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Über das Buch:


Der dritte  Band der großen Saga »Das Erbe von Foxworth Hall«: Die Brüder Jory und Bart entdecken voller Entsetzen, dass eine alte Dame aus der Nachbarschaft auf unerklärliche Weise ihrer Großmutter ähnelt. Diese hatte einst ihre eigenen Kinder jahrelang im Dunkel eines Dachbodens versteckt. Als die beiden Jungen Nachforschungen anzustellen beginnen, kommen sie einem schrecklichen Geheimnis der alten Dame auf die Spur...

Prolog

Am späten Abend, wenn die Schatten lang werden, sitze ich still und reglos bei einer von Pauls Marmorstatuen. Ich höre, wie die Statuen mir etwas von einer Vergangenheit zuflüstern, die ich nie vergessen kann, und wie sie mir eine Zukunft andeuten, die ich mich zu ignorieren bemühe. Im blassen Licht des aufgehenden Mondes funkeln vor mir jeden Tag aufs neue die Irrlichter meiner Schuldgefühle, sagen mir, daß ich mein Leben anders hätte gestalten können und sollen. Aber ich bleibe, was ich schon immer war – ein Mensch, der von seinen Instinkten beherrscht wird. Es scheint mir, daß ich mich niemals ändern kann.

Heute habe ich eine silberne Strähne in meinem Haar entdeckt, die mich daran erinnerte, daß auch ich bald eine Großmutter sein kann, und mich schauderte. Was für eine Art von Großmutter würde ich wohl sein? Was für eine Mutter war ich? In der linden Dämmerung wartete ich darauf, daß Chris sich zu mir gesellte und mir mit seinen ehrlichen blauen Augen versicherte, ich würde nie dahinschwinden; ich bin nicht eine von den verblassenden Papierblumen, ich bin eine wirkliche Blume.

Er legte den Arm um meine Schulter, und ich legte den Kopf an seine Seite – dorthin, wo er schon immer am besten hinzupassen schien. Wir beide wissen, daß unsere Geschichte nun fast zu Ende ist, und daß Bart und Jory sie fortsetzen – im guten oder schlechten Sinne.

Von nun an wird es Jorys und Barts Geschichte sein, und sie werden sie so erzählen, wie sie sie erlebt und verstanden haben.

ERSTER TEIL

Jory

Wann immer Dad mich nicht von der Schule abholte, setzte mich ein gelber Schulbus an einer einsamen Stelle ab, wo ich mein Fahrrad aus dem Gebüsch im Straßengraben zog, in dem ich es jeden Morgen versteckte, bevor ich in den Bus stieg.

Um nach Hause zu kommen, mußte ich dann eine kurvenreiche schmale Straße entlangradeln, bis ich zu einem großen, verlassenen Anwesen kam, das jedesmal unweigerlich meine Blicke auf sich zog. Ich fragte mich dann immer, wer hier wohl gelebt haben mochte, und warum sie dieses große Haus wohl verlassen hatten? Wenn ich es sah, fuhr ich automatisch langsamer, denn ich wußte dann, daß ich bald zu Hause war.

Fünfzig Meter weiter lag unser Zuhause, ein isoliertes und einsames Haus an einer Straße, die mehr Kurven und Abzweigungen hatte als eines von den Labyrinthen in unseren Spielbüchern. Wir lebten in Fairfaix, Marin County, etwa zwanzig Meilen nördlich von San Francisco. Auf der anderen Seite der Berge gab es einen Mammutbaum-Wald, und dahinter lag das Meer. Wir lebten an einem kühlen Ort, der manchmal wie eine richtige Einöde wirkte. Der Nebel wallte in großen feuchten Wogen durch das Tal und hüllte oft den ganzen Tag die Landschaft ein, so daß alles kalt und unheimlich wirkte. Der Nebel war gespenstisch, aber auch romantisch und geheimnisvoll.

So sehr ich unser Zuhause liebte, hatte ich doch noch vage und verwirrende Erinnerungen an einen südlichen Garten voller riesiger Magnolienbäume und Rosenbüsche. Ich erinnerte mich an einen großen Mann mit dunklem Haar, das grau zu werden begann; ein Mann, der mich seinen Sohn nannte. Ich konnte mich kaum noch an sein Gesicht erinnern, aber an das schöne Gefühl von Wärme und Sicherheit, das er mir gab. Ich glaube, eine der traurigsten Sachen am Erwachsenwerden ist, daß keiner mehr groß oder stark genug sein kann, dich auf den Arm zu nehmen und an sich zu drücken und dir so wieder ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

Chris war der dritte Mann meiner Mutter. Mein eigener Vater starb, bevor ich auf die Welt kam. Sein Name war Julian Marquet, und jeder, der sich für Ballett interessiert, hat von ihm gehört. Kaum jemand außerhalb von Clairmont, South Carolina, hat jemals von Dr. Paul Sheffield gehört, dem zweiten Mann meiner Mutter. In demselben südlichen Bundesstaat, in der Stadt Greenglenna, lebte auch meine Großmutter väterlicherseits, Madame Marisha.

Sie schrieb mir jede Woche einen Brief, und wir besuchten sie jeden Sommer. Es schien, daß sie sich fast genausosehr wie ich selbst wünschte, daß ich einmal der berühmteste Tänzer würde, den die Welt je gesehen hat. So würde ich ihr und allen anderen beweisen, daß mein Vater nicht umsonst gelebt hat und gestorben ist.

Meine Großmutter war alles andere als einfach nur eine gewöhnliche alte Dame, die bald vierundsiebzig wurde. Einmal war sie sehr berühmt gewesen, und keine Sekunde lang erlaubte sie irgend jemandem, das zu vergessen. Es war ausgemacht, daß ich sie niemals Großmutter nannte, solange jemand anders uns zuhörte und so vielleicht ihr Alter hätte erahnen können. Sie flüsterte mir einmal ins Ohr, es wäre in Ordnung, wenn ich sie Mutter nennen würde, aber das schien mir irgendwie nicht richtig zu sein, denn ich hatte ja schon eine Mutter, die ich sehr liebte. So nannte ich sie Madame Marisha, wie alle anderen es auch taten.

Unser alljährlicher Besuch in South Carolina wurde den ganzen Winter über geplant und besprochen und war dann schnell wieder vergessen, wenn wir erst sicher in unserem kleinen Tal zurück waren, an dessen Hang sich unser langgezogenes Holzhaus schmiegte. »Sicher im kleinen Tal, wo der Wind niemals heult«, sagte meine Mutter oft. Eigentlich etwas zu oft – als wäre es ihr ganz besonders unangenehm, wenn der Wind heulte.

