eingang notdürftig abdeckte. Es schien kein Mensch in der gottverlassenen Gegend unterwegs zu sein. Ein leichter Wind trug Brandgeruch und das schläfrige Gebell eines Hundes heran. Das war alles. Rose arbeitete mit dem Brecheisen, so wie es ihr befohlen worden war. Wie ein Schatten schlüpfte sie in das Gebäude und wandte sich nach rechts. ,Bob Rules‘ schrie ein neongelbes Graffiti.

Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte über Schlafsäcke und verstreuten Müll. Es war, wie die Stimme versprochen hatte. Der Bau gehörte ihr. Rose blieb stehen. Sie musste sich orientieren. Sickerwasser tropfte auf den Boden. Rose rief die memorierte Bildfolge ab. Sie würde weit in die Eingeweide des Gebäudes vordringen. Betontreppen führten nach unten, wo die Dunkelheit modrig und schwer brütete. Rose ließ einen Brocken Beton in die Tiefe fallen. Wasser spritzte auf. Es würde nicht einfach werden, das Paket zu bergen.

Für einen Augenblick war Rose in Sorge. Was, wenn sie das Paket nicht bergen konnte? Was, wenn der Mechanismus nicht funktionierte? Was würde dann mit ihr passieren? Sie hielt inne, atmete tief und regelmäßig und folgte dem Licht. Sie war sicher, dass man sie beobachtete. Die Mission musste zu Ende geführt werden. Von ihr. Die Stimme hatte sie ausgesucht. Von anderen wusste sie nichts, aber es gab sie. Irgendwo.

Der Schacht war in ein Becken eingelassen, das verhindern sollte, dass Grundwasser nach oben stieß. Eine trübe Brühe schwappte bei jedem Schritt gegen das Gemäuer. Der faulige Gestank war überwältigend. Rose schwenkte die Taschenlampe. Eine Ratte ließ sich vorbeitreiben. Rose machte sich an die Arbeit.

Das Brecheisen hatte gute Dienste geleistet. Rose war vollkommen erschöpft. Das Paket war sperrig und schwer. Rose achtete darauf, es möglichst sanft zu behandeln, als sie es nach oben wuchtete. Sie hatte die Taschenlampe verloren. Rose folgte ihrem Instinkt und dem Fetzen Grau, der wie eine Verheißung durch den Bretterverhau des Eingangs schimmerte. Sie hatte noch 50 Minuten bis zu ihrem Schichtbeginn. In dieser Nacht würde es eine Boeing 747 – 8F Frachtmaschine von Atlas Air sein. Ein Routinejob.

Rose rüstete sich für eine letzte Anstrengung. Der Volvo erwartete wie ein urzeitliches Reptil aus Blech seinen Besitzer. Rose öffnete den Kofferraum. Sie sah sich um. Zerknüllte Zeitungsblätter wirbelten über das verwahrloste Gelände. Die toten Augen des Gebäudes starrten zurück. Es hatte zu regnen begonnen. Rose nickte zufrieden. Sie schien die Nässe und Kälte nicht zu spüren.

„Na, da wollen wir doch mal schauen, wen wir hier haben“.

Die Stimme klang aufsässig mit einem Unterton von Schadenfreude. Rose saß kerzengerade hinter dem Lenkrad. Sie bewegte keinen Muskel und atmete flach.

„Hände ans Lenkrad und eine viertel Drehung nach links!“, befahl die Stimme. Ein gebündelter Lichtstrahl tastete unsicher über das Wageninnere und verharrte einen Augenblick zu lange auf dem Firmenschild ,Global Supply Systems Ltd.‘, das am Overall von Rose festgemacht war.

Rose machte keine Anstalten die Schmutzspuren ihres nächtlichen Ausflugs zu verbergen.

„Schon ein paar Einsätze gehabt, was?“, bemerkte die Stimme. „Schwarzarbeit vermute ich.“ Die Stimme klang, als habe sie fette Beute entdeckt. „Mal was nebenbei, oder?“ „Kofferraum“. Das Licht erlosch. Rose blinzelte und nahm die Hände vom Lenkrad.

