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Valerie le Fiery

Jacques

Erinnerungen eines Callboys





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

 

Coverfoto by Fotolia 58229872 © CURAphotography

 

Der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Ausrichtung des Covermodels aus. 

 

Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit real existierenden oder bereits verstorbenen Personen sind somit rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt oder weiterverbreitet werden.

Jacques

Die schlanken, sorgfältig manikürten Finger halten die Tasse mit dem aufgedruckten Smiley fest umklammert. Dass sie eiskalt sind, spürt nur er. Er nimmt den nächsten Schluck und schaut dabei aus dem Fenster in den beständig fallenden Regen. Bereits seit Tagen hat es nicht mehr aufgehört, beinahe so, als wolle sich eine neue Sintflut ankündigen. 

 

'Eigentlich keine schlechte Idee, alles noch einmal auf Start zurückzusetzen', schießt es ihm durch den Kopf. 'Ist nicht wirklich schade um die meisten Menschen.' Ob es wohl eine höhere Macht gibt, die alles irgendwie lenkt? Er weiß es nicht, aber wenn, dann ... 

 

Ja was …? Beschweren? Doch worüber? Er sieht sich in seiner Wohnung um. Groß ist sie, hell und teuer möbliert. Sein Kleiderschrank ist voll mit Klamotten der gängigen Nobelmarken, um die Menge der Schuhe, die er besitzt, würde ihn wohl manche Frau beneiden, im Badezimmer stehen etliche edle Duftwässerchen und vor der Tür parkt ein nicht ganz billiges Cabrio. Sein Schlafzimmer scheint wie dafür gemacht, Liebenden entspannte Stunden zu bescheren, nur ... da ist niemand. Er ist allein. Wer will schon mit einem wie ihm zusammen sein? Einem Callboy der Upperclass?

 

Sein blasses Gesicht spiegelt sich in der nassen Scheibe, an der die Tropfen unablässig hinabrinnen, um letztlich irgendwo in einem für ihn unsichtbaren Nirgendwo zu verschwinden. Große, weit geöffnete Augen mit einwandfrei gezupften Brauen sehen ihm entgegen, die Haare sind modisch frisiert und natürlich sitzt das Hemd wie angegossen auf seinem schlanken, durchtrainierten Oberkörper. Er weiß genau, was er seinem Beruf – oder besser gesagt, seinem Ruf – schuldig ist. Er ist schließlich Jacques, der Kühle. Jacques, der Franzose. Jacques, der perfekte Mann für alle Fälle.

 

Ein bitteres Lachen steigt in seiner Kehle hoch und für einen Moment legt er den Kopf an das kühle Glas des Fensters, eine einsame Träne will sich ihren Weg bahnen, doch mit einem krampfhaften Schlucken verhindert er das, so wie er meistens Regungen verdrängt, kontrolliert, nicht zulässt. Geweint hat er das letzte Mal vor Jahren, intensive Gefühle sind nicht erlaubt, sie zerstören ihn nur.

 

Jacques ist eigentlich nicht sein korrekter Name. Seine Mutter hat ihn – anscheinend in einem Anfall hormonell bedingter Umnachtung – tatsächlich auf Johannes taufen lassen, dafür hat er sie als kleines Kind manchmal gehasst, doch heutzutage – immerhin ist sie bereits seit vielen Jahren tot – hat er ihr verziehen. Den ungeliebten Rufnamen hat er geändert, als er sich selbstständig machte. Seine Klassenkameraden nannten ihn immer Hannes, das hat er in Hans weiter verkürzt. Hans heißt im Englischen bekanntlich Jack und aus eben diesem Jack wurde schließlich der kühle Jacques, Jacques Lerón. Natürlich weiß er, dass es eigentlich Jakob bedeutet, glücklicherweise beherrschen aber nur die wenigsten seiner Kunden oder Bekannten die französische Sprache und ohnehin kennt ihn nur eine Handvoll Freunde etwas besser – wenn es überhaupt so viele sind. Nur diesen ausgewählten Menschen ist bekannt, dass er eigentlich ein ganz anderer ist, als er nach außen vorgibt zu sein.