Ich kam am Ende unserer kurvenreichen Auffahrt an, stellte mein Fahrrad ordentlich ab und ging ins Haus. Von Bart oder Mam nichts zu sehen! So was! Ich rannte in die Küche, wo Emma das Abendessen vorbereitete. Sie verbrachte ihre meiste Zeit in der Küche, und das war wohl der Grund für ihre rundliche Figur. Sie hatte ein langes, ernstes Gesicht, wenn sie nicht lächelte; glücklicherweise lächelte sie die meiste Zeit. Sie konnte einem sagen, tu dies und tu das, und mit ihrem Lächeln nahm sie ihren Befehlen die Schärfe, so daß es einem nicht mehr so weh tat, selbst etwas tun zu müssen – was mein Bruder Bart jedoch nie wollte. Ich vermute, daß Emma sich viel mehr um Bart kümmerte als um mich, und ihn mehr bediente, denn er verschüttete alles, wenn er sich selbst die Milch eingießen sollte. Wenn er ein Glas Wasser trug, ließ er es fallen. Es gab nichts, was er vernünftig anfassen konnte, und nichts, worüber er nicht stolperte. Tische fielen um, Lampen wurden heruntergerissen. Wenn es irgendwo im Haus eine Verlängerungsschnur gab, dann konnte man sicher sein, daß Bart daran hängenblieb, und schon lag er da – oder der Toaster, der Mixer oder das Radio fielen mit Getöse auf den Boden.

»Wo ist Bart?« fragte ich Emma, die gerade Kartoffeln schälte für das Roastbeef im Ofen.

»Ich sag’ dir was, Jory. Ich bin froh, wenn dieser Junge endlich jeden Tag so lange in der Schule ist wie du. Mir wird schon angst und bange, wenn ich ihn nur in die Küche kommen sehe. Ich muß dann sofort alles stehen und liegen lassen und nur noch sehen, was er jetzt wohl wieder umwirft, runterreißt oder verschüttet. Gott sei Dank hat er diese Mauer draußen, wo er immer draufsitzt. Aber sag mir trotzdem mal, was ihr eigentlich immer da oben auf der Mauer macht?«

»Nichts«, sagte ich. Ich wollte ihr nicht davon erzählen, wie oft wir uns heimlich zu dem verlassenen Haus auf der anderen Seite der Mauer schlichen und dort spielten. Das Betreten des Nachbargrundstücks war für uns streng verboten, aber Eltern brauchen ja nicht alles zu wissen und zu sehen. Als nächstes fragte ich: »Wo is’ Mam?“ Emma erzählte mir, sie sei früh nach Hause gekommen, weil sie ihre Ballettklasse abgesagt hatte, was ich längst wußte. »Die halbe Klasse ist erkältet«, erklärte ich.

»Aber wo ist sie denn jetzt?«

»Jory, ich kann doch nicht ständig hinter jedem her sein und dabei auch noch Kartoffeln schälen. Vor ein paar Minuten sagte sie etwas davon, sie wolle auf dem Dachboden ein paar alte Bilder suchen. Warum gehst du nicht auch rauf und hilfst ihr dabei?«

Das war Emmas freundliche Art, mir zu sagen, daß ich ihr im Weg sei. Ich lief also zur Dachbodentreppe, die ganz hinten in unserem großen Wäscheraum am hinteren Flur versteckt lag. Gerade als ich durch das Wohnzimmer kam, hörte ich, wie sich die Haustür öffnete.

Zu meiner Überraschung sah ich unseren Dad dann völlig reglos in der Vorhalle stehen, mit einem seltsamen Blick in den Augen, sehr nachdenklich, so daß ich mich nicht traute, ihn anzusprechen und bei seinen Gedanken zu stören. Ich blieb unentschlossen stehen.

Er ging dann in Richtung seines Schlafzimmers, nachdem er seinen schwarzen Arztkoffer abgesetzt hatte. Dabei kam er an der Wäschekammer vorbei, deren Tür ein wenig offenstand. Er blieb stehen und lauschte wie ich auf die ferne Ballettmusik, die über die Treppe herunterklang. Warum war meine Mutter da oben? Tanzte sie wieder dort? Jedesmal, wenn ich sie gefragt hatte, warum sie an einem so staubigen Ort tanzen würde, erklärte sie mir, sie fände es »unwiderstehlich« dort oben zu tanzen, trotz der Hitze und des Staubes, manchmal jedenfalls. »Aber erzähl deinem Vater nichts davon«, warnte sie mich mehrere Male. Nachdem ich sie gefragt hatte, hörte sie damit auf, auf dem Dachboden zu tanzen – und nun tat sie es doch wieder.

Dieses Mal wollte ich nach oben gehen. Ich wollte die Entschuldigungen anhören, die sie ihm gab. Denn jetzt würde Dad sie dabei erwischen! Auf Zehenspitzen folgte ich ihm die steile, schmale Treppe hinauf. Er blieb direkt unter der nackten Glühbirne stehen, die vom Giebel des Dachbodens herunterhing. Seine Augen verfolgten Mam, die einfach weiter tanzte, als würde sie ihn gar nicht dort stehen sehen. Sie hielt einen Staubwedel in der Hand und wischte damit spielerisch hier und dort herum; sie tanzte das Aschenputtel und sicher nicht die Prinzessin aus Dornröschen, dessen Musik aus dem alten Plattenspieler ertönte.

Puh! Man sah meinem Stiefvater deutlich an, was in ihm vorging. Er sah erschrocken aus, und ich merkte, daß sie ihm sehr weh tat, einfach nur durch dieses Tanzen auf dem Dachboden. Wie komisch. Ich verstand nicht, was sich da zwischen den beiden abspielte. Ich war vierzehn, Bart war neun, und wir waren beide noch sehr, sehr weit davon entfernt, erwachsen zu sein. Die Liebe zwischen den beiden kam mir ganz anders vor als die Liebe, wie ich sie zwischen den Eltern meiner wenigen Schulfreunde hin und wieder sah. Ihre Liebe schien viel intensiver zu sein, gefühlvoller und leidenschaftlicher. Wann immer sie sich unbeobachtet glaubten, starrten sie sich tief in die Augen, und sie mußten sich immer berühren und streicheln, wenn sie einander nahe kamen.

Seit ich etwas älter wurde, begann ich mich immer mehr dafür zu interessieren, was zwischen den beiden wichtigsten Vorbildern, die ich in meinem Leben hatte, vorging. Ich wunderte mich oft über die verschiedenen Facetten im Erscheinungsbild meiner Eltern. Da gab es ein Bild für die Öffentlichkeit, ein anderes für Bart und mich, und dann gab es noch eine dritte, verborgene Seite an ihnen, die sie sich nur zeigten, wenn sie alleine waren. Aber warum waren sie bloß so sicher, daß ihre Söhne immer genug Diskretion aufbrachten, sich umzudrehen und hinauszugehen, wenn sich das gehörte?

Vielleicht waren alle Erwachsenen einfach so und Eltern besonders.