„Kannst du dir nicht mal einen anderen Spruch einfallen lassen, Fred?“, rief sie dem fülligen Mann zu, der in der grauen Uniform eines Sicherheitsdienstes an der Fahrertür des Volvos lehnte. Früher war Fred Polizist gewesen und besserte seine Pension als Kaufhausdetektiv und Wachmann auf. Die Scheinwerfer des Volvos warfen Lichtflecke auf einen Flugzeughangar und zwei Pisten, die sich im Nirgendwo verloren. Die Scheibenwischer schaufelten den stärker werdenden Regen von Seite zu Seite. Fred lachte gutmütig. In dem durchsichtigen Plastiküberzug sah er aus wie die Karikatur eines Superhelden.

,Kofferraum‘. Rose konnte über den Triebwerkslärm das Wort erahnen, das der Wachmann aussprach.

„Moment, Sir.“ Rose griff hinter sich und präsentierte eine Schachtel Donuts. Schoko mit Cremefüllung und Mandelsplittern. Eine derbe Männerhand griff ins Wageninnere nach dem Karton.

„In Ordnung. Sie können passieren.“ Freds Bauch hüpfte unter dem Plastik. Seine Stimme klang zufrieden und dankbar.

„Dann bis morgen, Fred“, rief Rose, als sich das Rolltor langsam öffnete. Das kleine Ritual war beendet. ,Verstaue das Paket so, dass es nicht gefunden werden kann‘, hatte die Stimme befohlen. Rose hatte sofort gewusst, was zu tun war. „Lass es dir schmecken, Fred“, murmelte Rose und fuhr quer zum Rollfeld über eine markierte Strecke. Die Verwaltungsgebäude duckten sich in den Regen. Der Tower sah aus wie ein verwaschenes Gemälde.

,Mach alles wie immer‘. Rose rief sich die Mahnung ins Gedächtnis zurück, als sie darüber nachdachte, ob sie die Stechuhr betätigen sollte, die ihren Dienstbeginn markierte. Fred würde wie immer mit seinem Feldstecher in seiner unbeheizten Wachhütte kauern und ihren Weg verfolgen. Dabei würde sein Blick immer wieder auf ihrem Hinterteil verweilen. Es war ein Risiko, mit dem Volvo zu nahe an das Flugzeug heranzufahren. Der Sicherheitsdienst könnte Alarm schlagen.

,Improvisiere‘, hatte ihr die Stimme geraten und Rose improvisierte. Sie hatte die Sackkarre aus dem Hausmeisterfundus mit Reinigungsutensilien und Putzlappen beladen. Das kompakte Paket ruhte unter dem aufgetürmten Kram. Rose zog die Karre mit einem sichtbaren Hinken über den Asphalt. Einer flüchtigen Überprüfung würde die Tarnung standhalten.

Die Cargo Maschine wartete im Regen wie ein riesiges Insekt. Rose hatte den Technikern, die das Flugzeug gewartet hatten, zugenickt. Die Männer vertrieben ihre Müdigkeit mit einem Kartenspiel. Die Halle war grell beleuchtet. Jedes Geräusch klang hohl und verursachte ein Echo. Kaum jemand nahm Notiz von der müde dahin schlurfenden Putzkraft. Sie war auf dem Gelände, also gehörte sie dazu. Rose war zusammen mit Gwendolyn, einer Asylbewerberin aus Gabun eingeteilt. Asylbewerber hatten keine Arbeitserlaubnis. Das wusste auch die Reinigungsfirma. Frauen wie Gwendolyn waren erpressbar und arbeiteten für einen Hungerlohn, ohne sich zu beschweren. Gwendolyn war dankbar, dass Rose ihre Schicht mit übernahm. Gerade gewartete Maschinen waren immer sauber und man konnte mit ein paar Handgriffen den Eindruck erwecken, man habe geschuftet wie ein Sklave. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen.

Gwendolyn würde jetzt neben ihrem kleinen Jungen schlafen und trotzdem Geld verdienen, weil Rose, die gutherzige Rose ihr gesagt hatte, sie solle einfach zu Hause bleiben und sich um ihren Jungen kümmern.