 

Seufzend schaut er zur Uhr. Heute hat er massig Zeit, ein extravaganter Kunde erwartet ihn erst am späten Abend in seiner Nobelsuite in einem stadtbekannten Luxushotel. Allerdings wird er ihm dann die ganze Nacht zur Verfügung stehen müssen, was natürlich sehr gut bezahlt wird. Einen Tausender sind dem Herrn seine Gesellschaft und sein Schwanz immerhin wert.

 

Was soll er mit diesem trüben Tag also beginnen, an dem man – des Wetters wegen – nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen würde? Zusätzlich zum Regen stürmt es heftig und er will es nicht riskieren, sich eine Erkältung einzufangen. Das ist eine Art Ehrenkodex, dass man nicht mit Schnupfen oder Husten zu einem Freier geht. Nicht nur, weil man ihn anstecken könnte, es würde beim Ficken definitiv ziemlich störend wirken. Immerhin wird man gut bezahlt, dafür erwarten die Kunden eine entsprechend perfekte Leistung.

 

Warum nur ist er heute derart grüblerisch? Ist es, weil ihn gestern die Nachricht vom Tod eines annähernd gleichaltrigen ehemaligen Kollegen und Freundes erreicht hat? Na ja, eigentlich sein allerbester Freund. Auf dem Hamburger Kiez hatten sie sich kennengelernt und knapp zwei Jahre einträchtig nebeneinander auf zahlende Kunden gewartet. Natürlich nicht ganz so offen wie die Damen des gleichen Gewerbes, aber doch immer in der Art, dass einer auf den anderen achtete und sich auch schon mal die Autonummer merkte, falls der Freier motorisiert war … und überhaupt hatten sie fast alles miteinander geteilt – die Großpackungen Kondome ebenso wie die letzte Flasche Cola oder das leicht angetrocknete, übrig gebliebene Sandwich von der Tanke, das sie vom mitleidigen Besitzer derselben zugesteckt bekommen hatten.

 

Sven ist tot!

 

Sven, der zierliche, quirlige Junge, der immer unbekümmert war und für jeden ein freundliches Wort übrig hatte. Dieser Mann, der sogar einem Hund über die Straße half oder der alten Nachbarin die Taschen nach Hause trug. Jacques kann sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem Sven irgendwie mies drauf gewesen wäre. Nie war er launisch, sondern hatte jeden getröstet, der einmal einen schlechten Moment hatte. Und eben diese Unbekümmertheit war ihm zum Verhängnis geworden. Irgendwann stellte ein Arzt fest, dass er HIV-Positiv war. Infiziert durch Leichtsinn, denn manche Kunden zahlten eben besonders gut, wenn man sie ohne Gummi bediente.

 

Natürlich hatte Sven von dem Zeitpunkt an nie wieder ungeschützten Sex, nahm seinen Medikamentencocktail regelmäßig ein und versäumte keinen Arzttermin, aber … nun hat er diese Welt doch viel zu jung verlassen müssen. Obwohl sie sich in der letzten Zeit nur unregelmäßig getroffen haben, da Jacques bereits seit einigen Jahren nicht mehr auf der Straße arbeitet, trifft ihn die Nachricht doch mit voller Wucht. Gestorben mit siebenunddreißig, knapp ein Jahr älter als er selbst.

 

Erneut ist das Lachen zu hören, dieses verbitterte, halb schluchzende, heisere und trotzdem schrille Lachen, das sich aus der Tiefe seines Inneren nach oben kämpft und das dieses Mal etliche Tränen im Gepäck hat, die er nun doch nicht mehr unterdrücken kann. Unaufhaltsam strömen sie über Jacques' Wangen, rinnen über den Hals und versickern schließlich im Hemdkragen. In Gedanken schickt er ein Gebet zum Himmel, auch wenn er nicht wirklich gläubig ist. Leise flüstert er ein „Lebwohl, alter Freund“, anschließend schluckt er kräftig und schüttelt unwirsch den Kopf. Das fehlte gerade noch, dass er hier herumheult wie ein kleines Mädchen, dem das Lieblingseis heruntergefallen ist.

 

Gedanken an die Zeit auf dem Strich schießen ihm in den Kopf. Ist es tatsächlich schon zwanzig Jahre her, dass er begonnen hat, da draußen auf Männer zu warten? Auf junge oder alte lüstern blickende Kerle, die dafür zahlten, damit er mit ihnen das tat, was offenbar sonst keiner wollte?