Dad starrte Mam weiter an, die jetzt in schnellen Pirouetten herumwirbelte, so daß ihr langes blondes Haar zu einem schimmernden Halbkreis verschwamm. Ihr Kostüm und ihre Ballettschuhe waren weiß, und ich fühlte mich richtig verzaubert, als ich ihr beim Tanzen zusah, wie sie den Staubwedel gleich einem Schwert schwang und mit ihm nach den alten Möbeln hieb, die für Bart und mich zu klein geworden waren. Auf dem Boden und in den Regalen lagen zerbrochene Spielsachen, Tretautos und Dreiräder, Porzellan, das sie oder Emma zerbrochen hatte und das sie eines Tages wieder zusammenkleben wollten. Mit jedem Schwung ihres Staubwedels wirbelte sie Millionen goldener Staubteilchen auf. Sie glitzerten wild und mühten sich verzweifelt, wieder auf ihren Platz zurückzusinken, bevor Mam sie erneut angriff und emporjagte.

»Hinweg!« rief Mam wie eine Königin zu ihren Sklaven. »Geht und verschwindet für immer. Nie wieder sollt ihr mich quälen!« – Und weiter und weiter wirbelte sie so schnell, daß ich mich umdrehen mußte, um sie im Auge behalten zu können, und mir schon vom Zusehen ganz schwindelig wurde. Sie schlug mit den Beinen und den Armen und tanzte Pirouetten vollendeter, als ich es je auf der Bühne gesehen hatte. Wild und besessen drehte sie sich schneller und schneller, blieb dabei jedoch immer im Rhythmus der Musik, machte den Staubwedel zu einem Teil ihrer Vorführung und das Staubwischen zu einer so dramatischen Bühnen-Show, daß ich am liebsten meine Schuhe von den Füßen gerissen und mit ihr getanzt hätte, um ihr der Partner zu sein, der mein richtiger Vater einmal gewesen war. Aber ich konnte nur in dem dämmrigen rötlichen Schatten stehen und bei etwas zusehen, von dem ich das Gefühl hatte, daß es nicht für meine Augen bestimmt war.

Mein Dad schluckte den Kloß herunter, den er im Hals hatte. Mam sah so schön aus, so jung und zart. Sie war siebenunddreißig. So alt und doch so jung im Aussehen und so leicht zu verletzen durch ein einziges unbedachtes Wort, genauso leicht wie eine von den sechzehnjährigen Tänzerinnen in ihrer Ballettklasse.

»Cathy!« rief Dad und riß die Nadel von der Platte, so daß die Musik schlagartig verstummte. »Hör auf! Was machst du?«

Sie hörte ihn und beschrieb mit ihren blassen schlanken Armen eine Geste gespielter Furcht, tanzte dann mit winzigen, gleichmäßigen Schritten, die man bourrées nennt, schwebend auf ihn zu. Aber nur für eine Sekunde oder zwei, denn schon wirbelte sie wieder in einer Serie von Pirouetten um ihn herum, kreiste ihn ein – und schlug spielerisch mit dem Staubwedel nach ihm!

»Schluß damit!« schrie er, griff nach dem Wedel und warf ihn fort. Er umschlang ihre Taille und drückte ihr die Arme an die Seite, während eine tiefe Röte ihre Wangen überzog. Er löste seinen Griff ein wenig, so daß sie mit ihren Armen zucken konnte wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln und ihre Hände an den Hals legen. Über diesen verschränkten Händen wurden ihre blauen Augen groß und sehr dunkel. Ihre vollen Lippen begannen zu zittern, und langsam, langsam, mit schmerzhaftem Widerstreben, zwang sie sich schließlich dorthin zu sehen, wohin Dads Finger wies.

Ich folgte ihrem Blick und war überrascht, zwei Doppelbetten dort in dem Teil des Dachbodens stehen zu sehen, der bald umgebaut werden sollte. Dad hatte mir versprochen, daß wir hier oben einen Hobbyraum einrichten würden. Aber Doppelbetten in all diesem Gerümpel? Warum?

Dann sprach Mam, und ihre Stimme klang heiser und erschrocken: »Chris? Du bist schon zurück? Du kommst doch sonst nicht so früh nach Hause …«

Er hatte sie also erwischt, und ich war erleichtert. Jetzt konnte er ihr den Kopf zurechtsetzen und ihr sagen, daß sie nicht mehr hier oben in dieser trockenen, staubigen Luft tanzen durfte, von der sie in Ohnmacht fallen konnte. Selbst ich merkte, daß sie Schwierigkeiten hatte, eine Erklärung für ihr Verhalten zu finden.

»Cathy, ich weiß, daß ich selbst Bettgestelle hier heraufgebracht habe, aber wie hast du es geschafft, sie zusammenzubauen?« brach es aus Dad heraus. »Wie hast du es geschafft, die Matratzen drauf zu bekommen?“ Dann schluckte er zum zweiten Mal heftig, als er den Picknickkorb zwischen den Betten entdeckte. »Cathy!« brüllte er und funkelte sie an. »Muß sich unsere Geschichte wiederholen? Können wir aus den Fehlern der anderen denn gar nichts lernen? Müssen wir alles noch einmal durchmachen?«

Noch einmal? Wovon redete er da?

»Catherine«, fuhr Dad mit der gleichen kalten, harten Stimme fort, »sieh mich nicht so unschuldig an wie ein böses Kind, das man beim Stehlen erwischt hat. Warum sind diese Betten hier, alle frisch bezogen mit neuer Wäsche? Warum der Picknickkorb? Haben wir von dieser Sorte Picknickkorb nicht schon genug gesehen für den Rest unseres Lebens?«

Ich dachte mir damals, daß sie die Betten wohl dort aufgebaut hatte, damit sie und ich uns darauf werfen und ausruhen konnten, wenn wir hier oben tanzten, wie wir es einige Male zusammen getan hatten. Und was war an einem Picknickkorb schon Besonderes? Hier stand jede Menge alter Kram herum.

Ich schlich mich näher, vor den Blicken der beiden durch einen der Dachbalken verborgen. Etwas Trauriges und Schmerzhaftes ging da zwischen Dad und Mam vor; etwas noch Junges, Frisches, wie eine kaum verheilte Wunde, die immer wieder aufbrach. Meine Mutter sah beschämt aus. Ihr schien das alles plötzlich peinlich zu sein. Der Mann, den ich Dad nannte, wirkte verwirrt; ich merkte, daß er sie am liebsten in seine Arme gezogen und ihr verziehen hätte. »Cathy, Cathy«, flehte er in einem verzweifelten Ton, »sei doch nicht in allem wie sie

Mam riß den Kopf hoch, hob die Schultern und funkelte ihn mit arrogantem Stolz an. Sie warf ihr langes Haar aus dem Gesicht und lächelte ihn betörend an. Tat sie das alles nur, damit er aufhörte, ihr Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte?

Mich fröstelte seltsam in dem staubigen Zwielicht des Dachbodens. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, so daß ich am liebsten davongelaufen wäre und mich versteckt hätte. Und ich schämte mich dafür, daß ich hier spionierte – das war Barts Art, nicht meine.

Aber wie sollte ich mich zurückziehen, ohne daß sie mich bemerkten? Ich mußte in meinem Versteck bleiben.

