Cover




Kevin Brooks

Travis Delaney

Was geschah um 16:08?

Roman

Aus dem Englischen von
Uwe-Michael Gutzschhahn

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Kevin Brooks

Kevin Brooks, geboren 1959, wuchs in einem kleinen Ort namens Pinhoe in der Nähe von Exeter/Südengland auf. Er studierte in Birmingham und London. Sein Geld verdiente er lange Zeit mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans ›Martyn Pig‹ ist er freier Schriftsteller. Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, u.a. mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis sowie der Carnegie Medal für »Bunker Diary«. Seit 2011 schreibt er auch Kriminalromane für Erwachsene.

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn, geboren 1952, hat alle auf Deutsch erschienenen Bücher von Kevin Brooks übersetzt. Er studierte deutsche und englische Literatur in Bochum und lebt als Übersetzer und Autor, Herausgeber und freier Lektor in München.

Über das Buch

Travis musste herausfinden, was los war.
So simpel war das.
Er musste es einfach wissen.

 

War es wirklich ein Autounfall, bei dem seine Eltern, die als Privatdetektive arbeiteten, starben? Als Travis Delaney während der Beerdigung einen Mann mit einer versteckten Kamera entdeckt, beschleichen ihn erste Zweifel. Kurz darauf wird das Detektivbüro seiner Eltern verwüstet und der Mann mit der Kamera taucht dort unter falschem Namen auf. Nun ist Travis sicher: Seine Eltern sind bei ihrer letzten Ermittlung auf etwas gestoßen, was so gefährlich ist, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Er beginnt selbst zu recherchieren – und begibt sich in Lebensgefahr …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 Kevin Brooks

Titel der englischen Originalausgabe:

›Travis Delaney: The Ultimate Truth‹,

2014 erschienen bei Macmillan Children’s Books,

a division of Macmillan Publishers Ltd., London

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Umschlagbild: Getty Images

Lektorat: Beate Schäfer

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43017-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71701-4

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423430173








Für Eugenie,

meine gute Freundin und Vertraute

1

Ich bemerkte den Mann mit der versteckten Kamera nur, weil ich es nicht mehr ertrug, weiter die Särge anzugucken. Ich hatte sie schon sehr lange angeguckt. Von dem Moment an, als die beiden Holzkisten in die Kirche gebracht wurden, bis zu dem Moment, als sie auf den Friedhof getragen und in den frisch ausgehobenen Gräbern versenkt wurden. Nicht eine Sekunde hatte ich den Blick von ihnen gelöst. Aber jetzt, als der Pfarrer seine traurigen Worte anstimmte – »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub« – und ich in die Gräber starrte, traf mich die Wahrheit erneut wie mit einem Vorschlaghammer. In den beiden Särgen lagen meine Mutter und mein Vater.

Meine Eltern waren tot.

Es war unmöglich, das zu glauben, unmöglich, mir vorzustellen, und es tat so weh, dass ich wegschauen musste. Als ich langsam den Kopf hob und mir die Tränen aus den Augen wischte, spürte ich die Hand meiner Großmutter auf meinem Arm. Ich sah sie an. Auch sie weinte, ihre freundlichen Augen waren voller Tränen. Ich drückte ihre Hand und lächelte sie traurig an, dann sah ich zu Großvater. Er starrte geradeaus, den Kopf erhoben, das verwitterte Gesicht von Trauer gezeichnet.

Der Pfarrer sprach jetzt das Vaterunser – »vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« – und einige der Trauernden murmelten mit. Ich sah sie mit leerem Blick an, erinnerte mich vage an die vertrauten Gesichter und in diesem Moment entdeckte ich den Mann mit der verborgenen Kamera.

Zuerst war mir nicht klar, dass er eine verborgene Kamera hatte. Zuerst war mir nicht mal bewusst, dass ich ihn überhaupt ansah. Mein Kopf war leer. Ich starrte blind vor mich hin, ohne zu wissen, was ich sah. Erst als die Sonne kurz durch die Wolken brach und aus einem der Knopflöcher seines Anzugs ein winziges Funkeln aufblitzte, betrachtete ich den Mann genauer.

Er war ziemlich groß, hatte kurz geschnittenes graues Haar und stahlgraue Augen und stand neben ein paar alten Studienfreunden meiner Eltern. Ich wusste, dass er nicht zu ihnen gehörte. Sie waren alle ungefähr so alt wie meine Mum und mein Dad – Ende dreißig, Anfang vierzig –, er dagegen war mindestens fünfzig, vielleicht noch etwas älter. Und während ich sämtliche Freunde von Mum und Dad kannte, genau wie alle andern auf der Beerdigung, hatte ich diesen Mann noch nie gesehen. Das war nicht das Einzige, was ihn abhob. Er hatte etwas an sich, das mir ganz einfach falsch schien …

Dann fing der Knopf wieder das Licht ein und funkelte wie eine winzige Glasperle. Da wusste ich schlagartig, was es war. Ich hatte schon einmal eine Knopflochkamera gesehen. Mein Dad hatte öfter eine benutzt. Er hatte sie mir gezeigt und sie mich ausprobieren lassen. Mein Dad hatte mir immer gern gezeigt, wie Dinge funktionierten.

Mein Dad …

Meine Mum.

Die Erinnerung an sie kam wieder hoch, füllte meine Augen mit Tränen und für die nächsten paar Minuten verschwamm einfach alles.

 

Die Trauerfeier war jetzt vorbei, die Gebete waren gesprochen, der Friedhof wieder ruhig und still. Ein leichter Sommerregen hatte eingesetzt und die Menschen begannen aufzubrechen, traten verlegen von den Gräbern zurück und machten sich auf den Rückweg zu ihren Autos.

Großvater legte mir eine Hand auf die Schulter.

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und sah ihn an.

»Willst du noch irgendwas sagen, Travis?«, fragte er behutsam.

Ich konnte nicht nachdenken. Mein Kopf war leer. Ich schaute umher, suchte nach dem Mann mit den stahlgrauen Augen, doch es war nichts mehr von ihm zu sehen.

