Strohmeyer_Ondragon_Bd4_Seelenflut.jpg

Ondragon: Seelenflut

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 4«

I. Auflage © 2016

ISBN 978-3-942261-76-0

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2016 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen!

Ivar Leon Menger

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Ondragons ewige Musikliste

Weitere Romane der „Ondragon“-Reihe

Widmung

für

Lenchen und Andi

Prolog

heute

8. Juli 2012

Khao Lak, Thailand – weit nach Mitternacht

„Mann, was für ein geiler Abend!“ Jerry Price streckte sich auf der Liege am nächtlichen Pool aus. Die Beleuchtung des großen Schwimmbeckens tauchte die Palmen ringsum in bläuliches Licht und ließ die Gesichter seiner Freunde aussehen wie die von Wasserleichen.

Jerry kicherte. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Dose, Jim Beam mit Cola. Die Hotelbar hatte leider schon geschlossen. Mieser Service für einen Fünf-Sterne-Luxusbunker. Hier wurde mehr auf gepflegte Nachtruhe und Schönheitsschlaf Wert gelegt. Die Party-Hotels waren woanders. Das hatten sie ihnen an der Rezeption mit herablassender Miene mitgeteilt. Aber was sollte man machen? Wer den ganzen Tag faul am Strand herumdöste, war nachts einfach gut drauf!

„Geile Nacht! Das kannst du laut sagen, Jerry.“ Alan seufzte wohlig. „Und dieser Sternenhimmel. Einfach nur geil!“

„Sternenhimmel? Was bist du denn für ‘ne Tunte?“ Jerry lachte etwas zu laut. Er hatte in verschiedenen Bars ordentlich was weggekippt. Wie seine beiden Kumpels.

„Ja, aber …“

„Wir sind doch nicht hier in Thailand, um den Sternenhimmel anzuglotzen, Al! Den haben wir in Sydney schließlich auch. Die Augen deiner neuen Thaifreundin sind doch viel hübschere Sternchen, oder etwa nicht?“

„Ja, schon …“

„Und erst ihre Titten …“

„Ich glaube, wir gehen jetzt lieber zum Bungalow, Jerry“, sagte Greg. „Wir haben ganz schön einen getankt.“

„Was denn? Ihr wollt schon gehen? Ich dachte, wir machen noch ‘n flotten Dreier mit ein paar Mädels hier aus dem Ort.“

„Lass gut sein, Jerry. Morgen ist auch noch ein Tag. Al und ich wollen ins Bett.“

„Ins Bett? Ihr Pussies! Pah, dann geht doch, ich bleibe hier.“

„Okay, wir sehen uns dann morgen beim Frühstück.“

„Ja, ja, haut schon ab, das Sandmännchen ruft nach euch!“ Jerry machte eine ruckartige Bewegung mit dem Arm, und aus seiner Dose schwappte Jim Beam mit Cola auf die Gehwegplatten. Er sah, wie Alan und Greg den beleuchteten Weg zu ihrem Bungalow einschlugen, der sich am anderen Ende der luxuriös gestalteten Hotelanlage befand.

„Verdammte Weicheier!“ Beleidigt ließ sich Jerry zurück auf die Liege fallen. Das Rauschen der Brandung, die nicht weit entfernt vom Hotel an den Strand rollte, drang an sein Ohr, über ihm ging ein Windstoß durch die Palmenwipfel. Träge schloss Jerry die Augen, lauschte den Geräuschen und nickte ein.

Als er aufwachte, war es noch immer dunkel, und der Wind hatte aufgefrischt. Jerry fröstelte. Als er aufstand, überkam ihn ein jäher Schwindel, und er hielt sich an einem zusammengeklappten Sonnenschirm fest. Ihm war hundeelend. Alles drehte sich vor seinen Augen, und er musste sauer aufstoßen. Der Geschmack von Piña Colada gepaart mit fettiger Frühlingsrolle kam hoch.

„Scheißsüßes Zeug! Ich weiß schon, warum ich lieber Bier trinke“, murmelte Jerry vor sich hin und taumelte mit unsicheren Schritten in Richtung der Bungalows. Nach ein paar Metern fiel ihm ein, dass er seine Baseballkappe vergessen hatte. Er ging zurück und klaubte die Mütze mit einem Ächzen von der Liege. Dabei blieb sein Blick an einem weißen Kleid hängen, das auf dem Boden lag. War das eben schon da gewesen?

Jerry hob es auf und betrachtete es. Es war so ein luftiges Baumwollteil. Er roch daran. Ein leichter Parfumduft hing im Stoff und noch etwas anderes. Etwas Muffiges, Schlammiges. Mit einem Stirnrunzeln ließ er das Kleidungstück auf die Liege fallen. Wahrscheinlich hatte es eine dieser Upperclass-Tussis am Pool vergessen. Na ja, morgen würde die Besitzerin es schon finden.

Jerry wandte sich ab. Da begann das Licht im Pool zu flackern. An und aus, an und aus, wie in einer Geisterbahn. Und plötzlich erlosch es ganz. Undurchdringliche Dunkelheit umfing ihn. Jerry fluchte leise. Warum musste das Hotelpersonal ausgerechnet jetzt die Lampen ausschalten? Er streckte einen Arm aus, um sich den Weg zu ertasten, da ging das Licht wieder an. Geblendet vom türkisfarbenen Schein des Pools hob Jerry eine Hand vor die Augen. Sein kleiner Zeh stieß schmerzhaft gegen einen Tisch.

„Au! So eine Scheiße! Mann, was soll denn das mit dem Licht?“ Er blickte über den Pool zur Bar. Aber dort war niemand. Er war vollkommen allein. Wieder flackerte das Licht, ging aus und wieder an.

War das ein Wackelkontakt, oder erlaubte sich da jemand einen Spaß mit ihm?

„Greg? Alan? Seid ihr das?“

Niemand antwortete. Wahrscheinlich hockten die beiden Spinner irgendwo dort drüben hinter der Bar und lachten sich einen. Na, die konnten was erleben!

Jerry steuerte wankend um den Pool herum auf die Bar zu, musste jedoch mehrmals anhalten und abwarten, bis die Welt wieder etwas weniger um ihn kreiste. Vielleicht hätte er doch nicht so viel saufen sollen. Außerdem verursachte das stroboskopartige Flackern der Poollichter ein Übelkeit erregendes Flimmern vor seinen Augen … und in seinem Hirn.

Das reichte! Jetzt übertrieben die Jungs es aber!