»Sieh mich an, Cathy. Du bist nicht mehr die süße junge Unschuld, und dies ist kein Spiel. Es gibt keinen Grund, diese Betten dort aufzustellen. Und der Picknickkorb bestätigt nur meine Befürchtungen. Was, zum Teufel, hast du vor?«

Sie öffnete weit ihre Arme, als wollte sie ihn an sich ziehen, aber er stieß sie zurück und redete weiter: »Versuch so was nicht. Wenn ich dich sehe, wird mir ganz flau im Magen. Jeden Tag frage ich mich, warum ich mich immer noch auf dich freue, wenn ich nach Hause komme. Und ich überlege mir, warum ich für dich nach all den Jahren und allem, was geschehen ist, noch immer dasselbe empfinde. Aber Jahr für Jahr liebe ich dich, brauche dich und vertraue dir. Ich bitte dich, mißbrauche meine Liebe nicht.«

Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck des Erstaunens. Ich bin sicher, meines sah nicht viel anders aus. Liebte er sie denn nicht wirklich? Wollte er das damit sagen? Mam starrte wieder die Betten an, als wäre sie völlig überrascht, sie an diesem Platz zu sehen.

»Chris, hilf mir!« schluchzte sie, trat näher zu ihm und öffnete wieder ihre Arme. Er schob sie noch einmal von sich und schüttelte den Kopf. Sie drängte: »Bitte, schüttle nicht den Kopf und tu so, als würdest du nichts verstehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Korb gekauft zu haben, wirklich nicht! Letzte Nacht hatte ich einen Traum, daß ich hier heraufgekommen wäre und die Betten aufgebaut hätte, aber als ich heute heraufkam und sie sah, dachte ich, du müßtest sie da hingestellt haben.«

»Cathy! Ich habe diese Betten nicht da hingestellt!«

»Los, kommt aus den Schatten. Ich kann euch nicht sehen, wo ihr jetzt seid.« Sie hob ihre kleinen blassen Hände und schien unsichtbare Spinnweben davon abwischen zu wollen. Dann starrte sie ihre Hände an, als wäre sie von ihnen verraten worden – oder sah sie wirklich Spinnweben, die ihre Finger fesselten?

Genau wie mein Dad sah ich jetzt genauer in die Runde. Noch nie war der Dachboden so sauber gewesen. Der Fußboden war abgeschrubbt. Die Kartons mit dem alten Gerümpel waren ordentlich aufgeschichtet. Sie hatte versucht, den Dachboden etwas gemütlicher zu machen, indem sie hübsche Blumenbilder an die Wände gehängt hatte.

Dad musterte Mam, als wäre sie verrückt geworden. Ich fragte mich, was er wohl dachte und warum er nicht sagen konnte, was Mam fehlte, denn er war doch der beste Arzt weit und breit. Versuchte er zu entscheiden, ob sie nur so tat, als hätte sie alles vergessen? Verriet ihm dieser verwirrte, sorgenvolle Blick ihrer ängstlichen Augen etwas anderes? So mußte es wohl sein, denn er sagte sanft und freundlich: »Cathy, du brauchst mich nicht so verängstigt anzusehen, du schwimmst nicht mehr in einem Meer von Betrug und kämpfst hilflos gegen den Sog der Lüge. Du ertrinkst nicht. Du gehst nicht unter. Keine Alpträume mehr. Du brauchst dich nicht an Strohhalme zu klammern, solange du mich hast.« Dann zog er sie in seine Arme, und sie klammerte sich an ihn, als wäre sie wirklich gerade am Ertrinken. »Alles ist in Ordnung mit dir, Liebes«, flüsterte er, streichelte ihr den Rücken, berührte ihre Wangen und trocknete ihr die Tränen ab. Sanft hob er ihr Kinn zu seinem Mund, bevor er seine Lippen auf ihre senkte. Der Kuß dauerte und dauerte. Ich hielt die Luft an.

»Die Großmutter ist tot. Foxworth Hall ist bis auf die Grundmauern abgebrannt.«

Foxworth Hall? Was war denn das?

»Nein, das stimmt nicht, Chris. Vor kurzem habe ich sie die Treppe heraufsteigen gehört, und du weißt doch, welche Angst sie vor engen, schmalen Gängen hat – wie kann sie da die Treppe heraufsteigen?«

»Hast du geschlafen, als du sie gehört hast?«

Mich schauderte. Zum Teufel, wovon redeten sie da eigentlich. Welche Großmutter?

»Ja«, murmelte sie, während ihre Lippen über sein Gesicht wanderten. »Ich denke mir, daß ich irgendwie in einen Alptraum geraten bin, als ich mich nach dem Bad auf der Schlafzimmerveranda ausgestreckt habe. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, hier heraufgestiegen zu sein. Ich weiß nicht, warum ich hierher komme oder warum ich hier tanze, außer daß ich den Verstand verliere. Manchmal fühle ich, daß ich sie bin, und dann hasse ich mich!«

»Nein, du bist nicht sie, und Mammi ist Hunderte von Meilen weit weg, wo sie uns nie wieder verletzen kann. Virginia liegt dreitausend Meilen entfernt, und das Gestern ist ein für allemal vorbei. Und wenn du jemals zweifelst, dann stell dir diese eine Frage – wenn wir das Schlimmste überlebt haben, können wir dann nicht erwarten, daß wir auch das Beste ertragen werden?«

Ich wollte weglaufen, ich wollte nichts mehr hören. Ich fühlte, daß auch ich in ihrem Meer der Lüge zu ertrinken drohte, selbst wenn ich nicht wirklich verstand, wovon sie eigentlich redeten. Ich sah zwei Menschen vor mir, meine Eltern, die wie Fremde wirkten, von denen ich nichts wußte – jünger, weniger stark, weniger verläßlich.

»Küß mich«, murmelte Mam. »Weck mich auf und verjage die Gespenster. Sag mir, daß du mich liebst und immer lieben wirst, ganz egal, was ich tue.«

Bereitwillig erfüllte er ihr diese Wünsche. Nachdem er sie überzeugt hatte, wollte sie, daß er mit ihr tanzte. Sie legte den Arm des Plattenspielers wieder auf, und die Musik erfüllte den Raum. Klein und verkrampft an den Balken gepreßt, sah ich ihm dabei zu, wie er die schwierigen Ballettschritte versuchte, die für mich so einfach waren. Er hatte einfach nicht genügend Übung oder Grazie, um einer so guten Tänzerin wie meiner Mutter der Partner zu sein. Es war peinlich, ihn es auch nur versuchen zu sehen. Es dauerte nicht lange, und sie legte eine andere Platte auf, bei der er sie führen konnte.

 

Wir tanzen in die Nacht,

bis das Lied verweht, tanzen, bis der Tag vergeht …

 

Jetzt war Dad sicher, hielt sie dicht an sich gezogen, und sie schwebten Wange an Wange über den Dachboden.

»Ich vermisse die Papierblumen, die uns sonst immer in den Weg flatterten«, flüsterte sie zärtlich.

»Und die Treppe hinunter saßen die Zwillinge still vor dem kleinen Schwarzweißfernseher in der Ecke.« Er hatte die Augen geschlossen, und seine Stimme klang weich und verträumt. »Du warst erst vierzehn, und ich liebte dich schon damals so sehr, muß ich zu meiner Schande gestehen.«

Zu seiner Schande? Wieso? Er hat sie doch nicht einmal gekannt, als sie vierzehn gewesen war.