Rose wusste, dass sie den Aufseher der Putzkolonne nicht antreffen würde. Zu schlechtes Wetter, um im Freien auszuharren und zu leckerer Gin im Aufenthaltsraum der Servicekräfte. Rose hatte mit Ben telefoniert, nachdem sie auf dem Gelände war. Ben war ein großmäuliger Tunichtgut, der jede Gelegenheit nutzte, um nicht arbeiten zu müssen. Er hatte nach dem Anruf die Transportluke des Flugzeugs geöffnet und für Rose offenstehen lassen. Sollte sich die Putze bei dem Sauwetter den Tod holen. Dieses Frauenzimmer musste nicht überwacht werden. Was sollte sie schon Schlimmes anstellen. Einen terroristischen Anschlag ausführen? Lächerlich. Ben gestikulierte in Richtung seines Glases und nahm noch einen Doppelten.

Rose schloss die Transportluke, die ihr riesiges Maul mit einem metallischen Mahlen zuklappte. Rose horchte in die Stille. Sie war allein.

Die 747-8 F Triebwerke von General Electric waren durch einen Wartungstunnel zu erreichen. Rose hatte die komplexen Verkabelungspläne der Maschine genau studiert und wusste, wo sie ansetzen musste. ,Es ist wichtig, dass alles funktioniert‘, hatte ihr die Stimme eingeschärft und Rose setzte alles daran, keinen Fehler zu machen. Nach dem Auftrennen der Verpackung hatte sie die notwendigen Tests mit dem Impulsgeber durchgeführt. Die hoch energetische Ladung war einsatzbereit. Rose verstand sehr genau, wie sie das Gerät in die seitliche Bordwand unter der Verkleidung einsetzen musste. Sie studierte noch einmal prüfend die Anweisungen, die sie im Paket vorgefunden hatte. Eine LED-Anzeige zeigte eine Abfolge roter Punkte, die in rascher Folge aufleuchteten, bis sie grün zeigten. Eine Schrift erschien auf einem Display: ,Active‘. Rose wischte sich über die Stirn. Sie würde noch ein paar Kabelklemmen setzen und dann die Innenwand wieder einsetzen.

,Überprüfe alles noch einmal und verlasse dann den Flughafen‘, hatte die Stimme gesagt.

„Kofferraum“ hatte Fred am Rolltor geblafft und dabei nicht komisch gewirkt. „Was habt ihr da laufen? Zigaretten, Gold oder was?“ „Ich habe mit dem Fernglas gesehen, dass du etwas ins Flugzeug hineingeschmuggelt hast. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ Rose überlegte fieberhaft. „Wie willst du das gut machen? Was willst du mir anbieten, damit ich vergesse, was ich gesehen habe und nichts davon in meinen Bericht schreibe?“

Rose beugte sich im Sitz nach vorne und sah Fred in die Augen. Ihr Blick war fest. Fest wie ein Versprechen. Sie schob den Ärmel ihres Pullovers nach oben und reichte Fred einen Kugelschreiber.

„Schreib einfach deine Handynummer auf meinen Unterarm. Du hast doch ein Handy, oder?“ Rose pausierte und befeuchtete ihre Lippen. Sie hatte Freds volle Aufmerksamkeit. „Ich ruf dich an und wir lassen uns etwas einfallen, was du sehr mögen wirst. Versprochen.‘

Fred schrieb. „Du weißt, was passiert, wenn du mich auflaufen lässt“, sagte er.

„Keine Sorge“, erwiderte Rose und legte einen Gang ein. „Du bist schneller an der Reihe als du denkst.“

Kapitel 2

Fred fühlte sich nach seiner Doppelschicht frischer als üblich. Er gratulierte sich zu seiner Spürnase.

Üblicherweise ertappte sein Fernglas Mitarbeiter von Fremdfirmen, die sich heimlich Rauchpausen gönnten oder heimlich ausgetauschte Zärtlichkeiten. An besonders aufregenden Tagen schlichen sich Jugendliche auf das Gelände, um ihre Parolen und Logos auf alles zu sprayen, was in ihre Reichweite kam. Fred alarmierte dann mit präzisen Angaben die Kollegen der Hundestaffel und beobachtete, wie die Schäferhunde an ihren Leinen rissen. Ansonsten war der Dienst eintönig und schlecht für die Gelenke. Einmal hatte Fred im Wachhäuschen Sudokus gelöst und war prompt erwischt worden. Sein Vorgesetzter, ein junger Schnösel, hatte ihm einen langen Vortrag über Pflichterfüllung, Stolz und Kündigungsgründe gehalten. Fred hatte genickt und ein reuevolles Gesicht aufgesetzt. Zwei Monate und viele Stunden am Fernglas später, hatte er bei dem Mann eine Fahrzeugkontrolle vorgenommen und ein Bündel Elektronikersatzteile im Kofferraum gefunden. Trotz aller Drohungen und Proteste hatte er die Flughafenleitung informiert und den Mann solange festgehalten, bis die Polizei eintraf. In der Wartezeit hatte Fred seinem Vorgesetzten einen gut vorbereiteten Vortrag über Pflichterfüllung, Stolz und Kündigungsgründe gehalten.

