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Eigenanzeige

Danksagung

Wieder einmal möchte ich allen meinen tiefempfundenen Dank aussprechen, die mir dabei geholfen haben, meine Worte in ein Buch zu verwandeln.

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey und meinen Lektorinnen Megan McKeefer und Lauren McKenna für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und allen bei Pocket Books und Simon & Schuster für die Arbeit am Buch und der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Lesern danken. Zu wissen, dass Leute meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut. Ich bin froh, dass ihr Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

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1

»Du brauchst mal Urlaub.«

Ich sah von der Tomate auf, die ich gerade schnitt, und starrte über den Tresen zu Finnegan Lane, meinem Ziehbruder und Partner in unzähligen mörderischen Unternehmungen.

»Urlaub? Ich mache nie Urlaub«, erklärte ich. »Ich habe ein Barbecue-Restaurant zu führen, nur für den Fall, dass du es vergessen hast.«

Ich deutete mit dem Messer durch das Pork Pit. Die meisten Leute fanden das Restaurant mit seinen blauen und pinkfarbenen Sitznischen und den dazu passenden langsam verblassenden Schweineklauenspuren auf dem Boden, die zu den Herren- und Damentoiletten führten, wahrscheinlich nicht besonders beeindruckend. Der lange Tresen, der sich an der hinteren Wand entlangzog, war älter als ich, dasselbe galt für die meisten Gläser, Teller, Besteckstücke und Küchengeräte. Aber alles war sauber, ordentlich und auf Hochglanz poliert, von den Tischen und Stühlen bis zu der gerahmten, blutbefleckten Ausgabe von »Eigentlich hätte es ein herrlicher Sommertag werden können« von Wilson Rawls, die in einem Bilderrahmen direkt hinter der angeschlagenen, altmodischen Registrierkasse an der Wand hing. Das Pork Pit mochte kein schickes oder hochpreisiges Lokal sein, aber es war mein Laden, mein Zuhause, und ich war verdammt stolz darauf. War ich schon immer gewesen und würde es auch immer sein.

»Urlaub«, wiederholte Finn, als hätte ich kein Wort gesagt. Er konnte ziemlich hartnäckig sein. »An einem warmen Ort mit goldfarbenem Sand, wo dich niemand kennt, weder als Gin Blanco und noch weniger als die Spinne.«

Er redete nicht laut, doch als er die letzten zwei Worte aussprach, hallten sie wie ein Schuss durch das Restaurant. Die Leute an den Tischen hinter Finn erstarrten sofort, ihre dicken, saftigen Barbecue-Sandwiches auf halbem Weg zum Mund. Die Gespräche versiegten wie ein Rinnsal in der Wüste. Alle Blicke schossen zu mir, erfüllt von der Frage, wie ich wohl auf den Klang dieses Namens reagieren würde.

Meines Namens als Auftragskillerin, den ich die letzten siebzehn Jahre getragen hatte, wenn ich nachts unterwegs gewesen war, um Leute für Geld zu töten – später aus anderen, zum Teil nobleren Gründen.

Ich legte meine Finger noch fester um das lange Tomatenmesser mit der gezackten Klinge. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, ich könnte es verwenden, um meinem Bruder die Zunge herauszuschneiden – oder ihn damit zumindest dazu zu bringen, dass er mal nachdachte, bevor er den Mund aufmachte.

Eine ältere Frau, die zwei Plätze neben Finn saß, bemerkte meinen Griff um das Messer. Sie wurde bleich und ihre Hand wanderte zum Kragen ihrer weißen Seidenbluse, als stände sie kurz davor, einen Herzinfarkt zu erleiden.

Seufzend zwang ich mich dazu, den Griff um das Messer zu lockern, und legte es auf den Tresen. Verdammt. Ich hasste es, berüchtigt zu sein.

Hatte ich früher ein Leben als Phantom geführt, war ich nun die bekannteste Person von Ashland. Vor mehreren Wochen hatte ich das Unvorstellbare getan: Ich hatte Mab Monroe getötet, die Feuermagierin, die jahrelang die Unterwelt der Stadt regiert hatte. Mab hatte meine Mutter und ältere Schwester umgebracht, als ich dreizehn Jahre alt gewesen war, und meiner Meinung nach hatte sie den Tod absolut verdient gehabt. Ich kannte auch niemanden, der wegen der Feuermagierin eine echte Träne vergossen hatte.

Aber jetzt wollte die Stadt Blut sehen – mein Blut.

Mabs Tod hatte ein Vakuum im Machtgefüge von Ashlands Geschäftswelt hinterlassen – sowohl der legalen als auch der nicht so legalen – und alle kämpften darum, ihre jeweiligen Reviere abzustecken und sich als neuer Boss der Stadt zu behaupten. Und einige von ihnen waren der Meinung, der beste Weg, das zu erreichen, wäre, mich zu töten.

Ein Idiot nach dem anderen war in den letzten Wochen ins Pork Pit gekommen. Es war immer dasselbe. Sie waren entweder allein oder in kleinen Gruppen unterwegs, alle mit nur einem Gedanken im Kopf: die Spinne erledigen. Die meisten Elementare stürzten sich direkt auf mich, forderten mich zu Duellen heraus und wollten ihre Magie gegen meine Eis- und Steinmacht testen. Alle anderen … nun, sie waren zufrieden damit, mir heimlich aufzulauern, wenn ich das Restaurant entweder aufschloss oder für die Nacht zusperrte.

Wie auch immer ihre jeweilige Methode aussah, es endete immer auf dieselbe Weise – die Herausforderer waren tot und ich musste Sophia Deveraux bitten, die Leichen zu entsorgen. Ich hatte im letzten Monat mehr Leute umgebracht als in einem Jahr als Auftragsmörderin. Ich selbst war die ständigen und eigentlich nicht überraschenden Überraschungsangriffe sowie die Blutflecken auf meinen Händen, meiner Kleidung und meinen Schuhen langsam leid, aber der Strom der lebensmüden Gangster schien nicht versiegen zu wollen.

Die alte Dame neben Finn schnappte nach Luft. Ich senkte den Blick und musste feststellen, dass ich gedankenverloren wieder nach dem Tomatenmesser gegriffen hatte und mein Daumen nun langsam über den glatten, polierten Griff glitt. Die Waffe war nicht so stark oder scharf wie die fünf Steinsilber-Messer, die ich an meinem Körper versteckt hielt, aber die gezackte Klinge konnte großen Schaden anrichten. Das galt für die meisten Gegenstände, wenn man nur genügend Kraft aufwandte – und ein energischer Angriff war nur eine der Disziplinen, in denen ich gut war.

»Was starren Sie denn so?«, blaffte ich die Frau an.

Die alte Dame riss die Augen auf. Mit zitternden Fingern griff sie in ihre Tasche, warf einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen, glitt von ihrem Stuhl und rannte so schnell aus dem Lokal, wie ihre hohen Schuhe es ihr erlaubten.