Ich runzelte die Stirn und versuchte mich daran zu erinnern, wann und wo sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Mam und ihre jüngere Schwester Carrie waren von zu Hause weggelaufen, kurz nachdem Mams Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie waren mit dem Bus nach Süden gefahren, und eine freundliche Negerfrau namens Henny hatte sie aufgelesen und zu ihrem Hausherrn Dr. Paul Sheffield gebracht, der sie großzügig bei sich aufgenommen und ihnen ein wunderbares neues Zuhause gegeben hatte. Meine Mam hatte wieder mit ihrem Ballettunterricht begonnen, und in der Ballettschule hat sie Julian Marquet getroffen – den Mann, der mein Vater war. Ich kam auf die Welt, kurz nachdem er ums Leben gekommen war. Dann heiratete Mam Daddy Paul und Daddy Paul war Barts Vater. Das war lange, lange Zeit, bevor sie Chris traf, der Daddy Pauls jüngerer Bruder war. Wie konnte er sie also schon geliebt haben, als sie vierzehn war? Hatten sie uns angelogen? Mann, o Mann …

Aber nachdem der Tanz vorüber war, begann der Streit von neuem: »So, jetzt fühlst du dich also wieder besser und ganz du selbst«, sagte Dad. »Ich will, daß du mir hoch und heilig versprichst, falls mir jemals etwas zustoßen sollte, ob morgen oder in einigen Jahren, daß du niemals, schwöre es bei Gott, Bart und Jory auf dem Dachboden versteckst, damit du ohne Ballast in eine andere Ehe gehen kannst!«

Schockiert sah ich zu, wie meine Mam daraufhin den Kopf hochriß und keuchte: »Ist es das, was du von mir denkst? Verdammt sollst du sein, daß du glaubst, ich wäre ihr so ähnlich! Vielleicht habe ich die Betten aufgebaut. Vielleicht habe ich den Korb hier heraufgebracht. Aber es ist mir niemals in den Sinn gekommen, daß ich … daß ich … Chris, du weißt, ich würde so etwas nie tun!«

Was nie tun, was?

Er ließ sie es schwören. Er zwang sie wirklich dazu, ihm die Worte nachzusprechen, während sie ihn dabei mit ihren blauen Augen heißblütig und wütend anstarrte.

Schwitzend und verletzt fühlte ich mich zugleich wütend und furchtbar von meinem Dad enttäuscht, der es besser wissen sollte. Mam würde so etwas nie tun. Sie konnte es nicht! Sie liebte mich. Sie liebte Bart auch. Selbst wenn sie ihm manchmal so dunkle Blicke zuwarf, würde sie uns doch nie und niemals auf diesem Dachboden verstecken.

Mein Dad ließ sie in der Mitte des Dachbodens stehen und holte den Picknickkorb zwischen den Betten hervor. Dann riß er eine der Dachluken auf und warf den Korb mit Schwung hinaus. Er sah ihm nach, wie er draußen über die Erde rollte, bevor er sich wieder wütend meiner Mam zuwandte:

»Vielleicht wiederholen wir tatsächlich die Sünde unserer Eltern, indem wir so zusammenleben, wie wir es tun. Vielleicht werden Jory und Bart beide darunter zu leiden haben – deshalb flüstere mir nachts nichts mehr von einem Adoptivkind ins Ohr, wenn wir zusammen im Bett liegen. Wir können es uns nicht leisten, noch ein anderes Kind in dieses Chaos mit hineinzuziehen! Begreifst du nicht, Cathy, daß du, als du diese Betten aufgebaut hast, unbewußt Vorbereitungen für den Fall getroffen hast, daß unser Geheimnis aufgedeckt wird?«

»Nein«, wandte sie ein und streckte hilflos die Hände aus. »Das habe ich nicht. Das könnte ich gar nicht …«

»Aber das mußt du damit vorgehabt haben!« fuhr er sie an. »Egal, was passiert, wir werden nie, oder du wirst nie deine Kinder auf diesem Dachboden verstecken, um dich selbst zu retten oder mich.«

»Ich hasse dich dafür, daß du mir das zutraust!«

»Ich versuche Geduld mit dir zu haben. Ich versuche an dich zu glauben. Ich weiß, daß du noch immer Alpträume hast. Ich weiß, daß dich noch immer all das quält, was uns zugefügt worden ist, als wir jung und unschuldig waren. Aber du mußt, verdammt noch mal, jetzt alt genug sein, um dir selbst gegenüber ehrlich zu sein. Hast du nicht gelernt, wie das Unterbewußtsein oft Dinge hervorbringt, die dann tatsächlich zur Realität werden?«

Er nahm sie noch einmal fest in den Arm, um sie zu küssen und zu trösten, während sie sich verzweifelt an ihn klammerte. Warum war sie denn nur so verzweifelt?

»Cathy, mein Herz, leg endlich all diese Ängste ab, die eine grausame Großmutter dir eingegeben hat. Sie wollte, daß wir an die Hölle und ihre ewige Rache glauben. Es gibt keine Hölle außer der, die wir selbst uns bereiten. Es gibt keinen Himmel außer dem, den wir selbst für uns bauen. Verrate mein Vertrauen nicht, Geliebte, mit deinen ›unbewußten‹ Taten. Ohne dich gibt es kein Leben für mich.«

»Dann fahre diesen Sommer nicht zu deiner Mutter.«

Er hob den Kopf und starrte über sie hinweg mit Schmerz in den Augen. Ich ließ mich lautlos auf den Flur sinken, wo ich saß und zu ihnen hinaufstarrte. Was ging eigentlich vor? Warum hatte ich plötzlich solche Angst?

Bart

»Und am siebten Tag ruhte Gott«, las Jory vor, während ich die Erde über den Stiefmütterchen-Samen festklopfte. Die Stiefmütterchen sollten zur Ehre von meiner Tante Carrie und meinem Onkel Cory wachsen, denn die hatten am 5. Mai Geburtstag. Onkel und Tanten, die ich nie gesehen hatte. Beide schon lange, lange tot. Sie waren schon tot, als ich auf die Welt kam. In unserer Familie starben die Menschen schnell. Ich frage mich immer, warum die wohl Stiefmütterchen so gern gemocht haben? Sind doch so komische langweilige kleine Blumen. Ich hätte auch gern gehabt, daß Mammi die Geburtstage von toten Leuten nicht so verdammt wichtig genommen hätte.