Und jetzt die gute alte Rose. Fred schob sein Fahrrad an und machte sich auf den Heimweg zu seiner kleinen Wohnung. Mit Rose war das so eine Sache. Sie war eigentlich immer nett und machte die kleinen Scherze mit, die Fred sich ausdachte, um sich die Zeit zu verkürzen. Beileibe nicht jeder hatte so einen Sinn für Humor.

Fred verfluchte den Verkehr, der immer dichter wurde und die unverschämten Fußgänger, die den Fahrradweg besetzten.

Außerdem brachte ihm Rose immer eine Kleinigkeit mit. Fred hatte so eine Ahnung, dass die Donuts und Zigarillos eine Kompensation dafür waren, dass er an solchen Tagen nicht den Kofferraum öffnete. Er selbst hatte das Gerücht gestreut, dass er auf eine Kontrolle verzichten würde, wenn eine kleine Aufmerksamkeit angeboten würde. Was war schon dabei. Es lag in seinem Ermessen, was er wann kontrollierte. Schon als Polizist hatte er das System begriffen und zur Zufriedenheit aller angewandt. Leben und leben lassen. So lief das. Und es lief gut. Jedenfalls bis diese gelackten Affen von den internen Ermittlungen auftauchten und ihm heimlich aufgenommene Videos vorspielten. Das war das Ende seiner Karriere und die Verstoßung aus dem Paradies.

Fred trat kräftiger in die Pedale. Touristen dachten immer, London sei flach wie eine Scheibe. Dabei war die Stadt eine Berg- und-Tal-Bahn. Eine dunkle Limousine raste durch eine Pfütze. Fred fluchte und machte eine obszöne Geste. Verdammte Stadt, verdammtes Wetter, verdammter Job!

Aber vielleicht konnte man aus der Sache mit Rose mehr herausholen als gedacht. Die stille, unscheinbare Rose. Immer so fleißig und folgsam. Ja, folgsam. Was würde sie ihm anbieten, wenn er sie unter Druck setzen und dann lieb zu ihr sein würde? Eintrittskarten für Arsenal? Eine kleine Jagd durch die Betten?

Fred hörte auf zu treten. Er hatte eine brillante Idee. Er würde Rose in väterlichem Ton anbieten, bei der Sache mitzumachen. Er würde bluffen. Rose hatte etwas laufen. Vielleicht etwas Großes. Sie hatte etwas geschleppt und war danach nur mit ihrem Putzzeug aufgetaucht. Schmuggel, vermutete Fred. Ein Netzwerk. Es war ihm egal. Leben und leben lassen. Es war alles viel einfacher, wenn man einen verlässlichen Mann am Eingangstor hatte. Einen Mann, der wusste, wann er wegschauen musste. Dafür sollte ein kleiner Anteil drin sein.

Fred fühlte wie seine Stimmung stieg. Beschwingt bog er in die Straße ein, die ihn aus dem Verkehr befreien und zu seiner Wohnung führen würde.

Fred begann ein Lied zu pfeifen. Das hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr getan. In seiner Vorstellung wurde der Anteil größer und größer. Er würde sich endlich wieder ein Auto leisten können und auch die Reise nach Frankreich, die seit Jahren fertig geplant auf seinem Wohnzimmertisch lag.

Der Zusammenstoß kam wie aus heiterem Himmel. Fred stürzte über den Bordstein und versuchte sich mit den Händen abzufangen. Seine Hüfte protestierte. Noch bevor sich Fred orientieren konnte, beugte sich die junge Frau in der papageienhaft farbigen Kluft eines Fahrradkuriers über ihn.

