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Peter Ensikat

Glaubt mir kein Wort

Nachgelassene Satire

 

Herausgegeben
und mit einem Nachwort
von Bastienne Voss

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2016

 

© der Originalausgabe:

edition q im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin

unter Verwendung eines Fotos von ullsteinbild-Leber

ISBN 978-3-8393-2121-8 (epub)

ISBN 978-3-86124-691-6 (print)

 

www.bebraverlag.de

Inhalt

Glaubt mir kein Wort

 

Auch im Sozialismus gab es warme Mittelplätze

Uns gab’s nur einmal – vor und hinter der Gardine

Im Herzen der Deutsche zur Einigkeit neigt

Ein bisschen Krieg braucht dieses Land zum leben

Endlich angekommen – Die neue deutsche Normalität

Woher kommt der Mensch und wozu

 

Gebet

 

Auf der Kante liegen (Nachwort)

 

Zu einigen Personen

Enthaltene Texte

Autor/Herausgeberin

Glaubt mir kein Wort

Der alte Fontane hat mal gesagt: »Es ist eigentlich dumm, ohne Hoffnung zu leben. Wozu hat man sie denn?« Na und – hat er nicht recht? Aber der nicht ganz so alte Brecht hat gesagt: »Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.« Und wenn ich jetzt daran denke, was uns allen passieren kann, hat Brecht eigentlich auch recht. In der DDR haben wir oft gesagt: Optimismus ist Mangel an Information. Jetzt, in der Bundesrepublik, weiß ich: Hauptbestandteil aller regierungsamtlichen Information ist Optimismus. Der Solidarpakt widerlegt die Marx’sche These: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. An den Solidarpakt müssen wir einfach glauben. Denn nur der Glaube kann uns Zwerge noch ergötzen. Tucholsky hatte ja auch schon seine Schwierigkeiten mit dem Marx-Satz vom Sein und dem Bewusstsein. Er meinte, das sei in etwa so intelligent wie die Behauptung: »Der Zustand der Zähne bestimmt über den Grad der Zahnschmerzen.« Das ist auch richtig.

Irgendwie haben alle recht. Und das ist mein Problem: Wenn alle recht haben, wem soll ich dann noch glauben?

Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, wer da glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen, der liegt mit Sicherheit falsch. Das ist die einzige gesicherte Erkenntnis, die wir aus vierzig Jahren theoretischem Sozialismus in den praktischen Kapitalismus hinüberretten konnten. Eines habe ich allen klugen Westlern voraus: Ich weiß, wie sehr man sich irrt, wenn man fest daran glaubt, im Recht zu sein. Die einzige historische Wahrheit, die bisher unwiderlegt ist, heißt: Irren ist menschlich. Ich denke – also bin ich im Irrtum.

1993

Auch im Sozialismus gab es warme Mittelplätze

Lied vom Mittel-maß-halten

Schlaf, mein Sohn, den guten Schlaf.

Nur wer schläft, mein Sohn, ist brav.

Träume solltest du vermeiden –

Träume machen unbescheiden.

Glaub mir, Held sein ist kein Spaß.

Du, mein Sohn, bleib Mittelmaß.

Werde mittel-schlecht oder mittel-gut,

werde mittel-feig, hab nur Mittel-mut.

Mach’s, mein Sohn, dir stets bequem –

Mittelmaß lebt angenehm.

 

Erste Lehre: Du darfst nicht auffallen, weder durch Kleidung und Haarschnitt noch durch Intelligenz. Trage, was alle tragen, sage, was alle sagen, und schlage, wen alle schlagen, damit du nicht geschlagen wirst. Merke: Lieber ein mittelmäßiges Gehalt, als jede Woche Kritik und Selbstkritik.

 

Sicher wirst du so nicht groß.

Aber Größe macht dich bloß

unbeliebt für kleine Leute.

Das galt früher, das gilt heute:

Helden enden tragisch nur.

(Das beweist die Literatur.)

Achte, wenn du gehst, gehen die andern mit?