»Und da geht der nächste Stammkunde«, murmelte Finn belustigt und seine grünen Augen funkelten. Er sah es gern, wenn ich die Fassung verlor, ganz besonders wenn er dafür verantwortlich war.

Ich runzelte die Stirn und fuchtelte mit dem Messer vor ihm in der Luft herum. Aber Finn ignorierte meinen eisigen Blick und die Androhung von Gewalt einfach. Stattdessen hob er die Kaffeetasse und hielt sie der Zwergin neben mir hin, die lange Selleriestangen schnitt, um sie in den Makkaroni-Salat zu mischen, den sie gerade anrührte.

»Sophia?«, fragte er. »Bitte, bitte?«

Sophia Deveraux hob den Kopf, um Finn anzustarren. Sie war die Köchin des Pork Pit – hauptsächlich. Nebenberuflich ließ sie die Leichen verschwinden, die hin und wieder meinen Weg pflasterten. Ich hatte die Zwergin als Dienstleisterin und Servicekraft geerbt, als ich das Auftragskiller-Geschäft von Finns Vater, Fletcher Lane, übernommen hatte. Der alte Mann hatte unter dem Decknamen »Der Zinnsoldat« gemordet und mir beigebracht, wie man Leuten dabei half, das Atmen einzustellen.

Sophia grunzte und schnappte sich die Kanne mit Malzkaffee, die sie immer für Finn bereithielt. Für gewöhnlich schaute er täglich im Restaurant vorbei. Nun füllte sie seine Tasse auf und der warme Malzduft stieg mir in die Nase und verdrängte für einen Moment die Gerüche von Kreuzkümmel, rotem Pfeffer und anderen Gewürzen, die die Luft erfüllten. Der Duft erinnerte mich immer an Fletcher, der denselben Malzkaffee getrunken hatte. Ich atmete tief ein und hoffte, dass mich das entspannen würde. Doch das geschah nicht – nicht heute Abend. Genau genommen schon seit Wochen nicht.

Mein Blick fiel wieder auf Sophia. Auch wenn es im Pork Pit im Allgemeinen nicht viel zu sehen gab, die Leute konnten einfach nicht anders, als Sophia anzustarren, wenn sie auf sie aufmerksam wurden. Nicht weil sie eine Zwergin war, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie sich wie ein richtiger Grufti kleidete. Sophia trug schwere schwarze Stiefel und dazu passende Jeans, zusammen mit einem weißen T-Shirt, auf dem eine Sense abgedruckt war. Haare und Augen waren ebenfalls schwarz, sodass ihre Haut umso bleicher wirkte, trotz des leuchtend fuchsiafarbenen Lippenstifts, den sie trug. Der Lippenstift passte farblich zu dem stachelbesetzten Steinsilber-Halsband, das um ihren Hals lag.

Das Gute daran, neben Sophia zu stehen, war die Tatsache, dass mich alle ziemlich schnell vergaßen, weil sie so damit beschäftigt waren, die Zwergin anzuglotzen. Ein paar Sekunden später konzentrierten sich die Gäste dann sowieso wieder auf ihre Sandwiches, zusammen mit den gebackenen Bohnen, frittierten Zwiebelringen und anderen herzhaften Beilagen.

»Also, zurück zu meiner Urlaubsidee.« Finn grinste und zeigte dabei perfekte weiße Zähne. »Denk einfach mal darüber nach. Du, Owen, Bria und ich, alle glücklich in einem schicken Hotel an einem schönen Strand. Bria in einem Bikini. Du und Owen zieht euer Ding durch, Bria in einem Bikini. Habe ich schon Bria in einem Bikini erwähnt?«

Ich verdrehte die Augen. »Himmel! Ein bisschen Respekt, bitte. Du redest von meiner kleinen Schwester.«

Finns Grinsen wurde nur noch breiter. »Ich weiß.«

Während ich meinen finalen Kampf gegen Mab geführt hatte, war Finn endlich mit meiner jüngeren Schwester Bria zusammengekommen. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ernst diese Beziehung war, aber die Sache zwischen ihnen lief schon seit Wochen und keiner von beiden machte Anstalten, sich zurückzuziehen. Ich freute mich für sie – wirklich –, aber ich hätte gut ohne Finns ausführliche Berichte über ihr Sexleben auskommen können. Verdammt, ich sprach über solche Dinge nicht mal mit Bria selbst und sie war meine Schwester. Aber das war Teil des verkommenen Charmes von Finnegan Lane. Er liebte es mindestens genauso sehr, über Frauen zu reden, wie er es liebte, mit ihnen zu schlafen.

Finn öffnete den Mund, um weiter auf mich einzureden, aber ich hatte genug – genug vom Starren, genug vom Flüstern, genug davon, dass sich alle fragten, ob ich sie wohl dafür töten würde, dass sie mein Restaurant betreten hatten. Ich wollte im Moment einfach in Ruhe gelassen werden und das schloss Finn mit ein.

»Ich brauche keinen Urlaub«, knurrte ich, als ich mich abwandte, um mich mit schnellen Schritten von ihm und den neugierigen Gästen zu entfernen. »Das ist mein letztes Wort.«

Ich schnappte mir die Mülltüten, schob mich durch die Schwingtüren und durchquerte den hinteren Teil des Restaurants. Ich hielt nicht an, bis ich eine weitere Tür geöffnet hatte und in der Gasse stand, die zwischen dem Pork Pit und dem Nachbargebäude verlief.

Es war Abend und bereits dunkel, sodass die Wände um mich herum wie kohlschwarze Schatten wirkten, die sich bis zum Himmel erhoben. Zarte Wolken zogen vor dem nicht ganz vollen Mond vorbei und erinnerten mich an Wellen, die auf einen sandigen Strand rollten.

Mein Blick wanderte zu dem Spalt in der Wand gegenüber der Tür. Die Mauer öffnete sich dort zu einer winzigen Nische, gerade groß genug, dass ein Kind sich darin verbergen konnte. Mein altes Versteck, als ich auf den Straßen von Ashland gelebt hatte, bevor Fletcher mich aufgenommen hatte. Für einen Moment wünschte ich mir, ich wäre immer noch klein genug, um in diesen Spalt zu passen und mich dort vor all meinen Sorgen zu verstecken – wenigstens für eine Weile.

Ich hatte gedacht, Mabs Tod würde all meine Probleme lösen. Stattdessen hatte ich mir damit einfach nur eine Menge neuer Probleme aufgehalst. Sicher, das Pork Pit lief besser als je zuvor, aber nur, weil die Leute kamen, um mich anzugaffen. Alle fragten sich, ob ich wirklich die berühmte Auftragskillerin war, die man als »die Spinne« kannte, und ob ich wirklich Mab Monroe ermordet hatte, wie man es munkeln hörte.