„Oh mein Gott, haben Sie sich verletzt?“ Die Stimme war hoch und ohne erkennbaren Akzent. Fred fühlte einen neuen Schmerz dicht über seinem Knöchel. Er ächzte. Eine weiche Hand strich ihm über das Gesicht. „Bleiben Sie liegen. Ich hole Hilfe. Es war meine Schuld. Ich bin zu schnell eingebogen und konnte die Spur nicht halten.“ Fred drehte seinen Kopf. Er sah eine schmale Schulter, die mit grünem Stoff bespannt war und ein Stück Fahrradhelm. Übelkeit wusch über ihn hinweg. Noch einmal zwang er sich, hinzusehen. Braune Augen mit Goldtupfen, dachte Fred verwundert, bevor sich das Gesicht wegdrehte. Freds Herz stolperte und es fiel ihm schwer Atem zu holen. Er würde unbedingt einen Arzt aufsuchen müssen, bevor er die Reise nach Frankreich unternahm, war Freds letzter Gedanke, bevor er starb.

Der Fahrradkurier war verschwunden. Niemand hatte den Vorfall beobachtet. London hatte andere Probleme.

Das Internet transportierte die verschlüsselte Nachricht über Freds Exekution nur wenige Minuten später.

Kapitel 3

Moskau – drei Jahre nach dem Augustputsch 1991

Generalleutnant Ostrowski stemmte sich gegen den Wind, der Moskau den nahenden Winter verkündete. Die Choroschowskoje Chaussee war von fast kahlen Bäumen gesäumt, die erst im nächsten Jahr wieder zaghaftes Grün tragen würden. Jetzt schienen sie Vorboten einer kargen Zeit zu sein, einer Zeit vergangenen Glanzes. Die wuchtigen Bauten an den Straßenrändern waren noch immer beeindruckend, aber man merkte den prächtigen Fassaden an, dass sie schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Ostrowski machte den Zerfall der Sowjetunion an den Fahrzeugen fest, die die Straßen Moskaus verstopften. Westimporte. BMW und Mercedes waren Statussymbole. Immer öfter sah man auch die riesigen SUVs, die ohne Respekt und Rücksichtnahme vorwärts pflügten. Die Verkehrspolizisten mit ihren unverkennbaren schwarz-weißen Stöcken hielten sich respektvoll zurück, wenn sich Fahrer mit blau und rot flackernden Lichtern und Sirenen näherten. Auch das ein Phänomen der neuen Zeit, in der Privatleute staatliche Hoheitssignale gebrauchten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. ,Businessman‘ war das neue Schlagwort und ,Neue Russen‘, die sich mit einem über Nacht erworbenen sagenhaften Reichtum alles kauften – Landsitze, Flugzeuge, Politiker und Beamte. Die russische Seele war vergiftet worden und gierte nach Konsum und billigem Glück. Die Autos waren ein Gradmesser für den Werteverfall. In den Seitenstraßen und Vierteln mit den riesigen Wohnblocks, deren Balkone bröckelten, regierte die Hoffnungslosigkeit. Die Renten reichten nicht für das Existenzminimum, Familien zerfielen, Wodka übernahm die Rolle des Trösters. Die Neue Russische Föderation war ihrer Kornkammern, ihrer Häfen und Bodenschätze beraubt. Die industrielle Produktion strebte einem Nullpunkt entgegen, während Spekulanten und Finanzhaie Banken gründeten, Gewinne mit Immobiliengeschäften machten und sich Schlüsselindustrien für lächerlich kleine Summen unter den Nagel rissen. Das Land lag im Koma und wurde von westlichen Konsumgütern überflutet. Das Vaterland war besiegt. Besiegt von den Flüchen ,Glasnost‘ und ,Perestroika‘, die als russische Errungenschaften vermarktet wurden und doch Ausgeburten des Niedergangs waren. Die Gesundung würde einen radikalen Kurswechsel erfordern, wenn überhaupt noch eine Gesundung möglich war.

Die KPdSU hatte ihren Auftrag verraten, das Politbüro war vor Reformern in die Knie gegangen, die Institutionen und Stützen der großen Sowjetunion hatten kapituliert, die Armee war ein armseliger Haufen mit einer veralteten Ausrüstung und ohne Moral. Dies war die Stunde des Gorbatschow Vermächtnisses. Mit Jelzin war es noch schlimmer gekommen. Russland blutete aus und verkaufte nach seiner Seele auch seinen Reichtum.

