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Theorien des Todes zur Einführung

Petra Gehring

Theorien des Todes zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2010 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Brett East, Vanitas 11
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-022-0
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-676-7
3. Aufl. 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Vorbemerkung

1. Politische Ordnung und philosophischer Tod

1.1 Kosmologische Motive

1.2 Was man trotz Nichtwissen über den Tod sagen kann

1.3 Die sokratische Geste

2. Von der Sorge um sich zum Schrecken des Jenseits

2.1 Der Tod als Aufgabe und Übung betrachtet

2.2 Das christliche Jenseits

2.3 Heil und Angst

3. Körper – Seele – Ende: Tod und Vernunft

3.1 Die Körpernatur und das Seelenproblem

3.2 Ärztewissen, klinischer Blick

3.3 Selbstmord oder Freitod?

4. Der Tod in der Epoche des Lebens

4.1 Romantische Todesnatur

4.2 Soziologisierung des Todes

4.3 Der Tod der Arten

4.4 Tod als Lebensfunktion

5. Tod oder Lebensende?

5.1 Ambivalenzen der Lebensphilosophie

5.2 Vernichtung

5.3 Tod und Technik

6. Die deregulierten Tode und ihre Aktualität

6.1 Hirntod

6.2 Sterben als psychologisches Projekt

6.3 Liberale Sterbehilfe und biologische Todlosigkeit

7. Schluss

Anhang

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Zitierte Literatur

Über die Autorin

Vorbemerkung

»Die menschliche Ungewißheit dem Eintreten des Todes gegenüber ist nicht einfach eine Lücke der biologischen Wissenschaft, sie ist ein Nichtwissen von der eigenen Bestimmung, und dies Nichtwissen ist selbst ein Akt, in dem sich ebensowohl eine Anwesenheit wie eine Abwesenheit des Todes konstituiert.«1

»Ich will, daß der Tod mich beim Kohlpflanzen antreffe – aber derart, daß ich mich weder über ihn noch gar über meinen unfertigen Garten gräme.«2

Wir alle werden sterben. Ganz einfach? Eher doch sehr kompliziert. Denn wovon ist die Rede, wenn jemand das Wort »Tod« verwendet? Kann man sich dieses unbekannte Etwas vorstellen? Muss man es fürchten? Und wie erfasst man es mittels einer Theorie? Antworten auf solche Fragen fallen schwer. Der Tod ist ein negativer Sachverhalt, eine Abwesenheitserfahrung. Jemand stirbt, ist gestorben, verschwindet. Ein mehr oder weniger vertrauter Körper zerfällt, eine Stimme ist nicht mehr da. Das sind Fakten, die im Zweifel nicht zu leugnen sind. Und doch kaum zu begreifen.

Es gibt wissenschaftliche Disziplinen, die in der einen oder anderen Weise für den Tod zuständig sind – die Medizin, die Psychologie, die Theologie, die Ethik, das Recht, die Geschichtswissenschaft. Zugleich ist der Tod etwas Höchstpersönliches. Was ihn anbelangt, herrscht ein Vorrecht der intimen Empfindung. Wie wollte ich sagen, was jene Endlichkeit der mir nahen Personen wie auch meiner selbst bedeutet? Ist hier nicht überhaupt die Grenze des Sagbaren erreicht? So ist ›der‹ Tod eine in sich gebrochene Sache. Wir sind konfrontiert mit zahlreichen wissenschaftlichen Perspektivierungen seines Soseins. Und wir sehen ihn als existenzielles Faktum: Lässt sich etwas Endgültigeres denken, etwas das finsterer, unerbittlicher wäre als ›er‹?

Theorien des Todes existieren, seit es Theorie gibt, also seit zweieinhalbtausend Jahren. In dem Maße, wie Wissenschaft zunehmend »Disziplinen« ausdifferenziert, durchquert das Nachdenken über Tod und Sterben die verschiedensten Fächer. Dazu kommt die Fülle kultur- und alltagsgeschichtlicher Archive: Gebrauchstexte, bildliche Darstellungen, bewahrte Zeugnisse und Relikte, Rituale des Abschiednehmens, der Bestattung, der Trauer. Wie legt man vor diesem Hintergrund eine Einführung in Theorien des Todes an?