Jerry sah auf und versuchte, durch den ständigen Wechsel von hell zu dunkel etwas zu erkennen. Stand da nicht jemand hinter dem Tresen? Er schirmte die Augen ab. Ja, da war ein Schatten. Aber war das einer seiner Freunde? Jerry ging weiter, machte deutlich weniger Schlangenlinien als zuvor, wie er fand, und musste sich auch nicht mehr überall abstützen. Langsam näherte er sich der Bar, doch kurz bevor er sie erreichte, erlosch das Flackern mit einem summenden Geräusch, und Jerry stolperte blindlings durch die Finsternis. Sein Fuß stieß erneut gegen einen Gegenstand, einen dieser hässlichen Steinelefanten, die den Pool als Dekoration säumten. Laut fluchend verlor er das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in das dunkle Schwimmbecken. Das kalte Wasser legte sich wie eine zweite Haut um seinen Körper und drang sprudelnd in seine Nase ein. Jerry ruderte mit den Armen und kam prustend wieder an die Oberfläche.

„Verfickt noch mal! Diese verdammten Scheiß-Elefanten!“ Er schwamm zum Rand und wollte danach greifen, da streifte etwas seinen Fuß. Er fuhr herum. Doch hinter ihm war nichts. Kein Mensch, kein Schwimmtier, das von Kindern vergessen worden war, nur Dunkelheit.

„Alan? Greg? Seid ihr das? Wenn ja, dann helft mir aus dem Pool! Hört ihr mich?“

Noch immer Stille – bis auf ein leises Plätschern, als rühre jemand mit der Hand im Wasser herum. Jerry blickte in die Richtung. Doch niemand war zu sehen.

Mann, verursachte Alkohol jetzt auch schon Verfolgungswahn? Normalerweise bekam man den doch nur vom Kiffen. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte das Betelnusspäckchen nicht gegessen, das ihm der alte Mann mit der hässlichen Hose heute am Strand verkauft hatte. Verdammte Drogen!

Jerry spürte, dass seine Zähne klapperten, und er begann, erneut zu schwimmen. Kurz vorm Rand streckte er seine Hand aus, da spürte er es wieder. Etwas berührte seinen Knöchel. Er wollte sich umdrehen, da umklammerte es ihn plötzlich und zerrte ihn mit Gewalt zurück ins tiefe Wasser.

„Verdammt, lasst die Scheiße! Alan! Greg! Das ist nicht lustig!“ Gepackt von Angst strampelte Jerry im Wasser, doch der Griff um seinen Fuß blieb eisenhart. Langsam begann er, ihn unter Wasser zu ziehen. Jerry wehrte sich mit Händen und Füßen, schlug um sich, aber schon wenige Sekunden später war sein Kopf unter Wasser. Er presste die Lippen aufeinander und riss die Augen auf, konnte in dem dunklen Wasser jedoch nichts erkennen.

Wild rudernd wollte er sich an die Oberfläche zurückkämpfen, doch die unsichtbare Kraft, die an seinem Knöchel zog, war stärker.

Mit einem Mal sprangen die Lampen im Pool wieder an und hüllten ihn in hellblaues Licht. Endlich hatte jemand seine Not bemerkt. Man würde ihn sicher gleich rausholen. Geblendet schaute Jerry nach oben und erkannte, dass er sich schon sehr weit von der Oberfläche entfernt hatte. Wie ein schwarzes Tuch lag der Nachthimmel über dem Pool, als gehöre er zu einer anderen Welt, aber niemand erschien dort oben. Hatte man ihn doch nicht gesehen, und lag es nur an diesem verdammten Wackelkontakt, dass die Lampen wieder angegangen waren?

Die Luft in seinen Lungen wurde knapp, und Jerry schwamm mit aller Kraft gegen den unaufhaltsamen Sog nach unten an. Das Blut hämmerte gegen seine Schläfen, und helle Lichtblitze tanzten vor seinen Augen. Es war absurd, aber genau in diesem Moment musste er an Alans Kommentar über den tollen Sternenhimmel denken. Nur dass die Sterne jetzt hier bei ihm waren, unten im Wasser. Er sah zu seinem Fuß, an dem es noch immer zog und zerrte, und erschrak. Er steckte bis zum Knöchel in einem Filterschacht. Diese Dinger, durch die das Wasser zurück ins Becken gepumpt wurde. Aber normalerweise gab es doch Schutzgitter. Warum fehlte das hier? Verdammte Schlamperei! Sollte er jetzt etwa durch die Dämlichkeit einer dieser Thai-Kanaken, die sich um den Pool kümmerten, sterben?

Jerry versuchte, seinen Fuß zu befreien, zog immer panischer daran, doch es war nichts zu machen. Er hing fest. In seinem Kopf stampfte der Kolben eines Zehnzylinders auf sein Hirn ein, zerquetschte es zu Mus. Jerry spürte, wie sich sein Denken verflüssigte, wie sein Wille aus sämtlichen Öffnungen des Schädels herausgepresst wurde. Ohne dass er es verhindern konnte, begannen seine Lippen, unkontrolliert zu zittern, und Wasser drang in seinen Mund ein. Er schluckte es, um es nicht in die Lunge zu bekommen, aber immer mehr Wasser strömte nach und bahnte sich einen Weg in seine Luftröhre. Kalt und stechend. Jerry musste husten, sein Zwerchfell verkrampfte sich, und er sog das Wasser tiefer in seine Lungen ein. Ruckartig öffnete er den Mund und wollte schreien, aber nur wenige kleine Luftbläschen kamen hervor. Sie stiegen zur Oberfläche auf, während er am Grund gefangen war. Sein ganzer Körper zuckte. Die Sterne vor seinen Augen wurden größer, flossen zusammen zu einem großen, grellen Licht, das im Rhythmus seines Herzschlags pulsierte.

Bumm bumm … bumm bumm …… bumm bumm ……… bumm bumm …………

Das berühmte Licht am Ende des Tunnels, dachte Jerry und kicherte. Was für ein abgefahrener Traum. Gleich morgen früh würde er seinen Kumpels davon erzählen. Nachdem er seinen Rausch am Pool ausgeschlafen hatte. Wenn nur diese Scheißkälte nicht wäre …

Das Licht begann zu flackern – als ob Kinder mit einem Lichtschalter spielten, allerdings mitten in seinem Kopf. Jerry wollte den Scheißbratzen zurufen, dass sie das gefälligst lassen sollten, doch kein Ton drang aus seiner Kehle. Dafür hörte er ein entferntes Kinderlachen. Es klang gemein und niederträchtig … und nicht menschlich. Plötzlich packte etwas seinen Hals und das Licht erlosch. Mit einem stummen Schrei auf den Lippen stürzte Jerry in die Schwärze.