Der Generalleutnant sah sich nach dem Verwaltungsblock um, aus dem er gekommen war. Russlandtreue Kräfte, Patrioten hatten sich getroffen, um eine vaterländische Rettungsidee zu entwickeln. Aber Ostrowski erschien die Initiative schwach und unkoordiniert. Alle hatten darin übereingestimmt, dass die letzten zehn Jahre rückgängig gemacht werden mussten. Ein Provinzpolitiker schwadronierte von einem Umsturz und dem Wiederaufleben der Atommacht Sowjetunion. Andere forderten die Rückkehr hinter den Eisernen Vorhang, um Kräfte zu schöpfen und den westlichen Einfluss zurückzudrängen. Für Ostrowski, der mit jedem einige ermunternde Worte wechselte, und sich im Übrigen zurückhielt, bot die Versammlung einen erbärmlichen Anblick. Die Netzwerke der Macht waren längst in andere Hände gelangt. Die Entscheidungen lagen bei jungen Technokraten, die an den Eliteuniversitäten der USA studiert hatten und ohne Loyalität zu ihrem Land aufgewachsen waren. Die alten Haudegen des Warschauer Paktes, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges gegen die Nazihorden, die Protagonisten einer Systemalternative zu dem marktwirtschaftlichen Chaos, das die Demokratisierung Russlands mit sich gebracht hatte, hatten aufgegeben. In Scharen waren sie zu jedem übergelaufen, der sie bezahlte. Sie waren zu Wissenschafts- und Waffensöldnern geworden, weil das Vaterland sie ausgespuckt und vernachlässigt hatte.

Ostrowski beugte sich hinunter zu einem Mütterchen, das auf dem Gehsteig kauerte und bittend eine Tasse mit Sonnenblumenkernen feilbot. Alte Frauen wie diese sah man häufig wie Kehrichtbündel an den Ecken und vor den prächtigen Auslagen der Kaufhäuser sitzen. Ihre Augen waren leer und ihre Pose erstarrt. Die Fußgängerströme zogen vorbei, ohne die Ausgestoßenen zu beachten. Nur hier und da regte sich Mitleid und eine barmherzige Hand warf einer Hockenden ein paar Rubel zu. Das waren russische Rentnerinnen, Witwen, die die neue Zeit zu Bettlerinnen gemacht hatte. Einige von ihnen trugen Medaillen und Ehrenzeichen an ihren zerschlissenen Mänteln. Sie hatten ihre Männer und Söhne im Krieg verloren und selbst mit der Waffe gekämpft, bevor sie das Land wieder aufbauten.

Ostrowski streichelte die faltigen Wangen des Mütterchens und steckte ihr gefaltete Geldscheine zu. Ihren gemurmelten Dank konnte er nicht mehr verstehen. Er war in Gedanken. Er musste eine Entscheidung treffen.

Das letzte Mal, als er eine Entscheidung traf, hatte sich sein Leben zum Schlechten gewendet. Sein Vater, ein harter Mann mit ehernen Prinzipien, hatte seinen Sohn frühzeitig auf eine Karriere im Militär vorbereitet. Die Atmosphäre im Elternhaus des Jungen war kalt und distanziert gewesen. Der Vater hielt nichts von dem, was er ,Verzärtelung‘ nannte und erst viel später, als der Junge zum Mann geworden war, dämmerte es ihm, dass ihn sein Vater dafür verantwortlich gemacht hatte, dass die Mutter die Familie verließ, nachdem sie den Knaben auf die Welt gebracht hatte. Die Militärakademie hatte ihn geschliffen und geprägt, hatte ihn Verantwortung und Entbehrung, Ehre und Pflichterfüllung gelehrt. Viele seiner Kameraden gliederten sich in die Ränge der Armee ein, aber der junge Ostrowski zeigte mehr Ehrgeiz. Als der Militär-Nachrichtendienst GRU auf ihn aufmerksam wurde, zögerte der Kadett keinen Augenblick. Er absolvierte das harte Training der Kommandoeinheit für unkonventionelle Kriegsführung und Terrorismusbekämpfung, Speznas, klaglos und glaubte mit Hingabe an den Wahlspruch: ,In Euren ruhmreichen Taten liegt die Größe des Vaterlandes‘. So wurde der junge Ostrowski Teil der Hauptverwaltung für Aufklärung und ein Rad im ,Alles sehenden Auge‘. Schon bald machte er in der Verwaltungsebene Europa von sich reden.

