Die Drei Fragezeichen
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und der unsichtbare Passagier

erzählt von Hendrik Buchna

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur

ISBN 978-3-440-14853-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Unverhofft

»Wäre es sehr unhöflich, wenn ich sage, dass ich mich über den Wasserrohrbruch in eurem Haus total freue?« Schmunzelnd knuffte Peter Shaw seinen Freund Bob Andrews in die Seite.

»Unter normalen Umständen würde ich das eindeutig mit ›Ja‹ beantworten.« Bob grinste. »Und dann würde ich dich fragen, ob du noch alle Tassen im Schrank hast.«

Auch Justus Jonas lächelte breit und mischte sich in das Gespräch seiner beiden Detektivkollegen ein. »Welch ein Glück, dass es sich hier nicht um normale Umstände handelt, sondern um eine wahrlich spezialgelagerte Sondersituation.«

»Genau«, stimmte Bob zu. »Für Mom und Dad tut es mir natürlich leid, dass wir unseren Familien-Kurzurlaub nun nicht gemeinsam antreten können. Aber mit euch beiden wird’s bestimmt auch eine lustige Fahrt.«

»Darauf kannst du dich verlassen!« Strahlend lehnte sich Peter in seinem bequemen Massage-Polstersessel zurück. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass deine Eltern ihre Tickets einfach so auf Just und mich übertragen haben.«

»Sonst wären die Fahrkarten verfallen«, erklärte Bob. »Und weil das Rohr punktgenau in der Nacht vor der Abfahrt geplatzt ist, war das die bestmögliche Lösung.«

Justus nickte. »Des einen Leid, des anderen Freud. Für Mrs und Mr Andrews fällt dieses Wochenende buchstäblich ins Wasser, aber dafür kommen wir in den unverhofften Genuss einer Traumreise.«

»Wahre Worte …« Versonnen blickte Peter durch die riesige Panoramascheibe des prunkvoll ausgestatteten Erste-Klasse-Aussichtswagens. Soeben hatte der Coast Imperial, ein landesweit berühmter Luxus-Fernzug, den malerischen Rincon Beach Park nordwestlich von Los Angeles passiert und fuhr nun direkt an der pazifischen Steilküste entlang Richtung San Francisco.

Der Ausblick war überwältigend. Heftige, durch mitgeführten Wüstenstaub rötlich schimmernde Böen, die sogenannten Santa-Ana-Winde, wühlten den tiefblauen Ozean auf. Im Licht der kalifornischen Herbstsonne glitzerten die schneeweißen Schaumkronen abertausender Wellen und am wolkenlosen Himmel zogen unzählige Möwen und Seeschwalben ihre Kreise. Auch die übrigen Passagiere genossen sichtlich das spektakuläre Zusammenspiel von Farben, Licht und Weite.

»Ja, so lässt es sich aushalten«, stellte Bob wohlig seufzend fest und ließ sich von einem diensteifrigen Steward sein halb leeres Glas mit eisgekühlter Cola auffüllen.

Selig griff Justus in die vor ihm stehende Kristallschale mit aromatisierten Pistazien. »Laut Werbung zählt unsere Route übrigens zu den eindrucksvollsten Strecken des Kontinents.« Er entfaltete einen der ausliegenden Prospekte und las mit vollmundigem Tonfall vor: »Erleben Sie auf Ihrer Reise von Los Angeles nach Seattle ein einzigartiges Zugabenteuer entlang der amerikanischen Westküste! Tauchen Sie ein in eine atemberaubende Landschaftsvielfalt – von der endlosen Weite des Pazifiks über die schneebedeckten Gipfel des Kaskadengebirges bis hin zu den üppigen Wäldern und blühenden Tälern Oregons.«

Auch Peter hatte sich einen Prospekt geschnappt und fuhr vergnügt fort: »Genießen Sie eine Vielzahl an Attraktionen in einem Zug der Superlative! Zwei sonderangefertigte Panoramawagen mit Vollverglasung bieten eine unübertroffene Rundumsicht und unser prunkvoller Salonwagen im viktorianischen Stil lässt den schwelgerischen Luxus vergangener Zeiten wieder aufleben. Neben einer gut sortierten Bibliothek stehen Ihnen dort zahlreiche Ruhenischen zur Verfügung. Hier können Sie bei stimmungsvoller Musik die raffinierten Deckenprojektionen des kanadischen Lichtkünstlers Irvin Trudeau auf sich wirken lassen.«