Ich schaute auf die Gräber, die zwei Särge, die in der Erde ruhten. Es gab so viel, was ich sagen wollte, doch mir fehlten die Worte. Ich schloss die Augen und stellte mir die Inschriften auf den Grabsteinen vor:

JACK DELANEY

UNSER GELIEBTER SOHN, EHEMANN UND VATER

MIT 38 JAHREN GESTORBEN AM 16. JULI 2013

RUHE IN FRIEDEN

 

ISABEL DELANEY

UNSERE GELIEBTE TOCHTER, EHEFRAU UND MUTTER

MIT 37 JAHREN GESTORBEN AM 16. JULI 2013

RUHE IN FRIEDEN

Was gab es noch weiter zu sagen?

 

Ich sah den Mann mit den grauen Augen erst wieder, als wir über den Parkplatz bei der Kirche zu Großvaters Auto gingen. Er stand neben einem schwarzen BMW mit getönten Scheiben und sprach in ein Handy. Bis wir Großvaters Auto erreichten, hatte der Mann aufgehört zu telefonieren, öffnete den Kofferraum des BMW und nahm einen Mantel heraus. Während Großvater in den Taschen nach seinem Schlüssel suchte, zog ich mein Handy heraus und machte die Kamera an. Der Mann hatte den Mantel inzwischen angezogen und fasste nach oben, um den Kofferraum wieder zu schließen. Als ich mein Handy hochhielt und ihn heranzoomte, schaute er zu mir herüber. Ich erstarrte einen Moment, seine kalten Augen blickten mich aus dem Smartphone-Display an und ich fotografierte ihn schnell. Eine Sekunde nach dem Kamera-Klick glaubte ich zu erkennen, wie er mir zunickte.

»Was machst du, Trav?«, hörte ich Großvater fragen.

»Nichts«, murmelte ich und steckte das Handy ein.

Großvater schaute zu dem BMW hinüber, doch es gab jetzt nichts mehr zu sehen. Der Mann war eingestiegen und hatte die Tür geschlossen. Sein Gesicht war nur noch undeutlich hinter den getönten Scheiben zu erkennen. Großvater starrte noch einen Augenblick auf den BMW, dann drehte er sich zu mir um.

»Komm, mein Junge«, sagte er und öffnete die hintere Tür seines Wagens. »Fahren wir nach Hause.«

2

Meine Eltern hatten eine kleine Privatdetektei namens Delaney & Co. Großvater hatte das Geschäft 1994 als Einmannunternehmen gegründet und Mum und Dad waren zwei Jahre später, gleich nach der Uni, mit eingestiegen und hatten für ihn gearbeitet. Vor etwa zehn Jahren hatte sich Großvater aus dem Geschäft zurückgezogen und seitdem betrieben es meine Eltern allein. Die meisten ihrer Aufträge waren eher unspektakulär – Versicherungsbetrüger überführen, bei Mitarbeiterdiebstählen ermitteln, Zeugen ausfindig machen, Schuldner suchen –, und auch wenn sie ab und zu mit den Schattenseiten des Lebens zu tun hatten, hatte ich mich nie sonderlich um ihre Sicherheit gesorgt. Sie machten ihre Arbeit sehr gut. Sie gingen keine unnötigen Risiken ein. Deshalb wäre mir nie eingefallen, dass sie irgendwann nicht mehr zurückkommen könnten. Sie waren meine Eltern, sie kamen immer zurück.

Doch vor zwei Wochen, am Dienstag, den 16. Juli, waren sie nicht zurückgekommen.

Ich werde den Tag nie vergessen.

Es war der Tag, an dem die Erde aufhörte, sich zu drehen.

 

Ich war zur gewohnten Zeit, gegen halb fünf Uhr nachmittags, von der Schule gekommen, hatte mich umgezogen und danach etwas gegessen. Mum und Dad hatten gesagt, dass sie am Abend nach London wollten und nicht vor dem nächsten Morgen zurück sein würden.

»Tut mir leid, Trav«, hatte Mum gesagt und auf ihre Uhr geschaut. »Ich weiß, das kommt ein bisschen überraschend, aber es hat sich kurzfristig was ergeben, etwas sehr Wichtiges, wir müssen so schnell wie möglich nach London. Du übernachtest heute also bei Großmutter und Großvater.«

»Aber heute ist Dienstag«, sagte ich. »Heute Abend ist Boxtraining.«

»Du kannst ja trotzdem hin«, antwortete Dad. »Großvater fährt dich.«

»Er mag Boxen aber nicht«, sagte ich. »Er findet, das ist was für Weicheier.«

Dad lächelte. »Komm schon, such deine Sachen zusammen, okay? Wir müssen gleich los. Wir setzen dich unterwegs bei Großmutter und Großvater ab.«

Es ist verrückt, wie das Gedächtnis arbeitet. Ich weiß, ich muss die Treppe hoch in mein Zimmer gegangen sein und ein paar Sachen in meinen Rucksack geworfen haben – Zahnbürste, Schlafanzug, Boxhandschuhe, Shorts –, aber ich erinnere mich nicht, es tatsächlich getan zu haben. Dagegen weiß ich noch gut, dass Mum und Dad – als ich wieder herunterkam und den Rucksack draußen ins Auto legen wollte – auf der Auffahrt standen und stritten. Sie brüllten sich nicht an oder so. Das taten sie nie. Eigentlich war es gar kein richtiger Streit, nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Mum wollte mit ihrem Auto nach London fahren und Dad mit seinem. Mums war ein Automatik, ein Volvo und deutlich bequemer als Dads alter Saab. Aber Mums Auto stand in der Garage und Dads auf der Auffahrt. Wenn sie Mums Volvo nehmen wollten, hätte Dad also seinen Saab erst von der Auffahrt setzen und warten müssen, bis Mum den Volvo aus der Garage geholt hatte, und dann den Saab hineinstellen müssen.

»Das ist doch Zeitverschwendung«, sagte er.