Ostrowski entschloss sich, noch einige Stationen mit der Filjowskaja Linie der U-Bahn zu fahren. Eine Touristentraube blockierte die Treppe und bestaunte die Pracht des U-Bahn-Schachtes, der eher an ein italienisches Opernhaus als eine U-Bahn-Linie erinnerte. Die Luft war abgestanden und schmeckte auf der Zunge nach Rauch und dem Abrieb von Bremsbelägen.

Bis zum Sommer 1991 verfolgte Ostrowski einen geradlinigen Karriereplan. Er reiste viel, tat sein Möglichstes für sein Land und brachte Ordnung in sein Privatleben. Mit Anna war eine Frau an seiner Seite, die der Musik und den Künsten zugetan war. Sie hatte sich im Musikstudium dem Fagott als Hauptinstrument gewidmet und zusätzlich Kunstgeschichte an der Lomonossow-Universität belegt. Es störte sie nicht, dass sie als Lehrerin ein dürftiges Gehalt bezog. Es störte sie auch nicht, dass sie mit ihrem Mann, einem jungen Offizier des GRU, ein ehemaliges Gartenhaus im Chystye Prudy Seendistrikt Moskaus beziehen musste, weil die Appartements in den Satellitenvorstädten ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten. Das junge Paar richtete sich ein, isolierte die Wände und heizte mit dem alten Kohleofen. Nach und nach modernisierten sie ihr Heim. Sie hielten aneinander und an ihren Idealen fest. Das genügte. Es genügte den meisten. Nur der Wunsch nach einem Kind blieb unerfüllt. Dann dämmerte die neue Zeit heran.

Ostrowski hatte eine Bilderbuchkarriere gemacht und sein privates Glück gefunden, doch der Zustand der Sowjetunion bekümmerte ihn. Die neuen Töne aus dem Politbüro schürten Erwartungen. Die Erwartungen rüttelten am stabilen Fundament der Republiken. Überall bildeten sich Risse. Vor langer Zeit geschmiedete Allianzen drohten zu zerbrechen und riefen Gegenkräfte auf den Plan.

Der Generalleutnant war wiederholt ins Verteidigungsministerium zitiert worden. Überall auf den Fluren tuschelte man. Die zweite Riege hinter Gorbatschow sah ihre Zeit gekommen. Ostrowski beschloss abzuwarten, als die Nachrichten verkündeten, Gorbatschow habe während seines Krimurlaubs beschlossen, aus gesundheitlichen Gründen zurückzutreten.

Der Putsch war halbherzig gewesen und dilettantisch vorbereitet. Das Militär und die Paramilitärischen Einheiten der Geheimdienste verweigerten den Gehorsam. Jelzin schwang sich zum Retter der Nation auf und demontierte Gorbatschow unter dem Deckmantel der Solidarität. Glasnost und Perestroika regierten das Denken und Handeln. Unabhängigkeit und Demokratisierung waren Vorläufer der Privatisierung. Das Sowjetreich war den Raubrittern zum Opfer gefallen.

Als man Ende 1991 Ostrowski erneut vorlud, ahnte er nicht, dass er entlassen werden sollte. Eine Säuberungswelle ging durchs Land. Russland hatte diese Wellen schon oft erlebt. Ostrowski hatte nicht gespürt, dass etwas gegen ihn im Gange war. Man warf ihm vor, ein enges Vertrauensverhältnis zu dem Armeegeneral Warennikow, dem ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister, einem der Putschisten, unterhalten zu haben. Es gäbe Belege, dass Ostrowski Teil der Verschwörung gewesen sei. Er sei dazu ausersehen gewesen, den GRU auf der Seite der Putschisten in Stellung zu bringen. Man halte ihm zugute, dass er in letzter Sekunde gezögert habe. Deswegen werde er nicht inhaftiert und erhalte eine gekürzte Pension. Das zu unterzeichnende Schriftstück liege vor ihm auf dem Schreibtisch. Er habe 60 Sekunden, sich zu entscheiden. Danach erlösche das Angebot und man sei gezwungen, andere Mittel anzuwenden.