Und dann gab es da draußen noch diejenigen, die wussten, dass ich die Feuermagierin erledigt hatte – Leute wie Jonah McAllister. Er war vor Mabs Tod ihr Anwalt und ihre rechte Hand gewesen und besaß eine Menge gute Gründe, mich zu hassen; vor allem seitdem ich letztes Jahr seinen Sohn Jake getötet hatte. McAllister war so weit gegangen, einen Preis auf meinen Kopf auszusetzen, der dafür sorgte, dass eine Menge Kopfgeldjäger hinter mir her waren. Aber niemand hatte das Geld verdienen können – bis jetzt.

Viele meinten, die Ermordung von Mab würde mich zu einer Art Volksheldin machen angesichts der Tatsache, wie viele Leute die Magierin auf ihrem Weg an die Spitze der Unterwelt von Ashland unterdrückt, verletzt, gefoltert und ermordet hatte. Ein paar waren sogar mutig genug gewesen, mir nach ihrem Tod zu gratulieren oder aufmunternde Worte auszusprechen. Doch für andere – besonders für diejenigen, die sich eher auf der dunklen Seite bewegten – stellte ich nichts anderes als einen dicken Scheck auf Beinen oder die Chance dar, sich einen Namen zu machen. Auf jeden Fall stand ich dieser Tage im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit – und ich hasste es.

Ich atmete tief durch, um die Ruhe und den Frieden hier draußen zu genießen, eine schöne Abwechslung von der nervösen Anspannung, die im Restaurant herrschte. Es war Anfang April und die Nächte waren immer noch kühl, aber die ungewöhnlich warmen Tage machten Lust auf den Sommer. Ich schmiss die Mülltüten in den Container, doch statt direkt wieder reinzugehen, verweilte ich noch einen Augenblick in der Gasse neben dem Restaurant.

Ich ließ die Fingerspitzen über die rauen Ziegel des Gebäudes gleiten und rief meine Magie. Als Steinelementar war ich in der Lage, das Material in jeder Form zu kontrollieren, in der es eben auftrat. Ich hätte Ziegel aus der Wand vor mir herausreißen können, Kopfsteinpflaster zerbröseln lassen oder gleich das Fundament eines Hauses zerstören. Ich konnte sogar meine eigene Haut so hart werden lassen wie Marmor, sodass mich nichts verletzen konnte. Auf diesen speziellen Trick hatte ich in den letzten Wochen oft zurückgegriffen.

Meine Elementarmacht ließ mich auch auf die Steine um mich herum lauschen und all die Vibrationen, die sie aussandten. Die Handlungen, Gedanken und Gefühle von Leuten sanken im Laufe eines Lebens in die Umgebung ein, besonders in den Stein. Ich hörte gern den Ziegeln zu, aus denen das Pork Pit erbaut war, weil der Klang fast immer derselbe war – der brummende Klang absoluter Zufriedenheit, so wie sie die Leute empfanden, die im Restaurant gegessen hatten. Gutes Essen gehörte zu den wenigen Dingen, die selbst den unzufriedensten Menschen glücklich machen konnten, und im Pork Pit waren über die Jahre schon viele Leckereien serviert worden. Ich atmete erneut tief durch, dann ließ ich mich von dem sanften Geräusch erfüllen und es den Stress des Tages vertreiben, all den Aufruhr und die Sorgen der letzten Wochen.

Sobald ich ruhiger war, ließ ich meine Hand sinken und wandte mich der Tür zum Pork Pit zu. Doch plötzlich spürte ich die Anwesenheit eines anderen Magiers.

Neben Menschen, Zwergen, Riesen und Vampiren lebten in Ashland auch viele Elementare. Magie konnte verschiedene Formen annehmen und sich auf die ungewöhnlichsten Arten manifestieren, was bedeutete, dass die Elementare in der Stadt und im Land die verschiedensten Fähigkeiten besaßen. Manche konnten Bälle aus Blitzen in den Händen halten, andere waren fähig, Wasser zu beeinflussen. Doch um als echter Elementar ernst genommen zu werden, musste man eines der vier Elemente kontrollieren: Luft, Feuer, Eis oder Stein. Ich gehörte zur seltensten Gruppe der Elementare, weil ich nicht nur einen, sondern zwei dieser Bereiche beherrschte, Eis und Stein.

Ich verengte die Augen zu Schlitzen und konzentrierte mich auf die Magie der anderen Person, die sich für mich anfühlte, als würden rotglühende Funken auf meiner Haut tanzen. Dem plötzlichen Jucken in meinen Handflächen nach zu urteilen, war irgendwo in der Nähe ein Feuerelementar. Die Male auf meiner linken und rechten Handinnenseite waren identisch, ein kleiner Kreis umgeben von acht dünnen Strahlen. Eine Spinnenrune. Das Symbol für Geduld. Etwas, wovon ich dieser Tage nicht mehr allzu viel besaß.

Seufzend drehte ich mich um. Und tatsächlich, hinter mir in der Gasse standen zwei Typen. Der eine war ein Riese, gut zwei Meter zehn groß, der andere ein Mensch. Und offenbar ein Elementar, denn ein flackernder Feuerball schwebte über seiner geöffneten Hand.

Tatü, tata, Gin Blanco ist wieder da.

»Lasst mich raten«, sagte ich langgezogen und betont gelangweilt. »Ihr seid hier, um die berüchtigte Spinne zu erledigen.«

Der Riese wollte etwas erwidern, aber ich hob die Hand, um ihm das Wort abzuschneiden.

»Ich habe wirklich kein Interesse daran, mir dein Gestammel darüber anzuhören, für was für harte Typen ihr beide euch haltet und dass ich, wenn ihr erst mit mir fertig seid, um Gnade wimmern werde«, sagte ich. »Ich will nur eines loswerden. Tut euch selbst einen Gefallen und geht einfach wieder. Geht jetzt und ich werde euch nicht töten.«

»Hast du das gehört, Billy?«, kicherte der Feuerelementar. »Die Spinne will uns schonen. Was für ein Glück.«

Billy, so hieß offenbar der Riese, ließ die Knöchel seiner Hände knacken. Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Für mich sieht sie gar nicht so zäh aus, Bobby.«

Ich verdrehte die Augen. Die meisten Leute mochten ja nicht mit absoluter Sicherheit sagen können, ob ich wirklich die Spinne war, aber man sollte meinen, es wären inzwischen genug Menschen in und um das Pork Pit herum verschwunden, um langsam zu kapieren, dass es eine gute Entscheidung war, sich von mir und meinem Restaurant fernzuhalten.

»Die schnappen wir uns!«, schrie Bobby einen Augenblick später und der Riese jauchzte zustimmend.

Anscheinend hatten diese beiden es nicht kapiert.