Achte, wenn du gehst, auf den kurzen Tritt.

In der Mitte ist’s bequem – Mittelmaß lebt angenehm.

 

Zweite Lehre: Du sollst dir kein Vorbild machen.

Merke: Gute Beispiele verderben die Mitte!

 

Drum, Sohn, erreg dich nicht.

Bleibe ein bescheidenes Licht.

Trage nicht dein Herz zu Markte –

Helden kriegen Herzinfarkte.

Unsereins stirbt niemals aus.

Unsereiner hat es raus:

Lässt die andern vor, bleibt im Hintergrund,

wird zwar nie berühmt, aber bleibt gesund.

In der Mitte ist’s bequem –

Mittelmaß lebt angenehm.

 

Dritte Lehre: Auch im Sozialismus gibt es noch warme Mittelplätze. Und die Helden fahren nicht immer die besten Autos. Die ersten werden die letzten sein, aber Mitte hat immer Schwein.

1972

 

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Vergessen

Geht’s Ihnen auch so mit Ihren Gedanken?

Ich sauf wie ein Loch und vergesse zu schwanken.

Als Kind hab ich jeden Mann Papa genannt,

den eigenen hab ich nicht wiedererkannt.

Und einmal, da wär ich erstickt fast beim Essen –

ich hatte das Schlucken ganz einfach vergessen,

vergessen, vergessen …

 

All meine Lehrer sind sehr früh gestorben.

Ich hab Ihnen jeglichen Lehrplan verdorben.

Mein Lehrmeister plagte sich auch mit mir ab.

Ich überstand’s, aber er liegt im Grab.

Ich lebe und bilde mich fort auf Kongressen,

auf welchen, das hab ich schon vorher vergessen,

vergessen, vergessen …

 

Freundinnen hatte ich auch ziemlich viele,

bloß welche wie hieß, hatt ich nie im Gefühle.

Und eine, die nahm ich dann schließlich zur Frau.

Nur welche das war – ach, ich weiß nicht genau.

Ich habe mit ihr oft getrunken, gegessen …,

doch was das Dritte war, hab ich vergessen,

vergessen, vergessen …

 

Sehn Sie, das hat nun für mich sehr viel Gutes –

wenn ich mich verpflichte, denkt keiner: er tut es.

Und wenn es gilt, kernige Reden zu halten,

dann red ich ganz offen vom Chef, diesen alten …

Am nächsten Tag lädt er mich mittags zum Essen

und da ist die Sache natürlich vergessen,

vergessen, vergessen …

 

Sagen Sie selbst – bin ich nicht zu beneiden?

Ich kann mich von morgens bis abends gut leiden.

Vergangenheit, Zukunft – was geht mich das an?

Es gibt genug andre, die denken schon dran.

Sie sitzen und schwitzen und planen und messen –

ich freu mich, wie kann man sich so weit vergessen,

vergessen, vergessen …

 

Ich kann mich jedermann angenehm machen.

Ich kann über jeden Witz hundertmal lachen.

Ich kann auch tagtäglich die Presse durchwandern,

für mich ähnelt gar keine Zeitung der andern.

Auch Losungen find ich ganz einfach zum Fressen,

die kann ich beim Lesen schon wieder vergessen,

vergessen, vergessen …

 

Die Schlussstrophe, die ist die schönste von allen,

die ist mir bloß grad, die ist mir bloß grad,

die ist mir bloß gerade entfallen …

1970

 

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Alltägliche Maskerade

Treten Sie näher, treten Sie ran –

hier gibt es Masken für jedermann!

Begräbnis, Versammlung, Kritik – einerlei –

wenden Sie sich an den Maskenverleih!

Nicht auf den Anzug und nicht auf das Kleid

schaut man in unserer heutigen Zeit.

Zum richtigen Anlass das richtige Gesicht –

mehr braucht der Erfolgreiche heutzutag nicht.