Drei Ausgangsentscheidungen prägen dieses Buch. Zum einen diejenige, dass die Frage nach den Theorien des Todes in einen geschichtlichen Zusammenhang gehört. Anders gesagt: Der Tod ist nichts ewig Menschliches, er ist nicht immer gleich. Zwar legt das Faktum des Sterbenmüssens nahe, ›er‹ – der Tod – sei eine autonome Macht, da regiere die Faust des Schicksals oder zumindest die Natur. Dennoch können wir nicht davon ausgehen, dass es eine überhistorische Erfahrung oder Bedeutung des Todes gibt. Das, was unter dem Namen thánatos, mors, death, mort oder Tod vorgestellt, gedacht und erwartet wird, unterliegt genauso dem geschichtlichen Wandel wie all das, was vor dem Tod liegt: Leben, Welt, Wirklichkeit selbst. Mit den Todeserfahrungen unterscheiden sich auch die Todestheorien der verschiedenen Epochen. Wie radikal sich Todeskonzepte verändern und wie wenig in puncto Tod selbstverständlich ist: eben das will diese Einführung zeigen.

Eine zweite Ausgangsentscheidung betrifft das Problem des disziplinären Zugangs. Theorien des Todes sind über Expertenkulturen verteilt. Weder gibt es eine fächerübergreifende Thanatologie, noch wäre eine solche möglich – es sei denn als »nomadisierende Wissenschaft«, wie ein Soziologe unlängst vorschlug (Feldmann 2004, 7). So ist das wissenschaftliche Todesdenken begrifflich und methodisch fragmentiert. Beklagen muss man das nicht. Es sollte jedoch klar sein, woher der Wind weht – das heißt, welchen Zugang und welchen Weg durchs Themengebiet man wählt und welchen nicht. Diese Einführung bekennt sich zu einem exemplarischen Vorgehen. Die Kapitel ordnen sich chronologisch, bieten aber keine durcherzählte Geschichte, sondern leuchten markante Stationen des (europäischen) Todesdenkens aus. Theorien verschiedener, aber keineswegs aller Disziplinen kommen zur Sprache, denn begriffliche Fassungen des Todes stehen im Vordergrund, nicht Messwerte. Das bedeutet insbesondere, dass Todesursachentheorien und überhaupt naturwissenschaftliche Einzelheiten zurückstehen. Medizinische oder sozialwissenschaftliche Einsichten finden vor allem dort Erwähnung, wo sie das allgemeine Verhältnis zum Tod berühren und über Fächergrenzen hinaus diskursrelevant werden. Das ist etwa der Fall, wenn sich (wie beim Thema Suizid oder beim »Hirntod«) explizit Diskussionen um medizinische Todeskriterien ranken oder aber wenn (wie im Fall von Sterbestatistik) Auswirkungen von empirischen Konturen ›des‹ Todes auf die Agenda der Theoriebildung – und namentlich der philosophischen Theoriebildung – unübersehbar sind. Grundsätzlich gilt das besondere Interesse der Autorin also dem reflexiven und vielfältigen Todesdenken der Philosophie. Es sollen aber auch Aspekte einer Politik- und Machtgeschichte des Todes deutlich werden, denn die Philosophie ist keine Königsdisziplin und auch keine transdisziplinäre Übersichtswissenschaft. Sie hat in Sachen Tod keine letzte Expertise. Allerdings hat die Philosophie ein sehr langes Gedächtnis begriffs- und theoriegeschichtlicher Art. Und sie scheut nicht zurück vor der Größe des Themas.

Eine dritte Ausgangsentscheidung besteht darin, einen Schwerpunkt auf die Todestheorien der Moderne zu legen. Was prägt Todeskonzepte in den vergangenen zweihundert Jahren und was sind die Merkmale von Theorien des Todes heute, im Zeitalter von Biomedizin und Lebenswissenschaften, von steigender Lebenserwartung, von neuen Formen der psychologischen Bearbeitung des Sterbeprozesses und überhaupt von technischen Visionen – bis hin zur Idee eines in virtuellen Räumen vom Tod befreiten »transhumanen« Lebens? Tatsächlich verändert sich heute im Todesdenken einiges. In den Wissenschaften wie auch in der Alltagsperspektive scheint an die Stelle dessen, was über Jahrhunderte »Tod« hieß, der diesseits des Todes gelegene und besser fassbare Prozess des Sterbens zu treten. Eine solche (mögliche) Verschiebung des Nachdenkens über den Tod hin zu einem Diskurs des »Sterbens« wird in dieser Einführung ebenso diskutiert wie Thesen zum Verschwinden des Todes (Ariès 1978) oder auch zu einer »neuen Sichtbarkeit« des Todes in der Moderne (Macho/Marek 2008). Schon erwähnt wurde das Interesse der Autorin an aktuellen sterbepolitischen Problemlagen: Mit der These einer zunehmenden Politisierung des Sterbens bezieht diese Einführung – nicht unbedingt technikkritisch, aber machtanalytisch – Position. Gleichwohl soll auf jede Moralisierung des Redens über den Tod verzichtet werden. Faites vos jeux. Nichts ist geklärt, nichts abgeklärt.