Sie stürzten gleichzeitig nach vorn und Bobby warf sein elementares Feuer auf mich. Er war durchaus ein starker Elementar, aber verglichen mit dem glühenden Inferno, dem ich ausgesetzt gewesen war, als ich Mab umgebracht hatte, wirkte seine Magie so gefährlich wie eine Kerzenflamme. Ich duckte mich unter dem Feuerball hinweg, weil ich kein Interesse hatte, mir diese Woche schon wieder die Haare versengen zu lassen. Dann rollte ich mich nach links ab, landete auf dem Knie und schnappte mir den metallenen Deckel einer der Mülltonnen, die in der Gasse standen. Ich hielt ihn mir gerade rechtzeitig über den Kopf, sodass Billys Faust lediglich das Metall traf. Die Kraft des Schlages warf mich nach hinten. Billy hob erneut den Arm, aber ich stieß meinen Stiefel in seine Richtung und traf ihn genau auf der Kniescheibe. Er stöhnte und stolperte vorwärts, um sich mit einer Hand auf dem Boden abzustützen, was dafür sorgte, dass er sich mit mir auf Augenhöhe befand.

Ich sah ihn an, lächelte und rammte ihm den Metalldeckel so fest ins Gesicht, wie ich nur konnte. Es kostete mich mehrere harte, kräftige Schläge, doch dann floss Blut aus Billys gebrochener Nase und den tiefen Platzwunden, die sein Gesicht zierten. Ich holte noch einmal mit dem Deckel aus und rammte ihm die scharfe Kante gegen das Kinn, sodass der Riese auf den Rücken fiel. Sein Kopf knallte auf den Boden und er stieß ein leises Stöhnen aus. Er war besiegt. Was für ein Amateur!

Bobby wirkte verblüfft, ja vollkommen fassungslos, weil ich seinen Freund so mühelos erledigt hatte. Als ich aufstand und auf ihn zuging, setzte er eine ängstliche Miene auf. Ich benutzte den Metalldeckel als Schild und hielt ihn schützend vor mich. Bobby wich zurück, aber er vergaß dabei, hinter sich zu schauen. Er kam keine zwei Schritte weit, bevor er mit dem Rücken gegen einen der Müllcontainer stieß. Verzweifelt schlug er ein paar Mal die Hände zusammen, in dem Versuch, seine Panik zu überwinden und einen weiteren Feuerball zu erschaffen.

Diese Zeit gönnte ich ihm nicht.

Zwei Sekunden später rammte ich ihm den Metalldeckel ins Gesicht. Ich musste ihn nur einmal schlagen, dann fiel er auch schon zu Boden.

Als ich mich davon überzeugt hatte, dass keiner der beiden in nächster Zeit wieder aufstehen würde, legte ich den Deckel zurück auf den Mülleimer. Die blutverschmierten Beulen darin glichen denen der anderen Deckel. Diese Woche hatte mich mehr als nur ein Volltrottel in dieser Gasse überfallen.

Ich beäugte die zwei Männer, die stöhnend auf dem Boden lagen und zu verstehen versuchten, wie alles so schnell hatte schieflaufen können, und schüttelte den Kopf. »Idioten«, murmelte ich, dann ging ich zurück ins Restaurant.

Über einem der Waschbecken im hinteren Bereich hing ein Spiegel mit einer gesplitterten Ecke. Dort hielt ich an und wusch mir das Blut und den Schmutz des Kampfes von den Händen, weil ich nicht wollte, dass meine Restaurantgäste noch mehr Angst vor mir bekamen. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst, als ich den Riesen mit dem Mülltonnendeckel verprügelt hatte, also zog ich das Haargummi heraus und band meine schokoladenbraunen Locken erneut zusammen, diesmal höher und fester.

Das Klirren und Klappern von Besteck und Tellern drang durch die Schwingtüren zu mir, begleitet von den wunderbaren Düften von Burgern und Pommes. Da wir bald schlossen, waren die Kellnerinnen bereits nach Hause gegangen, also war ich die Einzige, die sich in diesem Teil des Restaurants aufhielt. Statt nach vorn zu gehen und mich wieder an die Arbeit zu machen, stützte ich mich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und lehnte mich vor, um mich im Spiegel zu betrachten.

Kalte graue Augen, dunkles Haar, bleiche Haut. Ich sah aus wie immer, abgesehen von dem Blutspritzer auf meiner Wange und den dunklen Ringen unter den Augen. Das Blut konnte ich mir mühelos mit einem Papierhandtuch aus dem Gesicht wischen, aber es gab nichts, was ich gegen die Erschöpfung tun konnte, die sich meiner in den letzten Wochen bemächtigt hatte. All die Blicke, all das Flüstern, die ständigen Kämpfe. Das alles hatte mich erschöpft, sodass ich mich mittlerweile beinahe wie ein Roboter fühlte und nur noch mechanisch bewegte. Verdammt noch mal, heute Abend hatte ich nicht mal meine Steinsilber-Messer gezogen und diese Mistkerle in der Gasse aufgeschlitzt, wie ich es hätte tun sollen. Den meisten Leuten reichte es, sich einmal mit der Spinne anzulegen – aber diese Volltrottel waren wahrscheinlich dämlich genug, es irgendwann noch mal zu probieren – auch weil ich sie am Leben gelassen hatte.

Ich seufzte frustriert. Überdruss war ein gefährliches Gefühl, besonders für eine Profikillerin. Wenn ich nicht bald etwas dagegen unternahm, würde mir irgendwann ein dummer Fehler unterlaufen. Und dann wäre ich tot und mein Kopf würde Jonah McAllister auf einem silbernen Tablett serviert werden – ihm oder irgendeinem anderen Mafiaboss, der es auf mich abgesehen hatte.

Sosehr ich auch hasste es zugeben zu müssen, aber Finn hatte recht. Ich brauchte Urlaub – von meinem Leben als Spinne.

Ich schob die Schwingtüren auf und ging zurück ins Restaurant. Wieder einmal erstarrten alle bei meinem Anblick, als rechneten sie damit, dass ich eine Pistole unter meiner blauen Arbeitsschürze hervorzog und anfing wild herumzuballern. Ich ignorierte die neugierigen, ängstlichen und misstrauischen Blicke, ging zurück zum Tresen, schnappte mir ein Messer und machte mich wieder daran, Tomaten für die letzten Sandwiches des Tages zu schneiden.

»Du hast ja ganz schön lange gebraucht«, bemerkte Finn. »Ich dachte schon, du hättest dich dahinten verlaufen.«

»Nicht ganz. Ich hatte mal wieder zwei unerwartete Besucher, die ich unterhalten musste.«

Er hob fragend eine Augenbraue. »Verletzt oder tot?«

»Nur verletzt. Was soll ich sagen? Ich war heute Abend in barmherziger Stimmung.«

Mein sarkastischer Kommentar sorgte dafür, dass Finns Augenbraue noch ein wenig höher wanderte. Barmherzigkeit war etwas, was sich Auftragskiller – selbst jene, die eine Pause einlegten wie ich – nicht allzu oft leisten konnten. Besonders nicht in diesen Tagen, in denen es jeder Möchtegerngangster von Ashland auf mich abgesehen hatte.