Bob nickte. »Hab ich vorhin schon gemacht, als ihr noch mit Auspacken beschäftigt wart. Die Einrichtung im Salon ist grandios! Überall edle Hölzer und kostbare Orientteppiche. Sogar einen Kamin mit Kunstfeuer gibt’s da, man kommt sich vor wie in so einem Gentlemen’s Club aus dem 19. Jahrhundert. Die ganze Zeit denkt man, gleich tritt ein englischer Lord durch die Tür. Und die Auswahl an Büchern ist echt beeindruckend.«

»Man höre und staune!«, erwiderte Justus. »Diesen Prachtsalon werde ich auf jeden Fall mal in Augenschein nehmen.«

»Du wirst es nicht bereuen«, versprach der dritte Detektiv. »Allerdings scheint der Salon extrem beliebt zu sein, jedenfalls war er vorhin rappelvoll. Du musst also Geduld mitbringen, wenn du da einen Sitzplatz ergattern willst.«

»Gut zu wissen.« Gespannt überflog Justus die weiteren Angebote. »Es ist wirklich unglaublich, was dieser Zug alles zu bieten hat. In Wagen zwei gibt’s sogar ein Kino! Es ist in der unteren Etage eines Doppelstockwagens eingerichtet. So kann man ganz bequem oben entlanggehen, während die Zuschauer unten in Ruhe ihren Film genießen.«

»Das System mit den zwei Ebenen gibt es mehrfach«, bestätigte Peter. »Zum Beispiel beim Pool in Wagen vier.« Er grinste. »Wäre ja auch etwas seltsam, wenn ständig Leute in Straßenklamotten durchs Schwimmbad latschen würden.«

Gut gelaunt betrachtete Bob die letzte Seite seines Prospekts. »Ansonsten gibt es noch die beiden Superior-Schlafwagen mit ›Relax-Garantie‹, ein durchgängig geöffnetes Drei-Sterne-Restaurant einschließlich französischem Promi-Koch, ein bordeigenes Fitnesscenter und nicht zu vergessen die perfekt schallisolierte Disco World, die wir vorhin ja schon kennengelernt haben.«

»Allerdings«, brummte Justus ungehalten. »Diese schräge Truppe aus der Werbebranche, die da einen großen Abschluss feiert … Da floss der Alkohol nicht in Strömen, sondern schon in Sturzbächen.«

»Wahrscheinlich brauchen sie das, um die grässliche Musik zu ertragen«, vermutete Peter. »Wir sind ja nur kurz durchgelaufen, aber mir dröhnen immer noch die Ohren.«

Bob nickte. »Geht mir genauso. Diese Attraktion sollten wir künftig also lieber meiden.«

»So ist es«, stimmte Justus zu. »Schließlich wollen wir ja in erster Linie jenen Vorzug genießen, für den der Coast Imperial vor allem bekannt ist: himmlische Entspannung.«

»Apropos Entspannung«, gab Peter zurück und deutete unauffällig auf einen Mann, der zum wiederholten Mal den Gang entlangtigerte und dabei hektisch vor sich hinflüsterte. »Der flatterige Typ da hat den Sinn dieser Zugreise wohl nicht ganz verstanden. Der sieht aus, als ob er vor Nervosität gleich abhebt.«

Neugierig warfen Justus und Bob einen Blick auf den circa vierzigjährigen, spindeldürren Mann in einem schlecht sitzenden dunkelgrauen Anzug, auf dessen Halbglatze trotz des angenehm temperierten Raums unzählige Schweißperlen glitzerten. Gerade erreichte er das Ende des Wagens und drehte sogleich wieder um.

»In der Tat, ein zuckendes Nervenbündel«, erwiderte der Erste Detektiv stirnrunzelnd.

»Huiuiui«, entfuhr es Bob. »Jetzt ist der Kerl auch noch an der Jacke dieses dicken Manns mit Cowboyhut hängen geblieben.«

»Aber mit Karacho!« Peter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Durch den Ruck hätte sich die Bohnenstange ja beinahe in der Luft überschlagen.«

»Und der Dicke schimpft wie ein Rohrspatz, weil er glaubt, seine Designerjacke sei beschädigt worden«, stellte Justus fest.