1. Politische Ordnung und philosophischer Tod

»Also, Bester, sieh zu, ob nicht das Edle und Gute etwas ganz anderes ist als das Erhalten und Erhaltenwerden, und ob nicht ein Mann, der es wahrhaft ist, eben dieses, nur zu leben, solange es irgend geht, muß dahingestellt sein lassen und keineswegs am Leben hängen …«3

Dass die Toten den Lebenden schon früh ein Gegenstand der Sorge waren, zeigen prähistorische Zeugnisse. Mit einiger Sicherheit besaßen bereits die archaischen Vorfahren des homo sapiens eine Bestattungskultur (Leroi-Gourhan 1964/65, 144ff.). Auch Praktiken der Erinnerung an Gestorbene zählen wohl zu den unabdingbaren Merkmalen von Kultur. Erst in der antiken griechischsprachigen Überlieferung finden wir jedoch Formen eines theoretischen Nachdenkens über den Tod – Überlegungen also, in denen sich eine forschende Neugier ausspricht und neben der Frage nach dem guten Sterben auch die Unbegreiflichkeit des Todes diskutiert wird. Und zwar als offenes Problem.

Der Beginn einer solchen problematisierenden Todestheorie ist nicht der Beginn des Todesdenkens. Für das alte ägyptische Reich lassen steinerne Monumente, Grabinschriften, heilige Texte ein intensives Erinnerungswesen ahnen, in dessen Zentrum das Ringen mit dem Tod, dem unwiderruflichen Verschwinden, steht. Die Gemeinschaft richtet große Anstrengungen darauf, die Namen und die Körper der Toten zu bewahren, auf diese Weise bleiben sie Teil der Welt (Assmann 1988). Auch der Sonnengott gleicht einem Leichnam. Darin, diesen Gott rituell zu versorgen und seine nächtlich wiederkehrende Begegnung mit dem Lebendigen zu sichern, liegt der Schlüssel zum Inganghalten des ganzen Kosmos, das »Geheimnis der Geheimnisse« (Assmann 1998, 21) der ägyptischen Kultur. Das ägyptische Wissen über den Tod ist gerahmt von Erzählungen, wir sprechen im Rückblick von »Mythen« und meinen damit, dass feste Glaubensvorstellungen das damalige Todesdenken prägten. Ob dieses Bild einer fraglosen, »mythischen« Totenreligion einer vergangenen Gegenwart gerecht wird, lässt sich mit Gewissheit nicht sagen. Sollte es in vorgriechischer Zeit bereits theoretische Texte gegeben haben – individuelle Niederschriften, informelle, fragende und dabei doch verallgemeinernde Aussagen zum Tod – so kennen wir sie schlicht nicht.

1.1 Kosmologische Motive

Für die griechischsprachige Antike ist die Überlieferungslage reich, Epen sind erhalten, Dramen, aber eben auch Texte, die auf freie Reflexion angelegt sind. In den Fragmenten der sogenannten Vorsokratiker, Intellektueller, die im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus tätig waren, findet sich das Problem der Vergänglichkeit mit kühlem, vielleicht sogar ironischem Blick ausgesprochen. So betont Heraklit, einer dieser frühen Autoren, den unmittelbaren Zusammenhang von Tod und Werden. »Entstehen« – in der Bedeutung von Entstandensein, Geborensein, leben – heißt für Heraklit »das Todeslos haben« (vgl. Herakleitos ca. 500 v. Chr., B 20). Heraklit verwendet das Wort móros für das Schicksal, als Sterblicher auf der Welt zu sein. Er ist aber auch der Erste, der in philosophischer Absicht das Wort thánatos verwendet – also »Tod« nicht im allgemeinen Sinne von Sterblichkeitsschicksal, sondern auf das konkrete Todesereignis bezogen. Heraklit betont das Spiegel- oder auch Ergänzungsverhältnis von Tod (thánatos) und Leben (zóon, bíos) und stellt es mehrfach in eine Parallele zum Verhältnis von Wachsein und Schlaf: »Der Mensch rührt (zündet sich) in der Nacht ein Licht an, wann sein Augenlicht erloschen. Lebend rührt er an den Toten im Schlaf; im Wachen aber rührt er an den Schlafenden.« (B 26) Und: »Tod ist alles, was wir erwacht schauen, was aber im Tode, Leben.« (Vgl. B 21) Leben und Tod grenzen also aneinander wie Wachen und Schlaf. Der Tod kann vom Leben aus (gleichsam wie von gegenüber) betrachtet werden – und vom Tod herblickend wiederum sehen wir das Leben. Die beiden Zustände – im Leben sein, im Tod sein – erscheinen wie zwei einander ergänzende, komplementäre Welten. Sie stehen einander entgegen, nicht wie die einzige Welt und ihr Jenseits, sondern wie zwei gleichrangige Reiche. »Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche«, treibt Heraklit diese Zweipoligkeit auf die Spitze, »denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser« (B 62).

Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Altes und Junges schlagen ineinander um. Man muss sich beide Zustände vielleicht nicht zwingend als Phasen eines Kreislaufs vorstellen. Es herrscht aber doch wohl eine symmetrische Ergänzungsbeziehung. »Der Menschen wartet, wenn sie gestorben [sind], was sie nicht hoffen noch wähnen.« (B 27) Damit bekräftigt Heraklit zum einen die mythische Vorstellung, dass da, wenn wir gestorben sind, jenes andere Reich des Todes existiert, in das die Gestorbenen überwechseln. Heraklit betont aber auch die Undenkbarkeit des Todes – und das ist ein philosophischer Gedanke: Die griechischen Göttermythen mögen zwar durchaus anschaulich von der Unterwelt, dem Schattenreich des Gottes Hades erzählen. Das sind aber eben Geschichten. In Wahrheit wartet etwas Unbekanntes auf uns – etwas, was sich die Leute weder erhoffen noch denken können. Konsequent betont Heraklit, wie der Tod als generelles Prinzip des Übergangs und der Verwandlung, als Vater allen Werdens verstanden werden kann: »Für Seelen ist es der Tod, Wasser zu werden, für Wasser aber der Tod, Erde zu werden« (B 36, vgl. B 76), heißt es in einem Fragment ganz nüchtern und materialistisch – und in einem anderen ist zu lesen: »Des Bogens Namen also ist Leben (bíos), sein Werk aber Tod.« (B 48) Der Lebensbogen bringt den Wandel, nämlich Tod und Zerstörung, in der Art eines Ergebnisses hervor. Zu diesem Verständnis des Todes als eines zum Kosmos gehörigen Prozessprodukts passt auch eine besonders berühmte Formulierung Heraklits: »Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König.« (B 53) Der Tod ist Produkt, aber auch Herrscher und bringt selbst wieder Dinge hervor.

Empedokles, ein anderer vorsokratischer Denker, bietet keine derart radikale Übergangs- und Verwandlungstheorie des Todes. Er skizziert eher eine Kosmologie des Ausgleichs: eine Theorie von Vermischung und Entmischung. Es gibt nichts Neues auf der Welt, keine Geburt und also auch nicht wirklich einen Tod. Es existieren lediglich Vermengung sowie Austausch von gemischten Stoffen: Die Grundstoffe bleiben im Kosmos durchgehend enthalten, aber sie formieren sich anders und sie formieren sich auch um – womit dann eine je bestimmte Gruppierung von Stoffen unwiderruflich enden kann.

Bei Pythagoras, ebenfalls einem vorsokratischen Philosophen, findet sich ein drittes Motiv, das wie die ersten beiden für die griechische Literatur der Folgezeit eine große Rolle spielt. Es ist der Gedanke vom Tod als einer befreienden Ablösung der Seele vom Körper. Die Situation der sterblichen – weil leiblichen – Existenz gleicht nach Pythagoras einer Strafe, welche die Seele mit dem Tod gleichsam abgebüßt hat und hinter sich lassen kann (vgl. Hügli 1998, 1237). Die umgekehrte Idee des Verschwindens als einer gerechten Strafe für das Dagewesensein deutet hingegen ein frühes Fragment des Anaximander an, dem zufolge alles Seiende »nach der Schuldigkeit (katá tò chreón)« (vgl. Anaximandros ca. 540 v. Chr., B 1) in ein Unbestimmtes hinein vergeht, aus dem es entstanden ist. Mit dem Gesichtspunkt der Strafe tritt ein ethisches Motiv in der Todestheorie hervor. Die bei Pythagoras dazugehörige kosmologische Annahme liegt nahe: Seine Idee von der Befreiung der Seele im Tod ist mit der Vorstellung einer körperlosen Fortexistenz dieser Seele verbunden – und wohl erneut mit dem Vorhandensein eines Totenreiches, anderswo und nach der sterblichen Existenz. Bei Anaximander sieht das nicht so eindeutig aus. Sein Satz lässt sich auch lesen im Sinne eines endgültigen Vergehens dessen, was einmal geworden ist und vielleicht sogar im Sinne eines trostvollen Ineinanders von Werden und Vergehen (Scherer 1979, 84 f.). Das Unbestimmte jedenfalls, aus dem alles kommt, sei »ohne Alter« (B 2) und »ohne Tod« (B 3).