1. Kapitel

heute

11. Juli 2012

Dubai, 18.46 Uhr

Die Fontäne schoss dreißig Meter in die Höhe, ein Krachen wie bei einem Feuerwerk war zu hören. Klatschend fiel das Wasser zurück in den künstlichen See, der bei Nacht von hunderten Lichtern illuminiert wurde. Sogleich stiegen mehrere neue Wasserstrahlen auf, um sich im Rhythmus von Michael Jacksons Thriller zu bewegen.

Paul Ondragon genoss das Spektakel am Fuße des Burj Khalifa, des höchsten Wolkenkratzers der Welt, und er war damit nicht allein. Rund um den See, der von zwei Shoppingmalls, mehreren Hotels und Restaurants gesäumt wurde, verfolgten weitere zehntausend Zuschauer begeistert das Spektakel, gegen das die Fontänen-Show vor dem Bellagio in Las Vegas eine Vogeltränke war.

Ondragon sog die laue, von allen möglichen Gerüchen parfümierte Abendluft in seine Lungen. Seit er hier in Dubai war, waren seine Gedanken etwas weniger düster. Er spürte, wie er sich allmählich zu entspannen begann. Sein Flieger war am Nachmittag gelandet, und Ondragon hatte sich von einem Taxi direkt ins Hotel fahren lassen. Ins The Address. Ein Zimmer mit Blick auf den glitzernden Turm des Burj Khalifa und die Fontänen. Wenn er schon mal hier war, dann konnte er sich auch was gönnen. Schließlich wollte er Urlaub machen. Ja, tatsächlich, Urlaub. Der erste seit zwei Jahren. Und außerdem hatte er vor, seinen Freund Roderick DeForce zu besuchen und ihn um einen Gefallen zu bitten. Nach der Sache in Berlin letztes Jahr brauchte er dringend jemanden, mit dem er reden konnte. Denn er hatte sich noch immer nicht ganz von dem Tiefschlag erholt, den er damals von seinem Vater verpasst bekommen hatte. Es war doch wirklich wunderbar, wenn man erfuhr, dass man sein ganzes Leben lang von der eigenen Familie verarscht worden war. Besonders ironisch, wenn man es sich selbst zum Beruf gemacht hatte, Geheimnisse aufzudecken und Probleme zu lösen. Was musste sein Vater über ihn gelacht haben! Unwillig verzog Ondragon das Gesicht. Wo der alte Bastard recht hatte, da hatte er recht: Er war ein Narr.

Mit finsterer Miene blickte er auf die Uhr. Es war höchste Zeit. Um sieben wollte Roderick ihn vom Hotel abholen. Unauffällig sah Ondragon sich um. Fasziniert schauten die Leute auf die springenden Wasserspiele und achteten auf nichts anderes. Nirgendwo konnte man innerhalb einer Menschenmasse so wunderbar alleine sein wie in Dubai. Ondragon liebte diese Art der Isolation. Allein und doch nicht allein. Sich treiben zu lassen durch einen Ozean von Menschen aus aller Welt und einzutauchen in ein nahezu babylonisches Sprachgewirr. Hier konnte man sich fallenlassen, relaxen, abschalten. Schlicht und einfach mal nicht paranoid sein. Nicht ständig über die Schulter schauen zu müssen, das war purer Luxus. Und deshalb genoss er jeden Augenblick, den er hier sein konnte.

Die Show war zu Ende, die Lichter auf dem Wasser erloschen, und die Menschen spendeten dem unbekannten Ingenieur des Spektakels Applaus. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen bahnte sich Ondragon seinen Weg zurück zum Hotel, das über dem See und der Shoppingmall thronte wie der gigantische Flügel einer futuristischen Raumstation.

Vor dem Haupteingang stellte er sich an den Rand des Rondells und wartete auf seinen alten Freund und Mentor. Roderick hatte darauf bestanden, ihn persönlich abzuholen und zu seinem Domizil in der Marina zu fahren.

Wenig später hielt ein weißer Sportwagen vor Ondragon. Die Fahrertür öffnete sich und ein breit grinsender Roderick stemmte sich aus dem tiefergelegten Fahrzeug. Mit federnden Schritten kam er auf Ondragon zu und streckte ihm beide Arme entgegen. Sein braungebranntes Gesicht und sein durchtrainierter Körper standen wie immer im Kontrast zu seinem schlohweißen Haar. Roderick umarmte Ondragon herzlich, was bei dem Portier des Hotels ein heiteres Schmunzeln hervorrief.

„Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Sechzigsten, Rod!“, sagte Ondragon und klopfte seinem Freund auf die Schulter.

„Oh, Mann! Musst du mich daran erinnern, Ecks? Trotzdem danke. Wenn es von dir kommt, weiß ich, kommt es von Herzen.“ Roderick zwinkerte ihm zu. „Schön, dich zu sehen! Hattest du eine angenehme Reise?“

„Emirates A 380, Upgrade in die First Class! Noch Fragen?”

Roderick lachte. „Nein, angenehmer kann man wirklich nicht fliegen. Nicht mal in meinem Privatjet. Los, steig ein.“

Ondragon faltete seine Einsneunzig auf den Beifahrersitz und machte ein beeindrucktes Gesicht. „Nette Karre.“

„Ja, ein Tesla Roadster. Von Null auf Hundert in 3,7 Sekunden! Fährt komplett mit Strom, den ich aus einer eigenen Solaranlage zapfe. Einfach unschlagbar. Die Technik der Zukunft!“

„Ja, ich weiß“, entgegnete Ondragon mit einem versonnenen Lächeln. Mit Nikola Teslas ‚Technik der Zukunft‘ hatte er letztes Jahr ein ungewolltes Zusammentreffen, über das er leider Stillschweigen bewahren musste.

Lachend gab Roderick Gas, und der Wagen glitt aus der Auffahrt. Eine halbe Stunde später erreichten sie die Dubai Marina, bogen aber nicht auf den Al Mamsha ‚The Walk‘ ab, sondern auf die Zufahrt zum Yacht-Hafen. An der Mole hielt Roderick den Tesla an und schnallte sich ab. „So, wir sind da!“

Fragend sah Ondragon nach draußen. „Wollen wir zum Hochseefischen? Ich dachte, wir fahren zu deinem Apartment.“

Roderick grinste und stieg aus. Neben dem Wagen wartete ein weißlivrierter Diener und nahm ihm mit einer Verbeugung die Autoschlüssel ab. Danach stieg der dunkelhäutige Mann in den Tesla und fuhr damit davon. Ondragon versuchte, sich nicht darüber zu wundern, denn Rod steckte immer voller Überraschungen. Er sah den Briten an, der feierlich einen Arm hob und auf eine hundert Meter lange Motoryacht zeigte.