 

Seufzend geht Jacques in die Küche. Er weiß nicht genau, wonach er sucht, doch im Kühlschrank findet er beim Hineinsehen eine Flasche Prosecco. Ja, er wird heute eine Ausnahme machen und auf das Wohl von Sven trinken, nur ein Glas, denn in zwölf Stunden soll er im Hotel sein, sein Kunde erwartet Pünktlichkeit und natürlich will er keinen angesäuselten Callboy im Bett haben.

 

Mit der Flasche in der einen und einem Glas in der anderen Hand lässt er sich auf seine weiße Designercouch fallen, gießt sich etwas von dem Prickelgebräu ein und hebt anschließend seinen geschliffenen Sektkelch in die Luft.

 

„Wo auch immer du jetzt sein magst, Sven, ich trink auf dich und darauf, dass es dir jetzt wieder gut geht. Cheers, altes Haus!“

 

Ein weiteres Mal glitzert es verräterisch in seinen Augen, bevor er ansetzt und sein Getränk in einem Zug herunterstürzt. Er schließt seine Lider und ohne lange zu überlegen, wirft er das Glas hinter sich, sodass es mit einem schrillen Geräusch auf dem Fliesenboden in tausend Stücke zerbricht. Erschöpft wie nach einem Marathonlauf lässt er sich nach hinten in die Sofakissen fallen und versinkt in den Erinnerungen an die Vergangenheit.

 

Pubertätserinnerungen

„Kommst du mit, Hannes?“

 

Der Angesprochene drehte seinen Kopf und sah seinen Klassenkameraden an.

 

„Wohin soll’s denn gehen?“

 

„Na ja, bei dem Wetter wollten wir eigentlich ins Freibad und Mädels gucken“, antwortete Matthias, sein direkter Sitznachbar in der Schule.

 

„Mädels gucken? Wie meinst du denn das?“, kam es etwas ratlos von Hannes. „Die sehen wir doch jeden Tag hier, was ist da denn nun anders als sonst?“

 

„Mensch, bist du schwer von Begriff. Im Freibad haben sie fast nichts mehr an, nur kleine Bikinis. Normalerweise tragen sie meistens diese dämlichen Jeans und Pullis. Wir wollen aber ihre Möpse und Hintern richtig wackeln sehen. Na was ist nun, bist du dabei?“

 

„Ich weiß gar nicht, ob ich meine Badehose finde“, versuchte Hannes sich aus der Affäre zu ziehen. Irgendwie behagte ihm die Vorstellung nicht. Er wusste zwar, dass seine Freunde und Klassenkameraden sich bereits ziemlich stark für Mädchen interessierten, doch ihm war das völlig einerlei.

 

Mädchen waren nett, intelligent und meistens ziemlich hilfsbereit, zumindest einige von ihnen, doch ob da nun etwas wackelte oder nicht, interessierte ihn nicht wirklich.

 

„Kein Problem, ich habe mehrere“, konterte Matthias, „ich leihe dir eine. Also um drei am Schwimmbad?“

 

Hannes nickte, drehte sich erneut seinem Fahrrad zu, schloss es auf und radelte nach Hause. Dort angekommen wärmte er sich sein Mittagessen in der Mikrowelle auf und setzte sich auf die Terrasse. Sollte er wirklich ins Freibad gehen, nur um sich etwas anzusehen, was ihn überhaupt nicht reizte? Bloß – warum machte ihn der Anblick von Mädchen derart wenig an? Na ja, das würde sicher noch kommen. Vielleicht war er in der Hinsicht eben ein Spätentwickler und dann wäre es eventuell gar keine schlechte Idee, wenn er sich ein wenig inspirieren ließe. Eventuell würde es ja doch ganz nett werden.

 

Schade, dass seine Mutter noch auf der Arbeit war, er hätte sie gerne gefragt, was er wohl falsch machte. Seinen Vater mochte er damit nicht belästigen, der war ziemlich konservativ, eigentlich sogar ein Spießer. Maurer von Beruf und nebenbei arbeitete er wie die meisten in dieser Branche schwarz. Daher war er eher selten zu Hause – und einmal im Monat betrank er sich am Wochenende, bis nichts mehr ging. Ein sogenannter Quartalssäufer, das war wohl seine Art der Rebellion gegen seinen langweiligen, vorhersehbaren Alltag und das ewig gleiche Hamsterrad, in dem er seine Runden drehte.