Die frühen griechischen Theoriemotive beeindrucken durch ihre Vielfalt. Der Tod tritt auf als Prinzip des Vergehens, als zerstörerischer Übergang, als Auflösung einer temporären stofflichen Einheit, als Eintritt in einen dem Leben gegenüberliegenden Zustand, als befreiende Ablösung der Seele vom Körper, an den diese der Ordnung halber gebunden war, als Rückkehr ins Unbestimmte. In der Fülle der vorsokratischen Gedankenbruchstücke findet sich sowohl die These einer Immanenz der Welt als auch die These eines anderswo gelegenen Totenreichs, wobei das spiegelsymmetrische Gegenüber von Lebendigkeit und Tod die Perspektive beider Seiten womöglich radikal relativiert. Bemerkenswert ist, wie konsequent alle Autoren den Tod als ein Abstraktum betrachten. Der Tod wird bei ihnen nicht durch bildhafte Geschichten erklärt. Er wird auch nicht personalisiert – wie dies noch in Homers großer mythischer Erzählung Ilias der Fall war. Bei Homer taucht Thanatos leibhaftig in Göttergestalt als der Bruder des Hypnos, des Schlafes auf. Das Schattenreich, dem er vorsteht, ähnelt der Welt der Lebenden, ist allerdings so trist, dass der Held Achill lieber lebendiger Feldarbeiter wäre als toter Herrscher (vgl. Homer ca. 700 v. Chr. 11, 489 f.). Demgegenüber ist der Tod der Philosophen ein abstraktes Problem. Er führt hinein in die große Frage nach Werden und Vergehen. Diese wiederum ist ebenso offen wie die Frage nach dem möglichen Anderswo derjenigen Welt, in der wir Lebendigen und also Sterblichen uns befinden.

1.2 Was man trotz Nichtwissen über den Tod sagen kann

Es fehlt an Denkmöglichkeiten, die den Tod greifbar machen. Mindestens ebenso wichtig ist aber: Es fehlt dem Einzelnen an Ruhe im Blick auf das Vergehen und die Endlichkeit des Erlebens, also an Mitteln gegen die Todesfurcht. Den Tod als Tatsache fassen ist eine Sache. Sich dem Tod, insbesondere dem eigenen, stellen eine andere. Diese doppelte Problematik bewegt in beispielhafter Weise die Philosophie Platons, von dem zahlreiche durchgearbeitete Schriften überliefert sind. Bei Platon findet sich eine ausdifferenzierte Todestheorie. In Gestalt literarisch geschickt verschachtelter Perspektiven hat sein Zugang zur Frage des Todes etwas von einem Mehrebenenspiel.

Im Dialog Phaidon setzt sich Sokrates, Platons Hauptfigur, mit dem möglichen Schicksal der Seele nach dem Tod auseinander. Das Thema kommt außerdem auch im Dialog Politeia vor, der die Bedeutung der richtigen Darstellung des Todes für die politische Erziehung erörtert. Die Apologie des Sokrates, ein weiterer Text Platons, gibt die Verteidigungsrede des angeklagten Sokrates wieder, der sich der Todesstrafe gegenübersieht und zu ihr in eigenem Namen Stellung bezieht. Und dann ist da noch der Dialog Kriton, der sich vor allem mit der Frage beschäftigt, ob der Philosoph Sokrates nach dem gegen ihn ausgesprochenen Todesurteil noch versuchen soll, sein Leben zu retten. Platon thematisiert den Tod also einerseits als allgemeines Theorieproblem, Erziehungsfragen eingeschlossen. Andererseits führt er aber auch – am Beispiel des Sokrates – den Weg eines Menschen in den Tod aus der Betroffenenperspektive unmittelbar vor. Während Platons Figuren todestheoretische Fragen abstrakt erörtern, rückt der Tod seiner Hauptperson, die Hinrichtung des Sokrates, immer näher. Der Leser verfolgt dies fast wie ein Augenzeuge mit. War es tatsächlich so, muss man sich bei der Lektüre des Dialogs Kriton fragen, dass Sokrates noch in der Todeszelle im Kreis seiner Freunde über den Tod philosophierte? Jedenfalls führt Platon vor, wie seine philosophische Hauptfigur den Tod nicht als Thema unter Themen behandelt, sondern als eine existenzielle Sache – als Schlüssel zu einer Lebenshaltung sowie zum Selbstverständnis der Philosophie. Platons Texte zeigen Sokrates als jemanden, der bereit ist, das, was er sagt, und die Form, in der er seine Aussagen vertritt, mit dem eigenen Leben zu verbürgen. Sokrates’ Aussagen über den Tod tragen selbst das Mal der Todesnähe. Und eben deshalb strahlen sie eine besondere Form von Wahrhaftigkeit aus.