Das ist mein Apartment!“

„Was? Das Schiff?“ Ondragon guckte ungläubig drein.

Rod nickte stolz.

„Mann, das nenne ich mal Understatement, mein Lieber! Wie lange hast du dieses schwimmende Schloss denn schon?“

„Seit zwei Monaten, war sozusagen ein Geburtstagsgeschenk.“

Ondragon las den Namen. „Invidia – Neid. Der Name ist Programm. Und gemeldet ist die Lady auf den Cayman Islands. Soso, wir wollen also ein paar Peseten sparen, was?“ Er zwinkerte seinem Freund zu.

„Nicht direkt, schließlich läuft DeForce Deliveries über ein offizielles Büro hier in Jebel Ali. Aber so eine mobile Unterkunft hat so ihre Vorteile. Man ist in kürzester Zeit in internationalen Gewässern. Das dürfte dir als Fluchtwegfanatiker eigentlich gefallen.“

„Das mit den internationalen Gewässern schon, aber nicht das mit dem Schiff. Draußen auf dem Meer ist man auf so einem Ding gefangen wie in einer Sardinenbüchse. Wie willst du denn da runterkommen, wenn‘s brenzlig wird?“

Mit einem Lächeln führte Rod ihn zum Heck der Yacht. „Kein Problem. Siehst du? Dort sind ein Motorboot mit vierhundert PS und ein Helikopter. Ich hätte dich auch zu mir einfliegen lassen können. Aber ich fahr so gern mit dem Tesla.“

„Schon klar.“ Ondragon grinste.

„Du kannst morgen auch gern dein Hotelzimmer räumen und hier einziehen, so lange du in Dubai bist. Louis, mein Küchenchef, macht dir den weltbesten Porridge zum Frühstück. Na, was hältst du davon? Nur du und ich auf dem Dampfer.“

Loveboat, oder was? Danke für das Angebot, Rod, aber du weißt, ich bin gerne unabhängig.“

„Schon gut, ich wollte es dir nur anbieten. Und nun komm, Louis wartet mit dem Dinner auf uns. Ich hoffe, du hast Appetit mitgebracht.“ Rod bestieg eine Gangway an der Seite des Schiffes und Ondragon folgte ihm. Er spürte leichte Nervosität in sich aufsteigen. Was würde Roderick sagen, wenn er ihn um den Gefallen bat?

Während sie durch die Räumlichkeiten schritten, verriet Rod ihm die technischen Daten der Invidia und wie er es geschafft hatte, die Werft in Rendsburg dazu zu überreden, ihm das gleiche Schiff zu bauen wie für den Microsoft Mitbegründer Paul G. Allen. Die Tatoosh. Ondragon hatte schon von dieser legendären Yacht gehört und auch, wie viel sie gekostet hatte. Die Geschäfte schienen für Rod momentan prächtig zu laufen. Der Arabische Frühling, Afghanistan, Syrien und mittendrin DeForce Deliveries. Ein Spezialist für bewaffnete Transporte in Krisengebieten. Eine Privatarmee, die sich um das kümmerte, was Militär und Diplomatie nicht mehr leisten konnten – oder wollten.

Sie gelangten in einen edel ausgestatteten Salon, in dem sie der Diener erwartete, der den Tesla für sie geparkt hatte. Mit einem zurückhaltenden Lächeln schenkte der junge Mann ihnen gekühlten Champagner ein. Als die Vorspeise kam, verschob Ondragon sein Vorhaben aufs Dessert und genoss das Menü. Thunfisch-Carpaccio mit Limettenjus und danach Languste in Kokossoße. Erst beim Dreierlei aus Fruchtsorbet nahm Ondragon seinen Mut zusammen und erklärte Roderick mit gedämpfter Stimme, welches Problem ihn hierhergeführt hatte.

„Und?“, fragte er mit banger Erwartung, nachdem er geendet hatte. „Wirst du mir helfen?“

„Hmm.“ Mehr sagte sein ehemaliger Mentor nicht.

Ondragon brach der Schweiß aus. Es war ihm äußerst unangenehm, jemanden um Hilfe zu bitten. Das war nie seine Stärke gewesen. Aber in diesem Fall wusste er einfach nicht mehr weiter. Er steckte in der Sackgasse und fühlte sich, als wäre er monatelang gegen eine Stahlbetonwand gerannt.

„Ich weiß, es ist nicht gerade dein Fachgebiet“, sagte er entschuldigend.

„Wohl eher nicht“, brummte Roderick.

„Wenn du mir nicht helfen willst, dann verstehe ich das. Es ist schließlich nicht ohne Risiko.“

Rod nickte und schwieg.

Eine ganze Weile lang.

Als Ondragon die Stille nicht mehr länger ertrug, sprang er von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster. „Weißt du was, Roderick? Vergiss die Sache! Ich komme alleine klar!“ Er wagte es nicht, seinen Freund anzusehen, starrte nur enttäuscht hinaus auf die glitzernde Skyline der Marina. Derweil lehnte sich Roderick auf seinem Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarre an. „Ich weiß“, sagte er zwischen zwei paffenden Zügen, „dass du mich nicht um Hilfe bitten würdest, wenn es nicht verdammt ernst wäre.“

„So ist es.“ Ondragon musste schlucken. Sein Hals war wie zugeschnürt.

Plötzlich lachte Roderick laut auf und hob beide Arme. „Mann, Ecks! Es ist doch immer wieder lustig zu sehen, wie du dich aufregst!“

Ondragon stierte ihn an. „Ha-ha! Total lustig. Wirklich.“

„Jetzt krieg dich wieder ein. Wir sind doch Freunde. Selbstverständlich helfe ich dir! Hast du etwa gedacht, ich lasse dich hängen?“

„Ich weiß nicht.“

„Na hör mal! Schließlich hast du mich damals auch nicht hängenlassen, als ein paar meiner Mailmen ein übles Spielchen mit mir treiben wollten.“ Rod stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte. „Allerdings musst du verstehen, dass ich deine Bitte nicht persönlich erfüllen kann. Ich werde einen meiner Männer damit betrauen.“

„Auf keinen Fall!“ Ondragon schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht will, dass du irgendeinem dahergelaufenen Söldner alle Informationen über mich gibst. Dann könnte ich mir ja gleich eine Kugel in den Kopf jagen. Ich will, dass du es tust, persönlich, und niemand anderer!“

„Das verstehe ich, aber es geht wirklich nicht. Ich kann hier nicht weg. Ich –“

„Verdammt, Rod, ich vertraue dir. Und nur dir!“

Roderick DeForce presste die Lippen aufeinander. „Ich weiß, Ecks, und das ehrt mich, aber dennoch kann ich es nicht tun. Ich habe da aber jemanden, dem ich mein vollstes Vertrauen schenke. Wirst du dir anhören, wer es ist?“

Ondragon zögerte. Das lief nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.