 

In letzter Zeit hatte er Hannes des Öfteren gefragt, wie es denn nun endlich mal mit der ersten Freundin aussehen würde, er wäre mit seinen dreizehn nun wirklich alt genug, um wenigstens mit einem Mädchen zu gehen, wie er es nannte. Meistens lag dabei ein eher unangenehmes Grinsen auf seinem Gesicht, was Hannes dazu veranlasste, sich jedes Mal mit einer neuen Begründung aus der Affäre zu ziehen. Häufig schob er zu viele Hausaufgaben vor oder eben Klassenarbeiten, die ihm nicht genug Zeit lassen würden. Und außerdem wäre er noch ziemlich jung, so eilig hätte er es damit nicht.

 

„Aber bei dir funktioniert alles richtig, oder?“

 

Noch immer klang diese Frage seines alten Herrn in Hannes' Ohren. Bei ihrem letzten Gespräch war das gewesen und natürlich war er daraufhin sofort rot angelaufen.

 

„Wie meinst du das?“

 

Zögernd hatte er diese Frage gestellt und sie bereits im nächsten Augenblick bereut.

 

„Na, ob dir nachts einer abgeht oder du dir wenigstens ab und zu selber einen abrubbelst.“

 

Dröhnendes Lachen hatte diese Äußerung begleitet und während Hannes mit knallrotem Gesicht aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet war, hatte seine Mutter ihren Mann ins Gebet genommen.

 

„Wie kannst du nur, Horst? Er ist erst dreizehn, da muss er das alles noch gar nicht zwingend machen. Du hast ihn ziemlich verunsichert und etwas derart Intimes fragt man einfach nicht, vor allem nicht in Anwesenheit der Mutter. Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.“

 

„Ach was, in seinem Alter hatte ich bereits eine feste Freundin und kräftig gefummelt haben wir auch schon. Ich war gerade eben vierzehn, als ich sie das erste Mal flachgelegt habe. Er wird nächsten Monat ebenso alt, da wird man als Vater wohl mal fragen dürfen. Hauptsache, er wird nicht schwul.“

 

Seufzend verdrängte Hannes diese unschöne Szene, die sich vor knapp vierzehn Tagen abgespielt hatte. In weiteren drei Wochen würde er seinen vierzehnten Geburtstag feiern – ob sein Erzeuger dann noch öfter nachhaken würde, ob er Sex in irgendeiner Form hätte? Mit zwei Handgriffen räumte er seinen Teller in die Spülmaschine und schaute zur Uhr. Es war bereits fast halb drei und somit an der Zeit, sich auf den Weg zum Freibad zu machen. Zugesagt war zugesagt. Kneifen ging nicht mehr.

 

Vor dem Eingang des Bades wurde er von Matthias, Holger und Markus ungeduldig erwartet und lautstark begrüßt.

 

„Hier, ich habe dir eine Badehose von mir mitgebracht. Die wird hoffentlich passen, bist ja schon recht gut ausgestattet.“

 

Fragend sah Hannes seinen Klassenkameraden an. Sollte er darauf antworten? Er wusste genau, auf was Matthias anspielte. Neulich, beim Duschen nach dem Sport, hatten mehrere Jungs zum zigsten Mal den unvermeidlichen Schwanzvergleich gemacht, er selbst hatte sich da allerdings herausgehalten. Matthias hatte ihn jedoch direkt angesprochen.

 

„Hey, Hannes, nun dreh dich mal nicht so schamhaft weg, bist doch kein Mädchen. Zeig uns, was du hast. Komm rüber, Mann.“

 

Zögernd war er zu den anderen hinübergewandert und hatte langsam seine Hände, mit denen er sein Geschlecht bedeckt gehalten hatte, sinken lassen. Ein überraschter Laut kam aus drei Kehlen gleichzeitig. Hannes Mitte wies eine für sein Alter beachtliche Länge auf und selbst die Behaarung war bereits sichtbar. Obwohl sein Körper eher zierlich zu nennen war, sein Schwanz war es definitiv nicht. Seitdem war er in dieser Beziehung in Ruhe gelassen worden.