Was »ist« der Tod? Ausführlich wird diese Frage im Dialog Phaidon behandelt. Im Zuge der Erörterung machen die Gesprächspartner den Gesprächsgegenstand konkreter: Es geht um die Zukunft der Seele. Was widerfährt der Seele im Tod?

Der Dialog beginnt mit dem Problem, dass man nicht weiß, was der Tod ist. Muss man nicht eben deshalb, so Sokrates’ Geprächspartner Kebes, den Tod fürchten? Sokrates aber habe behauptet, ein Philosoph sterbe gern. Wie kann er das sagen? Warum geht Sokrates jetzt tatsächlich so ruhig auf den eigenen Tod zu? Und gleiche es nicht einer Befürwortung des Suizids, wenn Sokrates behaupte, gern zu sterben? Kebes sieht hier einen Selbstwiderspruch, schließlich habe Sokrates den Suizid immer missbilligt. Sokrates bestätigt daraufhin seine These, ein Philosoph habe keine Probleme mit dem Tod:

»Ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben vollbracht, müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, daß er dort Gutes in vollem Maße erlangen werde, wenn er gestorben ist.« (Platon ca. 385 v. Chr. [Phaidon], 63e)

Zur Begründung liefert Sokrates eine Todesdefinition: Der Tod sei nichts anderes als eine Trennung der Seele vom Leib (Phaidon 64c; vgl. Gorgias 524b). Diese Trennung wiederum gleiche jedoch dem, worum der Philosoph sich ohnehin bemühe – wenn er nämlich nach unverfälschter Erkenntnis strebt. Einem Philosophen sei der Körper im Zweifel bei der Wahrheitssuche ja eher im Wege. Etwa wenn die Sinnesorgane täuschen. Und überhaupt bringe der Körper lauter Indirektes in die Erkenntnis hinein. Wenn es aber nicht möglich ist, so spitzt Sokrates zu, »mit dem Leibe irgend etwas rein zu erkennen, so können wir nur eines von beiden, entweder niemals zum Verständnis gelangen oder nach dem Tode« (Phaidon, 66e). Entweder die Seele ist niemals ungetrübt erkenntnisfähig – oder aber es gibt Erkenntnis nach dem Tod. Sofern dann die Seele vom Körper losgelöst fortbesteht. Sokrates behauptet im Dialog Phaidon einen solchen Fortbestand der Seele nicht, bezeichnet ihn jedoch als wahrscheinlich. Und er malt die entstehende Perspektive genussvoll aus: Wer nach Erkenntnis strebt, dessen Seele wird nach dem Tod ungehindert philosophieren können. Aller Dummheiten des Leibes entledigt

»werden wir wahrscheinlich mit ebensolchen zusammen sein und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen, und dies ist ebenso das Wahre. Dem Nichtreinen aber mag Reines zu berühren wohl nicht vergönnt sein! Dergleichen meine ich, o Simmias, werden notwendig alle wahrhaft Wißbegierigen denken und untereinander reden. Oder dünkt dich nicht so?« (Phaidon 67a/b)

Wie ein unbeschwerter Debattierclub sitzen die körperlosen Seelen nach dem Tod beisammen – so stellen »alle richtig Philosophierenden« (vgl. Phaidon 67e) es sich jedenfalls vor.

Von hier aus ergibt sich eine dreifache Antwort auf die Frage, warum der Philosoph nicht nur keine Angst vor dem Tod hat, sondern sogar gern stirbt. Zum ersten ist ihm die dem Tod zugrunde liegende Trennungsbewegung ohnehin vertraut, denn auch das Denken vollzieht sich als Reinigung der Seele von störenden Nebeneinflüssen, es löst uns von körperlichen Einflüssen und Bindungen ab. Dem philosophisch Geübten ist damit das Sterben nichts Fremdes mehr. Zum zweiten wählt der Philosoph, indem er sich frei für das Denken entscheidet, auch den Weg der Abkehr vom Körper ganz aus Freiheit. Das wiederum erklärt, warum er auch den Tod nicht als etwas Aufgezwungenes betrachten und fürchten muss. Jedenfalls, so hält Sokrates fest, wäre es schon seltsam, versuchte jemand zwar als Philosophierender sein Leben lang »so nahe wie möglich an dem Gestorbensein zu leben«, sträubte sich dann aber plötzlich gegen den Tod (vgl. Phaidon, 67d). Als eine Art Todesversessenheit solle das Erkenntnisstreben gleichwohl nicht verstanden werden. Auch Leute, die nach Wahrheit streben, könnten Angst vor dem Tod verspüren. So präzisiert Sokrates seine Position: Tot zu sein ist für den Philosophen »unter allen Menschen am wenigsten furchtbar« (67e). Dem Zustand völlig fehlender Todesfurcht komme, wer philosophiert, relativ am nächsten. Zum dritten schließlich ist da jene konkrete Ausgestaltung des Zustandes nach dem Tod. Anders als Leuten mit körperlichen Neigungen muss demjenigen, der die geistigen Leidenschaften liebt, die Lage in der Unterwelt in positivem Licht erscheinen. Ohne Körper erwartet den Denker dort genau das, wonach er lange schon strebte. Er kann seine »Seele für sich haben« (67e), was doch geradezu maßgeschneidert seinen Lebenswunsch erfüllt.