 

Aber meine lieben Mitmienen, das, was Ihnen an Wandlungsfähigkeit angeboren und anerzogen ist, reicht nicht mehr für den taktischen Umgang mit Menschen und Vorgesetzten. Die Zeiten sind vorbei, da man dem Chef einfach dort hineinkroch, wo er keine Augen hat. Die Hosen sind enger geworden und der Blick weiter. Deshalb geben Sie Ihrem Gesicht schon am frühen Morgen einen leichten Anflug von Klassenstandpunkt, der Ihrem Chef die Gewissheit vermittelt, dass Sie das ND gelesen haben. Die Sekretärin aber streifen Sie mit jenem gänzlich unpolitischen Blick, der sie vergessen lässt, dass sie was anhat. Sollte sie allerdings schon älter oder nicht Ihr Typ sein, behalten Sie den Klassenstandpunkt ruhig bei.

Dann legen Sie die Stirn in Dauerkrause, schicken Sie die Pupillen von Zeit zu Zeit seufzend zum Wechselrahmen, als hielten Sie stille Zwiesprache mit dem Vorbild dort oben, und atmen Sie hörbar ein und aus. Auch leises Schnarchen wird Ihnen dann noch als unermüdliche Tätigkeit ausgelegt werden.

Sollte Ihr Chef Sie gegen Feierabend trotzdem noch nach den unerledigten Akten fragen, verleihen Sie Ihrem Gesicht jenen unfehlbaren Ausdruck gekränkter Parteilichkeit, der da besagt: Wie kann man nach dem letzten Plenum nur noch nach alten Akten fragen! Und schon ist er beschämt. Denn wenn Ihr Chef wirklich arbeitet, dann kann er das ganze ND gar nicht gelesen haben.

Bei der nächsten Gelegenheit wird er Sie befördern, denn Rausschmeißen geht ja nicht. Also: gut maskiert, ist halb befördert.

In kritischen Situationen aber geben Sie Ihrem Gesicht jene undurchdringlich-überlegene, jedoch nach allen Seiten offene Entschlossenheit, keine Meinung zu äußern, bevor die Mehrheitsverhältnisse klar sind.

Sollten Sie mit der Verkehrspolizei zu tun haben, üben Sie Ihr Gesicht in Demut. Blicken Sie immer zum Polizisten auf, auch wenn er kleiner ist als Sie. Beim Autoschlosser hilft kein Gucken. Hier müssen Sie spucken.

 

Treten Sie näher, treten Sie rein –

mit unsern Masken wahren Sie den Schein!

Die Unschuld vom Lande für spät in der Nacht,

wenn Ihre Frau Ihnen Vorwürfe macht.

Ein einziger Blick, und die Frau ist geknickt –

hat man denn dafür die Nacht durch gebückt

am Schreibtisch vor Akten und sowas gehockt,

damit, wenn man heimkommt, die Frau auch noch bockt?!

 

Ja, meine lieben Brüder im Mienenspiel, auch Ihr ganz privates Glück hängt entscheidend von der Kunst Ihrer Maske ab. Die richtigen Falten im überarbeiteten Gesicht lassen jeden fremden Lippenstift verschwinden und anschließend von den Mitleidstränen der beschämten Gattin hinweg spülen.

Für die Kinder aber reicht der stetige Vorwurf im Blick – unverstandenes Vorbild –, der da sagt: Als ich so alt war wie du, konnte mein Vater noch mit Leib und Seele kriechen. Heutzutage muss unsereins alles mit dem Gesicht machen. Sein wahres Gesicht aber hat unsereins in der Hose. Und deshalb, meine Damen und Herren:

 

Treten Sie näher, treten Sie ran –

Masken braucht jeder von uns irgendwann.

Wir kriechen nicht mehr, nein, wir wahren den Schein.

Denn das Bewusstsein bestimmt unser Sein.

Und der erfolgreiche Karrierist

ist zwar nur mimisch ein Super-Marxist.

Er weiß ja warum und wofür er heut lebt,

und wie er am schnellsten nach Höherem strebt –

immer gute Miene machen,

auch wenn’s ein böses Spiel ist, das er spielt.