Bob verengte die Augen. »Womit ist der Dürre da eigentlich hängen geblieben? Sieht aus … wie ein silbernes Herrenarmband.«

»Wer trägt denn Herrenarmbänder?«, fragte Peter belustigt.

»Offenbar Herren mit einer Vorliebe für Armbänder«, erwiderte Justus mit entwaffnender Logik.

Bob tippte auf sein rechtes Handgelenk. »Ist bestimmt nicht das erste Mal, dass der Typ mit irgendwem aneinanderrasselt – der Silberklunker ist doch viel zu klobig für sein dürres Ärmchen.«

»Stimmt«, schloss sich Peter an. »Ich hatte kurz gedacht, diese hypernervöse Vogelscheuche wäre irgendwo ausgebüxt und hätte noch Handschellen an. Aber dafür sieht das Ding dann doch zu kostbar aus.«

Inzwischen hatte der dürre Mann den wutschnaubenden Hutträger einfach stehen lassen und war im Eilschritt aus dem Panoramawagen gestürmt.

»Eins steht jedenfalls fest«, ergriff Justus wieder das Wort. »Der Zittertyp hat einen erholsamen Urlaub dringend nötig.«

»Dann ist er hier ja goldrichtig«, bekundete Bob und blickte wieder auf seinen Prospekt. »Im Unterschied zum deutlich weniger luxuriösen Coast Starlight hält unser Zug auf dem Weg zum Zielbahnhof Seattle nur an drei Zwischenstationen. So gibt es auf der Reise kaum Störungen und man kann die 33 Stunden Fahrzeit voll und ganz genießen.«

»Also, wenn’s nach mir ginge, dürfte unsere Reise auch gerne noch länger dauern«, erklärte der Zweite Detektiv.

»Vergiss nicht, dass wir von Seattle aus ja auch noch nach Los Angeles zurückfliegen müssen, bevor am Montag die Schule wieder anfängt«, gab Justus zu bedenken.

Peter stöhnte leise und winkte ab. »Also, wenn auf unserem Wochenendtrip wirklich die Entspannung im Mittelpunkt stehen soll, beantrage ich hiermit, dass das Stichwort ›Schule‹ aus sämtlichen Gesprächen verbannt wird.«

Justus und Bob hoben gleichzeitig den Arm. »Antrag angenommen!«

Die nervöse Vogelscheuche

Die folgende Stunde verbrachte jeder der Jungen nach eigenen Vorlieben. Zum Abendessen fanden sie sich dann wie verabredet im noblen, mit dunklem Holz vertäfelten Restaurantwagen zusammen.

Skeptisch ließ Peter seinen Blick über die aufgeschlagene Speisekarte schweifen. »Coquille Saint-Jacques, Pot-au-feu, Bœuf bourguignon, Crêpes Suzette – aus diesen überkandidelten französischen Namen wird doch kein Mensch schlau! Wenn ich da etwas bestelle und denke, ich kriege ein schönes Steak, bekomme ich wahrscheinlich geschmorte Lurchleber auf Brennnesselsalat serviert.«

»Sofern du geneigt wärst, deinen Blick auf die rechte Spalte der Karte zu richten, so findest du dort sämtliche Übersetzungen der Speisen«, klärte ihn der Erste Detektiv auf.

»Wahlweise kannst du auch gleich Seite 11 aufschlagen«, ergänzte Bob. »Da gibt’s eine beachtliche Auswahl an Burgern, Hotdogs, Spareribs und Burritos – Missverständnisse ausgeschlossen.«

Mit glänzenden Augen blätterte Peter zur genannten Seite. »Herrlich! Das habe ich mir nach dem Training in der Sport Lounge redlich verdient.« Fröhlich blickte er seine Freunde an. »Und was habt ihr in der Zwischenzeit so getrieben?«

»Den Horizont bei einem Reisequiz erweitert«, entgegnete Bob, während er die Pizza- und Pasta-Spezialitäten überflog. »Gewonnen habe ich zwar nichts, aber dafür weiß ich jetzt so einiges über die Attraktionen unserer Route. Zum Beispiel, dass wir morgen Vormittag den imposanten Mount Shasta erreichen. Mit einer Höhe von über 4.300 Metern ist er nicht nur einer der höchsten Berge Kaliforniens, sondern auch der zweithöchste Vulkan in ganz Amerika.«

»Vulkan?!«, entfuhr es dem Zweiten Detektiv. Unwillkürlich fühlte er sich an eine der letzten Geschichtsstunden erinnert, in der sie die antike Stadt Pompeji und ihren Untergang während des katastrophalen Ausbruchs des Vesuvs durchgenommen hatten. In derselben Sekunde war Peter von sich selbst genervt, weil er doch tatsächlich schon wieder an die Schule dachte.