Glauben Sokrates (oder auch Platon) tatsächlich an das Fortleben der philosophierenden Seelen? Oder handelt es sich nur um ein Bild, das Zuversicht bewirken soll? Man muss sich die Situation vorstellen, in welcher der im Phaidon geschilderte Dialog stattfindet: Sokrates hat nur noch wenige Stunden zu leben, erkennbar bemüht er sich um eine Aufmunterung seiner Freunde. Wohlmeinend den Freunden in Sachen Tod eine positive Möglichkeit vor Augen zu stellen würde zu den Erziehungshinweisen für Soldaten passen, die Sokrates in der Politeia gibt. Tapferkeit entstehe nur, erklärt er dort, wenn man den Kriegern kein grausiges Bild vermittelt von dem, was sie nach dem Tod erwartet. Eine freie Gesinnung haben heiße, die Knechtschaft mehr zu fürchten als den Tod (vgl. Platon ca. 386 v. Chr. [Politeia], 386aff., 387b).

Im Phaidon geben sich Sokrates’ Gesprächspartner mit dieser Aufklärung nicht zufrieden. Sie fordern genauere Aussagen dazu, was beim Eintritt des Todes passiert. Wenn der Tod die Trennung von Körper und Seele ist – woher wissen wir denn, dass die Seele bei dieser Trennung nicht doch auch stirbt? Wie will Sokrates beweisen, dass die Seele sich nicht einfach endgültig auflöst (vgl. Phaidon, 70a)? Zu dieser Frage gibt Sokrates eine grundsätzliche Auskunft und schließt zwei ergänzende Überlegungen an.

Die grundsätzliche Auskunft besteht in einem recht einfachen Gedanken. Irgendwo müssen die Seelen neugeborener Lebewesen herkommen, denn nichts entsteht aus nichts. Also muss man annehmen, dass es sich bei den Seelen Neugeborener um Seelen von Toten handelt, die sich mit einem entstehenden Körper verbinden, nachdem sie – gewissermaßen zwischenzeitlich – in der Totenwelt fortexistiert haben (vgl. Phaidon, 70d). Sokrates vertritt damit eine Art Wiedergeburtsthese, sofern die Tatsache, dass neugeborene Lebewesen eine Seele haben, anders nicht erklärbar wäre. Er vollzieht diesen Gedanken ein zweites Mal mit Blick auf das Komplementärverhältnis der beiden Bereiche Leben und Tod zueinander. Wie hat man sich überhaupt Prozesse des Werdens vorzustellen? Alles entstehe, so Sokrates, aus seinem Gegenteil. Ein Beispiel seien die beiden einander entgegengesetzten Reiche des Wachens und des Schlafens. Zwischen diesen gebe es aber nicht eine, sondern zwei verschiedene Formen des Übergangs: das Einschlafen und das Aufwachen, den Weg in den Schlaf hinein und den Weg zurück ins Wachen. Ganz vergleichbar dieser spiegelbildlich umgekehrten Situation stehen sich nun aber, so Sokrates weiter, Tod und Leben gegenüber. Zwei verschiedene Prozesse verbinden die beiden Ordnungen: Da vollzieht sich zum einen das Sterben als Weg in den Tod, und da geschieht zum anderen das Geborenwerden als Aufleben aus der Sphäre der Toten. Deutlich erkennbar denkt Sokrates hier das Verhältnis von Tod und Leben in einem hohen Maße räumlich: Der Tod ist nicht einfach Abwesenheit von Leben, er ist vielmehr der dem Reich des Lebendigen permanent gegenüberliegende Raum – eine Ordnung gleich großer und gleich wichtiger Erstreckung. Wie man in das Leben hinein- und hinausgeht, so geht man aus dem Tod hinaus und in ihn hinein. Während Tod und Leben einander ablösen, ist das Leben vom Tod her betrachtet ebenso ein woanders gelegenes Dort-drüben, wie das Totenreich vom Leben her gesehen fernes Anderswo ist. Das lässt an Heraklit denken: Das Leben ist quasi der Tod des Todes und umgekehrt.