„Ecks, das ist das Einzige, was ich dir anbieten kann.“ Rod lehnte sich vor. „Ich verspreche dir, dass der Mann, den ich dafür im Auge habe, die Sache absolut diskret behandeln wird. Er ist verdammt gut, so gut wie du. Weißt du was, ich wette mit dir um diese Yacht hier, dass er sogar besser ist, als du es jemals warst!“ Er streckte ihm eine Hand hin.

Das waren große Worte, dachte Ondragon und sah prüfend in die eisblauen Augen des Briten. Doch Rod zuckte mit keiner Wimper. Er meinte es todernst.

„Na gut.“ Ondragon schlug ein. „Die Wette gilt. Wenn ich gewinne und der Knabe versagt, dann werde ich die Yacht bitter nötig haben, denn dann bin ich Freiwild und wahrscheinlich den Rest meines Lebens auf der Flucht.“

„Dazu wird es nicht kommen, das versichere ich dir.“

„Wenn du das sagst.“ Ondragon verzog das Gesicht. „Und wer ist nun dieser Mann?“

„Er ist Ägypter und heißt Nahil Hamid. Er ist neunundzwanzig – und bevor du Einwände erhebst – du warst wesentlich jünger, als du bei mir angefangen hast. Nahil arbeitet schon seit drei Jahren für mich. Er ist ein Springer und sehr talentiert, so talentiert wie du es damals warst. Und vielleicht wird er mal dein Nachfolger werden. Ich habe nämlich noch immer keinen adäquaten Ersatz für dich gefunden.“ Roderick schnalzte mit der Zunge. „Das bringt mich auf eine Idee. Ich werde diese Aufgabe als eine Art Prüfung für Nahil ansehen. Sie wird entscheiden, ob ich ihm deinen ehemaligen Job bei DeForce gebe oder nicht. Ich werde dir nachher alle Informationen über ihn mitgeben, dann kannst du bis morgen noch mal alles durchlesen.“

„Ich würde ihn aber lieber persönlich kennenlernen“, sagte Ondragon ernst.

Roderick grinste.

„Was ist?“, fragte Ondragon gereizt.

Rodericks Grinsen wurde breiter. „Du hast ihn längst kennengelernt.“

2. Kapitel

2004

Phuket, Thailand, 10.45 Uhr – noch 10 Tage bis zum Tsunami

Mit den Koffern in den Händen trat Familie Hartmann aus dem Gebäude des Flughafens von Phuket. Die Sonne schien, und es war herrlich warm, aber auch schwül. Ganz anders als im winterlichen Deutschland.

Julia Hartmann kniff die Augen gegen das helle Sonnenlicht zusammen und schaute in das Gewirr aus Fahrzeugen vor der Ankunftshalle. Dort rangelten Taxen und andere Shuttledienste um die frisch eingetroffenen Touristen, die gut zu erkennen waren am blassen Teint und dem steifbeinigen Gang, so als hätten ihre Beine nach dem 14-stündigen Flug zu gehen verlernt.

„Das Shuttle vom The Seaton müsste eigentlich da sein, um uns abzuholen“, sagte Julias Mann Michael. Er stand neben ihrem gemeinsamen Sohn Lukas und sah sich suchend um.

Julia entdeckte schließlich das Logo des Hotels – ein goldenes ‚S‘ umspült von einer stilisierten Welle. Sie zeigte auf den hellblauen Kleinbus, vor dem ein kleiner Thailänder in einem frisch gebügelten weißen Hemd stand.

„Ah, da ist es ja!“, sagte Michael und manövrierte seinen Koffer zwischen den Autos hindurch auf den Fahrer zu. Lukas folgte ihm. Seit sie in den Flieger gestiegen waren, hatte er nicht mehr als ein Dutzend Worte gesprochen. Wahrscheinlich schmollte er mal wieder.

Typisch Teenager, dachte Julia angespannt und schleppte ihr Gepäck hinter den beiden her. Als sie den Bus erreichten, legte der Fahrer zur Begrüßung beide Hände aneinander und verbeugte sich. „Welcome to Thailand.

„Wir sind die Hartmanns aus Köln“, erwiderte Michael auf Englisch und klang dabei so, als müsse der Fahrer wissen, wer sie waren.

Doch der kleine Mann nickte nur freundlich und verstaute ihr Gepäck im Bus. Nachdem noch weitere Hotelgäste zu ihnen ins Shuttle gestiegen waren, fuhren sie los. Nach Khao Lak war es eine Stunde Fahrt.

Erwartungsvoll blickte Julia durch das Fenster auf die vorbeiziehende tropische Landschaft, während sie mit einem Ohr zuhörte, wie ihr Mann, der eine Reihe vor ihr saß, sich mit den anderen Fahrgästen unterhielt. Es waren ebenfalls Deutsche, zwei befreundete ältere Pärchen aus Düsseldorf. Die Conraths und die Malers. Aus dem Gespräch ging hervor, dass sie nach Thailand gekommen waren, um der grauen Suppe in Deutschland zu entfliehen. Wie jedes Jahr würden sie Weihnachten und Silvester im luxuriösen Ambiente des Seaton verbringen. Julia mochte sie nicht. Sie rochen zu sehr nach Geld.

„Sie sind also Stammgäste!“, entgegnete Michael begeistert. „Das ist aber schön, dann sehen wir uns demnächst öfter im Hotel!“

Julia bemerkte, dass eine der Damen Michael mit einem geringschätzigen Blick musterte. Bestimmt dachte sie, dass er sich ein solch teures Hotel nicht leisten könne, so wie er aussah. Diese dämlichen Schickimicki-Ziegen mit ihren Vorurteilen, dachte sie wütend, besann sich aber sogleich wieder. Sie hörte, wie Michael den Leuten erklärte, warum er mit seiner Familie nach Thailand gekommen war.

„Ich werde der zukünftige Vizemanager des Seaton sein. Wir – meine Frau, mein Sohn und ich – wollen uns schon mal alles anschauen, bevor wir im Februar nach Khao Lak ziehen und in diesem kleinen Paradies leben werden.“

„Oh, hier leben, das ist aber schön!“, gurrte eine der Damen und ein einschmeichelndes Lächeln legte sich auf ihre überschminkten Lippen. „Wie war noch mal Ihr Name?“

Erstaunlich, wie schnell man plötzlich im Ansehen der Leute stieg, wenn diese irgendwelche Vorteile witterten, dachte Julia abfällig und fragte sich, ob sie es verkraften würde, in Zukunft öfter mit solchen Leuten zu tun zu haben. In Köln, ihrer Heimatstadt, hatten sie einen ganz normalen Freundeskreis. Wie würde das hier werden, mit einem Mann, der an der Spitze des bekanntesten Luxushotels am Ort arbeitete?