»Kein Grund zur Panik«, beschwichtigte Bob. »Der letzte Ausbruch des Mount Shasta war 1786. Du kannst dich also ganz entspannt auf ein großartiges Bergpanorama freuen.«

In diesem Moment trat ein weiß uniformierter Kellner an ihren Tisch und nahm die Bestellungen auf. Anschließend war Justus an der Reihe, von seinen Erlebnissen zu berichten.

»Auf Bobs Tipp hin war ich im Salonwagen und habe die prachtvolle Einrichtung bestaunt. Wenn Onkel Titus das sehen würde –« Plötzlich hielt er inne und blickte zur gegenüberliegenden Seite des Restaurants. »Sagt mal, kann es sein, dass da am Bartresen unsere flattrige Bohnenstange sitzt?«

Überrascht blickten seine Freunde sich um.

»Stimmt, das ist er!«, bestätigte der Zweite Detektiv.

»Und der gute Mann scheint ziemlichen Durst zu haben«, stellte Justus fest, nachdem der Hagere soeben mit zittriger Hand sein Rotweinglas ergriffen, in einem einzigen Zug geleert und sofort neu bestellt hatte.

»Eine übernervöse Vogelscheuche mit Herrenarmband und Rotwein-Tick«, fasste Bob ihre Beobachtungen zusammen.

Grübelnd verengte Justus die Augen. »In der Tat eine höchst eigenartige Person … Und je länger ich mir den Mann anschaue, desto weniger glaube ich, dass er einfach nur einen schlechten Tag erwischt hat.« Gedankenverloren zupfte der Erste Detektiv an seiner Unterlippe. »Nennt mich ruhig paranoid, aber mein Instinkt sagt mir, dass ›Mister Rotwein‹ sich von irgendwem oder irgendetwas bedroht fühlt.«

»Be…droht?« Peter hoffte inständig, sich verhört zu haben. »Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass in diesem wunderbaren Erholungsparadies eine Gefahr lauert?!«

Abwehrend hob Justus die Hand. »Ich will überhaupt nichts dergleichen behaupten. Es ist lediglich ein … detektivisches Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt.«

Bob seufzte leise. »Und wegen deines ›detektivischen Gefühls‹ sollten wir der Sache auf den Grund gehen, richtig?«

»Keine Sorge, um mein Hirngespinst kümmere ich mich schon selber«, entgegnete Justus spitz. »Bis unser Essen kommt, dauert es sicherlich noch eine Weile. Zeit genug, um dem Mann einen kleinen Besuch abzustatten.«

Ohne eine weitere Antwort seiner überrumpelten Freunde abzuwarten, stand der Erste Detektiv auf, ging zum Tresen hinüber und setzte sich auf den freien Barhocker links neben dem hageren Mann. Dieser bestellte soeben ein weiteres Glas Rotwein und umklammerte es anschließend so fest, als befürchte er, dass es ihm sonst weggeschnappt werden könnte. Sein starr geradeaus gerichteter Blick verlor sich irgendwo in den endlosen Tiefen der Spiegelwand hinter dem prachtvollen Flaschenregal, dessen Auswahl von schottischem Hochlandwhisky bis zum bolivianischen Nationalschnaps Singani reichte. Gleichzeitig murmelte er die ganze Zeit vor sich hin, allerdings ohne dass Justus etwas Zusammenhängendes verstehen konnte. Lediglich zwei Wörter glaubte er wiederholt herausgehört zu haben. Das eine klang wie ›Artu‹ oder ›Arto‹ und das andere wie ›Pleuro‹, doch mit beidem konnte er nichts anfangen. Schließlich gab sich der Erste Detektiv einen Ruck und wandte sich zu dem Flüsterer um. »Verzeihen Sie die Störung, Sir, aber kann –«

Als wäre ein Stromstoß durch seinen Körper geschossen, zuckte der Mann so heftig zusammen, dass ein Großteil seines Weins auf den Tresen schwappte.