Es kostete mich fast eine Minute und zwei Tomaten, um mich zu meinen nächsten Worten durchzuringen. Finn mochte ausnahmsweise einmal recht haben, aber ich hasste es, das vor ihm zuzugeben. Er neigte zu Schadenfreude.

»Hey, dieser Urlaub, von dem du gesprochen hast …«

»Ja?«, fragte Finn und selbst in diesem einen Wort schwang schon ein gehöriges Maß an Selbstzufriedenheit mit.

Ich seufzte, weil ich wusste, wann ich geschlagen war. »Wann brechen wir auf?«

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2

Drei Tage später, am Donnerstag, saß ich in einem silbernen Aston-Martin-Cabrio. Die Sonne schien am strahlend blauen Himmel, das Dach war offen und der Wind zerzauste meine Haare zu einem hoffnungslosen Knoten.

Und ich war nicht allein.

Meine Schwester, Detective Bria Coolidge, sang einen Sommerhit nach dem nächsten mit, während sie das Auto über die schmale zweispurige Straße lenkte. Ihre blonde Mähne glänzte in der Frühlingssonne wie Honig, die warmen Strahlen hatten ihre Wangen bereits rosa gefärbt. Eine riesige Sonnenbrille verbarg ihre blauen Augen und ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen.

»Komm schon, Gin«, quengelte Bria. »Sing mit mir! Ich weiß, dass du die Lieder kennst.«

Ich zog meine Sonnenbrille tiefer und sah sie über den Rand der dunklen Gläser an. »Tut mir leid«, meinte ich. »Profikiller singen nicht – niemals.«

Bria schnaubte nur, dann drehte sie das Radio lauter.

Im Auto, das eine widerwillige Leihgabe von Finn war, saßen nur wir beide. Mein Ziehbruder sammelte Autos wie andere Leute Streichholzbriefchen von Kneipen und dieses Cabrio war der neueste Zuwachs seiner geliebten Sammlung.

»Versucht ihn nicht mit Blut zu besudeln, okay?«, hatte er heute Morgen vor dem Pork Pit gegrummelt. »Eigentlich solltest du in einem Ein-Meter-Radius um mein Baby herum nicht mal an Blut denken. Nein, warte. Sagen wir in einem Drei-Meter-Radius. Wäre es zu viel verlangt, wenn ich dich um fünf Meter Abstand bitte?«

Bria hatte sich vorgelehnt und ihm die Schlüssel aus den Fingern gezogen. »Mach dir keine Sorgen, Baby. Ich werde mich gut um dein Schätzchen kümmern, das verspreche ich. Das Wochenende steht unter dem Motto ›Kein Blut und keine Leichen‹.«

Finn musterte sie schlecht gelaunt, weil sie sich über seine Ängste lustig machte, doch der Ausdruck in seinen grünen Augen war warm und sanft, als er sich vorlehnte, um sie zum Abschied zu küssen. Trotz seiner Zeit als Frauenheld hatte er sich heftig in meine Schwester verliebt – und sie sich in ihn. Sie passten zusammen. Brias ruhiger, nachdenklicher Charakter war ein gutes Gegengewicht zu Finns ungestümem Wesen und er brachte sie zum Lachen, wann immer sie es am dringendsten brauchte.

»Also«, sagte er, als er vom Auto zurücktrat, »habt Spaß, Mädels.«

»Keine Sorge«, meinte ich. »Das werden wir.«

Finn beäugte mich. »Das sagst du jetzt, Gin. Aber lass uns doch ehrlich sein: Deine Definition von Spaß unterscheidet sich sehr von der anderer Leute. Und genau das macht mir Sorgen.«

»Ich bin mit Bria zusammen. Kein Blut und keine Leichen an diesem Wochenende. Großes Indianerehrenwort.«

Ich legte eine Hand aufs Herz und streckte zwei Finger der anderen in die Luft, aber Finn schüttelte nur mit einem ungläubigen Schnauben den Kopf. Das konnte ich ihm nicht mal verübeln. Ärger hatte die Angewohnheit, mich zu finden, ob ich es nun wollte oder nicht.

Das war vor mehreren Stunden gewesen und inzwischen hatten wir unser Ziel fast erreicht: Blue Marsh, eine piekfeine Küstenstadt auf einer der Küste vorgelagerten Insel, die auf der Achse zwischen Georgia und South Carolina lag, nur einen Katzensprung von Savannah entfernt.

Es war meine Idee gewesen, die Fahrt hier runter in einen Road Trip nur für uns beide zu verwandeln, da Finn und Owen Grayson, mein Freund, noch bis morgen in Ashland zu tun hatten. Finn setzte seine Fähigkeiten als Investmentbanker ein, um irgendeinen riesigen, supergeheimen Deal für Owen abzuwickeln, der einer der wohlhabendsten und mächtigsten Geschäftsleute von Ashland war. Ich kannte keine Details und ich wollte sie auch gar nicht kennen, denn Finn hielt sich in seinem Job meistens genauso wenig an Recht und Gesetz wie ich in meinem.

Ich war froh, dass die Jungs noch nicht bei uns waren, weil mir das die Chance eröffnete, ein paar schöne Stunden mit meiner Schwester zu verbringen – etwas, was wir gerade mehr brauchten als jemals zuvor. Obwohl Bria bereits vor mehreren Monaten wieder in mein Leben getreten war, konnte ich einfach nicht anders, als sie anzustarren, wann immer wir zusammen waren. Und das tat ich nicht nur, weil sie so schön war. Mir – uns – waren über die Jahre so viele schlimme Dinge zugestoßen, dass ein kleiner Teil von mir einfach nicht anders konnte, als sich zu fragen, wann es enden würde. Wann ich aus diesem wunderbaren Traum aufwachte, in dem Bria wieder Teil meines Lebens war. Diesem Traum, in dem wir versuchten, wieder eine Familie zu sein, Schwestern zu werden. Verdammt, in dem wir vorgaben, Freunde zu sein statt Fremde, die zufällig dieselbe Magie und Gene teilten – Fremde, die sich immer weiter voneinander zu entfernen schienen, statt sich anzunähern, egal wie sehr ich mich auch anstrengte.

Die Wahrheit lautete, dass mich meine kleine Schwester jetzt, wo Mab tot war, nicht mehr brauchte, um sie zu beschützen. Die Gefahr war vorüber, die Bedrohung Vergangenheit. Bria war frei, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten – mit mir oder ohne mich. Die Aussicht, dass sie sich entscheiden könnte, ein Leben ohne mich zu führen, jagte mir mehr Angst ein, als ich es je irgendwem eingestehen wollte – sogar mir selbst nicht.

Deswegen war mir diese Reise so wichtig und deswegen hatte ich vorgeschlagen, dass wir einen Tag früher fuhren. Ich wollte Bria kennenlernen – die echte Bria. Die Person, die sie war, wenn sie nicht gerade Bösewichte jagte, von Mab bedroht wurde oder auf andere Art in Gefahr schwebte.