Sie warf einen Blick auf Lukas, der mit Kopfhörern im Ohr neben ihr saß und scheinbar emotionslos aus dem Fenster starrte. Würde er hier glücklich werden? Am liebsten hätte sie ihm aufmunternd über den Arm gestreichelt, doch sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass er solche mütterlichen Zuwendungen mittlerweile ‚total uncool‘ fand. Wie schnell Kinder sich doch veränderten. Vor einem Jahr hatte er es noch okay gefunden, wenn sie ihn in den Arm genommen hatte, und jetzt?

Vor einem Jahr …

Schnell würgte Julia diesen Gedanken ab. Er war wie ein düsterer, lähmender Schatten, der ständig über ihr schwebte. Dabei hatte sie sich vor der Reise vorgenommen, dagegen anzukämpfen und nach vorne zu blicken. Ihr Leben weiterzuleben. So wie ihre Therapeutin es ihr empfohlen hatte. Und genau das würde sie auch tun!

Im Hintergrund schwatzte Michael immer noch mit den Hotelgästen. Er konnte das gut, mit dieser gewissen Klientel. Er war der geborene Hotelier; stets besorgt um das Wohl seiner Gäste. Michael liebte seinen Job und war in den vergangenen Jahren schnell zum Vizemanager aufgestiegen. Zuletzt im Excelsior Hotel in Köln und demnächst in einem der angesehensten Luxusresorts in Asien. Aber Julia fiel es schwer, sich für ihn freuen. Zu sehr lastete die Erinnerung auf ihr.

Gedankenvoll blickte sie hinaus auf die üppige Vegetation und die kleinen Siedlungen, an denen sie vorbeifuhren. Alles wirkte so bunt, so lebendig! Anders als bei ihnen in Köln, wo nur noch trostlose Stille gewesen war. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Lukas. Zu gern hätte sie gewusst, wie es in ihm aussah. Zwar hatte die Therapeutin ihn mit den Worten entlassen „Seine Seele befände sich jetzt im Selbstheilungsprozess“, doch seitdem hatte Lukas kaum mehr als das Nötigste mit ihr oder Michael gesprochen. Er hatte sich tief in seine eigene Welt zurückgezogen, die er nicht mit seinen Eltern teilte.

Julia fühlte einen Stich in ihrer Magengegend. War das alles ihre Schuld?

„Wir werden in Khao Lak ein schönes Weihnachtsfest feiern!“, hörte sie Michael mit Begeisterung erzählen. „Am herrlich weißen Strand, mit Palmen statt Nordmanntannen! Das wird großartig. Nicht wahr, Julia?“ Er drehte sich zu ihr um. Sein Lächeln schien echt zu sein, und Julia gab sich Mühe zurückzulächeln. Mechanisch zogen sich ihre Mundwinkel auseinander. Was sie nach der langen Reise jetzt nicht gebrauchen konnte, war, Michaels Argwohn heraufzubeschwören.

Sie spürte einen Ruck, als der Fahrer des Busses unvermittelt bremsen musste. Vor ihnen war ein Stau, und erst nach etlichen langen Minuten setzte sich die Autoschlange wieder in Gang. Julia bemerkte, dass Michael sie anstarrte. Sie konnte spüren, wie er sie mit seiner stummen Eindringlichkeit beschwor. Kontrolliert sog sie Luft ein und zwang sich, den Kopf zu heben. Ihr Blick traf auf die harten dunklen Pupillen ihres Mannes, und wie sie es schon die ganzen letzten Monate über getan hatten, formten ihre Lippen automatisch die Worte: „Alles in Ordnung, Schatz. Mir geht es gut.“

Michael nickte bedächtig, und als er sich endlich nach vorn drehte, atmete Julia auf.

Den Rest der Fahrt sah sie stumm aus dem Fenster.

3. Kapitel

heute

11. Juli 2012

Dubai, 20.59 Uhr

Rod grinste immer noch. Er machte eine Handbewegung in Richtung Tür. „Nahil, kommst du mal bitte!“

Ondragon fuhr herum und sah, wie der Diener in der weißen Uniform zu ihnen an den Tisch trat. Sein dunkelhäutiges Gesicht zeigte keinerlei Regung.

„Du willst mich verarschen!“

„Keineswegs. Darf ich vorstellen“, sagte Rod vergnügt, „das ist Nahil Hamid!“

Ondragon sah dem jungen Diener ins Gesicht.

„Er fungiert hier auf dem Schiff als eine Art Leibwächter. Außerdem wollte ich, dass er dich kennenlernt. Du bist sein großes Vorbild!“

Ondragon stieß abfällig Luft aus. „Na, da hast du mich ja dastehen lassen wie den letzten Deppen! Vielen Dank!“

„Ach, jetzt stell dich nicht so an, Ecks.“ Rod wandte sich an den Ägypter. „Bitte setz dich doch zu uns. Wie du gehört hast, haben wir was mit dir zu besprechen.“

As-salamu ‘aleikum“, sagte Nahil zurückhaltend.

Wa-‘aleikumu s’salam, Mr. Hamid. Schön, Sie kennenzulernen.” Ondragon reichte ihm die Hand und der Ägypter schüttelte sie. Sein Händedruck war kühl und fest.

„Bitte nennen Sie mich Nahil“, sagte er, während er sich setzte, und ein zurückhaltendes Lächeln auf seinen Lippen erschien. „Und Sie sind wirklich Mr. O?“

Ondragon nickte.

„Wow, dass ich Sie mal treffen darf! Spider hat schon viel von Ihnen erzählt. Sie sind eine Legende!“

„Ja, schon gut“, wehrte Ondragon ab, dem seine zweifelhafte Berühmtheit unangenehm war. „Ich hab damals nur meine Arbeit gemacht.“

„Tja, Bescheidenheit ist eine Zier“, sagte Rod scherzhaft, und Nahil lächelte ein wenig breiter.

Ondragon nutzte die Gelegenheit, den Ägypter etwas genauer zu betrachten. Er war nicht sonderlich groß und hatte einen schmalen sehnigen Körperbau. Er wirkte wie eine Kobra, schlüpfrig und kaum greifbar, aber auch zäh genug, um sich in der rauen Welt jenseits der Gesetze zu behaupten. Erst recht, wenn man wusste, dass alle DeForce-Mailmen in den gängigsten Waffengattungen und Nahkampftechniken ausgebildet waren. Aber ob Nahil tatsächlich so talentiert war, wie Roderick behauptete, würde sich noch herausstellen müssen.