»Oh, das tut mir furchtbar leid!«, beteuerte Justus, während er hastig mehrere Papierservietten aus einem Spender zupfte und den sich ausbreitenden roten See einzudämmen versuchte. »Es war gewiss nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Ich wollte mich lediglich nach Ihrem Befinden erkundigen, weil Sie so angespannt wirken. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«

Mit hochrotem Kopf drehte der dürre Mann sich nun zu Justus um und ergoss einen wutschäumenden Wortschwall über ihn. »Ob du mir helfen kannst, nachdem du mich zu Tode erschreckt und meinen Bordeaux über den halben Tresen verteilt hast?? Aber sicher! Ich würde unglaublich gerne herausfinden, ob meine Schuhsohle gut zu deinem breiten Hintern passt! Und wenn du keinen Wert darauf legst, dass wir hier und jetzt die Antwort ermitteln, solltest du schleunigst abdampfen! War das so weit verständlich?«

»N-natürlich …«, gab Justus betreten zurück. Er stand auf und wandte sich zum Gehen, doch da spürte er, wie ein Finger energisch auf seine Schulter klopfte. Überrascht und mit neu aufkeimender Hoffnung, doch noch ein Gespräch führen zu können, blickte der Erste Detektiv sich um. Aber der Mann streckte ihm lediglich auffordernd die Hand entgegen.

»Achtzehn Dollar.«

Konsterniert fiel Justus der verschüttete und offenbar unverschämt teure Wein wieder ein. Notgedrungen zückte er seine Geldbörse und überreichte mit versteinerter Miene den geforderten Betrag. Dann kehrte er wie ein begossener Pudel zu seinen Freunden zurück, die ihre Belustigung über das kuriose Schauspiel nur schwer unterdrücken konnten.

»Und?«, fragte Peter grinsend. »Konntest du dem Mann mit Rat und Tat zur Seite stehen?«

»Sehr witzig«, knurrte Justus. Sogar das inzwischen servierte Essen konnte ihn nicht aufheitern. »Wenn jemand keine Hilfe will, kann ich sie ihm ja nicht aufzwingen. Dennoch bestätigt diese Überreaktion ja nur meinen Verdacht, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt.«

»Selbst wenn’s so ist, werden wir es nicht mehr erfahren«, stellte Peter erleichtert fest und wies zum Bartresen, von dem sich der dürre Mann soeben erhob.

Bob grinste spöttisch. »Justs Überfall hat der Vogelscheuche wohl den Durst verdorben.«

Unauffällig beobachteten die Jungen, wie der Mann auf den Ausgang zuschwankte und durch die Verbindungstür in den nächsten Wagen verschwand. Anschließend widmeten sie sich eine Weile schweigend ihren jeweiligen köstlich zubereiteten Speisen. Dann stoppte der Zweite Detektiv plötzlich die Gabel kurz vor seinem Mund und deutete mit ihr zum Tresen hinüber. »Unter dem Barhocker, auf dem der Zittertyp gesessen hat – da liegt was.«

»Könnte ein Handschuh sein«, stellte Justus fest. »So einer lugte vorhin aus seiner Jackentasche heraus.« Plötzlich witterte er eine Chance, doch noch hinter das Geheimnis des Flüsterers zu kommen. Hastig wandte er sich zu Bob um. »Okay – schnapp dir das Ding und bring es dem Typen. Vielleicht lässt er sich aus Dankbarkeit ja auf ein kurzes Gespräch ein, bei dem du irgendwas herausbekommen kannst.«

Irritiert hob Bob die Augenbrauen. »Warum denn ich? Mach das doch selber!«

»Würde ich ja«, gab Justus genervt zurück. »Aber nach der Sache von vorhin denkt der am Ende noch, ich sei ein Stalker. Und unser Zweiter würde ihn mit seiner Körpergröße vielleicht einschüchtern.«

»Da muss ich zustimmen«, pflichtete Peter rasch bei. Er war heilfroh, sich ausnahmsweise mal aus allem heraushalten zu können, ohne als Angsthase vom Dienst abgestempelt zu werden. »Von uns dreien machst du eben den vertrauenswürdigsten Eindruck. Nimm’s einfach als Kompliment.«