Mum schüttelte den Kopf. »Ich fahr nicht den ganzen Weg nach London in deiner Schrottkiste.«

»Vielleicht ist er ja eine Schrottkiste«, antwortete Dad, »aber wenigstens hat er eine vernünftige Farbe.«

Mums Auto war knallgelb – ihre Lieblingsfarbe – und Dad machte sich immer lustig, wie schrecklich es aussah.

»Ich fahr doch sowieso«, sagte Dad. »Du musst dich einfach nur reinsetzen und aus dem Fenster gucken.«

»Von deinen Sitzen krieg ich Rückenschmerzen.«

»Ist doch nicht weit. In zwei Stunden sind wir da.«

»Ich will nicht in London sein und den ganzen Abend Rückenschmerzen haben.«

Dad seufzte. »Na gut, wir nehmen deinen.«

Nachdem er seinen Wagen von der Auffahrt gefahren, Mum ihren rausgesetzt und Dad seinen rückwärts in die Garage gesteuert hatte, kam die nächste Auseinandersetzung. Diesmal ging es um Dads Navi. Dad hatte null Orientierungssinn und nahm immer sein Navi, sogar für Fahrten im Ort. Aber Mum hasste die Dinger und benutzte nie eins, egal wo sie hinfuhr. Als Mum also sah, dass Dad sein Navi in den Händen hatte, sagte sie, er solle es gleich wieder wegbringen.

»Das Ding kommt nicht in mein Auto«, sagte sie entschieden.

»Wir fahren mitten nach London rein«, erwiderte Dad. »Du weißt doch, wie das da mit den Straßen ist.«

»Ist mir egal«, erklärte Mum. »Lieber verfahr ich mich, als dass ich so ein Teil benutze.«

»Aber ich hab die Adresse schon eingegeben«, sagte er. »Wir müssen es einfach nur anschalten, wenn wir nach London reinkommen.«

»Nein«, sagte Mum.

Dad schaute sie an und wollte noch etwas sagen, doch als er ihren Gesichtsausdruck sah, ließ er es bleiben. Er seufzte nur wieder, drehte sich um und brachte das Navi zurück in die Garage.

Die Garage ist gerade breit genug für ein Auto und Dad war fast einen Meter neunzig groß, deshalb warf er das Navi, statt es zurück in den Wagen zu legen, einfach in irgendeine Kruschelkiste auf einem Regal.

Und das war’s.

Keine große Geschichte. Als wir alle drei in Mums Auto saßen und unsere Straße entlangfuhren, war das Ganze schon längst vergessen. Mum lachte und machte sich über irgendwas lustig. Dad fummelte am Radio und sang einen schnulzigen alten Popsong mit und ich saß auf der Rückbank und freute mich auf meinen gewohnten Dienstagabend im Boxclub.

Ich erinnere mich an alles ganz genau.

Danach ist mein Gedächtnis aber wieder vollkommen leer. Ich erinnere mich an nichts, was zwischen der Abfahrt bei uns zu Hause und dem Moment war, als Großvaters Handy klingelte. Ich weiß nicht mehr, was Mum und Dad zu mir gesagt haben, als sie mich bei Großmutter und Großvater zu Hause absetzten. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich erinnere mich an nichts zwischen fünf Uhr, als ich mit Mum und Dad unser Haus verließ, und fünf vor sieben, als Großvaters Handy klingelte, während wir gerade auf den Parkplatz vor dem Boxclub fuhren.

Ich erinnere mich, dass er den Motor ausschaltete, dann das Handy zückte, auf das Display schaute und dranging.

»Nancy?«, fragte er ins Telefon. Nancy ist meine Großmutter. »Nancy«, sagte er drängend, »was ist denn los?«

Dann wurde er bleich im Gesicht.

 

Der Wagen von Mum und Dad war zehn Kilometer von Barton entfernt von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Der Unfall hatte sich auf einer Ausfahrt von der A12 ereignet. Dad war sofort tot gewesen. Mum war auf dem Weg zum Krankenhaus gestorben. Nach Angaben der Polizei fuhr ihr Wagen mit circa hundert Stundenkilometern, als er plötzlich ausscherte, ins Schleudern geriet, sich um 180 Grad drehte und dann vom Bankett aus in eine Eiche flog. Die Straßenverhältnisse waren gut gewesen, das Auto technisch in Ordnung und keine weiteren Fahrzeuge beteiligt.

3

Die zwei Wochen zwischen dem Unfall und der Beerdigung waren die längsten zwei Wochen meines Lebens gewesen. Die Tage vergingen in einem Schleier von Verwirrung und Leere. Ich verstand nichts. Ich wusste nicht, was ich tun, denken, fühlen sollte. Anfangs konnte ich einfach nicht glauben, dass Mum und Dad tot waren. Ich verstand es einfach nicht. Wie konnten sie tot sein? Sie waren meine Eltern … sie durften nicht tot sein. Immer wieder dachte ich, das Ganze müsse ein riesiger Irrtum sein. Es war nicht Mums Auto, das verunglückt war, sondern der Wagen irgendeines andern … die gleiche Marke wie Mums, das gleiche Modell, die gleiche Farbe. Die Unfallopfer waren nicht Mum und Dad, sondern zwei andere, ein Mann und eine Frau, die nur aussahen wie Mum und Dad …

Aber ich wusste, dass ich mir nur etwas vormachte.

Es war kein Irrtum.

Großvater hatte die Leichen identifiziert.

Ich wohnte jetzt bei meinen Großeltern. Am Tag nach dem Unfall war ich kurz durchgedreht und hatte unbedingt nach Hause gewollt, zurück in mein Zuhause. Ich wollte dort sein, falls Mum und Dad zurückkamen. Für Großmutter und Großvater war das natürlich schwer. Sie konnten mich ja schlecht allein nach Hause lassen. Ich war dreizehn, meine Eltern waren gerade gestorben. Die beiden mussten auf mich aufpassen, das war mir natürlich klar. Meine Reaktion war irrational und machte für sie alles noch schlimmer, aber ich konnte nicht anders. Doch mein Ausraster dauerte zum Glück nicht lange, und nachdem ich mich wieder beruhigt und entschuldigt hatte, versuchten wir alle drei, so gut mit der Situation fertigzuwerden, wie es eben ging.

