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»Wie weiter mit …?«

Unter dieser Fragestellung werden die Werke von acht der wichtigsten Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts einer »Aktualitätsprüfung« unterzogen. Können, sollen, müssen wir deren Blick auf soziale Phänomene heute noch teilen?

Das Hamburger Institut für Sozialforschung lud 2007 im Rahmen einer Vortragsreihe namhafte deutsche Wissenschafter ein, Werke von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Émile Durkheim, Michel Foucault, Sigmund Freud, Niklas Luhmann, Karl Marx und Max Weber neu und wieder zu lesen. Die so entstandenen Texte nehmen vernachlässigte Denkansätze in den Fokus, bieten unverhoffte Neuinterpretationen und ermöglichen eine anregende Wiederbelebung mit dem sozialwissenschaftlichen Kanon.

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)

Philipp Sarasin

Wie weiter mit

Michel Foucault?

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-688-0

Umschlagfoto: ullstein bild – Roger-Viollet / Bruno de
Monès

© 2008 by Hamburger Edition

Gestaltung: Jan Enns/Wilfried Gandras

Wie weiter mit …? In dieser Frage scheint ein Problem oder zumindest eine Sorge anzuklingen. Kann es mit Freud, mit Adorno, mit Luhmann, mit Foucault und mit all den andern intellektuellen heros des vergangenen Jahrhunderts noch »weitergehen«? Können wir uns noch auf ihre längst ausgelesenen Bücher und ihre alten Theorien beziehen – Stoff für Proseminare und Zwischenprüfungen, aber doch nicht für intellektuelle Projekte der Gegenwart? In einer Welt mit technischen und medialen Möglichkeiten, aber auch mit politischen Konstellationen und Problemen, von denen unsere Helden noch nichts wissen konnten?

Ich soll in diesem Prozess das Urteil zu Foucault fällen – oder eher als sein Anwalt auftreten? Sagen wir, ich übernehme das Amt des Pflichtverteidigers, dem sein Mandant durchaus sympathisch wurde. Was also wäre zu seiner Verteidigung zu sagen? Zuerst vielleicht, dass Foucault – zusammen übrigens mit Luhmann als den beiden Jüngsten unserer in Frage gestellten Helden – trotz seines frühen Todes 1984 einige Vorteile der späten Geburt im Jahr 1926 auf seiner Seite hat. Er erlebte noch die erste islamische Revolution, 1978/79 in Teheran als Berichterstatter für den Corriere de la Sera; er sah in Polen mit eigenen Augen, wie die Solidarność die ersten tiefen Risse ins Fundament des real existierenden Sozialismus trieb – und er konnte 1983 einen Interviewer noch (ironisch?) fragen: »Was heißt Postmoderne?«, um anzufügen: »Ich bin nicht auf dem Laufenden.«1 Foucault lebte bis an die Grenze jener Umbrüche, die unsere Welt von der vergangenen des 20. Jahrhunderts trennt. Bloß fünf Jahre vor dem Fall der Mauer starb er – nicht etwa wie Roland Barthes unter einem Auto, dem Befreiungsversprechen der 1950er Jahre, sondern an jenem Virus, welches das paradoxe, tatsächlich postmoderne Ende der sogenannten Sexuellen Revolution bedeutete, deren Befreiungsversprechen Foucault ebenso mit einem sardonischen Lachen quittierte, wie er selbst seine Befreiung als Homosexueller aus den allerschlimmsten gesellschaftlichen Zwängen dieser Revolution verdankte2: Er starb an Aids, das zumindest für eine Zeit lang wie ein weiterer tiefer Einschnitt wirkte, der die heutige Zeit von jener der glücklichen 1960er Jahre entfernte.

Menschen erheben sich

Andere Züge, die deutlich werden, wenn man näher an Foucault herantritt, haben nicht so direkt mit seinen Lebensdaten zu tun. Im Vergleich mit anderen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts war Foucault zumindest in einer kurzen Phase von 1970 bis etwa 1976 erstaunlich militant, schien sehr viel Zeit zu haben, um politische Basisarbeit für Strafgefangene zu leisten, riskierte Polizeigewalt und erlebte Verhaftungen und war durch sein öffentliches Engagement mit dem Megaphon und billig produzierten Informationsblättchen für Gefangene zumindest nicht unbeteiligt an den rund 35 Aufständen und Meutereien, die in den frühen 1970er Jahren das französische Strafsystem erschütterten. Später galten seine Auftritte in der Öffentlichkeit einem zum Tod verurteilten spanischen Anarchisten, den vietnamesischen Boat-People oder der Gewerkschaft Solidarność, und seine publizistischen Arbeiten galten – allerdings aus größerer Distanz – jenen, die er die »iranischen Massen« nannte.

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