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Deutsche Erstauflage (ePub) März 2016

 

© 2016 by Susann Julieva

 

Verlagsrechte © 2016 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-577-9

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Klappentext:

 

Gabriel West ist der aufsteigende Star am Alternative Rock-Himmel und startet gerade richtig durch. Nur eins belastet ihn: Er hat seinem besten Freund Sam vor zehn Jahren das Herz gebrochen. Als kurz vor seiner Europa-Tournee händeringend ein Kameramann gesucht wird, führt der Zufall Gabe und Sam wieder zusammen.

 

Obwohl Sam sich fest vorgenommen hat, Gabe nicht mehr an sich heranzulassen, kann er sich den alten Gefühlen nicht entziehen. Doch warum hat Gabe Sam damals verlassen und kann Sam es wagen, ihm erneut sein Herz anzuvertrauen? Denn das Feuer ihrer Jugendliebe ist noch lange nicht verloschen…


 

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1. Kapitel

 

 

Mit einem geübten Schwung seiner Hand goss Sam einen Wirbel in den Milchschaum. Großer Cappuccino mit extra Karamellsirup. Der kräftige, herbe Espressoduft schwebte wie Parfüm durch den Raum. Sam stellte das Milchkännchen ab und begutachtete kurz sein Werk. Es war schon eine Weile her, aber das für das Schiller typische, verschnörkelte Symbol war ihm perfekt geglückt. Etwas nervös sah er auf und ließ den Blick über die ersten Gäste schweifen: eine Gruppe junger Frauen, die es sich in einer Nische bequem gemacht hatte und plappernd über der Frühstückskarte brütete. Leni war zu spät – wie immer.

Mit seiner wunderbar exzentrischen Mischung aus Möbeln, die vom Flohmarkt stammten, zog das Schiller vor allem Studenten, junge Mütter und Künstlertypen an. Großmuttersofas standen mit Plastikstühlen an Nierentischen, als würden sie ein Treffen der Möbeljahrzehnte abhalten. Das gebrauchte Geschirr war ebenso bunt zusammengewürfelt. Das Schiller war seit fast einem Jahrzehnt eine feste Größe am Prenzlauer Berg. Sam hatte den Laden vermisst. Er half gerne als Barista aus, wenn Not am Mann war. Fast empfand er so etwas wie Wehmut, als er an der Kaffeemaschine hantierte, um einen Caffè Latte zuzubereiten. In schwachen Momenten dachte er an die unbeschwerte Studentenzeit zurück. Es wäre so viel einfacher, alles hinzuschmeißen und wieder tagein, tagaus hinter der Café-Theke zu stehen. Hier gab es keine zahlungssäumigen Kunden, die ihm schlaflose Nächte bereiteten. Alles lief in geordneten Bahnen wie ein Fluss, der sorglos seinem Bett Richtung Meer folgte.

Während das heiße Getränk dampfend in die große Tasse sprudelte, warf Sam einen Blick zur Wanduhr und überlegte, wie lange er den Augenblick herauszögern konnte, bis er die Getränke servieren musste. Unverfängliches Geplauder mit den Gästen war Lenis Metier.

Just in diesem Moment erklang die Türglocke. Seine beste Freundin sauste mit zwanzigminütiger Verspätung herein und zog einen Schwall kühler Herbstluft in den Gastraum. Leni huschte hinter den Tresen und ließ ihre Handtasche fallen, während ihr Blick ängstlich durchs Café schweifte.

»Ist Hanna schon da?«

Sam schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. »Du hast unverschämtes Glück wie immer.«

Leni stieß einen erleichterten Seufzer aus und sank gegen das Teeregal. Die unzähligen Blechdosen voll köstlicher Darjeelings, Senchas und Assams wackelten empört hinter ihr. »Ich dachte, diesmal wirft sie mich garantiert raus.«

»Verdient hättest du es«, stimmte Sam zu. Nun, da Unterstützung eingetroffen war, entspannte er sich.

Leni nickte in Richtung des bereitstehenden Tabletts mit Cappuccinos und Caffè Latte. »Ist das Tisch vier?«

»Ja. Aber du musst noch das Frühstück aufnehmen.«

»Bringst du's schnell für mich rüber?«, fragte Leni, während sie ihre schwarze Servierschürze anlegte. Sie zog einen Taschenspiegel hervor und machte sich daran, ihr windzerzaustes Haar in Ordnung zu bringen.

Sam verzog das Gesicht und blickte unbehaglich zur aufgekratzten Mädelsclique hinüber. »Lieber nicht. Die haben vorhin wie wild mit mir geflirtet.«

Leni gluckste belustigt. »Wie könnten sie auch nicht? Fühl dich geschmeichelt!«

»Würde ich, wenn es nicht die falsche Zielgruppe wäre.«

Leni musterte ihn kurz in seiner lässig weiten Hose und dem karierten Holzfällerhemd. »Hase, du läufst aber auch rum wie eine Hete. Das grenzt schon an arglistige Täuschung.«

»Soll ich in Skinny Jeans hüftschwingend durchs Schiller tänzeln und meine Federboa schwingen, oder was?«

»Das wäre 'ne Attraktion, für die ich Eintritt zahlen würde.« Vergnügt griff sich Leni das Tablett und machte sich an die Arbeit.

Sam sah seiner Freundin nach. Seit Jahren schon drohte sie ihm ein Make-Over an, aber er mochte seine bequeme Kleidung. Da er sowieso nicht darauf aus war jemanden kennenzulernen: Wozu sich ins Zeug legen? Sie hatte schon recht – zum Teil waren seine weiten Klamotten sicher ein Schutzschild, hinter dem er sich verstecken konnte. Auch wenn Leni ihm immer wieder sagte, dass er mit seinen dunklen Locken und braunen Augen ein echter Hingucker war, war sich Sam seiner selbst nicht mehr sicher. Da war stets dieses peinliche Problem in seinem Hinterkopf, das ihn zwang, auf Abstand zu bleiben.