Großvater fuhr zum Haus meiner Eltern, um ein paar Sachen von mir zu holen – Kleidung, mein Fahrrad, meinen Laptop und noch ein paar andere Dinge –, und obwohl ich mein Zuhause, mein Zimmer wirklich vermisste, hatte ich doch im Lauf der Jahre so viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, dass sich ihr Haus sowieso wie mein zweites Zuhause anfühlte. Ihres lag nicht weit von unserm entfernt. Wir wohnen – oder wohnten – in einem Dorf namens Kell Cross, ganz in der Nähe von Barton, und meine Großeltern wohnen etwa zwei Kilometer entfernt an der Long Barton Road, der Hauptverbindung zwischen Kell Cross und Barton.

Ihr Haus war alt und behaglich, ich hatte mich dort immer wohlgefühlt. Oben gab es drei Zimmer. In einem schliefen Großmutter und Großvater, in einem schlief immer ich und im dritten wohnte Oma Nora. Das ist meine Urgroßmutter, Großvaters Mum. Sie ist inzwischen sechsundachtzig und geht nicht mehr viel raus. Sie hat chronische Arthritis, kaputte Beine und kaputte Hüften. An guten Tagen schafft sie es, nur mit einem Stock herumzulaufen, aber wenn die Arthritis ganz schlimm ist, braucht sie einen Rollstuhl, um irgendwohin zu kommen. Auf einem Ohr ist sie taub und das andere wird auch immer schlechter. Aber geistig ist sie vollkommen fit und in ihren Ansichten auch.

In diesen endlosen zwei Wochen hatte ich sehr viel nachgedacht. Viel anderes blieb mir ja nicht übrig. Ich wollte weder irgendwohin, noch mit jemandem reden – mit Freunden oder den Leuten aus meiner Klasse –, ich wollte gar nichts. Wozu? Also hing ich die meiste Zeit einfach nur rum. In meinem Zimmer, im Wohnzimmer oder manchmal auch draußen im Garten.

Ich glaube nicht, dass ich vorhatte, mir Gedanken über den Unfall zu machen. Es lag nur daran, dass ich sonst nichts zu tun hatte und mir die anderen Fragen in meinem Kopf zu sehr wehtaten. Wieso mussten meine Eltern sterben? Wieso sie? Sie waren die besten Menschen der Welt. Wieso mussten ausgerechnet sie sterben?

Es gab keine Antwort auf diese Fragen.

So merkte ich irgendwann, dass ich mir andere stellte.

Wie war es zu dem Unfall gekommen? Wenn keine anderen Fahrzeuge beteiligt und die Straßenverhältnisse gut gewesen waren, wenn es auch keine technischen Probleme am Auto gegeben hatte, wieso war dann der Wagen von der Straße abgekommen? Mum und Dad waren hervorragende Autofahrer. Wegen ihrer Detektivarbeit hatten sie extra ein Sicherheitstraining gemacht und waren stolz auf ihre Fahrkünste. Sie fuhren vorsichtig, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Sie telefonierten nicht beim Fahren. Sie vermieden riskante Manöver. Was also war passiert? Wieso hatte Mum bei hundert Stundenkilometern die Kontrolle über den Wagen verloren und war in einen Baum geknallt?

Das ergab keinen Sinn.

Genauso wenig verstand ich, wieso sie erst zehn Kilometer von Barton entfernt waren, als sie verunglückten. Sie hatten das Haus gegen fünf Uhr verlassen und nach Aussage der Polizei hatte sich der Unfall mehr als eine Stunde später ereignet, um fünf nach sechs. Für zehn Kilometer braucht man doch keine Stunde. Wo also waren sie gewesen? Und wieso waren sie nicht direkt nach London gefahren?

Wieder wusste ich keine Antwort.

Und da war noch eine Sache, die ich nicht verstand: Wenn sie nach London wollten, wieso hatten sie dann diese Ausfahrt genommen? Die A12 führt direkt von Barton nach London. Es gibt keinen Grund, sie zu verlassen, wenn du nicht woandershin willst.

Fragen …

Ich konnte nicht aufhören, sie mir zu stellen.

Wieder und wieder und wieder.

Auch wenn ich wusste, dass die Antworten nichts mehr ändern würden.

Egal welche Antworten es gäbe – Mum und Dad würden nie mehr zurückkommen.

4

Alles war irgendwie merkwürdig nach der Beerdigung. So als hätten wir ewig darauf gewartet, dass der Tag endlich kam, und dann, als er da war und die Beerdigung vorbei, fehlte uns plötzlich jedes Ziel. Es war einfach nichts mehr da. Die ganze Welt schien nur noch dumpf und leer.

Mich quälten noch immer die unbeantworteten Fragen wegen des Unfalls und seit dem Tag der Beerdigung ging mir auch der Mann mit der verborgenen Kamera nicht mehr aus dem Kopf. Wer war er? Wieso hatte er heimlich die Beerdigung meiner Eltern gefilmt? Normalerweise wäre ich zu Großvater gegangen und hätte ihn gefragt, und normalerweise hätte er auch ein offenes Ohr gehabt und alles getan, mir zu helfen. Vielleicht hätte er sogar ein paar Antworten parat gehabt.

Mein Großvater ist ein sehr erfahrener und kluger Mann. Vor der Gründung von Delaney & Co. hatte er fünf Jahre bei der Militärpolizei und zwölf Jahre als Offizier beim militärischen Geheimdienst gearbeitet, dann hatte er die Firma zehn Jahre lang alleine geführt. Also weiß er bestens über alles Bescheid, was mit Ermittlungsarbeit zu tun hat. Aber er hatte schon immer mit Depressionen zu kämpfen gehabt und nach dem Unfall war es besonders schlimm – er lief mit trister Miene umher, konnte nicht schlafen, war gereizt und wollte mit niemandem reden.