Ondragon zögerte. Sollte er sich wirklich darauf einlassen? Er könnte es auch weiter alleine versuchen … und grandios scheitern, wie bisher. Was hatte er schon für eine andere Wahl? Rod würde ihm den Jungen nicht empfehlen, wenn er nicht absolut von ihm überzeugt wäre. Ondragon überwand seine Bedenken und erläuterte dem Ägypter, was dieser zuvor nicht sowieso schon mitgehört hatte, und Nahil hörte aufmerksam zu. Als Ondragon geendet hatte, fragte er ihn, ob er bereit wäre, den Auftrag zu übernehmen.

Nahil sah kurz zu Roderick, der ihm mit einer knappen Geste seine Zustimmung gab. „Ja, Sir! Ich bin bereit!“, sagte er dann mit einem Lächeln.

Ondragon blickte den Ägypter ernst an. „Sie wissen, was auf dem Spiel steht?“

Nahil nickte.

„Sie wissen auch, dass nichts von dem, was Sie bei diesem Auftrag herausbekommen, an die Öffentlichkeit geraten darf? Und damit meine ich nicht nur jetzt, sondern für den Rest Ihres Lebens!“

Wieder nickte Nahil.

„Und Sie sind sich der Konsequenzen bewusst, wenn es doch geschieht?“

„Dann werden Sie mich töten, Mr. Ondragon.“

„So ist es, Nahil. Ich frage Sie jetzt also noch einmal: Sind Sie dafür bereit?“

„Sir, es wird mir eine Ehre sein, die Sache für Sie zu erledigen!“

Ondragon hielt ihn eine Weile mit seinem prüfenden Blick gefangen. „Okay“, sagte er dann, „ich vertraue Ihnen!“

„Vielen Dank, Mr. Ondragon.“ Nahil wirkte überglücklich, doch Ondragon bezweifelte, dass diese Euphorie lange anhalten würde, wenn er erst mal begonnen hatte, in der schmutzigen Brühe seiner Vergangenheit herumzurühren.

„Nennen Sie mich Mr. O“, sagte er freundschaftlich, „schließlich sind wir hier bei DeForce sowas wie Kollegen.“ Er wandte sich an Roderick. „Ich komme selbstverständlich für alle Kosten auf, die durch meinen Auftrag entstehen.“

„Kein Problem, Ecks. Ich werde …“

Das Handy des Briten klingelte. Rod entschuldigte sich kurz und nahm den Anruf entgegen.

„DeForce? Ah! Hallo, David! Lange nichts von dir gehört. Du, ich sitze hier gerade mit einem guten Freund zusammen und … was? Ein schlimmer Unfall, aha. Nicht der erste? Verstehe. Ja, okay, ich sehe mal, was ich machen kann. Ich melde mich später. Bis dann.“ Rod legte auf und sah Ondragon an. „Und? Was hättest du jetzt lieber? Die neue Walther CCP oder einen .44 Magnum Colt Anaconda?“ Er stand auf, streckte seine Glieder und grinste. „Ich habe unten im Schiff eine Schießbahn!“

Zwei Stunden später fuhr Ondragon mit dem schwarzen Aston Martin, den Rod ihm geliehen hatte, zurück zum Hotel. Es war zwei Uhr nachts, trotzdem herrschten draußen noch über dreißig Grad. Aber wenigstens war um diese späte Stunde kaum noch Verkehr auf der Sheik Zayed Road, und so erreichte Ondragon ohne große Verzögerung das The Address.

Als er auf seinem Zimmer war, holte er die Unterlagen hervor, die Roderick ihm mitgegeben hatte. Nahil Abdullah Hamid: Deckname bei DeForce: Fennek – Wüstenfuchs. Der Junge hatte einen exzellenten Lebenslauf. 1982 geboren in Kairo, Mutter Sopranistin, Vater Professor für Politikwissenschaften an der Universität in Alexandria. Lebte von 1993 bis 2005 in Frankfurt, danach in Den Haag. Nahil hatte in Frankfurt zwei Studiengänge innerhalb der Regelzeit absolviert. Internationales Recht und Wirtschaftspsychologie. Er sprach fließend Deutsch, Arabisch, Französisch, Niederländisch und Türkisch. In den Unterlagen stand auch, dass Roderick den Jungen in Amsterdam aufgegabelt hatte, wo er ähnlich orientierungslos herumgelungert hatte wie Ondragon seinerzeit in Kairo.

Sein Handy klingelte, und er nahm ab. „Hallo, Rod! Was gibt’s?“

„Ah, gut, dass du noch nicht schläfst, Ecks. Ich hätte da etwas, das du als Gegenleistung für meinen Gefallen für mich tun könntest.“

„Und das wäre?“

„Ich habe gerade mit meinem alten Schulfreund David Lambert telefoniert. Der Anrufer von vorhin, du erinnerst dich? David ist Manager in einem Luxushotel in Thailand. Dort gibt es Probleme, und ich dachte, du könntest da mal vorbeischauen.“

Ondragon hob skeptisch eine Braue. „Vorbeischauen?“

„Ja. Du kümmerst dich doch um Probleme, oder nicht?“

„Schon. Was hat denn dieser Lambert für ein Problem?“

„Es geht um das Hotel, für das David arbeitet“, erklärte Rod. „Es heißt The Seaton und liegt in Khao Lak in Südthailand. Dort, wo vor acht Jahren der Tsunami alles zerstört hat. Im Hotel hat es mehrere Unfälle gegeben. Drei Leute sind ertrunken.“

„Wenn es Unfälle waren, was soll ich dann da?“

„David hat Angst, dass noch mehr Gäste zu Schaden kommen und dass das Hotel deswegen seinen guten Ruf verliert.“

„Und ich soll helfen, das zu verhindern?“

„Exakt!“

Klang nicht besonders anspruchsvoll, dachte Ondragon.

„Was ist?“, fragte Rod. „Ich weiß doch, dass du dich hier binnen weniger Tage zu Tode langweilen würdest! Ohne eine Aufgabe bist du doch wie Tom ohne Jerry.“

„Na gut“, willigte Ondragon schließlich ein. Es war besser, einen solchen Gefallen zu übernehmen als etwas, wobei er seinen Hals riskierte, außerdem konnte er seinen Urlaub auch in Thailand fortsetzen. Er verabschiedete sich von Rod und starrte eine Weile nachdenklich aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Dann schob er die Mappe mit den Informationen über Nahil beiseite und öffnete seinen Laptop. Noch war er nicht müde, da konnte er sich ruhig ein wenig auf den neuen Auftrag vorbereiten. Eine kleine Aufwärmrunde.