 

„Danke schön, das wird schon gehen.“

 

Mit diesen Worten griff Hannes nach dem hingehaltenen Kleidungsstück und steckte es in die Tasche, in der sich sein Handtuch und das Portemonnaie befanden. Mit keinem Wort ging er auf die Anspielung ein.

 

Die vier Jungs lösten ihre Karten, zogen sich rasch um und machten es sich anschließend auf dem Rasen ganz in der Nähe der Umkleide bequem. Albern kichernd stießen sich die Jungs mit den Ellenbogen an, wenn ein Mädchen die Kabinen oder Duschen verließ. Jedes Mal fielen anzügliche Bemerkungen, wie knackig oder eben breit das Hinterteil der entsprechenden jungen Dame wäre. Oft wurde über den Vorbau gelästert oder sie bekamen bei der einen oder anderen holden Weiblichkeit glatt rote Ohren und deutliche Beulen in ihren Badeshorts. Hannes schüttelte verständnislos den Kopf. Er fand diese ganzen Sprüche wie „Guck mal, ein BMW – Brett mit Warzen“ oder „Da, eine Tischlertochter – hinten platt und vorn gehobelt“ einfach nur zum Kotzen, doch er lachte pflichtschuldig mit, hielt sich aber ansonsten zurück.

 

Was fanden die bloß alle an diesen Busen so toll? Sicher, das war zum späteren Stillen des Nachwuchses von der Natur ziemlich schlau eingerichtet, doch … musste das wirklich immer üppig sein? Ihm gefielen die schmalen Mädchen mit den knabenhaften Figuren viel besser. Eigentlich fand er Männerbrustkörbe wesentlich attraktiver, da schaukelte nichts. Vielleicht würde sich das positive Denken an die sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale ja irgendwann doch noch entwickeln.

 

Statt dauernd zu den Mädchen zu schielen, beschloss Hannes, lieber eine Runde schwimmen gehen, immerhin war das Wetter grandios und das wollte er ausnutzen. Nach einer halben Stunde kam er tropfend und ausgepowert zurück zu seinem Badetuch und wunderte sich, denn von Matthias war weit und breit nichts zu sehen, Markus und Holger grinsten nur vielsagend. Ein paar Minuten später kam der Vermisste keuchend, aber irgendwie strahlend angetrabt und ließ sich schwer auf seine mitgebrachte Decke fallen.

 

„Na, wie war’s? Erzähl!“, wurde er sofort von seinen beiden engsten Kumpels ausgehorcht.

 

„Was war denn, habe ich etwas verpasst?“, fragte Hannes ein wenig erstaunt.

 

„Also Kinder, das war der Hammer schlechthin. Ich bin also hinterher, als diese süße kleine Blonde mit dem sexy Hintern in der Dusche verschwunden ist. Erst mal hab ich gesucht, ob ich wirklich das kleine Guckloch finde, von dem mir mein Bruder erzählt hat. Das gibt es tatsächlich. Und was dann kam, ihr glaubt es nicht. Die zieht sich also komplett aus und ich kann zusehen, wie sie ihre kleinen strammen Möpse einseift. Aber es kommt noch viel besser. Nimmt die doch so einen kleinen Klecks Duschgel und wäscht sich die Muschi. Immer hin und her, ganz langsam, ich glaube fast, das hat die absichtlich so ausgiebig gemacht, denn plötzlich fing sie an, leise zu stöhnen. Ich stehe da also, hab einen guten Blick und eine Hand an meinem Schwanz, hole mir bei dem geilen Anblick einen runter, da quiekt die plötzlich auf und ihr ganzer Körper wird förmlich geschüttelt. Jungs, ich sag’s euch, die hat sich das so geil selber gemacht, dass sie gekommen ist, da gehe ich jede Wette ein. Ich hab natürlich auch schneller gewichst und dann hammergeil abgespritzt. Mir zittern jetzt noch die Knie. Kinder, ich sag euch was … manche Mädchen sind kleine Schlampen, die wollen wahrscheinlich sogar schon ficken. Eigentlich müsste man es der kleinen Blonden richtig besorgen“

 

Holger und Markus hatten ihrem Freund mit offenem Mund gelauscht und ihre Gesichter hatten sich dabei gerötet. Am liebsten hätten sie wohl auch Hand angelegt, in der Öffentlichkeit verkniffen sie sich das jedoch.