»Er schafft das schon wieder«, versicherte mir Großmutter, als ich sie darauf ansprach. »Das tut er immer. Natürlich wird er nie über den Tod von Jack und Izzy hinwegkommen, keiner von uns wird das. Wir haben unseren Sohn und unsere Schwiegertochter verloren, du deine Mum und deinen Dad …« Sie legte mir einen Arm um die Schulter. »Was du dir immer wieder klarmachen musst, Trav«, sagte sie behutsam, »du musst nicht darüber hinwegkommen. Das wäre gar nicht richtig. Du musst nur zulassen, dass die Trauer ein Teil von dir wird. Verstehst du das?«

»Ich glaub, ja.«

Sie lächelte mich traurig an. »Mach dir nicht zu viele Sorgen um Großvater. Er ist ein zäher alter Bursche. Er bleibt nicht für immer und ewig in seinem Loch. Das Ganze hat ihn eben sehr hart getroffen und zu viele schlechte Erinnerungen wieder hochgebracht, aber das wird schon wieder.«

Großvater hatte beim Militär furchtbare Dinge gesehen und auch selbst erlitten. Als er in Nordirland stationiert war, wäre er fast durch eine Autobombe ums Leben gekommen. Danach lag er ein halbes Jahr im Krankenhaus und bis heute hat er noch Bombensplitter im Körper. Aber am meisten verfolgen ihn wohl die Erinnerungen. Manchmal hat er Albträume und wacht nachts schreiend auf. Ich hab es selber gehört.

Aus diesem Grund fragte ich ihn nicht nach dem Unfall oder dem Mann mit der verborgenen Kamera. Er litt einfach zu sehr. Von mir mit Fragen gequält zu werden war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.

Aber das hieß nicht, dass ich aufhören musste, mich selbst mit Fragen zu quälen.

Außerdem hatte ich ja sonst nichts weiter zu tun.

Das Schuljahr war inzwischen vorbei und in den Sommerferien hatte ich bis jetzt immer Mum und Dad bei Delaney & Co. ausgeholfen. Sie hatten mich natürlich keine richtigen Nachforschungen machen lassen, fanden es aber gut, wenn ich mir im Büro irgendwelche kleinen Aufgaben suchte. Ablage machen, Briefe schreiben, einfache Recherchen im Internet erledigen, solche Dinge. Manchmal nahmen sie mich auch mit zu Routineüberwachungen oder wenn sie jemanden wegen Versicherungsbetrug observierten oder so …

Aber das würde es in diesem Sommer nicht geben.

 

Zwei Tage nach der Beerdigung lud ich das Foto des Mannes mit der verborgenen Kamera auf meinen Laptop. Auf dem Laptop-Bildschirm war es deutlich klarer zu sehen als auf dem Handy und ich muss mindestens zwei bis drei Stunden einfach davorgesessen und es angestarrt haben. Es war unmöglich, auf dem Foto die Knopflochkamera zu erkennen, selbst wenn ich es maximal vergrößerte, aber das hatte ich ohnehin nicht erwartet. Die Knopflochkamera, die Dad mir gezeigt hatte, war so klein und so gut getarnt gewesen, dass man sie mit bloßem Auge praktisch nicht erkennen konnte. Und als mir das wieder einfiel, fragte ich mich auf einmal, ob ich mir die ganze Sache vielleicht nur eingebildet hatte. Wenn eine Knopflochkamera praktisch unsichtbar war, wie konnte ich dann sicher sein, dass der Mann auf der Beerdigung eine trug? Das Einzige, was ich gesehen hatte, war ein kurzes Funkeln von reflektiertem Licht. Es konnte von allem herrühren – von einem Metallknopf, einer Anstecknadel, einem winzigen Stück Folie …

Ich dachte eine Weile darüber nach, dann beugte ich mich vor und starrte von Nahem in das Gesicht des Mannes. Seine stahlgrauen Augen sahen mich direkt an, doch vielleicht war das nicht weiter ungewöhnlich. Wenn du jemanden siehst, der ein Foto von dir schießt, ist es doch ganz normal, dass du zurückstarrst. Er hatte mir ganz leicht zugenickt, wie um mir zu zeigen, dass er mich wahrnahm. Als ich ihn jetzt betrachtete, sah ich wieder dieses Zur-Kenntnis-Nehmen in seinen Augen. Der Blick war nicht freundlich, aber auch nicht unfreundlich. Es ist schwer zu beschreiben, doch ich hatte das Gefühl, als ob er versuchte, mit mir ein Geheimnis zu teilen.

Ich dachte eine Weile darüber nach, dann zoomte ich zurück und betrachtete wieder das ganze Foto. Es zeigte den Mann genau in dem Moment, als er nach oben griff, um den Kofferraumdeckel des BMW zu schließen. Ich konzentrierte mich auf den Kofferraum, vergrößerte ihn, soweit es ging, und versuchte hineinzuschauen, doch das Bild war zu unscharf, um irgendwas deutlich erkennen zu können. Ich scrollte nach unten zum Nummernschild des Wagens. Es war gut zu sehen und leicht zu lesen. Ich starrte es an, überlegte, rätselte herum …

Auch wenn es illegal ist, einen Fahrzeugbesitzer über die Autonummer zu ermitteln, ist es nicht schwer, wenn du die richtigen Leute kennst.

Und ich wusste genau, dass Großvater die richtigen Leute kannte. Er kennt alle möglichen Leute. Ich war mir ganz sicher: Wenn ich ihm die Nummer des BMW geben und ihn bitten würde herauszufinden, wem der Wagen gehörte, hätte er ruckzuck den Namen. Aber sosehr ich es auch wollte, ich wusste, ich durfte Großvater nicht fragen. Nicht, solange es ihm dermaßen schlecht ging. Das wäre nicht fair.