1974

 

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Dialektisch for you*

Es gibt immer noch Leute, die glauben, es sei nicht in unserm Sinne, auf klare Fragen klare Antworten zu geben. Für solche – sagen wir mal – Mitschmitts bringen wir nun einen Weiterverbildungskursus in Neudialektik.

 

Professor: Guten Abend, meine Damen und Herren! Bei meinem heutigen Vortrag »Dialektisch for you« wird mich dankenswerterweise meine Meisterschülerin Sibylle Schönblick unterstützen.

Schülerin: Guten Abend, Professor Schmitt! Guten Abend!

Professor: Zugegeben, meine Damen und Herren, der achte Parteitag war für uns Neudialektiker ein harter Schlag. Aber zum Glück gibt es immer noch einige hartgesottene Schmitts, die an unserem Hauptlehrsatz festhalten.

Schülerin: Alles hat bei uns zwei Seiten – eine schöne und eine sehr schöne.

Professor: Den schönen Seiten unseres Lebens begegnen wir alltäglich im Nahverkehr, im Konsum und im Betrieb, den sehr schönen in Presse, Film und Fernsehen.

Schülerin: Schön ist es, wenn unsere Werktätigen wochenlang vergeblich nach einer Anbauwand herumlaufen, sehr schön aber wird es, wenn sie in der Aktuellen Kamera erleben, wie gewissenhaft unsere Möbelwerker ihre Exportverpflichtungen erfüllen.

Professor: Letzteres nennen wir auch den Umschlag eines schönen alten Problems in eine sehr schöne neue Erfolgsmeldung.
In grauer Vorzeit war Dialektisch die Sprache der Wissenschaft. Heute aber wurde Neudialektik zu einer wahren Allerweltssprache. Für einen wahrhaft geschulten Neudialektiker gibt es kein Problem, das er nicht aus der Welt reden könnte mit der herzigen Aufforderung:

Schülerin: Das muss man dialektisch sehen!

Professor: Sie merken schon, Neudialektisch kann man nicht nur denken und sprechen, nein, man kann es auch sehen. Selbst, wenn man es nicht fassen kann. Mit dieser Art, Dinge zu sehen, kann man mühelos alle Mängel, Schwächen und Pannen erklären, ohne irgendjemanden verantwortlich zu machen. Schuld sind einfach die objektiven Schwierigkeiten, die wir durch Heiligsprechung zu objektiven Gesetzmäßigkeiten erhoben und somit unantastbar gemacht haben. War Dialektik bei unseren Klassikern noch die Lehre von den Widersprüchen, so ist Neudialektik einfach leeres Gerede, dem keiner widerspricht. Aber sehen wir uns ein Beispiel an!

Schülerin: Wenn es gerade mal keinen …

Professor: Kümmel!

Schülerin: … Kümmel gibt, so ist das kein Widerspruch zu der These von der sich ständig verbessernden Versorgungslage. Denn das Wesen keines Kümmels ist – wie beispielsweise das Wesen keiner Ersatzteile – unwesentlich. Das heißt, man soll kein Wesen daraus machen, sondern sich der wirklich wesentlichen Frage zuwenden, die da heißt: Wie versalzen wir dem Klassenfeind die Suppe?

Professor: Und nicht etwa: Wie verkümmeln wir sie ihm!

Schülerin: Das tut er ja schon selbst mit den gewaltigen Kümmelbergen der EWG, die zu einer ernsten Kümmelkrise des gesamten kapitalistischen Systems führen müssen. Wohingegen kein Kümmel im Sozialismus auch zu keiner Kümmelkrise führen kann. Daraus wiederum erkennt man, dass wir uns endgültig kümmelfrei machen müssen von westlichen Einflüssen, die immer wieder über Kümmel und Korn bei uns einzudringen versuchen.

Professor: Merke: Je kleiner ein Problem, desto naheliegender ist es für unsereinen, ihm mit der Grundfrage unserer Zeit zuleibe zu rücken. Wo Marx sagte, es käme nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, da sagt ein Neudialektiker von altem Schrot und Korn:

Schülerin: Es kommt nicht einfach darauf an, etwas zu verändern, sondern vor allem, jede Veränderung sofort und ausführlich zu interpretieren.