Dieses Wochenende musste gut werden, sollte entspannt und lustig und sorglos sein. Ich wollte Bria zeigen, dass an mir mehr dran war als meine Tätigkeit als »die Spinne« – dass uns mehr verband als ein Kampf gegen eine gemeinsame Feindin und ein Geschwisterverhältnis, das eigentlich nur auf dem Papier existierte. Ich konnte nur hoffen, dass Bria genauso empfand – dass ihr bewusst war, dass zwischen uns ein besonderes Band war. Etwas, was es wert war, bewahrt zu werden.

»Was starrst du so?«, fragte Bria, als der letzte Song auf der CD verklang. »Habe ich eine Fliege auf den Zähnen kleben oder irgendwas?«

»Dich«, antwortete ich. »Ich starre dich an, weil du … glücklich wirkst.«

Ich hatte Bria nur selten so gelöst gesehen, seitdem sie letztes Jahr nach Ashland zurückgekehrt war. Nachdem Mab vor vielen Jahren den Rest unserer Familie umgebracht hatte, waren wir getrennt worden. Jede von uns hatte geglaubt, die andere wäre tot. Ich hatte auf der Straße gelebt, Bria war von einer Familie in Savannah adoptiert worden. Aber mein Mentor, Fletcher Lane, hatte es geschafft, uns nach seinem Tod zusammenzubringen. Er hatte mir ein Foto von Bria hinterlassen, um mich wissen zu lassen, dass sie noch lebte. Ihr hatte er ein Bild von der Spinnenrunen-Narbe in meinen Handflächen geschickt. Das Ergebnis war, dass wir uns auf die Suche begeben hatten. Aber unsere Wiedervereinigung war alles andere als glatt verlaufen.

Bria war Polizistin – eine der wenigen ehrlichen Beamten in Ashland – und sie war entschlossen gewesen, die wahre Identität der Spinne aufzudecken und sie – mich – vor Gericht zu bringen. Als Bria herausgefunden hatte, dass ihre lange verloren geglaubte große Schwester Genevieve Snow als Erwachsene zu einer berüchtigten Auftragskillerin geworden war, nun … Lasst uns einfach sagen, es war für sie nicht unbedingt die beste Nachricht.

Seitdem arbeiteten wir an unserer Beziehung. Ich hatte gedacht, wir hätten echte Fortschritte gemacht – bis Mab Bria vor einigen Wochen entführt hatte. Die Feuermagierin hatte ihre grausame Magie verwendet, um Brias Haut an manchen Stellen bis auf den Knochen zu verbrennen. Folter war etwas, wofür die Feuermagierin eine echte Begabung besessen hatte. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Mein Blick huschte zu Brias Kehle und der Steinsilberrune, die sie an einer Kette um den Hals trug. Eine Schlüsselblume, das Symbol für Schönheit. Ich hatte einst eine ähnliche Kette besessen, nur dass mein Anhänger die Form einer Spinnenrune hatte. In der Nacht, in der Mab den Rest meiner Familie ermordet hatte, hatte sie mein Medaillon zwischen meine Hände geklebt und dann ihre Feuermagie eingesetzt, um das Metall zu erhitzen, bis es in meine Haut eingeschmolzen war und mich für immer mit zwei identischen Narben gezeichnet hatte.

Als könnte Bria meine Gedanken hören, begann sie damit, an den zwei Steinsilber-Ringen herumzuspielen, die sie an ihrem linken Zeigefinger trug. In eines der schmalen Metallbänder waren Schneeflocken eingraviert, während sich über das andere Efeuranken zogen – die Runen, die unsere Mutter Eira und unsere ältere Schwester Annabella getragen hatten. Die Schneeflocke für eisige Ruhe, die Efeuranke für Eleganz.

Ein fast identischer Ring, der meine Spinnenrune zeigte, glitzerte an meinem rechten Zeigefinger. Bria hatte die Ringe als Erinnerung an unsere Familie anfertigen lassen und jahrelang getragen. Sie hatte mir meinen Ring zu Weihnachten geschenkt. Ich war keine große Schmuckträgerin, aber dieses Geschenk trug ich jeden Tag, in der Hoffnung, dass Bria verstand, wie viel er – und sie – mir bedeutete.

»Ich bin glücklich«, sagte Bria schließlich. »Es ist nett, mal wieder heimzufahren, verstehst du? Blue Marsh war sehr lange Zeit mein Zuhause. Ich vermisse eine Menge Dinge dort. Den Sand, die Sonne, die Ruhe. Besonders die Ruhe.«

Es schwang kein Groll in ihrer Stimme mit, kein Sarkasmus und auch kein Anflug von Bissigkeit und trotzdem trafen mich ihre Worte mitten ins Herz. Manchmal fragte ich mich, ob es Bria nicht besser ergangen wäre, wenn sie nie erfahren hätte, dass ich noch lebte. Sie hatte so viel durchlitten, war meinetwegen brutal gefoltert worden und fast gestorben. Bria sprach nicht viel über das, was Mab ihr angetan hatte, doch ich konnte das Entsetzen in ihren Augen sehen, wenn ihre Gedanken sich wieder dieser Nacht zuwandten – dieser langen, dunklen Nacht, in der sie der Feuermagierin ausgeliefert gewesen war.

Außerdem konnte ich spüren, dass sie von mir enttäuscht war – und tief in sich auch wütend. Oh, Bria versuchte es zu verstecken, doch die Wut kochte ständig in ihr, direkt unter der ruhigen Oberfläche, die sie der Welt präsentierte. Ich konnte das Gefühl in ihren Augen lodern sehen, wann immer sie mich ansah, und erkannte es daran, wie Bria erstarrte und die Hände zu Fäusten ballte, wenn ich mich in ihrer Nähe aufhielt. Meine Schwester machte mich dafür verantwortlich, dass Mab sie gefoltert hatte; ein Teil von ihr wollte mich angreifen, mich vielleicht sogar so verletzen, wie die Feuermagierin sie verletzt hatte. Ich wusste, dass Bria versuchte, diese Wut zu überwinden, dass sie sich genauso sehr bemühte wie ich auch – aber keiner von uns schien wirklich zu wissen, was er tun oder zum anderen sagen sollte.

Mehr als einmal hatte ich darüber nachgedacht, mich bei ihr dafür zu entschuldigen, wer und was ich war; für das, was sie meinetwegen erlitten hatte. Doch ich wusste, dass es nicht helfen würde. Fletcher hatte mir immer erklärt, dass Entschuldigungen nur leere Worte waren und letztendlich nur Taten zählten. Doch sosehr ich mich auch anstrengte, mir fiel einfach nichts ein, was ich tun oder sagen konnte, um diese Kluft zu überwinden, die sich erneut zwischen Bria und mir aufgetan hatte.

»Am meisten vermisse ich Callie«, fuhr sie fort.