Wie Mum mal zu mir gesagt hatte: Wenn du alles tust, um höflich und fair zu sein, machst du sicher nie einen groben Fehler.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, streckte den Hals und gähnte, dann rieb ich mir die Müdigkeit aus den Augen und betrachtete das Foto von Neuem.

5

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück fragte ich Großmutter, ob es okay wäre, wenn ich ein bisschen Fahrrad fuhr.

»Natürlich ist das okay«, sagte sie etwas zögerlich. »Wo willst du denn hin?«

»Nirgendwo Bestimmtes«, antwortete ich. »Ich dachte, ich fahr einfach ein bisschen rum, du weißt schon … frische Luft schnappen.«

Sie sah mich an. »Gut, aber pass auf dich auf, ja? Und nimm dein Handy mit.«

Ich nickte. »Wie geht’s Großvater heute?«

»Nicht mehr ganz so schlecht. Im Moment schläft er sich aus, was ein gutes Zeichen ist. In der letzten Zeit hat er wenig geschlafen.« Sie lächelte verhalten. »Vielleicht geht es ihm ja ein bisschen besser, wenn er ausgeruht ist.«

Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, nickte ich noch mal.

»Dann los«, sagte sie und wuschelte mir durch die Haare. »Schnapp ein bisschen frische Luft.«

 

Auf der Long Barton Road war nicht viel mit frische Luft schnappen. Es war sommerlich heiß und über der viel befahrenen Strecke hing der Gestank von Autoabgasen. Nicht dass es mir etwas ausmachte. Der Geruch der Straßen auf dem Weg in die Stadt gab mir immer das Gefühl, irgendwohin unterwegs zu sein. Und genau das brauchte ich jetzt – das Gefühl, ein Ziel zu haben, das Gefühl, etwas zu tun. Ich wusste nicht genau, wieso ich es brauchte, und ich wusste auch nicht genau, was ich eigentlich vorhatte, aber das war egal. Hauptsache, ich hatte etwas zu tun.

Das Haus meiner Großeltern liegt nicht weit von der Stadt entfernt, höchstens drei Kilometer, und ich brauchte nicht lange bis zum North-Road-Kreisverkehr, wo das Zentrum so richtig anfängt. Der Kreisverkehr war vollkommen dicht wegen des starken Verkehrs. Er ist einer von diesen Megaknoten, wo man selbst zu besseren Tageszeiten mit dem Fahrrad schwer durchkommt. Deshalb stieg ich ab und schob mein Rad lieber den Gehweg entlang bis zu der Fußgängerampel, um dort über die Straße zu laufen.

So kam ich in den North Walk, eine verkehrsberuhigte Straße am weniger belebten Ende der City. Wenn du den North Walk entlanggehst und da, wo er aufhört, nach links abbiegst, bist du mitten im Zentrum, wo die großen Kaufhäuser sind. Aber die großen Kaufhäuser kümmerten mich nicht. Mich interessierte nur das vertraute kleine Bürogebäude mit der Adresse 22 North Walk, in dem sich Delaney & Co. befand.

Doch als ich an jenem Morgen mein Fahrrad über den Bordstein schob, wirkte überhaupt nichts vertraut. Viele Läden waren geschlossen, die Türen und Schaufenster zugenagelt. Andere waren noch offen, aber die Fenster geborsten. Ich kam an einem Schuhgeschäft vorbei, das total auseinandergenommen war – Schuhe und Stiefel lagen überall auf dem Boden, die Zwischenwände waren eingetreten, die Kasse zertrümmert. Auch die Straße selbst sah aus wie ein Schlachtfeld – herausgerissene Abfallkörbe, verbogene Schilder, die Fahrbahn bedeckt mit Glasscherben und Schutt.

Als ich stehen blieb und mich umschaute, erinnerte ich mich, in den Lokalnachrichten irgendwas über einen Krawall in Barton gesehen zu haben. Unter normalen Umständen hätte ich das sicher aufmerksamer verfolgt, aber die Umstände waren nicht normal. Obwohl Großmutter an den meisten Abenden weiter den Fernseher anstellte, schaute niemand von uns wirklich hin. Und selbst wenn wir hinschauten, nahmen wir nichts richtig auf. Wir hatten andere Dinge im Kopf, Dinge, die wirklich wichtig waren. Deshalb erinnerte ich mich nur, dass es in dem Nachrichtenbeitrag um irgendwelche Ausschreitungen im Zentrum von Barton gegangen war. Anscheinend hatten Plünderer etliche Läden und Gebäude zerstört.

Ich lief den Gehweg entlang und hoffte, das Büro von Mum und Dad wäre verschont geblieben. Doch schon als ich mich dem Bürogebäude näherte, sah ich, dass die Fenster mit Spanplatten vernagelt waren – anscheinend hatten die Randalierer sie eingeworfen, um ins Gebäude zu kommen. Das fand ich seltsam, denn die Firmennamen auf dem Schild neben dem Eingang machten doch klar, dass es hier nichts von großem Wert geben konnte: JAKES AND MORTIMER, ANWÄLTE im zweiten Stock, TANTASTIC TANNING, ein Sonnenstudio, im ersten, und DELANEY & CO. PRIVATDETEKTEI im Erdgeschoss. Wozu plünderte jemand so etwas? Was wollte irgendwer dort schon stehlen – ein Sonnenbett und ein paar Aktenschränke? Aber dann wurde mir klar, dass Randalierer und Plünderer nicht unbedingt rational dachten; sie brachen nur überall ein und schnappten sich, was sie kriegen konnten. Selbst wenn es nicht viel zu stehlen gibt – etwas zum Zerstören findet man immer.

Ich schob mein Fahrrad durch die offene Tür und ging den Flur entlang zum Büro meiner Eltern.

Die Bürotür stand halb offen, die geriffelte Glasscheibe war herausgeschlagen. Gerade als ich mein Fahrrad an die Flurwand lehnen wollte, hörte ich aus dem Büro ein gedämpftes Klonk. Ich blieb stehen und horchte. Durch die geborstene Türscheibe konnte ich niemanden sehen, doch es war eindeutig jemand dort. Ich konnte es hören – schlurfende Schritte, ein unterdrücktes Husten, ein leises Schniefen.