Professor: Auf diese Art und Weise hat schon mancher Schmitt seine größeren Fehler zu mittleren Erfolgen interpretiert. Für einen wahrhaft geschulten Neudialektiker gibt es nichts, was er nicht so lange interpretieren könnte, bis es kein Mensch mehr wiedererkennt. Er vermag zu jedem Widerspruch zu sagen:

Schülerin: Verweile doch! Du bist so schön!

Professor: Sein Grundsatz aber lautet:

Schülerin: Ich kenne keine Fragen mehr …

Professor: … ich kenne nur noch Antworten.

1974

 

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Oh Eurydike

Bei uns zu Haus ist alles ganz antik.

Mein Mann und ich, wir schwärmen für die Griechen.

Wir halten nichts von Politik.

Wir möchten selbst wie alte Griechen riechen.

Sogar ein Buch hab ich gelesen,

da ist im Einband schon der Wurm gewesen.

Schon war mir klar:

Das Buch es war

aus der Antike – oh Eurydike!

 

Mein Zimmer ist mein Klein-privat-Athen

mit Hausolymp und lauter nackten Göttern

aus echtem Marmor. Da vergehn

die Witze auch den allergrößten Spöttern.

Wer doch noch lacht, dem sag ich leise,

als wär es nichts, die echten Götterpreise.

Denn grad der Neid

erhöht die Freud’

an der Antike – oh Eurydike!

 

Mein Gatte steht am Tage im Beruf.

Er spielt in einer Tuchfabrik Direktor.

Doch abends steht, wie Gott ihn schuf,

mein Mann vor mir. Ich nenne ihn dann Hektor –

so klassisch und so schön gewachsen,

ein echter Grieche, wenn auch nur aus Sachsen.

Er flüstert leis:

»Wird dir nicht heiß

von der Antike – oh Eurydike?«

 

Und glauben Sie, dann wird mir wirklich heiß.

Dann spüre ich Antike in den Händen.

Was stört mich dann noch, wenn ich weiß,

am Morgen muss sich Hektor von mir wenden

und muss sich fortschrittlich gebärden!

Auch dieser Tag wird schließlich Abend werden.

Und abends sieht man meinem Mann

auch den Genossen nicht mehr an –

nur die Antike – oh Eurydike!

1974

 

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Nimm zwei!

Schlafe, mein Kindlein, sei lieb!

Vater ist noch im Betrieb.

Schlaf, deine Mutter muss gehen.

Die Nachbarin wird nach dir sehen.

Bist du heut Abend schön brav,

schenk ich dir morgen ein Schaf –

bitte, jetzt mach kein Geschrei!

Von mir aus bekommst du auch zwei.

 

Morgen sind wir nicht zu Haus.

Schau aus dem Fenster hinaus.

Essen steht fertig im Schrank.

Im Fernsehn gibt’s ein Schwank.

Geh, wenn du willst, in den Park –

hier, kauf dir Eis für ’ne Mark –

bitte, jetzt mach kein Geschrei!

Von mir aus bekommst du auch zwei.

 

Sonntag ist Vater zu Haus

und ruht sich mal ordentlich aus.

Ich muss ja leider nach Gören.

Doch du wirst ja den Vati nicht stören.

Geht das am Sonntag schön glatt,

kauf ich dir Montag ein Rad –

bitte, jetzt mach kein Geschrei!

Von mir aus bekommst du auch zwei.

 

Was ist, du langweilst dich so?

Na, denkst du denn, ich bin bloß froh?

Hast du nicht alles gekriegt?

Du würdest zu wenig geliebt?

Söhnchen, ach bist du erst groß,

kriegst du ’ne Frau auf den Schoß.

Bitte, jetzt lass das Geschrei!

Von mir aus bekommst du auch zwei.