Leni kehrte mit der Bestellung von Tisch vier zurück und half ihm dabei, Frühstücksteller zu bestücken. »Gibt's was Neues wegen des Kaufhausdrehs?«

»Langsam glaube ich, die wissen selber nicht, was sie wollen. Ständig ändern sie etwas und verschieben den Termin.«

»Was haben die für ein Problem? Deine Idee für den Werbeclip ist absolut spitze. Die ist frisch, mal was ganz anderes.«

Sam zuckte bedauernd die Schultern. In seiner Tätigkeit als Kameramann und Filmproduzent war er schon auf viele wankelmütige Kunden getroffen. Eine gute Idee reichte längst nicht aus. So mancher Chef kannte sich mit Werbung zwar nicht aus, war aber beratungsresistent. Sam hatte den Dreh für das große Berliner Kaufhaus dringend nötig und unheimlich Lust, mal wieder etwas Hochwertiges zu filmen, bei dem er mit Kamerafahrten und Kran arbeiten konnte. Doch da sich das Ganze nun schon seit Wochen hinzog, ohne dass eine endgültige Entscheidung gefallen war, war er bereits auf eine Absage gefasst.

Leni klaute einen Cookie aus der Glasdose neben der Kasse, bevor Sam ihr auf die Finger hauen konnte. »Wash?«, murmelte sie, während sie kaute. »Ish hatte kein Frühstück.«

Sam räusperte sich und nickte in Richtung eines Neuankömmlings am Tresen. »Hey, Hanna«, grüßte er ihre Chefin und versuchte, bei Lenis schlagartig total unschuldigem Gesichtsausdruck ernst zu bleiben.

Die hagere, grauhaarige Dame beäugte sie kritisch, dann lächelte sie. »Welch ein Anblick! Mein altes Duo Infernale wieder vereint. Leni, der Keks geht von deinem Lohn weg.«

»Yes, Ma'am.« Leni salutierte spielerisch.

Hanna besaß die aufrechte Haltung einer Balletttänzerin. Sie trug stets perfekt aufeinander abgestimmte Kleidung und hatte ein Faible für auffällige Ketten. »Sam, du bist mal wieder die Rettung in höchster Not. Danke, dass du so kurzfristig einspringen konntest.«

»Kein Problem, mach ich doch gerne.«

»Ich wünschte, dein Nachfolger wäre ebenso zuverlässig. Du findest dich zurecht?«

»Klar. Außerdem ist ja Leni da.«

Leni nickte übereifrig und Hanna schmunzelte. »Ich bin im Büro, wenn ihr mich braucht. Seid brav.« Dabei warf sie allein Leni einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich zum Gehen wandte.

»Ich weiß gar nicht, was sie meint«, motzte Leni beleidigt, während sie ihrer Chefin nachsah.

»Oh doch, das tust du.«

Sam liebte Leni abgöttisch, aber sie war und blieb eine Chaotin. Als Kind war sie ihm wie eine Glitzer versprühende Fee erschienen, die seine enge, kleine Welt in ein Wunderland verwandelt hatte. Ein Leben ohne sie war unvorstellbar.

»Hi, Elias!«, grüßte Leni einen eintretenden Gast. Der junge Mann, etwa Anfang zwanzig, hatte eine hippe Frisur und blauschwarz gefärbte Haare. Er war so schlank, dass er fast mager wirkte. »Wie immer?«

Elias trat an den Tresen und schob seine schwarze Nerdbrille auf der Nase zurecht. »Morgen. Nein, heute brauch ich etwas mehr Kick, sonst stehe ich den Tag nicht durch.«

»Dein Boss ist echt eine harte Nuss, was?«

»Oh Gott, du hast ja keine Vorstellung.« Er sah tatsächlich so leidgeprüft aus, dass Sam unmittelbar Mitgefühl empfand.

»Wie wär's mit einem Triple-Espresso Macchiato?«, schlug er vor. »Der hat so viel Wumms, dass wir ihn nur unterm Tresen verkaufen dürfen.«

»Klingt himmlisch!«, stimmte der Gast zu und lächelte Sam schüchtern an.

Nachdem Elias versorgt und wieder auf die Straße getreten war, bemerkte Sam, dass es angefangen hatte zu regnen. »Verflixt, und ich habe keinen Schirm mit.«

»Och, bis Mittag hat sich das verzogen.« Leni war eine unerschütterliche Optimistin, doch leider behielt sie Unrecht. Als die Ablösung zum Schichtende eintraf, schüttete es, als würde gleich Noahs Arche um die Ecke schippern. Mit eingezogenen Köpfen trabten sie zur U-Bahn-Station. Sam war heilfroh, unter das Dach der oberirdischen Haltestelle zu kommen.

»Was machst du heute Abend?«, erkundigte sich Leni, als sie den Bahnsteig erreichten.

»Arbeiten. Eine Firmenfeier in Spandau.«

»Komm Freitagnacht mit in den Club. Ist schon eine Weile her.«

Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Nur wenn du schwörst, mich diesmal nicht mit Wildfremden verkuppeln zu wollen.«

»Na, irgendjemand muss es doch tun, wenn du's nicht machst!« Sie schüttelte über ihn den Kopf. »Sammy, es ist zwei Jahre her. Findest du nicht, dass es Zeit ist?«

»Nein«, bemerkte Sam trocken. Er war erstaunt, dass sie daraufhin tatsächlich still war. Als er sie ansah, merkte er, dass es daran lag, dass sie auf ihrem Smartphone herumtippte.

Laut Anzeigetafel waren es noch sechs Minuten bis zur nächsten Bahn. Er ließ seinen Blick umherschweifen, bis er an einer Werbetafel hängen blieb. Unwillkürlich durchfuhr ihn ein Stich. Unter dem Schriftzug Gabriel West / Closer To The Edge - das sensationelle neue Album! zeigte das Plakat einen außergewöhnlich gutaussehenden Alternative-Rockmusiker. Unter dem Porträt standen die Daten der baldigen Europatournee. Sam sah kurz zu Leni und erkannte an ihrem betont gleichgültigen Gesichtsausdruck, dass ihr die Reklame ebenfalls aufgefallen war. Sie lächelte ihm zu, doch Sam schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern.

Während sich die Wartezeit in die Länge zog, konnte er nicht umhin, nochmals verstohlen zum Plakat zu sehen. Die großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie war stimmungsvoll und kontrastreich. Verdammt, Gabe war schon ein ausgesprochen heißer Teufel. Die intensiven Augen, die Sam als himmelblau kannte, waren nachdenklich auf etwas in der Ferne gerichtet. Das Gesicht war markant und feinsinnig, dazu kam dichtes, hellbraunes Haar, das förmlich dazu einlud, mit den Fingern hindurch zu streichen. Die muskulösen Arme waren bis zu den Handgelenken kunstvoll tätowiert. An Gabes einstigen Irokesenschnitt erinnerte nichts. Auch hatte er nur wenige Piercings behalten, zwei an den Augenbrauen, mehrere an den Ohren. Doch das unwiderstehlich rebellische Funkeln in seinen Augen war geblieben.