Mein Herz pochte auf einmal heftig und für einen Augenblick war ich versucht, lieber auf Nummer sicher zu gehen. Einfach umzukehren und die Polizei zu rufen. Sollten die das erledigen. Aber mein Herz schlug nicht nur vor Angst, es kochte auch vor Wut. Das hier war das Büro von Mum und Dad. Ich hatte mein halbes Leben hier verbracht. Diese Räume waren voller schöner Erinnerungen. Es war ein besonderer Ort. Niemand anderes hatte das Recht, in unserem Büro zu sein.

Ich holte tief Luft und stieß sie wieder aus, dann drückte ich die Tür ganz auf.

6

Als ich das Büro betrat, sah ich als Erstes eine junge Frau, die Berge Papier vom Boden aufhob. Sie hatte knallrote Haare, ein Tattoo an der rechten Schulter und sie trug einen winzigen schwarzen Minirock, ein Tanktop und lila Doc Martens. Als sie mich reinkommen hörte, richtete sie sich auf und lächelte mich an.

»Hi, Travis«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«

»Hi, Courtney«, murmelte ich und kam mir dämlich vor.

Dämlich deshalb, weil Courtney Lane nun schon seit fast zwei Jahren die Assistentin von Mum und Dad war und es mir wirklich früher hätte einfallen können, dass vielleicht sie im Büro herumgeisterte. Außerdem komme ich mir bei Courtney immer dämlich vor. Sie ist nicht nur umwerfend schön, sondern trägt auch unglaublich freizügige Sachen. Und jedes Mal, wenn ich sie sehe, weiß ich nicht, wo ich hingucken soll, was ziemlich peinlich ist. Noch peinlicher ist es, wenn sie mich umarmt, was sie jetzt gerade tat – sie packte mich und drückte mich ganz fest an sich –, denn ich weiß einfach nie, wo ich dann mit meinen Händen hinsoll. Doch abgesehen von diesem Gefühl der Dämlichkeit und Peinlichkeit war ich froh, sie zu sehen.

»Tut mir leid, dass ich auf der Beerdigung nicht mit dir gesprochen habe«, sagte sie, ließ mich los und trat einen Schritt zurück. »Ich wollte es, aber ich war unsicher, ob es okay gewesen wäre für dich. Und ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich sagen sollte. Weiß ich auch jetzt noch nicht.«

»Du musst gar nichts sagen.«

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich kann das immer noch nicht glauben.«

»Ich auch nicht.«

»Eben ist noch alles in Ordnung und dann plötzlich …«

Ich nickte bloß, weil ich weder dran denken noch unhöflich erscheinen wollte.

»Tut mir leid«, sagte Courtney. »Ich wollte nicht …«

»Schon gut«, erklärte ich.

Sie seufzte wieder, dann ging sie hinüber zu ihrem Schreibtisch und legte den Stapel Unterlagen ab, den sie in der Hand hielt.

Ich sah mich im Büro um. Alles war demoliert. Schreibtischschubladen waren geleert, Schränke aufgebrochen, Papiere und Ordner auf dem Boden verstreut. Die ganze Büroausrüstung fehlte entweder oder war zerstört – PCs, Drucker, Scanner, Telefone.

»Wann ist das passiert?«, fragte ich Courtney.

»Samstagabend«, antwortete sie. »Nach dem, was ich in der Zeitung gelesen habe, ging das Ganze so gegen sieben Uhr los. Da ist eine Jugendgang aus der Slade-Lane-Siedlung in den T-Mobile-Laden am Ende der Straße eingebrochen. Anfangs waren es wohl so etwa zwanzig oder dreißig, aber als die Randale richtig losging und sie anfingen, auch die übrigen Geschäfte zu plündern, sind noch massenhaft andere Leute dazugekommen. Auf einmal haben sie verrückt gespielt und alles kurz und klein geschlagen.«

»Hat sich der Krawall über den North Walk hinaus ausgebreitet?«, fragte ich. »Sind sie auch in die High Street oder so?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Polizei hat offenbar ziemlich schnell reagiert. Innerhalb von einer halben Stunde hatten sie die High Street abgeriegelt, deshalb war es hier am North Walk ja auch so übel.«

Ich schaute hinüber zu dem Büroraum, wo Mum und Dad gearbeitet hatten. Die Tür hing schief in den Angeln, die Holzfüllung war eingetreten.

»Sieht es da drin genauso schlimm aus?«, fragte ich.

Courtney nickte. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, nachzuschauen, was fehlt. Ich dachte, ich versuche erst mal hier, ein bisschen was von dem Chaos aufzuräumen.« Sie sah zu mir rüber. »Die Polizei hat deinen Großvater erst am Montag informiert. Er hat mich an dem Mittwoch nach der Beerdigung angerufen und gebeten, dass ich bei Gelegenheit mal vorbeischau und nachsehe, ob wenigstens die Eingangstür repariert ist.« Sie sah sich in dem Durcheinander um. »Ich hätte schon früher angefangen, aber meine Mum musste ausgerechnet diese Woche ständig ins Krankenhaus, da hab ich es noch nicht geschafft.«

»Du musstest doch nicht reinkommen und aufräumen«, erklärte ich. »Ich meine, ich bin natürlich froh, dass du’s tust. Das ist echt nett von dir. Aber ich weiß nicht, ob du … na ja, du verstehst schon …«

Plötzlich war ich wieder verlegen – aber diesmal, weil ich nicht wusste, wie ich ausdrücken sollte, was ich meinte. Zum Glück hatte Courtney schon meine Gedanken gelesen.

»Es kümmert mich nicht, ob ich bezahlt werde oder so, Trav«, antwortete sie. »Mir ist ganz klar, dass ich nicht mehr kommen muss, um zu arbeiten. Ich tu das hier, weil ich es will. Deine Mum und dein Dad waren immer sehr gut zu mir.« Sie fuhr sich über die Augen und lächelte mich an. »Außerdem, irgendwer muss ja das Chaos beseitigen. Und ich geh mal nicht davon aus, dass du mit Besen und Kehrschaufel hergekommen bist, oder?«

»Nein«, gab ich zu.