1969

 

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Tagesshow

(Titelmusik und Stimme: »Hier ist das deutsche Fernsehen mit der Tagesschau«)

 

Sprecher: Und nun weitere Nachrichten der Tagesschau. Wie DPA aus gut unterrichteten Kreisen erfahren hat, ist in der südlichen DDR-Kreisstadt Crimmitschow ein mittlerer bis höherer Baum umgefallen, an dem oppositionelle Kreise der Kreisstadt bereits seit längerem gesägt haben sollen. Wie ein Hamburger Nachrichtenmagazin hierzu berichtet, handelt es sich dabei um den letzten hohen Baum der DDR, der sich mit seinem Sturz der Zwangsverarbeitung zu holzfreiem Propagandamaterial entziehen wollte. Als Förster verkleidete hohe Staatssicherheitsbeamte haben den Baum bereits umstellt. Hierbei soll es zum Einsatz von Nacht und Nebel gekommen sein. Hören Sie nun einen Bericht unseres Korrespondenten in Ostberlin.

Korrespondent: Offiziell ist hier – wie immer – nichts zu erfahren. Zwar ist die Existenz von Bäumen in der DDR bisher noch nicht dementiert worden, aber in der heutigen Ausgabe des »Neuen Deutschland« werden sie mit keinem Wort erwähnt. Auch Crimmitschau ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Westliche Korrespondenten schließen daraus, dass in allernächster Zeit mit einem Verbot von Wald und Bäumen zu rechnen ist. Auch eine Umbenennung von Crimmitschei in Grimmiggorod ist nicht mehr auszuschließen. Wie aus parteinahen Kreisen zu erfahren ist, trägt ein Mitglied des kommunistischen Zentralkomitees den linken Arm in einer Binde. Daraus geht eindeutig hervor, wie heftig die Auseinandersetzungen unter der hiesigen Parteiführung verlaufen sein müssen. Wird Honecker sich nach dem Baumsturz von Crimmitschew noch halten können? Einige Ostberliner Gaststätten blieben heute wegen Ruhetag bereits geschlossen. Haben die Gaststättenleiter Anweisung, die Honeckerbilder zu entfernen? Noch wissen wir nichts, aber wir können uns alles vorstellen.

Sprecher: Den Kommentar spricht heute Matthias Wald.

Kommentator: Der ostzonale Wald, meine Damen und Herren, ist in Bewegung geraten, und noch weiß niemand, wohin er sich bewegen wird. Der östlichen Presse ist nur im besonders kleingedruckten Wetterbericht die Nachricht zu entnehmen, dass ein Sturm über Mitteldeutschland zog. Aber glauben die Herren dort drüben wirklich, sie könnten alles auf die Meteorologen abwälzen? Der Baum von Crimmitschtown also nur ein Opfer ostzonaler Witterungsbedingungen? Den Bürgern der immer noch sogenannten DDR wird es vielleicht so dargestellt werden. Aber wir wissen doch, wer in den kommunistisch gelenkten Staaten über das Wetter entscheidet. Und wir wissen auch, wie hoffnungsvoll unsere Mitbürger da drüben zum Himmel starren und auf das freie Wetter einer freien Welt warten. Der Baum von Crimmitschowsk ist nur ein Beispiel.

Sprecher: Wie die französische Nachrichtenagentur AFP soeben berichtet, handelt es sich bei der südlichen DDR-Kreisstadt nicht um Crimmitschowsk oder Crimmitschtown, sondern um die norditalienische Kreisstadt Crimmi della tschau. Aber hinzuzufügen bleibt: Das ändert natürlich nichts an der Situation in der DDR.

1978

 

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Zwischen Himmel und Hölle

Petrus: Hallo Luzi! Du hier oben?

Teufel: Petri heil!

Petrus: Eingaben von unten.

Teufel: Was – aus meiner Hölle?

Petrus: Nein, von ganz unten. Irgendwelche Menschlein beschweren sich wiedermal, dass sie in seiner schönen Welt nicht glücklich sind. Kennst ja den Alten – alles für das Glück der Menschen!