Sam war erleichtert, als die Bahn heranrauschte und sie einsteigen konnten. Leni plapperte über dies und das, doch er hörte nur mit halbem Ohr zu, bis sie sich zwei Stationen später mit einem Kuss auf seine Wange verabschiedete und ausstieg. Danach konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen.

Unfassbar, wie weit Gabe es gebracht hatte. Insgeheim hatte Sam immer gewusst, dass sein einstiger Schulkamerad über das Talent verfügte, ein Star zu werden. Gabe war ein begnadeter Singer-Songwriter mit unvergesslicher Alternative-Rockstimme. Mehr noch, er hatte einfach das gewisse Etwas, dieses verspielte Grinsen, das einem den Verstand raubte, und eine offene, entspannte Art, durch die man sich sofort wohlfühlte.

Einst war Sam hingerissen von ihm gewesen. Doch das lag in der Vergangenheit, tief in ihm vergraben. Er rechnete kurz nach und kam auf die beachtliche Summe von zehn Jahren. War es wirklich schon so lange her? Nach allem, was passiert war, wollte eine nagende Stimme in seinem Hinterkopf Gabe seinen Erfolg nicht so recht gönnen. Er selbst rackerte sich ab und konnte dennoch am Monatsende froh sein, wenn auf dem Kontoauszug kein dickes Minuszeichen stand. Berlin war ein hartes Pflaster in seiner Branche, die Konkurrenz groß.

Wenn er erzählte, dass er Kameramann war, leuchteten die Augen seines Gegenübers stets interessiert auf. Jeder dachte sofort an Kinofilme und Reisen an exotische Drehorte in fernen Ländern. In der ernüchternden Realität schlug Sam sich meist zum Sonderpreis auf fremder Leute Hochzeitsfeiern die Nächte um die Ohren. Nicht gerade die Art Job, die seine teure Ausbildung rechtfertigte.

Sam rutschte tiefer in den Sitz und gab sich dem Ruckeln der U-Bahn hin, die durch den schwarzen Tunnel ratterte. Wenn das hier eine Zeitmaschine wäre, die ihn Jahr um Jahr weiter zurückbrachte, wo würde er wohl aussteigen wollen? Was würde er anders machen? Ein seltsames Gefühl überkam ihn, ein hoffnungsvolles Kribbeln, wie er es nicht mehr gefühlt hatte, seit er siebzehn gewesen war. Unwillkürlich dachte er an jenen unvergesslichen Sommer zurück. Der Sommer mit Gabe, der alles verändert hatte.

 

***

 

Vor zehn Jahren

 

Die vertraute, mulmige Schwere legte sich auf Sam, als er das Schulgebäude betrat. Strahlender Frühlingssonnenschein blieb hinter ihm zurück. Die Flure des Gymnasiums waren das ganze Jahr über fade und grau. Er hasste es, dass seine Muskeln sich wie von selbst anspannten, als würde sein Körper in Alarmbereitschaft gehen. Eintritt in feindliches Gebiet. Blick nach links, Blick nach rechts – keine Spur von Walldo. Irgendwo lauerte er mit seiner Meute, so viel war klar.

»Hast du für Bio gelernt? Wir schreiben garantiert 'nen Test«, meinte Leni an seiner Seite. Ihr langes, blondes Haar war zu dicken Zöpfen geflochten. Sie sah damit aus wie Pippi Langstrumpf.

Sams Herz rutschte noch weiter in die Hose. »Meinst du echt?«

»Aber hallo.«

»Shit.« Sam konnte sich definitiv keine weitere Nullnummer leisten, wenn er im Zeugnis nicht eine dicke Fünf haben wollte.

»Ich hab 'nen Spicker, aber ich glaube, ich hab das drauf. Kannst ihn haben.«

Dankbar sah er seine beste Freundin an, während sie im Getümmel der Schüler auf die breite Treppe traten. Ihr Klassenzimmer befand sich im zweiten Stock. »Du bist die Beste!«

»Ich weiß.« Keck grinste sie ihn an und Sam fühlte sich ein bisschen besser. Auf Leni konnte er zählen, egal, was kam. Es war so unfair, dass Frau Beckmann sie letzte Woche auseinandergesetzt hatte, weil Leni angeblich störte. Dabei schwätzten Nadine und Meret viel mehr als sie beide und da sagte die Beckmann nie etwas. Nun saß Sam mutterseelenalleine in der letzten Bank und kam sich vor wie in Isolationshaft.

Montage waren das Allerletzte und sie begannen auch noch ausgerechnet mit Erdkunde. Davon abgesehen, dass Sam sich herzlich wenig für Bodenschätze in Westafrika interessierte, war das Hauptproblem an Geografie die Stimme ihres Lehrers. Herr Hönigs getragener Bass wäre bestens geeignet gewesen, Babys sanft in den Schlaf zu lullen. Und dann sprach er auch noch unnatürlich langsam! Um wach zu bleiben, bedurfte es ausgeklügelter Techniken. Sam und Leni behalfen sich am liebsten damit, Romane hinter einer Fotokopie des Erdkunde-Buchumschlags zu tarnen, um ungestört lesen zu können. Dabei wirkten sie sogar besonders eifrig, weil sie ganz versunken in den Text waren. Wenn man eins in der Schule lernte, dann wie man gut schummelte. Leni hatte ein Faible für tragische Liebesgeschichten, während Sams ganzes Herz für Science-Fiction schlug.

Im Klassenzimmer angekommen, begleitete Leni Sam zu seinem Tisch, um ihm den versprochenen Spickzettel zu übergeben. Wehmütig strich sie über die Lehne ihres ehemaligen Stuhls. »Sei nicht traurig, mein Liebling. Ich vermiss dich doch auch.«

»Wenigstens sitzt du nicht allein. Das ist voll ätzend.« Sam sank demotiviert auf seinen Platz.