»Schon gut, schon gut«, fauchte Bob und stand auf. »Ich beuge mich dem Mehrheitsbeschluss …«

Justus nickte zufrieden. »Das nenne ich wahren Detektivgeist. Und keine Sorge – du wirst nicht lange suchen müssen. In dieser Richtung folgt nur noch der Salonwagen, danach endet der Zug mit dem Gepäckwaggon.«

»Na, wenigstens etwas.« Missmutig ging Bob zur Bar und hob beiläufig den Gegenstand vom Boden auf. Es handelte sich tatsächlich um einen hellen, offenbar ziemlich edlen Lederhandschuh, in dessen Innenseite der Name Ray Whitty eingestickt war.

Während der dritte Detektiv nun seinen Weg fortsetzte, ging – vermutlich infolge einer Gleis-Unebenheit – plötzlich ein heftiger Ruck durch den Coast Imperial. Bob, der gerade die Automatiktür geöffnet hatte, geriet ins Straucheln und stieß im Verbindungsstück zwischen den beiden Wagen gegen einen rothaarigen, gut zwei Köpfe größeren Mann, der seinerseits das Gleichgewicht verlor und fluchend seitwärts taumelte. Mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung öffnete der dritte Detektiv die Tür und trat ein. Im Salon herrschte einige Unruhe. Durch den starken Ruck war eine junge Frau gestolpert und der komplette Inhalt ihrer Handtasche hatte sich auf dem Teppichboden verstreut. Zwei Herren in eleganten Anzügen eilten ihr soeben zu Hilfe, und auch Bob beteiligte sich, ohne zu zögern, am Aufsammeln der herumliegenden Gegenstände. Überschwänglich bedankte sich die Dame und nahm wieder in ihrem Sessel Platz. Erst jetzt bemerkte Bob, dass es in dem luxuriös eingerichteten Wagen immer noch genauso voll war wie bei seinem ersten Besuch, deshalb dauerte es eine Weile, bis er sich einen Überblick verschafft hatte. Das Ergebnis seines Kontrollgangs versetzte ihn jedoch in schiere Fassungslosigkeit: Der übernervöse Mann, der vor wenigen Augenblicken diesen letzten Passagierwagen des Zugs betreten hatte, war spurlos verschwunden!

Unmöglich, aber wahr

Nachdem er seine erste Entgeisterung überwunden hatte, zwang sich Bob zu einer logischen Bestandsaufnahme des bizarren Vorfalls. Eines stand völlig außer Zweifel – der Mann konnte unmöglich bei voller Fahrt und geschlossenen Fenstern den Zug verlassen haben. Doch wo steckte er? Zögernd trat Bob an die Verbindungstür zum Gepäckwaggon, doch diese war, wie er es bereits vermutet hatte, fest verschlossen. In dieser Richtung konnte der Zittertyp den Salon also auch nicht verlassen haben. Aber ebenso wenig auf der gegenüberliegenden Seite – das hätten sie doch bemerkt! Und die nächste Toilette befand sich am anderen Ende des Restaurantwagens nebenan. Es blieb dem dritten Detektiv somit nichts anderes übrig, als unter den Anwesenden herumzufragen, ob sich jemand an den Verschwundenen erinnern konnte. Dies musste natürlich mit Fingerspitzengefühl und vor allem leise geschehen, da einige Passagiere in den bequemen Ruhenischen eingeschlummert waren.

In der folgenden Viertelstunde befragte Bob alle der etwa dreißig wachen Fahrgäste einschließlich des immer noch grimmig dreinschauenden Rotschopfs, der inzwischen in einem Sessel am Kopf des Salonwagens Platz genommen hatte. Die Antworten brachten ihn leider keinen Schritt weiter. Nur wenige Leute hatten den dürren Mann in den Salon kommen sehen. Die meisten von ihnen vermuteten, dass er sich wohl wieder nebenan im Restaurant aufhalte, einer mutmaßte, dass er sich in seine Kabine zurückgezogen habe, da er gesundheitlich angeschlagen ausgesehen habe. Die letzte Befragte war eine soeben aus einem Schläfchen erwachte ältere Dame, die sich gleich redselig als Mrs Lockwood vorstellte.