Sie wandte sich wieder zu dem Schreibtisch um und fing an, die Papierstapel zu ordnen. »Also, was machst du hier, Travis?«

»Um ehrlich zu sein, das weiß ich selbst nicht so genau«, erklärte ich ihr. »Ich kau wohl an der Frage rum, woran Mum und Dad gearbeitet haben, als sie gestorben sind. Ich weiß, sie wollten nach London, irgendwen treffen, und ich weiß auch, sie waren an einem neuen Fall dran, aber ich hab keine Ahnung, worum es da ging.« Ich trat an den Aktenschrank, um die Hängeregister herauszuziehen. »Ich dachte, vielleicht find ich ja ihre Notizen zu dem Fall oder sonst irgendwas …«

»Den Aktenschrank hab ich schon durchgeschaut«, sagte Courtney. »Der ist leer. Sämtliche Ordner liegen auf dem Boden verstreut.«

Ich sah sie an. »Weißt du denn, woran Mum und Dad gearbeitet haben?«

»Nicht wirklich«, antwortete sie. »Ich hatte die ersten beiden Juliwochen Urlaub und bin erst am Montag vor dem Unfall zurückgekommen. Deine Eltern waren an dem Tag nicht im Büro und am Dienstag hab ich deine Mum nur ganz kurz gesehen, deshalb hab ich es nicht geschafft, mich bei den aktuellen Fällen auf den neuesten Stand zu bringen. Bei der letzten Geschichte, von der ich weiß, ging es um eine Vermisstenrecherche. Das kam an dem Freitag rein, bevor ich gegangen bin. Ich hab die Einzelheiten deinem Dad übergeben, aber ich weiß nicht, ob er den Fall auch tatsächlich übernommen hat.«

»Weißt du noch, wer der Auftraggeber war?«

»Ein Mann namens John Ruddy. Er meinte, er wär ein alter Freund deines Dads.«

»Hast du noch seine Kontaktdaten?«

»Na ja, ich hab sie wie üblich auf dem Firmenrechner im Ordner für neue Klienten gespeichert. Aber wie du siehst …« Sie zeigte zu der leeren Stelle auf dem Schreibtisch, wo der PC hätte stehen sollen. »Ich hab auch zwei Ausdrucke seiner Daten gemacht. Der eine ist in die Akten gewandert, der andere in das Fach im Büro deiner Eltern.« Sie schaute auf die Berge Papier am Boden. »Die Blätter können überall sein.«

»Du hast also keine Telefonnummer oder sonst irgendwas von diesem John Ruddy?«, fragte ich.

»Ich erinnere mich nur, dass er einen Boxclub erwähnt hat.«

»Einen Boxclub?«

»Es war nicht der, wo du hingehst, sondern der andere. Der in der Nähe der Slade Lane, unten am Hafen.«

»Der Wonford-Boxclub?«

»Genau der. Ich glaube, Mr Ruddy hat gesagt, er wär der Manager von dem Verein oder vielleicht auch der Besitzer. Er meinte, dein Dad würde den Club gut kennen.«

»Dad hat da früher trainiert, als er noch boxte«, erklärte ich ihr. »Eine ziemlich üble Gegend da unten, aber der Club hat einen guten Namen, wenn es um Profikämpfer geht. Hat dir Mr Ruddy irgendwas Näheres über den Fall erzählt?«

»Nur dass es um eine Vermisstenrecherche ginge und er gern mit deinem Dad über die Sache reden würde.« Sie sah mich an. »Was ist los, Travis? Wieso willst du das alles wissen?«

Ich schwieg einen Augenblick, ging in Gedanken noch einmal alles durch, dann setzte ich mich und fing an zu reden.

7

Als ich Courtney alles erzählt hatte – meine Zweifel wegen des Unfalls, meinen Verdacht gegenüber dem Mann auf der Beerdigung –, sagte sie erst einmal eine Weile gar nichts, sondern saß nur am Schreibtisch und überlegte still vor sich hin.

Schließlich meinte sie: »Ich weiß nicht, ob wir je die Wahrheit über den Unfall herausfinden werden, Travis. Ich habe mir genau dieselben Fragen gestellt wie du. Wie ist das passiert? Wieso ist es passiert? Wieso sind deine Eltern von der A12 abgefahren? Das ergab alles keinen Sinn, ich fand keine logischen Antworten. Aber dann hab ich mich dran erinnert, dass das Leben nun mal nicht logisch ist, es ergibt nicht alles einen Sinn. Dinge passieren einfach. Vielleicht war deine Mum beim Fahren durch irgendwas abgelenkt, von einer Wespe oder Biene, irgend so was. Oder vielleicht musste sie im falschen Moment niesen … keine Ahnung. Alles ist möglich.«

»Ja, okay«, sagte ich, »aber wieso waren sie auf der Ausfahrt? Und wieso erst zehn Kilometer von Barton weg? Wo sind sie vorher gewesen?«

»Womöglich sind sie erst hier vorbeigefahren. Da war ich schon weg. Vielleicht brauchten sie noch irgendwelche Unterlagen oder haben sonst was vergessen, sind schnell hier vorbei und wurden dann durch einen Anruf aufgehalten …« Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht sind sie von der A12 runter, weil sie tanken mussten. Ich weiß, das klingt alles nicht sehr wahrscheinlich, aber auch unwahrscheinliche Dinge passieren, Travis.«

Ich nickte, akzeptierte ihre Argumentation. Aber ich war noch immer nicht überzeugt. Und ich glaube, sie auch nicht.

»Was ist mit dem Mann auf der Beerdigung?«, fragte ich.

»Zeig mal das Foto, das du gemacht hast.«

Ich zog mein Handy heraus, suchte das Bild und reichte es Courtney. Sie betrachtete den Mann auf dem Foto.