»In der Pause bin ich wieder ganz dein.« Mit dem Gong zum Unterrichtsbeginn huschte Leni drei Reihen weiter. Sie blickte nochmals zurück und winkte ihm aufmunternd zu.

Die meisten Schüler hörten nicht mal auf zu reden, wenn Herr Hönig anwesend war, und so blickte Sam erstaunt auf, als sich eine plötzliche Stille über das Klassenzimmer senkte. Ihr Lehrer war in der Tat eingetroffen, doch er war nicht allein. Er hatte einen Jungen ihres Alters bei sich, den Sam noch nie gesehen hatte. Der Typ sah vielleicht Furcht einflößend aus! Das Haar war blau gefärbt, an den Seiten ganz kurz rasiert und zu einem Irokesen gestylt. Überall schien er Piercings zu haben – Nase, Unterlippe, Augenbrauen und eine ganze Reihe in beiden Ohren. Er war so groß wie ihr Lehrer und trug abgewetzte Jeans, die an den Knien zerrissen waren und auch sonst ziemlich viele Löcher hatten. Unter seiner abgetragenen, mit stacheligen Nieten besetzten Lederjacke blitzte das T-Shirt einer Punkband hervor. Das Wort Rebell war ihm praktisch auf die Stirn geschrieben.

Sam starrte ihn an. Trotz seines bedrohlichen Aufzugs war der Fremde überraschend attraktiv. Seine Augen waren unglaublich, so blau wie der Frühlingshimmel draußen vor dem Fenster. Sogar vom hintersten Tisch aus konnte Sam das erkennen. War das etwa ein Neuer, mitten im Schuljahr? Leni drehte sich zu Sam um und warf ihm einen fragenden Blick zu. In ihrer Miene standen Erstaunen und unverhohlene Neugierde. Sam zuckte als Antwort die Schultern.

Herr Hönig räusperte sich vernehmlich. »Guten Morgen! Ihr bekommt einen neuen Mitschüler. Gabriel ist gerade aus England hierhergezogen. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist der Umzug nach Nürnberg eine große Umstellung für ihn, also helft ihm bitte sich einzugewöhnen.« Er sah den Jungen mit einem betont ermutigenden Lächeln an. »Gabriel, möchtest du uns ein bisschen über dich erzählen?«

Der Neue verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht wirklich.« Seine Stimme hatte einen angenehmen Klang, der englische Akzent war kaum hörbar.

Herr Hönig wirkte etwas perplex ob dieser Abfuhr. »Ähm, gut. Vielleicht ein andermal. Warum setzt du dich nicht? Da hinten neben Samuel ist ein Platz frei.«

Sam durchfuhr es wie ein Stromstoß. Der Punker sollte ausgerechnet neben ihm sitzen? Er sah zu Leni hinüber, einen deutlichen Hilferuf auf dem Gesicht. Sie verzog mitfühlend die Mundwinkel.

»Also dann, schlagt eure Bücher auf Seite 54 auf«, versuchte Herr Hönig die Aufmerksamkeit auf den Unterricht zu lenken.

Es gab etwas Buchgeblätter, doch die meisten Blicke blieben auf Gabriel fixiert und folgten ihm zum Ende des Klassenzimmers. Der Neuankömmling hatte keine Scheu, jedermanns neugierigen Blick herausfordernd zu erwidern, bis einer nach dem anderen sich umdrehte, um zur Tafel zu schauen.

Sam war sich seines klopfenden Herzens überdeutlich bewusst, während Gabriel näher kam. Die Glieder der Silberketten an seiner Jacke schlugen leise aneinander, als würden sie davon singen, dass ihr Besitzer ein wenig gefährlich war. Als er sich setzte, konnte Sam das Leder riechen und eine Spur kalten Zigarettenrauchs. Zu nah. Sam blieb regungslos sitzen, obwohl er instinktiv weiter wegrutschen wollte. Die Art, wie der Neue sich lässig zurücklehnte, hatte etwas sehr Körperbetontes. Er war auf eine Weise präsent, die man spüren konnte.

Die Stimme des Lehrers ließ Sam zusammenzucken. »Samuel? Wärst du so nett?« Er wies auf Sams Buch und schien zu erwarten, dass er Gabriel mit hineinschauen ließ.

Sam gehorchte zögernd und schob das Buch Richtung Tischmitte. Siedend heiß fiel ihm ein, dass sich unter dem Schutzumschlag überhaupt kein Erdkundebuch verbarg. Mist, was sollte er machen? Hoffentlich verriet ihn der Neue nicht an den Hönig!

Gabriel warf einen flüchtigen, desinteressierten Blick hinein und stutzte. Er las ein paar Zeilen des Star Trek-Romans und plötzlich stahl sich ein spitzbübisches Lächeln auf sein zuvor verschlossenes Gesicht. Er sah Sam zum ersten Mal an, betrachtete ihn genau und das Lächeln wurde breiter. Sam merkte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss und sein Herzschlag rapide beschleunigte. Wow – was für ein Lächeln! Und dazu diese traumhaften blauen Augen… Sam wurde bewusst, dass er den anderen anstarrte. Zutiefst verlegen senkte er den Blick, ohne genau zu wissen, weshalb.

Gabriel zog seine Lederjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Dann rutschte er näher, um besser lesen zu können. Sam verkrampfte sich. Er hatte lieber etwas Abstand zwischen sich und seinen Mitmenschen. Leni war eine der wenigen Ausnahmen, bei denen es ihm nicht komplett gegen den Strich ging, wenn sie ihn berührten. Er mochte einfach nicht gerne angefasst werden. Und nun war Gabriels Arm seinem bedenklich nahe. So nahe, dass er sich fragte, ob er sich das Kribbeln auf seiner Haut nur einbildete. Vielleicht war an Lenis Gefasel etwas dran und jeder Mensch hatte eine Aura. Konnten Auren sich aneinander statisch aufladen? Denn genau so fühlte sich das an. Als wäre sein ganzer Körper auf einmal lebendig wie nie zuvor.