 

Innerlich konnte Hannes über diese Schilderung nur den Kopf schütteln. Bei den beiden anderen hatten sich während der Erzählung nicht zu übersehende Schwellungen in der Badehose gebildet, bei ihm interessanterweise nicht. Irgendwie ließ ihn das alles relativ kalt.

 

An diesem Abend lag Hannes sehr lange wach. Irgendwie wusste er nicht genau, was er fühlen sollte. Müsste es in seinem Alter nicht eigentlich völlig normal sein, dass er einen Steifen in der Hose bekäme, wenn ein gut aussehendes, heißes Mädchen in seiner Nähe war? Warum nur war das nicht so?

 

***

 

Seufzend erhebt sich Jacques. Was zum Teufel konnte eigentlich das Glas für seine leicht depressive Stimmung? Na gut, er kann es sich leisten – auf das Geld kommt es nicht an, aber trotzdem. Wie früher ziemlich oft geschehen, ist sein Temperament spontan mit ihm durchgegangen. Rasch beseitigt er die Splitter mit Handfeger und Schaufel, den Rest wird seine Putzhilfe morgen übernehmen. Frau Bartels, seine gute Fee. Bei dem Gedanken an diese liebenswerte Person legt sich zum ersten Mal an diesem Tag ein leichtes Lächeln auf seine Züge und lässt ihn auf einen Schlag unglaublich jung und verletzlich aussehen.

 

Nachdem er die Scherben entsorgt und die Flasche mit dem Prosecco in den Kühlschrank zurückgestellt hat, geht er hinüber ins Schlafzimmer. Dort fällt sein Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es ist elf. Immer noch viel zu viel Zeit bis zu seinem Termin und wenn er schon nicht nach draußen gehen mag, könnte er sich doch stattdessen einen Film ansehen. Ganz gemütlich hier von seiner Liegewiese aus.

 

Gedacht, getan. Fünf Minuten später hat Jacques es sich bequem gemacht, der Film flackert per Beamer über die weiße Wand des Schlafraumes und neben ihm steht eine Flasche italienisches Mineralwasser, von dem er ab und zu einen Schluck zu sich nimmt. Jedoch vermag er seine Gedanken nicht auf die Handlung zu konzentrieren, ständig entgleiten sie ihm – zurück in eine Zeit, die ihm vorkommt, als hätte sie in einem vergangenen Leben stattgefunden.

 

Klassenfete

„Sag mal, Hannes, du bist doch heute Abend bei der Klassenfete dabei, oder?“

 

Matthias sah Hannes auffordernd an und es schien, als würde er ein „Nein“ nicht unbedingt gelten lassen. Mittlerweile war es Januar geworden und die Tage waren kurz und kalt, ganz anders als noch vor ein paar Monaten im Schwimmbad. Seit jenem Tag hatte Hannes es weitestgehend vermieden, zu solchen Veranstaltungen wie Freibadbesuchen oder Partys in sturmfreien Buden zu erscheinen. Meistens hatte er vorgetäuscht, für die Schule lernen oder zu Hause helfen zu müssen. Beides war nicht einmal gelogen. In seiner Klasse galt er schon lange als Streber, doch über diesbezügliche blöde Kommentare hörte er einfach hinweg. Ihm war sehr daran gelegen, einen vernünftigen Realschulabschluss zu machen, um sich damit eine solide Basis für die Zukunft zu schaffen. Fürs Gymnasium hatte er leider keine Empfehlung bekommen, doch mit einer erstklassigen Mittleren Reife konnte man ebenfalls eine ganze Menge anfangen. Vielleicht würde er später sogar das Fachabitur machen.