Zwei ergänzende Überlegungen unterstützen die These von der Seelenwiederkehr. Sokrates stellt Gedankenexperimente an. Zum einen: Würde tatsächlich alles Lebende einschließlich der Seele sterben, »wie wäre denn zu helfen, daß nicht zuletzt alles im Totsein aufginge« (72d)? Im Klartext: Müssten, wenn die Seele wirklich sterblich wäre, nicht irgendwann schlicht alle Seelen durch Tod quasi aufgebraucht sein? In dieser Überlegung steckt ein empirisches Argument: Wir sehen ja, dass unaufhörlich beseelte Lebewesen geboren werden. Viele sterben, aber immer kommen Seelen nach. So etwas wie eine Knappheit an Seelen tritt nicht ein. Also kann es nicht sein, dass Seelen im Tod sterben. Diese heute kurios anmutende Überlegung macht erneut deutlich: Die Annahme einer Entstehung aus dem Nichts ist aus antiker Sicht eine schlicht irrationale, magische und daher inakzeptable Erklärung. Was neu hervortritt, muss vielmehr irgendwo gewesen sein.

Zum anderen verweist Sokrates auf das Phänomen des Lernens. Angenommen, ich habe eine neue Einsicht, mir wird etwas klar: Wie kann meine Seele dieses Neue finden, wenn sie es nicht vorher schon irgendwie und irgendwoher kannte? Ausführlich entfaltet wird dieses Problem im Dialog Menon – dort mit dem Ergebnis, dass die Gewinnung neuer Erkenntnisse nur als eine Form der Wiedererinnerung erklärt werden kann. Im Phaidon verwendet Sokrates denselben Gedanken als Beleg für die Fortexistenz der Seele. Ist das Lernen Wiedererinnerung an etwas, das die Seele eigentlich schon weiß, so muss sie das fragliche Wissen bereits vor unserer Geburt empfangen haben – und hat also zwischenzeitlich in der Unterwelt existiert (vgl. Phaidon, 76e).

Ist damit alles gesagt, was man über den Tod wissen kann? Sokrates fügt ungefragt eine weitere Überlegung an. Sie betrifft die Substanz der Seele. Erneut kommt eine Logik der Gegenteile zum Zuge – diesmal im Hinblick auf die Eigenschaften der Seelensubstanz: Welche Dinge ganz allgemein, fragt Sokrates, sind zerstörbar? Die Antwort lautet: zusammengesetzte Dinge, unzusammengesetzte hingegen nicht. Außerdem, so Sokrates, gebe es sichtbare und unsichtbare Dinge. Die sichtbaren verhalten sich veränderlich, die unsichtbaren bleiben immer gleich. Ordne man nun diesen Gegensatzpaaren Körper und Seele zu, so liege auf der Hand: Der Leib ist zusammengesetzt, sichtbar und veränderlich. Die Seele hingegen ist ein unzusammengesetztes Ganzes, unsichtbar und – sieht man von körperbedingten Irritationen ab – unveränderlich. Löst sich der Körper also nach dem Tod auf, so muss nach Sokrates die Schlussfolgerung im Hinblick auf die Seelensubstanz lauten: Sie besteht unauflöslich fort.

In diesem Zusammenhang schiebt Sokrates einen interessanten Gedanken ein, der den exakten Zeitpunkt der Ablösung der Seelensubstanz von der Körpersubstanz beim Sterben betrifft. Tatsächlich zerfällt ein toter Körper ja nicht sofort. Manche Bestandteile einer Leiche, Sehnen und Knochen, erhalten sich sogar ziemlich lange. Man nehme das Beispiel der ägyptischen Mumien: Hier wird der Körper fast unbegrenzt haltbar gemacht. Tatsächlich, so Sokrates, kommt die Seele nicht quasi automatisch vom Körper los, sondern beide hängen stofflich durchaus aneinander fest. Es bedarf also einer aktiven Anstrengung, welche die Trennung vollzieht. Und damit kommt wieder die intellektuelle und moralische Distanz des Philosophen ins Spiel: Hat eine Seele sich bereits im Leben vom Leib recht weitgehend gelöst, so verlässt diese Seele ihrer Substanz nach auch den Leichnam leicht. Hat sie aber im Leben immer eng mit dem Leib verkehrt, so löst sie sich auch im Tod nicht einfach ab, sondern bleibt