Sam zwang sich angestrengt, sich auf das Buch zu konzentrieren. Anfangs versicherte er sich mit fragendem Blick bei Gabriel, bevor er eine Seite umblätterte, doch der Neue schien genauso schnell zu lesen wie er. Und das auf Deutsch – beeindruckend. Sie hatten fast das Ende von Kapitel zwei erreicht und standen kurz davor herauszufinden, was mit Captain Kirk geschehen war, als es läutete. Das allgemeine Aufatmen darüber, eine Stunde purer Langeweile überlebt zu haben, war nicht zu überhören. Sam schlug das Buch zu und war einen Moment später zum Gehen bereit. Als Nächstes stand eine Einzelstunde Sport auf ihrem komplett bescheuerten Stundenplan. Sam hasste es, sich mit den anderen Jungs umzuziehen, und beeilte sich deshalb immer, um eine ruhige Ecke in der Umkleide zu ergattern.

Als er los wollte, hörte er Gabriels Stimme. »Hey, Spock, warte!«

Er drehte sich um. Der Neue lächelte ihn offen an. Sam zog die Augenbrauen hoch. »Spock?«

»Du hast so was Spock-iges an dir.«

Sam wusste nicht, ob er das als Kompliment nehmen sollte. Aber zufällig war Spock seine Lieblingsfigur aus Star Trek. »Ich heiße Sam.«

»Gabe.« Sie nickten sich zu. Gemeinsam liefen sie nach vorne, wo Leni zu ihnen stieß, die offenbar vor Neugierde platzte.

»Hi! Ich bin Leni!« Unerschrocken wie immer streckte sie dem Punker die Hand hin. Der ergriff und drückte ihre Rechte tatsächlich. »Von wo in England kommst du?«

»Hastings«, kam die knappe Antwort, aber es klang nicht unfreundlich.

»Das Hastings aus der Schlacht? Wilhelm der Eroberer?« fragte Sam interessiert.

Gabe betrachtete ihn aufmerksam. »Dann liest du im Unterricht nicht nur Star Trek

»Nö, nicht immer.« Sam musste lächeln. »Ich mag Geschichte.«

»Ich auch.« Ihre Blicke trafen sich kurz. Sam war erstaunt, das zu hören. Gabe wirkte nicht, als würde er sich für die Schule interessieren, egal für welches Fach.

»Gibt's in Hastings eine Burg?«, wollte Leni wissen.

»Nur eine Ruine.«

»Oooh, da steh ich voll drauf! Da könnten wir tolle Fotos machen, was, Sam?«

Sam nickte nur. Aus irgendeinem Grund war sein Hirn wie blockiert. Er bekam kaum ein Wort heraus. Gabe schien sich nicht an ihrem Tempo zu stören, während sie den Korridor entlangeilten. Selbstbewusst hielt er Schritt.

»Dein Deutsch ist ziemlich gut«, bemerkte Leni.

»Bin zweisprachig aufgewachsen. Meine Mom ist Deutsche.«

»Warum bist du nach Nürnberg gezogen?«, fragte Sam, froh, dass ihm endlich etwas eingefallen war, das er zum Gespräch beisteuern konnte.

Doch zu seinem Entsetzen war Gabes Miene schlagartig wieder verschlossen. »Ist egal.«

»Hast du was ausgefressen?«, hakte Leni nach und Sam hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten. Konnte sie nicht einmal still sein? Gabe sah nicht wie jemand aus, mit dem man Streit haben wollte, und sie forderte das geradezu heraus!

Gabe war jedoch nicht beleidigt. Sein Blick wurde sogar ein paar Grad wärmer. »Diesmal nicht. Ich schwör's.«

Leni lachte. »Ich wette doch!«

»Leni!«, zischte Sam und knuffte sie.

»Was denn?« Sie knuffte zurück, so fest, dass er unwillkürlich »Aua« rief.

Gabe betrachtete sie und schüttelte den Kopf. »Ihr zwei seid echt seltsam.«

Sam seufzte. Das hatte ja nicht lange gedauert. Jetzt wollte Gabe sicher nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Doch zu seinem Erstaunen fügte der Neue verschmitzt hinzu: »Seltsam ist gut.«

Sam konnte nicht sagen, warum ihn das so freute, aber es durchlief ihn wohlig warm. Gabe wirkte dermaßen selbstsicher, dass er an seiner alten Schule garantiert beliebt gewesen war. Leni und er dagegen waren absolute Außenseiter, die nirgendwo reinpassten. Ihre Klassenkameraden fanden es komisch, dass sie ständig aneinanderklebten. Und was sie von ihm hielten… darüber wollte er im Augenblick besser nicht nachdenken. Gabes Gegenwart hatte etwas wunderbar Aufregendes und Sam bemerkte, dass er leichtfüßiger lief als sonst. Ihm war, als läge ein Flüstern, ein Versprechen kommender Veränderung in der Luft. Und es würde eine Veränderung zum Besseren sein.


 

2. Kapitel

 

 

Heute

 

Gabe erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen. Als er die Augen aufschlug und ihn direkt ein Lichtstrahl traf, verfluchte er sich für das eine Bier zu viel letzte Nacht. Wie ein Messer schien der Schmerz durch seinen Schädel zu schneiden. Nach einem Blick auf den verräterisch stillen Wecker war er schlagartig hellwach. Shit, schon fast Mittag! Für einen Moment lag er still und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, welcher Wochentag war. Die Orientierung kam zurück und mit ihr große Erleichterung darüber, dass er heute noch keinen Termin verpasst hatte. Trotzdem durfte er nicht trödeln, doch das Bett war so kuschelig warm. Nur noch eine Minute... Ein sanftes Miauen ertönte zu seiner Linken. Er blinzelte den grau getigerten Kater an, der ihn mit schief gelegtem Köpfchen beäugte. Gabe musste beim Anblick des niedlichen, runden Katzengesichts lächeln.

»Hey, Monster. Schätze, du hast Hunger?«

Tarzan miaute vorwurfsvoll und sprang geschmeidig vom Bett, um mit hoch erhobenem Schwanz zum Futternapf zu marschieren. Auf der breiten Couch weiter hinten im offenen Wohnraum rührte sich Tess und wedelte hoffnungsvoll mit dem Schwanz. Die alte Cocker Spaniel-Dame bewegte sich kaum noch von ihrem Lieblingsplatz, es sei denn, es gab etwas zu fressen.

»Auch du, mein Sohn Brutus?«, seufzte er.

Tess antwortete mit einem Bellen. Ächzend zwang sich Gabe dazu, aus dem Bett zu rollen. Er trug nichts als Boxershorts. Eine Stelle an seinem Arm juckte und er strich abwesend darüber. Der warme Ton seiner Haut war unter der farbigen Tinte nur zu erahnen. Die meisten der kunstvollen Tätowierungen, die große Teile seines Körpers bedeckten, drehten sich um das Thema Musik.