»Weißt du, wie es weitergeht?« fragte Jory, denn mit neun war man ja wohl noch richtig blöd, und er war der große Erwachsene. »Am Anfang, als Gott Adam und Eva erschaffen hatte, lebten sie ganz ohne Kleider im Garten Eden. Dann erzählte ihnen eines Tages eine böse sprechende Schlange, daß es eine Sünde sei, nackt herumzulaufen, und Adam band sich ein Feigenblatt um.«

Puh … nackte Leute, die nicht wußten, daß Nacktsein böse war. »Und was band sich Eva um?« fragte ich, während ich mich in unserer Umgebung nach einem Feigenblatt umsah. Er las mir weiter auf so eine Art vor, daß ich mich richtig in die alten Zeiten versetzt fühlte, als Gott sich noch selbst um jeden kümmerte – selbst um nackte Leute, die mit Schlangen reden konnten. Jory sagte, er könne biblische Geschichten im Kopf in Musik verwandeln, und das fand ich ganz verrückt und unheimlich – daß er da so zu einer Kopf-Musik tanzte, die ich nicht hörte! Ich fühlte mich richtig dumm. »Jory, wo kriegt man denn Feigenblätter?«

»Warum?«

»Wenn ich eins hätte, dann würde ich mir alle Kleider ausziehen und mich nur damit bedecken.«

Jory lachte. »Gütiger Himmel, Bart, für einen Jungen gibt es nur eine ganz bestimmte Art, ein Feigenblatt zu tragen – und das wär’ dir wohl ganz schön peinlich.«

»Wär’s mir nicht!«

»Aber klar doch!«

»Mir ist nie etwas peinlich!«

»Woher weißt du dann, was das überhaupt ist? Und mal abgesehen davon, hast du Dad jemals ein Feigenblatt tragen sehen?«

»Nein …« Aber ich dachte mir, wo ich doch nie ein Feigenblatt gesehen hatte, woher sollte ich da wissen, ob Dad je eins trug? Das sagte ich Jory. »Junge, Junge, das wär’ dir schon aufgefallen!« antwortete er und lachte mich wieder aus.

Dann grinste er, sprang auf und war mit einem riesigen wunderbaren Satz, den ich einfach bewundern mußte, am oberen Ende der Marmortreppe. Ich mußte wie immer hinter ihm herrennen. Wünschte mir, ich könnte auch einmal so elegant hüpfen. Wünschte mir, daß ich tanzen könnte und jeden so verzaubern, daß er mich gern hatte. Jory war größer, älter, klüger – aber Moment mal. Vielleicht konnte ich doch klüger sein als er, wenn schon nicht größer. Mein Kopf war groß. Mußte doch also auch ein großes Hirn drin sein. Und dann wuchs ich auch höher und höher, hatte Jory fast eingeholt und würde ihn sicher eines Tages überholen. Ja, einmal würde ich größer als Daddy sein. Größer sogar als der Riese in Der kleine Däumeling – und dieser Riese war größer als alle anderen!

Neun Jahre alt … Ich wünschte mir so, ich wäre vierzehn.

Da saß Jory auf der obersten Treppenstufe und wartete, daß ich ihn einholte. Ich fand das ungerecht. Das war gemein. Gott hatte es wirklich nicht gut mit mir gemeint, als er die Gaben verteilte. Ich erinnere mich noch, wie das vor fünf Jahren war. Da war ich vier, und Emma gab jedem von uns ein frisch geschlüpftes Küken, ganz aus weichem gelbem Flaum, das zirpte und piepte. Hatte vorher noch nie in meinem Leben so was Schönes in der Hand gefühlt. Da hatte ich es lieb, hielt es schön fest, roch seinen Kükengeruch, bevor ich es vorsichtig wieder auf den Boden setzte – und verdammt, da fiel das Hühnchen doch einfach tot um.

»Da hast du zu fest gedrückt«, erklärte mir Daddy, der sich mit solchen Sachen auskannte. »Ich hab’ dir ja gesagt, daß du es nicht zu sehr festhalten darfst. Küken sind sehr zart und zerbrechlich, und man muß sie ganz vorsichtig auf der Hand halten. Ihre kleinen Herzen liegen ganz dicht unter der Haut – nächstes Mal also schön vorsichtig anfassen, klar?«

Ich dachte mir, Gott müßte mich eigentlich für so was auch tot umfallen lassen, obwohl er ja selbst hauptsächlich daran schuld war. Konnte ja nicht mein Fehler sein, daß er meine Nerven nicht bis ganz in die Haut hatte wachsen lassen, daß sie so tief drinnen endeten, und ich nicht richtig fühlen konnte. Konnte ich doch nicht dafür, daß ich keine Schmerzen fühlte wie alle anderen – das war es doch! Dann bekam ich eine Gänsehaut und fürchtete, er würde mir was tun. Aber als er mir einfach vergab, da ging ich eine Stunde später zu dem kleinen Hühnerstall, in dem Jorys lebendes Hühnchen jetzt ganz allein rumlief. Es war so einsam. Ich nahm es hoch und erzählte ihm, daß es jetzt einen Freund hatte. Junge, was hatten wir für einen Spaß, als wir uns dann gegenseitig jagten und nachliefen, bis ganz plötzlich, nachdem wir kaum zwei Stunden zusammen gespielt hatten, auch dieses Hühnchen einfach tot umfiel!

Ich haßte kalte steife Sachen. Warum ging es nur so leicht kaputt? »Was ist denn los mit dir?« schrie ich es an. »Ich hab’ dich nicht gedrückt! Meine Hände haben dich doch gar nicht angefaßt! Ich war vorsichtig – also hör doch auf, tot zu spielen und steh wieder auf, sonst denkt mein Daddy, ich hätte dich absichtlich tot gemacht!« Ich hatte mal gesehen, wie mein Daddy einen Mann aus dem Wasser gezogen hatte und ihm dann das Leben rettete, indem er das ganze Wasser aus ihm rauspumpte und Luft in ihn reinbließ. Deshalb versuchte ich das auch mit dem Küken. Es blieb tot. Ich massierte sein Herz, dann betete ich, und es blieb noch immer tot.

Ich war nicht gut. Ich war zu nichts gut. Ich konnte auch nie sauber bleiben. Emma sagte immer, mir saubere Sachen anzuziehen sei reine Zeitverschwendung. Konnte auch nie einen Teller festhalten, den ich abtrocknen sollte. Neue Spielsachen gingen immer sofort kaputt, wenn ich sie in die Finger bekam. Neue Schuhe sahen zehn Minuten, nachdem sie meine Füße kennengelernt hatten, schon ganz alt aus. War aber doch nicht mein Fehler, wenn sie sich so leicht abschürften. Die Leute wußten einfach nicht, wie man gute, strapazierfähige Schuhe herstellte. Es gab auch nie ’nen Tag, an dem meine Knie nicht aufgeschlagen oder die Hosen zerrissen waren. Beim Ballspielen rutschte ich immer aus. Meine Hände wußten auch nie, wie man richtig etwas fängt oder sich festhält. Deshalb bogen sich meine Finger immer so leicht nach hinten, und zweimal hatte ich schon einen Finger gebrochen. Dreimal war ich von einem Baum gefallen. Einmal habe ich mir den rechten Arm gebrochen, einmal den linken. Beim dritten Mal kriegte ich nur Schrammen ab. Jory brach sich nie irgendwas.