Teufel: Der hat Sorgen! Unsereins weiß nicht mehr, wie er’s warm kriegen soll in der Hölle, und hier oben wird vom Himmel auf Erden gefaselt.

Petrus: Pssst! Er kommt.

Gott: Ich grüße euch! Wo sind unsere Erzengel, Sankt Petrus?

Petrus: Alle im Bett – Grippe. (Er niest.) Wird ja auch immer kälter hier oben, wenn da unten nicht richtig geheizt wird.

Teufel: Tu du mal Wunder mit Rohbraunkohle!

Gott: Keine Wunderdiskussion! Hier oben wird an unseren Wundern nicht gezweifelt.

Teufel: Aber bei mir unten ist die Hölle los. Meine eigene Großmutter lacht mich schon aus, wenn ich den Seelen mit dem Höllenfeuer auf Braunkohlenbasis drohe. Zu euch kommen ja nur die Gläubigen. Aber bei mir wird doch an nichts geglaubt, was nicht da ist.

Gott: Du musst die Seelen von der Hitze überzeugen, bis dass sie wieder schwitzen lernen! Zur Sache nun! Es haben unser himmlisches Ohr trotz aller Sicherheitsvorkehrungen menschliche, allzu menschliche Stimmen erreicht, die sagen, sie wären auf unserer Erde nicht mehr glücklich.

Petrus: Wir dürfen nicht alles ernstnehmen, was die Menschen so sagen. Ich war selber mal Mensch. Ich weiß, was man da zusammenlügt.

Gott: Da nur wir im Besitz der absoluten Wahrheit sind, was bleibt den Menschen übrig als die kleine Lüge?

Teufel: Das könnte von mir sein, himmlischer Vater.

Gott: In diesem Kreise kann man ja mal offen reden. Also – was tun? Die Hölle ist überfüllt mit Unglücklichen, während wir hier oben schon alle Augen zudrücken müssen, um überhaupt noch eine glückliche Seele ins Paradies zu befördern.

Petrus: Der Himmel ist ja nicht zum Vergnügen da! Und was die Sünde betrifft – ich musste mir ja damals auch alles verkneifen!

Gott: Fast alles, wenn ich mich richtig erinnere. Ja, ja, vergeben ist vergeben. Aber wenn ich den Menschen hier und da beim Sündigen zuschaue – nur zur Kontrolle, nicht zum eigenen Vergnügen –, also direkt unglücklich schienen sie mir dabei nicht zu sein.

Petrus: Nicht dabei, aber danach.

Teufel: Das kommt nur vom schlechten Gewissen, dass ihr ihnen vor ihre natürlichen Regungen gebaut habt.

Gott: Ich habe grad so einen konkreten Fall zu bearbeiten. (Liest aus Akten vor.) Leitende Seele, ehemals weiblich, Marxistin, aber durchaus nicht ungläubig, weigert sich außerirdische Autoritäten anzuerkennen, besteht auf wissenschaftlicher Weltanschauung und weiß überhaupt alles besser. Jetzt sitzt sie im Fegefeuer und diskutiert mit den himmlischen Heerscharen über Emanzipation.

Petrus: Auch so modernes Teufelszeug.

Teufel: Viel schlimmer – Menschenwerk.

Gott: Du meinst, das hilft uns weiter, Luzifer? Nun ja, wir wollen nichts unversucht lassen. Petrus, rufe sie.

Petrus: Am Ende kommt der Marx noch selber in den Himmel!

Gott: Na und, Marxisten fressen keine Himmelspförtner.

Petrus: Viel schlimmer, sie verleugnen uns!

Gott: Hast du nicht auch verleugnet … damals?

Petrus: Aus Angst, aber nicht aus Überzeugung.

Teufel: Wie viele Überzeugungen entstehen aus Angst vor dir, oh Herr.

Gott: Ruf die Genossin und fürchte dich nicht.

Petrus: In deinem Namen! He, Genossin, der Herr erwartet dich!