Gabe beeilte sich, Tess und Tarzan zu füttern, bevor er nach Paddington sah. Seine graue Lieblingsratte mit dem weißen Fleck auf der Stirn schlief noch selig neben ihren Gesellinnen im geräumigen Käfig, also versorgte er zunächst die Geckos, deren Pflege er zeitweise übernommen hatte. Dann warf er die Kaffeemaschine an, zog die kleine Box mit seinen Medikamenten heran und spülte die tägliche Morgenration mit Leitungswasser herunter. Anschließend ließ er sich auf dem urigen Sessel neben der Küchenzeile nieder. Er war von Natur aus ein Energiebündel, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal richtig hellwach gefühlt hatte. Sofern die Forschung nicht irgendwann mit sensationellen neuen Tabletten aufwartete, würde sich an dieser dumpfen Müdigkeit vermutlich nie mehr etwas ändern.

Die Dachwohnung war nicht groß, doch durch die hohen Wände und Sprossenfenster wirkte sie geräumig. Den Großteil einer Wand nahm ein riesiges Regal ein, das vor Büchern förmlich überquoll. Die meisten Möbel waren secondhand. Nicht aus Notwendigkeit – nicht mehr. Seit fast einem Jahr konnte Gabe gut von seiner Musik leben. Doch er mochte Dinge, die eine Geschichte hatten. Er liebte es, gemeinsam mit Freunden Berlins Flohmärkte zu durchstöbern.

Als Tarzan mit dem Frühstück fertig war, rieb der Kater sein weiches Köpfchen an Gabes nacktem Bein und sprang auf seinen Schoß, um sich kraulen zu lassen. Gabe war ohnehin hoffnungslos spät dran, da machten ein paar Minuten Katzenstreicheln auch nichts mehr aus. Tess humpelte herüber und sank mit einem zufriedenen Seufzen zu seinen Füßen nieder. Gabe strich ihr über den Kopf und fühlte eine plötzliche Glückswoge in sich aufsteigen. Das waren die Augenblicke, die zählten.

Während die Kaffeemaschine köstlichen Duft verbreitete, blickte er zum Kühlschrank, an dem einige Postkarten und alte Fotos hingen. Sein Blick fiel auf den Schnappschuss von ihm mit Hauser, Leni und Sam. Großer Gott, Sam. Das war so lange her.

Er nahm Tarzan auf den Arm und tapste barfuß über den kalten Fliesenboden, um das Bild genauer zu betrachten. Zwar sah er es täglich, doch er hatte es schon lange nicht mehr wahrgenommen.

Wie jung sie da gewesen waren! Siebzehn und völlig außer Rand und Band. Er mit seinen blauen Haaren, den Arm um Sam gelegt. Leni zog eine ulkige Grimasse, Hauser hatte die Augen zu. Das Foto war verblasst, doch Sams Lachen war noch immer wundervoll. Mit den verwuschelten Locken und sanften braunen Augen sah er zum Anbeißen aus. Was wohl aus ihm geworden war?

Gabe zuckte zusammen, als das Festnetztelefon klingelte. Behutsam setzte er den Kater ab und eilte hinüber. Als er die Nummer auf dem Display sah, erwog er, nicht dranzugehen. Seine Managerin. Er wusste, dass sie gnadenlos weiter anrufen würde, bis sie ihn zu sprechen bekam, also nahm er widerstrebend ab.

»Du hast schon wieder dein Handy aus«, dröhnte eine schmerzhaft schrille Stimme an sein Ohr.

Gabe verzog das Gesicht. »Morgen, Arlena.«

»Morgen? Es ist kurz vor eins!«

»Ganz locker, wir proben heute erst später.«

»Du darfst das Fotoshooting um fünf nicht vergessen. Hast du schon deine Post raufgeholt?«

»Was hast du mir geschickt?«

»Das Übliche, Vertragliches für die Tour.«

»Ich dachte, damit wären wir endlich durch?«

»Schätzchen.« Die grelle Stimme lachte. »Du bist jetzt ein Star. Man kann diese Tour nicht mit der letzten vergleichen. Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie viel Planung und Papierkrieg hinter einer großen Europatournee steckt?«

Gabe war es unangenehm, wenn sie so redete. Arlena war kein schlechter Mensch, doch es schien, als wäre ihr sein Erfolg ziemlich zu Kopf gestiegen. Sie nahm sich neuerdings selbst so wichtig. Sogar der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert und war nasal geworden. Nicht, dass er je besonders schön gewesen wäre. An dem Abend, als sie sich ihm nach einer Show in einer kleinen Bar vorgestellt hatte, hatte sie ihn an eine aufgeregte Henne erinnert, die man über den Hof scheuchte.

Er versprach Arlena, sich den Papierkram anzuschauen, und legte auf. Gleich danach schaltete er sein Handy ein und zuckte zusammen, als das Gerät sogleich aufgebracht piepte. Dreiundzwanzig neue Nachrichten. Etliche waren von Arlena, ein paar von ihrem Assistenten Elias.

Er scrollte daran vorbei und öffnete nur eine, die ihm Imani gestern Nacht geschickt hatte. Auf dem angehängten Foto stand sie im Bikini vor traumblauem Meerwasser und strahlte in die Kamera. Ihre dunkle Haut schimmerte samtig, die schwarzen Rastazöpfe hatte sie zu einem lässigen Dutt hochgebunden. Sie sah verdammt heiß aus.

Göttlicher Strand. Hier sollten wir mal Urlaub machen, Babe. XXOO.

Gabe betrachtete das Bild und wunderte sich, dass ihn der verführerische Anblick nicht direkt auf Touren brachte. Natürlich vermisste er Imani, ihre Wärme, ihre Lebendigkeit, ihren Duft. Zwei Wochen hatte er sie nicht gesehen. So schön es war, dass sie in ihrem Job als Location-Scout in der Touristikbranche dermaßen gefragt war, allmählich entwickelte sich das zwischen ihnen zu einer Fernbeziehung.