 

Hannes' Mutter war inzwischen tatsächlich leidend, von daher kümmerte er sich zusätzlich um den Haushalt, wenn ihr die Kraft dafür fehlte. Man hatte bei ihr vor einiger Zeit ein chronisches Erschöpfungssyndrom diagnostiziert, zu dem sich mittlerweile depressive Schübe hinzugesellten. Das war verantwortlich dafür, dass Hannes sich erstens sehr um sie sorgte und zweitens eben niemals Freunde mit nach Hause bringen konnte, eine Tatsache, die ihn indessen weniger störte, denn irgendwie konnte er mit den Themen, über die sich seine Klassenkameraden im Allgemeinen unterhielten, sowieso nicht besonders viel anfangen. Je älter sie wurden, desto mehr drehten sich alle Gespräche nur um Sex, Mädchen, Schwanzlängen und erste Erfahrungen. Zudem rauchten sie alle, wahrscheinlich, weil sie sich damit erwachsener vorkamen, etwas, was Hannes überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Für ihn waren Zigaretten ebenso wie Alkohol absolut nicht wichtig und er hatte demzufolge auch keine Lust herauszufinden, ab dem wievielten Bier man das Kotzen bekam.

 

„Ja klar, hatte ich aber doch neulich schon zugesagt. Immerhin wurden wir vom Alten recht deutlich darauf hingewiesen, dass alle männlichen Personen bitte vollzählig zu erscheinen haben, da sonst ein zu großer Mädchenüberschuss herrscht“, gab Hannes endlich zur Antwort und nickte bestätigend dazu. Es stimmte, der „Alte“, wie sie ihren Klassenlehrer Herrn Holtz zu nennen pflegten, hatte Derartiges wirklich geäußert, und da man es sich nicht unbedingt mit ihm verderben wollte, leistete man seiner Bitte natürlich Folge, notfalls eben zähneknirschend.

 

„Dann sehen wir uns um neunzehn Uhr in der Klasse.“

 

Hannes stimmte per erneuter Kopfbewegung ein weiteres Mal zu und machte sich auf den Weg nach Hause, wo ihn sicher zunächst eine Menge Arbeit erwarten würde.

 

Gegen sieben Uhr abends trudelte er zusammen mit den anderen Jungs im geschmückten Klassenraum ein. Einige der Mädchen hatten sich so extrem aufgebrezelt, als befänden sie sich auf einem der Abschlussbälle, wie sie in amerikanischen Schnulzen mit Vorliebe gezeigt wurden. Im Hintergrund erklang bereits leise Musik und am improvisierten Tresen stand Herr Holtz und gab höchstpersönlich die Getränke an seine Schüler aus.

 

Ein wenig erinnerte die Kulisse mit den an der Decke befestigten Luftballons und den gespannten Girlanden tatsächlich an einen kitschigen Film, wie Hannes mit einem prüfenden Blick feststellte, wobei seine Augen alles aufmerksam musterten. Dass er selbst von einigen der Mädchen verstohlen angestarrt wurde, entging ihm dabei völlig.

 

Schließlich erklärte der „Alte“ die Fete für eröffnet, die Musik wurde lauter und die ersten Pärchen eroberten die Tanzfläche. Anfangs waren die ausgewählten Lieder fetzig und rockig, doch relativ schnell schummelten sich langsamere Titel ins Repertoire. Schon bald trauten sich die Ersten, sich ziemlich dicht beieinanderstehend mehr oder minder im Takt zu wiegen, was allerdings oft eher einem Klammerblues glich. Auch Hannes wurde wiederholt von dem einen oder anderen Mädchen aufgefordert und natürlich wies er diese nicht ab, beim Engtanz jedoch versuchte er, konstant ein wenig Abstand zu halten, sofern ihm das möglich war.

 

Irgendwann im Laufe des Abends geschah es schließlich. Um die Party ein wenig aufzulockern, schlug irgendjemand vor, man könnte doch Flaschendrehen spielen.

 

„Was ist denn das?“, ließ sich Hannes vernehmen, der aufgrund seiner sonstigen Abwesenheit bei solchen Veranstaltungen keine Ahnung hatte, was das wohl sein sollte.

 

„Nee, oder?“, kam es verständnislos von Matthias und Holger echote: „Das weißte nich? Kann nich sein“, wobei er den Kopf heftig schüttelte.

 

„Also, das ist so“, setzte Matthias noch mal an, „wir sitzen alle in einem Kreis auf dem Fußboden und in die Mitte kommt eine leere Colaflasche. Bis dahin klar?“