Die Callie, von der sie sprach, war Callie Reyes, Brias beste Freundin seit Kindertagen. Als Finn den gemeinsamen Urlaub zum ersten Mal erwähnt hatte, hatte Bria sofort Blue Marsh als Ziel vorgeschlagen. Anscheinend war sie seit ihrem Umzug nach Ashland ganz versessen darauf, zurückzukehren und Callie zu besuchen. In den letzten paar Tagen hatte Bria nonstop über ihre Freundin geredet; wie sehr sie sich darauf freute, sie wiederzusehen. Die beiden hatten bereits Pläne geschmiedet, wie sie die Zeit miteinander verbrachten, wenn Callie nicht arbeiten musste – Pläne, in die Bria mich nicht einbezogen hatte. Das verletzte mich tiefer, als ich erwartet hatte. Doch im Moment hätte ich alles getan, um meine Schwester glücklich zu machen – selbst wenn das bedeutete, sie unseren gemeinsamen Urlaub mit jemand anderem verbringen zu lassen.

»Ich kann es kaum erwarten, Callie wiederzusehen«, fügte Bria hinzu. »Und ich kann einfach nicht glauben, dass sie losgezogen ist und sich verlobt hat, ohne mir den Kerl vorher vorzustellen. Sie scheint ziemlich verrückt nach ihm zu sein, aber ich muss ihn trotzdem erst mal abchecken und überprüfen, dass er sie ordentlich behandelt. Meine beste Freundin kann nicht einfach irgendwen heiraten, verstehst du? Callie war immer für mich da, besonders als meine Eltern gestorben sind. Ich will einfach sichergehen, dass sie den richtigen Mann gefunden hat.«

»Natürlich willst du das«, sagte ich locker in dem Versuch, mich ihrer heiteren Laune anzupassen. »Ich weiß ja, wie viel sie dir bedeutet, und ich freue mich schon drauf, sie kennenzulernen. Vielleicht können wir ja mal zusammen was trinken gehen und uns richtig kennenlernen.«

Schweigen. Wieder einmal fühlte ich, wie diese Wut von Bria auf mich abstrahlte – dieses Mal, weil ich versucht hatte, mich an sie und ihre bessere Hälfte dranzuhängen.

»Sicher«, sagte Bria, mehrere Sekunden zu spät, um glaubhaft zu wirken. »Das wäre witzig.«

Unangenehme Stille erfüllte das Auto, sodass der strahlend schöne Tag plötzlich dunkler wirkte als noch Sekunden zuvor. Bria startete die CD erneut, doch diesmal sang sie nicht mit. Stattdessen umfasste sie das Lenkrad fester und gab Gas, als wollte sie, dass wir so schnell wie möglich ankamen.

Ich seufzte, lehnte mich im Sitz zurück und schloss die Augen, wobei ich mir wünschte, der Fahrtwind könnte meine Sorgen so einfach verwehen, wie er meine Haare verknotete.

Eine Stunde später fuhr Bria über eine Brücke, bog von der Straße ab und lenkte das Auto durch ein offen stehendes schmiedeeisernes Tor, das sich inmitten einer drei Meter hohen Mauer aus weißem Stein öffnete. Eine goldene Plakette auf einem der Türpfosten verkündete »The Blue Sands, seit 1899«.

Wir folgten einen guten Kilometer lang der gewundenen Auffahrt aus glattem weißem Kopfsteinpflaster. Ein luxuriöser Achtzehn-Loch-Golfplatz erstreckte sich links von uns wie ein smaragdgrüner Teppich, während rechter Hand der Strand wie ein bronzefarbener Diamant glänzte. Kleine Haine aus Pfirsich- und Pekannussbäumen, unterbrochen von Palmen, erhoben sich am flachen Horizont und das Flimmern der schwülen Luft schien das stetige Heben und Senken des Meeres zu imitieren.

Das imposante Blue Sands Hotel lag zwischen dem Golfplatz und dem Strand. Das Gebäude erhob sich eindrucksvolle dreißig Stockwerke in die salzige Meeresluft. Die Fassade aus weißem Stein passte zu der Mauer um das Gelände und das Kopfsteinpflaster, über das wir gerade fuhren. Balkone mit filigranen Geländern zogen sich über die verschiedenen Stockwerke wie Efeu aus Metall bis zum Dach aus rotem Schiefer. Sicher hatte man von dort oben einen wunderbaren Strandblick.

Ich konzentrierte mich, rief meine Elementarmagie und lauschte dem Geflüster der Steine des Hotels. Ich vernahm ein entspanntes Murmeln, das von Tagen in der Sonne und jeder Menge Sand sprach und von Alkohol am Abend, den die tausend Leute getrunken hatten, die hier über die Jahre Zimmer gemietet hatten. Dies war ein Ort, an den man reiste, um Sonne und Seeluft zu genießen, mit einer Flasche Kokosnussöl in der einen und einem frisch gemixten Mojito in der anderen Hand. Das lockere, fröhliche Wispern der Steine erinnerte mich fast an das träge, zufriedene Murmeln, das die Ziegel des Pork Pit von sich gaben.

Bria hielt den Aston Martin am Ende einer langen Schlange von Autos an, die nur darauf warteten, von den Parkwächtern abgestellt zu werden, dann stiegen wir aus dem Cabrio. Ich schob mir die Sonnenbrille auf den Kopf und blinzelte in die gleißende Sonne, um anschließend meinen Blick über alles und jeden um uns herum gleiten zu lassen. Die Männer in ihren teuren Poloshirts mit den schweren Golftaschen über der Schulter, die in schicke Golfwagen sprangen, um zum richtigen Loch zu fahren. Ihre perfekt gebräunten, durchtrainierten Ehefrauen und Freundinnen. Die Parkwächter und Pagen in weißem Leinenjackett und passender Hose, die darauf bedacht waren, alle zufriedenzustellen und sich so ein gutes Trinkgeld zu verdienen.

»Hier sind wir untergebracht?«, fragte ich. »Das ist ein wenig … öffentlicher als das, was ich mir so vorgestellt hatte.«

Ich mochte mich ja im Urlaub befinden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich in meiner Wachsamkeit nachlassen konnte. Ich hatte in Ashland und über die Stadtgrenzen hinaus eine Menge Leute getötet und traute meinen Feinden durchaus zu, mich auch hier aufzuspüren. Das Blue Sands Hotel war nicht gerade der Inbegriff der Isolation und Einsamkeit.

Bria zuckte mit den Achseln. »Na ja, es war meine Idee, dass wir das Wochenende hier verbringen, und Finn hat mich gebeten, ihm eine Unterkunft zu empfehlen, da ich ja auf der Insel aufgewachsen bin. Das ist das schickste Hotel auf Blue Marsh. Und du weißt ja, wie er ist.«

Finnegan Lane liebte die schönen Dinge des Lebens. Tatsächlich war »lieben« noch ein zu schwaches Wort, um seinen Hang zum Luxus zu beschreiben – eigentlich traf »besessen« eher den Punkt. Mein Ziehbruder musste immer das Beste von allem haben, ob es nun um den neuesten Aston Martin, einen herausragenden Wein, ein dekadentes und unglaublich teures Fünf-Sterne-Dinner oder einen schicken neuen Anzug ging, der ihm auf den Leib geschneidert war.