Eine kalte Dusche später fühlte Gabe sich wieder halbwegs wie ein menschliches Wesen. Er schlüpfte in seine Bikerjacke aus Kunstleder und ging kurz mit dem Hund Gassi. Wieder in der Wohnung sah er nach den Ratten. Gabe öffnete die Käfigtür und Paddington trippelte sofort seinen Arm hinauf. Sie setzte sich auf seine Schulter, einer ihrer Lieblingsplätze. Gabe lächelte, als ihn die weichen Schnurrhaare am Ohr kitzelten.

»Hey, Pads. Möchtest du einen?« Er hielt ihr einen Sonnenblumenkern hin, den ihm die Ratte behände aus den Fingern pflückte. Gabe liebte seine Tiere über alles und konnte nicht ohne sie sein. Zum Glück hatte er Freunde, die aushalfen, wenn er auf Tour war. Doch die bevorstehende Trennung machte ihm Sorgen. Tess wurde langsam alt. Wenn er ihr für drei Monate Lebewohl sagte, wusste er nicht, ob er sie danach wiedersehen würde.

Als Gabe gerade seine Gitarre für die Bandprobe in den Koffer packte, klopfte es an der Wohnungstür. Sekunden später wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht. Tess bellte und machte sich mühsam daran, den Besuch zu begrüßen.

»Gabe, bist du da?«, rief eine junge Frauenstimme.

»Eigentlich bin ich schon weg.«

»Ha! Glück gehabt!« Ein großer Karton schob sich in sein Sichtfeld. Dahinter lugte seine kleine Schwester hervor. Mickey war zierlich und hatte graue Augen. Das dunkle Haar trug sie in kurzem Pixie-Schnitt, was sie noch mehr wie eine kesse Elfe aussehen ließ. Sie verlagerte ihre Fracht auf einen Arm und begrüßte mit großem Hallo den Hund. Tarzan beäugte die Szene unbeteiligt von seinem hohen Katzenbaum aus.

Gabe betrachtete skeptisch die Kiste und schüttelte den Kopf. »Das soll wohl ein Witz sein.«

»Dir auch ein fröhliches Hallo, großer Bruder«, strahlte Mickey und gab ihm einen Kuss auf die Wange, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste.

Er unterdrückte ein Lächeln. »Was schleppst du mir jetzt wieder an?«

Mickey sah ihn aus großen Unschuldsaugen an und öffnete den Deckel leicht. Zwei bezaubernde Katzenbabys schauten zu ihm hoch, ihre Augen noch nicht ganz offen. Sie konnten nicht älter als eine Woche sein. Sofort trat er zurück.

»Oh nein, Mick! Das ist nicht fair.«

»Gabe, bitte! Ist doch nur für eine Stunde.«

»Ich kann nicht. Ich hab Probe.«

»Aber ich muss zum Frauenarzt und niemand sonst kann die Kleinen übernehmen.« Sie sah ihn mit einem Blick an, der ganze Gletscher zum Schmelzen hätte bringen können. »Wenn ich den Termin verschiebe, muss ich monatelang auf den nächsten warten.«

»Mick, versteh doch. Meine Tour geht in zwei Wochen los.«

»Ich weiß, deine Probe ist wichtig. Aber die Kitten müssen regelmäßig gefüttert werden oder sie werden es nicht schaffen. Sie wurden in einer Mülltonne gefunden, kannst du dir das vorstellen?«

Gabe fühlte, wie sich sein Widerstand in Luft auflöste. Warum musste sie das immer machen? Ständig brachte sie ihm hoffnungslose Fälle aus dem Tierheim. Er rieb sich über die Augen. Seine Musiker würden längst auf dem Weg sein – reichlich spät, um die Probe zu verlegen. Doch dass Mickey ihren Arzttermin absagte, wollte er auch nicht.

Er nahm ihr den Karton ab. »Also gut, ich regle das schon. Sag mir nur, was ich mit den kleinen Stinkern machen muss.«

Mickey quietschte vor Freude und fiel ihm um den Hals. »Oh, danke, danke! Du bist der Beste. Ich wusste, ich kann auf dich zählen.«

Gemeinsam betrachteten sie die winzigen Kätzchen. Sie waren wirklich herzergreifend süß. Wie konnte jemand so kalt sein, lebende Tiere wie Abfall zu entsorgen? Mickey zeigte ihm, wie er die zerbrechlichen Katzenbabys füttern musste, und sauste los.

Eine Viertelstunde später saß er auf der Couch, ein zierliches Katzenbaby auf der Hand, das seine Handfläche mit dem kleinen Bäuchlein wärmte. Behutsam fütterte er es mit einer Spritze und obwohl das Kleine etwas wackelig wirkte, war es definitiv verdammt hungrig. Zum Glück hatte er seinen Gitarristen Yoshi unterwegs erreicht und ihn gebeten, mit den anderen schon mal ohne ihn die Setlist durchzugehen.

Er stellte fest, wie gut diese erzwungene Ruhepause tat. Tatsächlich fühlte er sich entspannt wie seit einer Ewigkeit nicht. Er hatte gar nicht gemerkt, wie stressig die Tourvorbereitungen der letzten Wochen gewesen waren. Gestern Abend mit Freunden einen trinken zu gehen, war keine gute Idee gewesen, aber er hatte das Gefühl gehabt, nur noch wie ein Hamster im Laufrad vor sich hin zu rennen. Es gab heute noch so viel zu tun, doch letztlich war das kleine Leben in seiner Hand weitaus wichtiger. Das rückte alles wunderbar in die richtige Perspektive.

 

***

 

Vor zehn Jahren

 

Um zu den Umkleiden für den Sportunterricht zu gelangen, mussten Sam, Leni und Gabe die große Pausenhalle durchqueren. Hier lungerten die Schüler gewöhnlich herum, wenn es in der Pause regnete oder sie eine Freistunde hatten. Es gab Tische mit Bänken und einen kaum frequentierten Getränkeautomaten, der nur Mineralwasser und säuerlichen Apfelsaft anzubieten hatte.