Kein Wunder, daß meine Mam uns immer sagte, wir dürfen nicht in das große alte Haus mit den vielen Treppen nebenan hinter der Mauer. Sie wußte genau, daß ich sonst irgendwann eine von den alten Treppen runterfiel und mir alle Knochen brach.

»Was für ein Pech, daß du so wenig Koordinationsvermögen hast«, murmelte Jory. Dann stand er auf und schrie: »Bart, hör auf, wie ein Mädchen zu laufen! Beug dich doch mal vor und benutz deine Beine fürs Gleichgewicht. Vergiß einfach alles andere, denk nicht immer daran, du könntest fallen! Du fällst nicht hin, außer wenn du ständig darauf wartest. Wenn du mich fängst, dann geb’ ich dir meinen Gummiball!«

Junge, in der ganzen weiten Welt gab’s nichts, was ich so gerne haben wollte, wie diesen Ball. Jory konnte ihn so richtig angeschnitten werfen, daß er ’ne Kurve flog. Wenn er damit nach Blechbüchsen auf der Mauer warf, dann schoß er sie eine nach der anderen runter, und der Ball kam jedesmal zu ihm zurück. Ich traf nie, worauf ich zielte – aber dafür traf ich eine ganze Menge, was ich überhaupt nicht treffen wollte, Blumenvasen, Fenster und Menschen.

»Behalt deinen ollen Gummiball!« keuchte ich, obwohl ich ihn gerne haben wollte. Es war ein besserer Ball als meiner; sie gaben ihm immer die besseren Sachen.

Er sah mich so richtig mitleidig an, daß ich am liebsten geweint hätte. Mitleid haßte ich! »Du kannst ihn auch haben, wenn du das Wettrennen verlierst. Du gibst mir dann deinen dafür. Ich möchte dir nicht weh tun oder dich verletzen. Ich möchte doch nur, daß du endlich damit aufhörst, immer Angst zu haben, etwas falsch zu machen, und dann machst du vielleicht gar nichts mehr falsch – manchmal bringt es wirklich was, wenn man einfach nur ganz feste will.« Er lächelte, und ich dachte mir, wenn Mammi jetzt da wäre, dann fände sie seine weißen Zähne, die so strahlten, bestimmt zauberhaft. Mit meinem Gesicht konnte man nur gut einen Flunsch ziehen.

»Kannst deinen blöden Ball behalten!« wiederholte ich und lehnte es entschieden ab, jemanden nett zu finden, der hübsch, graziös und der Vierzehnte einer langen Reihe von russischen Ballettänzern war, die Ballerinas geheiratet hatten. Was war so großartig an Tänzern? Nichts, gar nichts! Gott hatte Jorys Beine angelächelt und sie hübsch gemacht, meine dagegen sahen aus wie knorrige Äste und knickten bei jeder Gelegenheit ab.

»Du haßt mich im Grunde! Am liebsten wäre dir, wenn ich schon tot wäre, stimmt’s?«

Er sah mich komisch und sehr lange an. »Quatsch, ich hasse dich nicht, und ich will auch nicht, daß du stirbst. Irgendwie habe ich dich gern als Bruder, auch wenn du immer so rumstolperst und so ein Schreihals bist.«

»Ganz herzlichen Dank.«

»Klar doch … Mach dir nichts draus. Komm, sehen wir uns das Haus an.«

Nach der Schule gingen wir jeden Tag zu der weißen hohen Mauer und setzten uns oben auf die Mauerkrone. An manchen Tagen schlichen wir uns sogar in das alte Haus auf der anderen Seite. Bald war das Schuljahr zu Ende, und dann gab es für uns den ganzen Tag nichts anderes zu tun als zu spielen. Da war es schön zu wissen, daß dieses alte Haus auf uns wartete. So’n richtiges altes Spukschloß mit vielen Zimmern, verwinkelten Gängen, Truhen voller versteckter Schätze, hohen Decken und komisch geformten Räumen, von denen kleine, verborgene Nebenräume abgingen, manchmal ganze Reihen von kleinen Räumen, die sich einer hinter dem anderen versteckten.

Spinnen lebten dort und webten ihre Netze von den alten Leuchtern an den Decken. Mäuse rannten überall herum, die Hunderte von kleinen Mäusebabys hatten. Aus dem Garten krabbelten Insekten ins Haus, krochen überall an den Wänden und auf den hölzernen Böden herum. Vögel flatterten die Kamine herunter und schossen wild durch die leeren Zimmer, um wieder nach draußen zu finden. Manchmal schlugen sie gegen die Fenster oder Wände, und wenn wir kamen, fanden wir sie jämmerlich tot auf dem Boden liegen. Manchmal schafften Jory und ich es aber auch, rechtzeitig Türen und Fenster aufzureißen, so daß die kleinen Vögel nach draußen konnten.

Jory behauptete, daß dieses alte Haus von jemandem sehr schnell verlassen worden war – daß die Leute von einem Tag auf den anderen ausgezogen sein müßten. Mindestens die Hälfte der Möbel war noch da, verstaubte und verschimmelte, und wenn Jory den modrigen Geruch bemerkte, rümpfte er die Nase. Ich schnüffelte und versuchte herauszufinden, was mir dieser Geruch erzählte. Ich konnte ganz ruhig so dastehen und fast hören, wie die Geister sich unterhielten, und wenn wir ruhig auf einem der verstaubten alten Samtsofas saßen, dann drang aus dem Keller ein fernes Rascheln und Huschen zu uns herauf, als ob die Geister uns Geheimnisse ins Ohr flüstern wollten.

»Erzähl bloß nie jemandem, daß die Geister sich hier unterhalten, sonst hält man dich noch für verrückt«, hatte Jory mich gewarnt. Wir hatten schon eine Verrückte in unserer Familie – die Mutter von unserem Daddy, die in einer Klapsmühle in Virginia saß. Einmal jeden Sommer fuhren wir in den Osten, um sie und die alten Gräber zu besuchen. Mammi wollte nie mitgehen in das lange Ziegelgebäude. Leute in schönen Kleidern wanderten über grüne Wiesen hinter der hohen Mauer, und niemand würde auf den Gedanken kommen, sie hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn nicht überall Wärter in weißen Kitteln rumgelaufen wären.

Jeden Sommer fragte Mammi, wenn Daddy von dem Besuch bei seiner Mutter zurückkam: »Na, geht es ihr besser?« Und Daddy blickte ganz traurig, bevor er antwortete: »Nein, keine großen Fortschritte … Aber es würde ihr bestimmt besser gehen, wenn du ihr vergeben könntest.«

Dann ging Mammi immer richtig hoch. Sie tat so, als wäre ihr am liebsten, wenn diese Großmutter für immer da eingeschlossen bliebe.

»Hör mir genau zu, Christopher Meißner!« fuhr Mammi unseren Daddy an. »Sie ist diejenige, die auf den Knien um Verzeihung bitten muß – Sie muß uns um Verzeihung bitten!«

Letzten Sommer waren wir nicht in den Osten gefahren. Ich haßte die ollen Gräber, die olle Madame Marisha mit ihren schwarzen, steifen Kleidern, ihrem hohen Turm aus weißem und schwarzem Haar – und es machte mir auch gar nichts aus, wenn zwei alte Damen da unten im Osten nie wieder Besuch von uns bekamen. Und was die in den Gräbern da unten anging – sollten sie ohne Blumen auskommen! Zu viele tote Leute in unserer Familie, die uns das Leben mies machten.

