Klaus Neuhaus

 

 

 

 

 

DER

SPIELZEUG-REFORMATOR

 

 

und

andere Gerechtigkeiten

 

 

 

 

 

 


 

 

 

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Gerechtigkeit

 

„Das Leben ist nicht gerecht.“

Mit diesem Satz begrüßt eine befreundete Psychotherapeutin ihre neuen Patienten, wie sie mir verriet.

Ein Stehsatz, vielleicht aus dem ersten Semester Psychologie.

Möglicherweise von einem weltberühmten Psychologen oder Psychiater, der diesen Merksatz seinen Nachfolgern als Werkzeug mit auf den Weg gegeben hat.

Eine Hinterlassenschaft.

Eine eindeutige Positionierung im ewigen Kampf mit dem Patienten.

Der Schriftsteller Philippe Djian lässt in seinem Roman „Die Leichtfertigen“ bereits auf Seite 24 die Hauptfigur Francis fragen: „Kann ein Mann im Abstand von zwölf Jahren seine beiden Töchter verlieren? Kann einem das Schicksal so hart zusetzen?“

Die einfache Antwort: Das Schicksal kann das, ist halt das Schicksal. Auf der breiten Palette von gütig und gutmütig bis brutal und grausam kann das Schicksal so ziemlich alles, gemeinerweise ohne uns zu fragen oder um unsere Meinung zu bitten.

Auf Seite 162 beendet Francis eine Diskussion mit den Sätzen: „Ich bin das Opfer in dieser Geschichte. Vergiss das nicht.“

Geradezu ein Festtagsschmaus für jeden Therapeuten, dieser Gesprächsbeitrag, ein Highlight.

Opferrolle, ganz ganz böse, führt direkt in die Depression.

Runter vom Sofa, du faule Socke und mach was. Fast egal was, aber mach was. Von mir aus Sport, Sport ist sehr gut, Sport ist super, aber mach was.

Jeden Tag die gleichen Sätze, die gleichen Fragen:

Warum gerade ich?

Warum passiert das ausgerechnet mir?

Ich kann anpacken, was ich will, alles geht schief.

Andere haben nur Glück, ich habe nur Pech.

Warum gerate ich immer an den falschen Mann?

Warum gerate ich immer an die falsche Frau?

Warum habe ich so viel Pech?

Warum ist das Leben, wahlweise das Schicksal so ungerecht zu mir?

Das stumpft ab.

Dabei war Francis doch auf Seite 153 schon auf der richtigen Spur:

„Sollte man den Himmel verfluchen für das, was er uns genommen hatte, oder ihm für das danken, was er uns gelassen hatte?“ Geht doch.

Wer kennt nicht die Glückspilze, denen lebenslang die Sonne ins Gedärm scheint. Dieter Bohlen zum Beispiel, von einem Penisbruch mal abgesehen. Kaum wurde die letzte Freundin weggenaddelt, steht schon die nächste Hübsche auf der Matte. Gar nicht lange drüber nachdenken. So geht’s auch. In einer Talkshow habe ich ihn beobachtet, als über einen anderen Gast ein ernstes Thema eröffnet wurde.

Aber nicht mit Dieter. Mit seiner Nachfrage: „Ist schon wieder Totensonntag?“, war es schnell Schluss mit Ernst. Einmal die Zähne zum Lächeln gefletscht, das Schwarze vertrieben, das Weiße anvisiert und das Thema war durch.

So ist er, der Dieter, der Sonnenschein.

Wenig denken als Therapie für die Seele? So wenig denken wie ein Stürmer beim Fußball? Denkt der Stürmer, so trifft er das Tor nicht. Lässt das Rückschlüsse zu?

Das Schicksal, die Gerechtigkeit in Form von Ungerechtigkeit, lässt sich auch prophylaktisch behandeln, wie in Stefan Stoppoks Song „Ärger“:

„Ärger du kannst mich nicht anschmieren,

ich weiß, dass du schon hinter der nächsten Ecke stehst.

Ärger, du kannst mich nicht anschmieren,

ich weiß, dass du dir schon wieder Übles überlegst.“

 

Das Naturheilverfahren unter den Ungerechtigkeitsbekämpfungen hat Torsten Sträter im Angebot: „Wenn du in deinem Leben was ändern willst, dann werde Schneider.“

Klingt positiv, ist es aber nicht und erinnert ein wenig an das berühmte Helmut Schmidt-Zitat: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Ein Satz, der auf meiner Negativliste steht, weil er mit gekonnt wenigen Worten und wahrscheinlich einer langen Atempause mit Zug an der Zigarette nach dem Wort „hat“ die Ära Willy Brandt abkanzelte. Nicht mehr, nicht weniger.

Am Meer liegen zwei Steine nebeneinander im Sand und sonnen sich. Verschieden groß und unterschiedlich geformt, jeder in seiner Farbe.

Möglich, dass gleich ein Kind kommt und einen der beiden Steine ins Meer wirft. Der Stein wird sich abkühlen dürfen, jedoch die Sonne nicht mehr sehen.

Das ist nicht gerecht.

So ist das Leben.

 

 

 

Wien

Auf dem weißen Cover meiner Notizenkladde steht in schwarzer Schreibschrift oben links Wien und gleich daneben Vienna. Zwei Miniaturgemälde wahrscheinlich adeliger Damen, die Vor- und Rückseite eines mehrfach frankierten und gestempelten Briefes mit dem schwarz auf rotem Aufkleber gedruckten „Par Avion“, sowie kolorierte Zeichnungen des Schlosses Schönbrunn und des Stephandoms vervollständigen die Collage.

Warum hat ausgerechnet Wien auf diesem Umschlag Platz genommen und nicht Paris, New York, Tokio oder Gütersloh?

Der Schlüssel zu dieser Antwort liegt bei meiner Frau. Sie hat mir dieses Notizbuch, geringfügig größer als DIN A5, geschenkt. Sie mag Wien.

Wien ist die schöne Frau, in die ich mich nicht verlieben könnte.

Falls Sie mich fragen warum: Ich bin noch auf der Suche nach einer Antwort.

Vielleicht ist es, wie immer bei der Liebe, die Mischung aus Chemie, Gerüchen und gesammelten Erfahrungen.

Selbst Hitler mochte Wien nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Eine alte Geschichte, in der Zeitrechnung der Erdgeschichte allerdings eine sehr junge.

Die Millionenstadt Wien habe ich mir nur sechseinhalb Stunden angeschaut. Werfen Sie mir deshalb bitte vor, dass meine Meinung unreflektiert ist. Damit wäre ich einverstanden.