Schon als sie durch die breite Flügeltür traten, entdeckte Sam Walldo mit seinen Kumpels an einem Tisch, an dem ihr Weg unweigerlich vorbeiführte. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper anspannte und seine Handflächen schwitzig wurden. Justin Walldorf, genannt Walldo, war bis zum vergangenen Jahr in ihrer Klasse gewesen und der Hauptgrund, weshalb Sam die Schule so hasste. Zum Glück musste Walldo eine Ehrenrunde drehen, sodass seine Attacken weniger geworden waren. Trotzdem piesackte er Sam nach wie vor bei jeder Gelegenheit – und nun mussten sie direkt an ihm vorbeilaufen. Walldo war fast zwei Meter groß, bullig gebaut und sah im Grunde nicht übel aus, weshalb sich in seinem Gefolge auch etliche Mädchen fanden. Man konnte ihr Gekicher bis hier herüber hören. Sam starrte stur geradeaus und tat, als würde er seinen Peiniger nicht bemerken, während sie sich dem Tisch näherten.

»Hey, Schwuchtel!« schallte es ihm hämisch entgegen, laut genug, dass sich alle Anwesenden nach ihm umdrehten. »Hab dich heute früh gar nicht gesehen. Versteckst du dich etwa vor mir?«

Sofort verfiel Walldos Gefolge in den üblichen Singsang, der laut durch die Halle schallte: »Schwuchtel, Schwu-huchtel, Schwuchtel, Schwu-huchtel…«

Sam lief eisern weiter. Seine Wangen brannten heiß vor Scham. Er spürte, wie Leni zu ihm rübergriff, doch er zog seine Hand schnell weg, bevor sie sie erwischen konnte. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Er wagte nicht, zu Gabe hinüberzusehen, wollte nicht wissen, wie dieser auf das Spektakel reagierte. Schon waren sie mit Walldo auf gleicher Höhe.

»Sackgesicht, hast du jetzt 'nen Bodyguard? Wo hast du denn den Assi aufgegabelt?«, rief Walldo ihm zu.

Gabe blieb stehen. Sam durchlief es eiskalt, als Leni und er unwillkürlich ebenfalls stoppten. »Nicht drauf eingehen«, raunte er dem Neuen verzweifelt zu.

Gabe sah ihn an, hob eine Augenbraue und entschied sich offensichtlich, den gut gemeinten Rat zu ignorieren. Er trat an den Tisch heran und baute sich vor Walldo auf. »Was ist dein Problem, Arschloch?«

Walldo wirkte vollkommen überrascht, dass ihm tatsächlich jemand Kontra gab. Obwohl er ein gutes Stück größer war, als er aufstand und sich gerade aufrichtete, schien ihn die Dominanz, die Gabe ausstrahlte, zu verunsichern. Die beiden Jungs standen sich gegenüber und starrten einander an. Für einen Moment schien es, als würde Walldo klein beigeben. Doch vor seiner Meute wollte er sich vermutlich keine Blöße geben.

»Arschficker wie du sind mein Problem. Stehst wohl auf die Schwuchtel, was?« Beifall heischend sah er sich zu seinem Gefolge um. Doch anstatt wie üblich zu grölen und ihn anzufeuern, waren sie merkwürdig still.

Mit einer blitzschnellen Bewegung packte Gabe Walldo an der Gurgel und drückte ihn auf den Tisch hinunter, die freie Hand bedrohlich zur Faust erhoben. Überrumpelt gab Walldo einen Schreckenslaut von sich, der an einen Hund erinnerte, dem man auf den Schwanz getreten war. Sam beobachtete die Szene mit offenem Mund, sprachlos und zwischen Entsetzen und tief empfundener Genugtuung hin und her gerissen. Die ganze Halle war inzwischen in Aufruhr, alle reckten die Hälse, um zu sehen, was am Tisch vor sich ging.

»Falsche Antwort«, meinte Gabe trocken und funkelte Walldo eisig an. »Versuch's noch mal.«

»Urgh«, presste Walldo erstickt hervor.

Gabe lehnte sich näher, wie um zu lauschen. »Wie war das?«

Walldo zappelte wie ein umgekippter Käfer, schaffte es aber nicht, sich aus dem Griff zu befreien. Schließlich gab er klein bei. »Kein Problem«, knurrte er. »Ich hab kein Problem mit euch.«

Daraufhin ließ Gabe ihn los und trat zurück. Walldo rappelte sich auf und wollte sich auf ihn stürzen, doch seine Kumpels hielten ihn fest. »Das kriegst du zurück! Ich mach dich fertig, ich schwöre!« Seine Stimme überschlug sich mit pubertärem Kieksen.

Gabe grinste bloß. »Ich denke nicht. Aber versuch's ruhig, wenn du dich traust.« Er deutete eine ruckartige Bewegung in Walldos Richtung an, die diesen zurückzucken ließ.

Als wäre nichts gewesen, schloss Gabe gut gelaunt zu Sam und Leni auf. »Gehen wir?«

Sam konnte nur nicken. Während sie davontrotteten, starrte Leni Gabe an. »Heilige Scheiße«, murmelte sie fassungslos. »Verdammte heilige Scheiße.«

Sam hatte das Gefühl, als wäre Gabe in den letzten Minuten um mindestens zehn Zentimeter gewachsen. Er konnte noch immer nicht glauben, was soeben geschehen war. Der Neue hatte Walldo scheinbar mühelos in seine Schranken verwiesen. Niemand hatte das bislang gewagt! Während sie die Treppe zu den Kabinen hinunterliefen, sah er ihn an. »Dir ist schon klar, dass du von jetzt an gefährlich lebst? Walldo wird dir das doppelt heimzahlen«, meinte er leise.

Gabe warf ihm einen Blick zu und lächelte. Kaum zu glauben, dass dieser lässige, sympathische Kerl eben noch wie ein kalter Rächer den Schulschläger überwältigt hatte. »Alles gut, Spock. Ich kenn solche Idioten. Der wird schön den Schwanz einziehen.«

Zweifelnd sah Sam ihn an. »Du solltest besser nicht mehr mit uns rumhängen. Wäre gesünder für dich.«

»Sehe ich aus, als kümmert mich Gesundheitsvorsorge? Ich häng rum, mit wem ich will. Es sei denn, ihr wollt das nicht.« Fragend blickte er von Sam zu Leni.

»Bist du bescheuert? Klar wollen wir das!«, rief sie und sah Gabe hingerissen an. »Diesen Tag werd ich mein Leben lang nicht vergessen. Der Tag, an dem Walldo eins auf den Deckel bekam!«

Sie schauten sich an und plötzlich mussten sie alle drei lachen. Schreck und Schock schmolzen dahin und Sam fühlte sich mit einem Mal seltsam aufgekratzt. Himmelleicht und schwerelos wie nie.