Ostrowski hatte den gelangweilt wirkenden Technokraten angesehen und nach dem Füller gegriffen. Er war nur zu gut mit der Maschinerie vertraut, um nicht zu wissen, dass sein Schicksal beschlossene Sache war. Man händigte ihm die bereits ausgefüllte Versetzung in den Ruhestand aus. Sein Schreibtisch sei geräumt und die persönlichen Dinge seiner Frau zugestellt worden. Alles Weitere könne er einem Schreiben entnehmen, das ihm in den nächsten Tagen zugehe. Generalleutnant Ostrowski war 56 Jahre alt, als er der Sowjetunion in den Untergang folgte.

Es folgte eine Zeit der Stille. Anna fragte nicht. Sie konnte die Wahrheit in dem Gesicht ihres Mannes lesen. Seine innere Unruhe bekämpften sie mit langen Spaziergängen und Theaterbesuchen. Freunde waren ihnen kaum geblieben, denn Männer wie Ostrowski galten als ansteckend. Anna nahm mehr Privatschüler für den Fagottunterricht an als üblich. Sie sagte, dass ihr die Arbeit Spaß mache, aber Ostrowski kannte den wahren Grund und er schämte sich, dass seine Pension für den Lebensunterhalt nicht ausreichte.

Der völlige Zusammenbruch kam, als Jelzin seinen Gefolgsmann Luschkow auf den Bürgermeisterposten für Moskau hob. Luschkow hatte Macht, Pläne und Gier im Übermaß. Und er hatte Jelena Baturina zur Frau, die innerhalb kürzester Zeit zur ungekrönten Zarin der Bauunternehmer aufstieg. Das Privatvermögen des Paares schnellte in astronomische Höhen.

Die Männer der Stadtverwaltung, die Ostrowski besuchten, machten wenig Umschweife. Man benötige das Stück Land der Ostrowskis für eine wichtige Baumaßnahme. Die Entschädigungssumme sei bereits festgesetzt. Das Ehepaar erhalte eine Ersatzwohnung im 8. Stock eines Plattenbaus außerhalb von Moskau. Bei einer Weigerung drohe die Enteignung und Räumung.

Ostrowski widersetzte sich zum ersten Mal in seinem Leben einer behördlichen Anordnung.

Als zehn Tage später der Schlägertrupp das zerstörte Haus am See verließ, griff man Ostrowski schreiend und blutüberströmt im Park auf. Er rammte seinen Schädel immer wieder gegen den Stamm einer Trauerweide, bis man ihn überwältigte und sedierte. Im Haus fand man Anna. Jedes Leben war aus ihren Augen gewichen. Man konnte nicht feststellen, wie oft sie vergewaltigt worden war.

Die Behörden kümmerten sich um alles. Ostrowski wurde in ein Militärkrankenhaus verlegt und ruhiggestellt. Anna erhielt einen Platz in einer psychiatrischen Klinik für Traumapatienten. Die Polizei beeilte sich als Ermittlungsergebnis mitzuteilen, dass eine Bande verrohter Jugendlicher für den Überfall verantwortlich sei. Sogar der Bürgermeister Luschkow erwähnte den Vorfall in einer Pressekonferenz und verlieh seiner Abscheu vor der ,barbarischen Tat‘ Ausdruck. Er kündigte an, dass seine Ehefrau Jelena Baturina aus menschlicher Anteilnahme beschlossen habe, das verwüstete Grundstück zum Doppelten des Schätzpreises zu übernehmen.

Seither war Ostrowski auf der Suche. Auf der Suche nach der großen Lösung. Die neue Wohnung in der Plattenbausiedlung war unmöbliert geblieben. Ostrowski benötigte keine Möbel. Er brauchte ein neues Leben. Ein neues Leben und Anna, die einen Stoffhasen umklammert hielt und ängstlich vor ihm zurückwich, wenn er leise mit ihr sprach.

Ostrowski verließ die U-Bahn. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Erste seit mehr als zwanzig Jahren. Er verschluckte sich und hustete. Er würde tun, was er tun musste. Er hatte sich entschieden; entschieden für ein neues Leben. Er würde Anna nicht zurücklassen. Das war er ihr schuldig. Ostrowski drückte die Zigarette aus.

Zwanzig Minuten später gingen die ersten Fahndungsaufrufe bei den Dienststellen der Polizei ein. Gesucht wurde ein pensionierter GRU-Offizier, der soeben seine Frau erschossen hatte. Doch Ostrowski blieb verschwunden.