Zuerst rief Ondragon die Homepage des Luxushotels auf. Die Fotos vom Seaton machten jedenfalls schon mal einen sehr einladenden Eindruck. Ein hübsches Boutique-Resort in traumhafter Strandlage. Eine Top-Destination für betuchte Erholungsuchende, von einschlägigen Reiseveranstaltern aus dem Luxus-Segment in den höchsten Tönen gelobt. Doch als er sich wenig später auf den gängigsten Bewertungsportalen umsah, konnte er bereits einige negative Bewertungen über das Seaton lesen. Zum Beispiel stand da, dass der Hotelpool für fast eine Woche gesperrt gewesen war. Ein Grund dafür wurde nicht genannt. Der Verfasser gab einen Stern Abzug und einen weiteren dafür, dass die Entschädigung von Seiten des Hotels, den Pool des Nachbarhotels mitzubenutzen, nicht ausreichend gewesen wäre, da das angrenzende Resort nicht annähernd demselben Standard entsprochen hätte. Ein anderer Bericht sprach sogar davon, dass das Schwimmbecken nicht sicher sei, und forderte, dass dort auch nachts eine Poolaufsicht zu sein habe. In zwei weiteren Bewertungen beklagten sich die Gäste darüber, dass sie nachts von Lärm aus den Nachbarzimmern gestört worden waren. Ihre Beschwerden an der Rezeption seien jedoch ungehört verhallt, denn auch in den darauf folgenden Nächten habe es sich angehört, als würde das Apartment neben ihnen neu möbliert werden. Ein Gast hatte daraufhin entnervt das Zimmer gewechselt. In der neuesten Bewertung vor vier Tagen hieß es, dass die Angestellten des Hotels zwar sehr zuvorkommend und bemüht wären, doch allesamt sehr nervös wirkten. Ständig würde irgendwo ein Glas oder ein Teller herunterfallen. Der Service sonst aber wäre okay. Daraufhin hatte jemand geantwortet, er wäre mit dem Service ganz und gar nicht zufrieden gewesen, denn in seinem Bad hätten seine Sachen ständig woanders gestanden und zu allem Überfluss wäre auch noch die Klimaanlage kaputtgegangen. Der Elektriker hätte drei Mal zur Reparatur kommen müssen, bevor sie wieder vernünftig funktioniert hätte.

In keiner Bewertung stand etwas über die Unfälle oder ertrunkene Gäste. Die Verantwortlichen für die Öffentlichkeitsarbeit des Hotels schienen die Vorfälle bisher gut unter der Decke gehalten zu haben. Im Kopf machte sich Ondragon schnell einen groben Plan. Er könnte schon morgen im Flieger nach Phuket sitzen, bis dorthin waren es nur sieben Flugstunden. Außerdem brauchte er eine kleine Ablenkung, während er darauf wartete, dass Nahil von seinem Auftrag zurückkehrte.

Also auf nach Thailand!

Ondragon klappte den Notizblock zu, in dem er sich schon die ersten Fakten notiert hatte. Morgen würde er sich von Rod noch mehr Informationen holen und sich auf dem Flug weiter vorbereiten. Er stand auf und ging zum Kleiderschrank, wo er eine Bestandsaufnahme seiner Garderobe machte. Da er meistens nur Anzüge und Hemden trug, war er für den Job in Thailand nicht besonders gut ausgerüstet. Er würde sich, bevor er flog, noch passende Outfits kaufen müssen. Er ging zurück zum Bett und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier in der Früh. In Los Angeles demnach fast Feierabend. Wenn er Glück hatte, erwischte er Charlize noch im Büro. Er nahm das Handy und wählte die Nummer von Ondragon Consulting.

Moshi moshi“, meldete sich seine Assistentin mit fröhlicher Stimme. „Was macht die Entspannung, Chef?“

„Mit der ist es schon wieder vorbei.“

„Hä? Warum?“

„Weil ich morgen nach Thailand fliege, genauer gesagt nach Khao Lak. Ich habe dort kurzfristig einen Job angenommen.“

„Aber Paul-san, was ist mit deinem Urlaub? Du hast ihn doch dringend nötig!“ Charlize klang tadelnd. Kein Wunder, denn sie hatte ja am eigenen Leibe erleben dürfen, wie schlecht gelaunt er die letzten Monate gewesen war.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte er. „Der Job in Thailand ist bloß ein netter Zeitvertreib, keine wirkliche Arbeit. Ich mache dort nebenbei einfach weiter Urlaub.“

„Und was sagt Mr. DeForce dazu? Wolltest du ihn nicht besuchen?“

„Den Auftrag habe ich von Rod.“

Er hörte, wie Charlize laut Luft ausstieß.

„Keine Angst, ich werde schon darauf achten, mich ein wenig zu entspannen und natürlich auch zu amüsieren.“

„Das wird dir in Thailand sicher nicht schwerfallen!“

„Ach, Charlie-Schatz, du kennst mich doch. Ich stehe nicht auf bezahlte Liebe, für mich zählen nur die echten Gefühle!“

„Klar doch! Und Chuck Norris pinkelt im Sitzen.“

Ondragon grinste. War da etwa ein Anflug von Eifersucht in ihrer Stimme? Seine Assistentin, ein halb brasilianisch, halb japanisches Energiebündel, wusste genau, dass er auf den asiatischen Typ stand und dass es in Thailand jede Menge hübsche Frauen gab, aber das war schließlich nicht der Grund, warum er dorthin flog.

„Du weißt doch“, sagte er scherzhaft, „egal was ich mache, ich komme immer wieder zu dir zurück, Honey.“ Insgeheim war er froh, Charlize noch immer nichts von seiner kleinen Affäre mit Malin, der schwedischen Großwildjägerin, erzählt zu haben. Auf keinen Fall wollte er ihren heiligen Zorn heraufbeschwören. Wer wusste schon, was seine kleine Samurai-Lady dazu sagen würde, wenn er plötzlich eine andere Frau anhimmelte.

Charlize stieß ein verächtliches Brummen aus.

„Komm schon, nicht schmollen, Charlie-Schatz. Ich bringe dir auch was Hübsches mit.“

„Na, gut. Sag Bescheid, wenn du dort angekommen bist.“

„In Ordnung. Sayonara!

Sayonara, Chef!“

Mit einem Lächeln legte Ondragon auf. Rod hatte recht, er fühlte sich nur wohl, wenn er etwas zu tun hatte. Also zückte er seine Kreditkarte und buchte den nächsten Flug nach Phuket.