Genossin: Natürlich, das hab ich mir gedacht – der Herr der Schöpfung! Alles Männer hier in leitenden Funktionen! Kollegen, so geht das nicht weiter hier oben. Das ist ja der reine Männerhimmel!

Petrus: Hab ich’s nicht gesagt – Marxisten kritisieren selbst den Himmel!

Gott: Immerhin gibt sie ja zu, dass das der Himmel ist.

Genossin: Wir Marxisten waren immer für die Anerkennung der real existierenden … obwohl ich vor einer Woche noch geschworen hätte …

Gott: So, so. Geschworen wird bei euch also trotzdem. Du kommst, wenn wir nicht irren, aus einem sehr kleinen, aber nunmehr anerkannten Fleckchen unseres Universums …

Genossin: Ich komme aus der DDR.

Gott: Ja, DDR – so hieß das Fleckchen. Und was hast du da gemacht?

Genossin: Ich war Kaderleiterin. Ich habe unsere Menschen …

Gott: Eure Menschen? Was sind das für Leute?

Genossin: Na, eben Menschen.

Gott: (lächelt) Also unsere. Fahre fort.

Genossin: In der DDR leben mehr als zwei Millionen organisierte Kommunisten.

Teufel: Hilf mir, oh Herr – zwei Millionen! Und alle kommen zu mir in die Hölle!

Gott: Fasse dich, Luzifer – wir sehn ins Herz, nicht ins Parteibuch. Die guten Marxisten lässt der Herr nicht im Stich.

Genossin: Was denn, das stimmt also wirklich?

Gott: Natürlich. Nicht alles, was ihr da unten redet, ist erfunden. Aber sprich von dir. Du warst Kaderleiterin.

Genossin: Ich hatte zu entscheiden, wer wohin kommt.

Petrus: Das Amt verwalte ich hier oben.

Genossin: Dann sind wir wohl Kollegen? Sagen Sie mal, nach welchen Kriterien wird hier entschieden? Ich meine, wenn man jemanden erst mal eingestellt hat, dann hat man ihn doch für immer und ewig …

Petrus: Hier oben ja.

Genossin: Also dann seid ihr uns überhaupt nicht voraus. Aber wie sichert ihr euch denn ab? Ich meine, es ist doch schon schwer, überhaupt jemanden zu finden …

Petrus: Hier oben haben wir das Monopol. Bei uns klopft jeder einmal an.

Genossin: Da sind wir euch voraus. Monopole gibt’s bei uns nicht mehr. Wie haben Kombinate.

Gott: Wenn ich den kleinen Erfahrungsaustausch unterbrechen darf – was hast du denn konkret getan?

Genossin: Konkret? Ich war Kaderleiterin. Ich wollte immer nur das Beste für die Menschen.

Gott: Sehr schön. Aber was ist denn das Beste?

Genossin: Naja, das Beste ist natürlich, wenn alles ruhig läuft. Ich meine, wenn jeder an seinem Platz für das Glück der Gesellschaft und damit auch für das eigene …

Teufel: Wie soll denn das ruhig laufen – für das Glück der andern und für das eigene?

Genossin: Alles eine Frage des Bewusstseins.

Gott: Du meinst, des Glaubens?

Genossin: Bei uns heißt das Bewusstsein. Das Sein haben wir im Griff, mit dem Bewusstsein haben wir noch Schwierigkeiten.

Teufel: Da reicht, eure Menschen sind glücklich, sie wissen es nur noch nicht …

Genossin: Unsere Menschen sind eben trotz allem auch nur Menschen. Was haben wir nicht alles versucht – sogar Gebote der sozialistischen Moral haben wir aufgestellt.

Gott: Ihr habt euch selbst Gebote aufgestellt?

Genossin: Hat sich aber nicht bewährt.

Gott: Ja, wir haben da auch unsere Erfahrungen. Seit Jahrtausenden!

Genossin: Verstehe – klassisches Erbe. Haben wir auch gepflegt.

Gott: Und trotzdem sind eure Menschen nicht so ganz glücklich?

Genossin: Natürlich sind sie es, wie der Kollege da (zeigt auf den Teufel)