»Los, Bart!« rief Jory. Er war schon an dem Baum auf unserer Seite der Mauer hochgeklettert und wartete nun oben auf der Mauer auf mich. Ich schaffte den Aufstieg glatt, dann suchte ich mir einen Platz neben Jory, der darauf bestand, daß ich mich gegen den Baumstamm gelehnt setzte – nur vorsichtshalber. »Weißt du was?« meinte Jory. »Eines Tages, da werde ich Mam ein Haus kaufen, das genauso groß ist. Ich höre immer mal wieder, wie sie mit Dad über große Häuser redet. Deshalb denke ich mir, sie will ein noch größeres, als wir es jetzt schon haben.«

»Stimmt, sie reden ’ne Menge über große Häuser.«

»Mir gefällt unser Haus besser«, sagte Jory, während ich damit begann, mit den Fersen gegen die Mauer zu hämmern, unter deren abbröckelndem weißen Verputz Ziegelsteine zum Vorschein kamen. Mammi hatte mal gemeint, sie fände, die durchscheinenden Ziegel gäben der Sache einen »interessanten Farbkontrast.« Ich tat, was ich konnte, um die Mauer noch interessanter zu machen.

Aber ganz bestimmt konnte man sich in einem großen Haus wie dem von nebenan im Dunkeln verlaufen und tagelang umherirren. Keines der Badezimmer funktionierte. Kein Wasser. Verrückte Spülsteine ohne Wasser und blöde Kartoffelkeller ohne Kartoffeln und Weinkeller ohne Wein.

»Mensch, wär’ es nicht toll, wenn hier nebenan eine große Familie einziehen würde?« meinte Jory, der sich wie ich wünschte, es wären endlich viele Kinder in der Nähe, mit denen wir Freundschaft schließen und spielen konnten. Wir hatten niemanden außer uns selbst, sobald wir aus der Schule nach Hause kamen.

»Und wenn sie zwei Jungs und zwei Mädchen hätten, das wäre genau richtig«, meinte Jory und träumte weiter. »Wäre doch hübsch, nette Mädchen gleich nebenan wohnen zu haben.«

Klar, wäre das hübsch. Ich könnte wetten, er wünschte sich, daß Melodie Reicharm nebenan einziehen würde. Dann könnte er sie jeden Tag treffen und in den Arm nehmen und küssen, wie ich das ein paarmal gesehen hatte. Mädchen! Wurde mir schlecht von. »Ich hasse Mädchen! Ich will nur Jungs nebenan!« knurrte ich. Jory lachte und erklärte mir, ich wäre erst neun und würde noch früh genug Mädchen viel mehr mögen als Jungen.

»Was ist eigentlich an Melodies Arm so reich?«

»Merkst du gar nicht, was für eine blöde Frage das ist? Das ist doch nur ihr Nachname und hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

Gerade als ich ihm sagen wollte, daß alle Namen etwas zu bedeuten hätten, warum würde man sie sonst denn überhaupt haben, kamen zwei Lastwagen die lange Auffahrt zum Nachbarhaus herauf. He! Was war das? Außer uns kamen dort nie Menschen hin.

Wir saßen auf der Mauer und sahen den Arbeitern zu, die sich bald überall am Haus zu schaffen machten. Einige kletterten auf das Dach, von dem Mammi uns gesagt hatte, das wäre eine ›Pantile‹ und suchten nach Schäden. Andere liefen mit Leitern und Farbsprühdosen und Eimern ins Haus. Einige hatten große Tapetenrollen unter dem Arm. Ein anderer Trupp begann die Fenster zu untersuchen, und einige sahen sich auch im Garten mit seinen verwilderten Büschen und Bäumen um.

»Das ist ja was!« sagte Jory und sah sehr aufgeregt aus. »Irgend jemand muß das Anwesen gekauft haben. Jede Wette, da zieht jemand ein, sobald alles repariert ist.«

Ich wollte aber keine Nachbarn, die Mammis und Daddys »Zurückgezogenheit« störten. Die ganze Zeit redeten sie davon, wie schön es sei, keine Nachbarn in der Nähe zu haben, die die »Zurückgezogenheit störten«.

Wir blieben auf der Mauer, bis es dunkel wurde, dann gingen wir in unser Haus und sagten unseren Eltern kein Wort davon – denn wenn man etwas erst mal laut aussprach, dann war es auch wirklich wahr. Gedanken zählten nicht.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und wir fuhren zu einem Picknick an den Strand. Dann kam der Montagnachmittag, und Jory und ich saßen wieder auf der Mauer, um uns die Aktivitäten nebenan anzusehen. War ganz schön nebelig und kalt, aber wir konnten genug sehen, um traurig davon zu werden. Wir würden nicht mehr rübergehen können und dort einen Platz für uns alleine haben. Wo sollten wir jetzt spielen?

»He, ihr Kinder!« rief uns an einem der nächsten Tage, als wir wieder zusahen, ein stämmiger Mann zu. »Was macht ihr denn da oben?«

»Nichts!« schrie Jory. Ich redete nie mit Fremden. Jory zog mich immer auf, weil ich mit niemandem viel sprach, nur mit mir selbst.

»Kommt, kommt, Burschen, erzählt mir nichts. Ich hab’ euch hier schon öfter gesehen! Das Haus hier ist Privatbesitz – also verschwindet hier, oder ihr bekommt es mit mir zu tun!«

Er sah richtig böse und wütend aus. Sein Arbeitsanzug war alt und schmutzig. Als er näher kam, sah ich die größten Füße meines Lebens und die schmutzigsten Stiefel. Ich war froh, daß die Mauer mehr als drei Meter hoch war, und wir uns so außerhalb seiner Reichweite befanden.

»Klar, wir spielen da drüben schon manchmal ein bißchen«, sagte Jory, der sich vor niemandem fürchtete, »aber wir machen nichts kaputt. Wir lassen alles so, wie wir es vorfinden.«

»So! Von nun an habt ihr hier überhaupt nichts mehr zu suchen!« fuhr er uns an und starrte erst Jory und dann mich an. »Eine reiche Dame hat dieses Haus gekauft, und sie will hier keine Kinder rumstrolchen sehen. Und glaubt ja nicht, ihr kämt hier mit irgendwas durch, weil sie eine alte Frau ist, die allein lebt. Sie bringt nämlich ihre Diener mit.«

Diener! Puh!

»Reiche Leute können sich alles so machen lassen, wie sie Lust haben«, murmelte der Riese am Fuß der Mauer, während er davonmarschierte. »Tu dies, tu das, und gestern muß schon alles fertig gewesen sein. Das verdammte Geld – Gott, was tät ich nicht alles, damit ich auch mal was davon abbekäme.«