»Das Blue Marsh gehört zu den besten Wellness-Hotels an der Ostküste«, fuhr Bria fort. »Sobald ich Finn das erzählt hatte, hatte er auch schon reserviert.«

»Natürlich«, murmelte ich.

Finns Zuneigung zu den erlesenen Dingen des Lebens schloss auch mit ein, sich so oft wie nur möglich verwöhnen zu lassen. Er war sich seiner Männlichkeit sicher genug, um alles mal auszuprobieren – von einer Maniküre über eine Seegras-Gesichtsmaske bis hin zu Ganzkörpermassagen. Manchmal konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Finn mehr Mädchen war als ich.

Ein Parkwächter trat zu uns, nahm Bria den Cabrioschlüssel ab und öffnete den Kofferraum für einen Pagen, der sofort damit begann, unsere Taschen auf einen schicken Gepäckwagen zu laden. Der Page schnaufte ein bisschen, als er meinen Koffer auslud. Als er ihn auf dem Wagen abstellte, klirrte es darin, als hätte ich das Gepäckstück mit Kleingeld gefüllt, das darin herumrutschte. Der Page zog die Augenbrauen hoch und warf mir einen kurzen Blick zu, weil er sich offensichtlich fragte, was für das Gewicht des Koffers verantwortlich war.

»Meine Lieblings-Golfschläger«, flötete ich fröhlich. »Beide Sätze. Ich bin gern vorbereitet.«

Ich hatte noch nie in meinem Leben Golf gespielt und hatte auch nicht vor, damit anzufangen. Auch wenn ich mir keineswegs zu fein war, jemanden mit einem Golfschläger zu Tode zu prügeln, falls die Situation es erforderte.

Der Page zuckte mit den Achseln und griff nach der nächsten Tasche. Hinter seinem Rücken zog Bria die Sonnenbrille herunter und musterte mich misstrauisch, aber ich schenkte ihr nur ein fröhliches Lächeln. Wenn meine Schwester wirklich glaubte, ich würde meine Steinsilber-Messer und die anderen Utensilien meines blutigen Gewerbes zu Hause lassen, nur weil wir für ein paar Tage an den Strand fuhren … nun, dann kannte sie mich wirklich nicht besonders gut. Leider deprimierte mich dieser Gedanke mehr, als er es hätte tun dürfen.

Finn hatte unsere Suite für die Nacht auf Brias Namen gebucht, also kümmerte sie sich ums Einchecken, während ich ein Auge auf unser Gepäck hatte. Etwa zwanzig Minuten später grunzte der Page erneut, als er meinen Koffer auf das Bett wuchtete. Bria drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand, dann schob er seinen Gepäckwagen aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.

Ich hätte mich vielleicht nicht für dieses Hotel entschieden, aber selbst ich musste zugeben, dass Finn uns eine eindrucksvolle Suite gebucht hatte. Die drei luxuriösen Schlafzimmer waren mit einem Kingsize-Bett, Bergen von Kissen und einem gigantischen Flachbildfernseher eingerichtet, während die dazugehörigen Bäder riesige Porzellanbadewannen auf goldenen Klauenfüßen aufzuweisen hatten, neben denen weiße Weidenkörbe voller teurer Seifen und nach Blumen duftender Cremes standen. Die Schlafzimmer gingen von einem riesigen zentralen Wohnzimmer ab, dessen Möbel in verschiedenen Schattierungen von Weiß, Schwarz und Grau gehalten waren. Ergänzt wurde das Ensemble von einer voll ausgestatteten Küche und einer Hausbar, in der fast so viele verschiedene Alkoholsorten standen wie im Northern Aggression, dem Nachtclub, den wir in Ashland gern besuchten. Zwei doppelflügelige Glastüren öffneten sich auf eine voll möblierte große Balkonterrasse, die einen perfekten Meerblick bot.

»Und jetzt?«, fragte ich, während ich Bria dabei beobachtete, wie sie sich die verschiedenen Infoblätter für den Zimmerservice und die Wellness-Landschaft durchsah, die auf dem Küchentresen lagen.

»Was meinst du mit: ›Und jetzt?‹ Jetzt gehen wir auf Erkundungstour. Du weißt schon, schauen uns die Sehenswürdigkeiten an, kaufen ein paar Souvenirs, so Zeug eben, bevor wir uns später am Tag mit Callie treffen.« Bria sah mich an. »Du hast vorher noch nie Urlaub gemacht, oder?«

Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Aber natürlich. Ich war letzten Herbst in Key West.«

Ich erzählte Bria nicht, dass ich einen Großteil meiner Zeit in diesem Urlaub damit verbracht hatte zu lesen, zu trinken und über verschiedene Dinge nachzugrübeln, inklusive den Mord an Fletcher und meine seltsame Beziehung zu Donovan Caine – einem Cop, mit dem ich etwas gehabt hatte, bevor er mich abgesägt und Ashland für immer hinter sich gelassen hatte.

»Also?«, sagte sie und schnappte sich ihre Handtasche vom Sofa. »Bist du bereit?«

»Darauf kannst du wetten.«

Bria schien den Sarkasmus in meiner Stimme nicht zu bemerken und da sie sich bereits der Tür zugewandt hatte, sah sie auch nicht, wie mir das gezwungene Lächeln aus dem Gesicht rutschte. Wir waren gerade erst angekommen, aber ich konnte schon jetzt sagen, dass es ein sehr langes Wochenende werden würde.

Aufgepasst, Touristen und Einheimische! Gin Blanco ist auf der Jagd.

Einer der Parkwächter holte das Cabrio und wir fuhren los. Das Hotel-Resort lag nah an einer der langen, schmalen Brücken, welche die Insel und die Stadt Blue Marsh mit der Außenwelt verbanden. Doch statt über die Brücke zu fahren, bog Bria links ab und fuhr ins Inselinnere.

Je weiter wir kamen, desto mehr veränderte sich die Landschaft von glatten, sandigen Stränden zu zähflüssigem Sumpf voller Rohrkolben, die höher wuchsen als mein Kopf, und grauen Zypressen, die von Lousianamoos überwuchert wurden. Aber trotz der dichten Vegetation spiegelte sich immer wieder der strahlend blaue Himmel im stillen, flachen Wasser, bis es wirkte, als leuchtete der Sumpf genauso hell und strahlend wie der azurblaue Himmel. Daher kam wahrscheinlich der Name Blue Marsh. Zumindest vermutete ich das.

Aber das Sumpfland war alles andere als verlassen. Hinter den knorrigen Bäumen entdeckte ich Dutzende von Herrenhäusern, die sich auf den Hügeln in der wasserdurchfluteten Landschaft erhoben, daneben Einkaufszentren, Coffee Shops und teure Restaurants. Sah aus, als wäre Blue Marsh ein Zentrum des Südens.