Das Buch


Orlando, der erste Karlsruher, entspringt bei einem Jagdausflug dem Kopf des schlafenden Stadtgründers Karl Wilhelm. Auf seinen Streifzügen durch die dreihundertjährige Stadtgeschichte macht Orlando Halt im Dörfle, im Schloss, in den Wirtschaften, auf den Straßen der wachsenden Stadt, in Hütten und Palästen. Er verkörpert den jeweiligen Zeitgeist und dessen Sprache, begegnet historischen sowie fiktiven Personen, taucht ein in wichtige Szenen der städtischen Geschichte, erlebt Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven, ist mal Gewinner, mal Verlierer.

Orlando, Abenteurer und Vagabund, immer ein anderer, immer dieselbe, stets unterwegs …

Die Autorin


Martina Bilke war nach dem Studium der Geschichte und Germanistik in der Forschung tätig und unterrichtete, bevor sie sich dem literarischen Schreiben widmete. Sie veröffentlichte Gedichte und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien. Ihr erster Roman »Erben« erschien 2012 bei Der Kleine Buch Verlag.

Martina Bilke war in Rodach, Hanau, Freiburg, Mainz, Wien, Trier, Wörth und Caracas zu Hause. Zuletzt setzte sie sich mit der Geschichte der Stadt auseinander, in der sie schon lange lebt: Karlsruhe. So ist der vorliegende Roman entstanden.


Martina Bilke


Orlandos

Fächer


Roman einer Stadt


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Impressum


Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


© 2016 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement & Lektorat: Julia Barisic

Korrektorat, Satz & Layout: Beatrice Hildebrand

Umschlaggestaltung und -foto: Renate Koch, Karlsruhe

E-Book Konvertierung und Formatierung: Angela Hahn


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E-Book ISBN: 978-3-942637-99-2


Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen, gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturbüros der Stadt Karlsruhe:

ISBN: 978-3-7650-1420-8


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Prolog


Geboren wurde ich in einem Traum und aus diesem Traum hinaus in die Welt.

Mein Erzeuger war auf der Jagd im Hardtwald und hatte mit viel Horrido und Husshusshuss und Heißassa bis in den Abend hinein Wildschweine gehetzt, aber nicht erlegt. Er war empört. Seinem fürstlichen Willen fügten die Sauen sich ebenso wenig wie die Durlacher, die ihm ihre Grundstücke nicht abtreten wollten zur Erweiterung seiner Residenz. Schöne breite Straßen wollte er ihnen bauen, aber sie beharrten auf ihren krummen Gässchen.

Obwohl er sich bei der Jagd mit großem Ingrimm vorgestellt hatte, wie vor ihm die störrischen Durlacher durch das Unterholz brachen, mit Keuchen, Prusten und Schnauben ihres nahen Hinscheidens gewärtig, musste er den Parforceritt abbrechen. Außer der Sturheit seiner Untertanen peinigte ihn ein Karbunkel an der rechten Pobacke, der offenbar kreißte und unter den größten Geburtsschmerzen gebären wollte. Der Reiter war längst hinter der Jagdgesellschaft zurückgeblieben, verfiel in Trab, dann in Schritt, saß ab und ließ die Zügel los. An einem Eichenknubben stützte er sich auf und ließ sich auf die linke Pobacke nieder, bevor er auch die rechte in das weiche kühle Moos sinken ließ. Schon lehnte er den Kopf an den Baumstumpf, schloss die Augen und verfiel in einen tiefen Schlaf.

Daraus sprang ich hervor wie Athene aus dem Haupt des Zeus, allerdings nicht in voller Rüstung wie die Göttin. Fix und fertig stand ich beim Dämmern des Morgens vor ihm in der Tracht des Hofnarren. Sie war mit Schellen und Schildchen behängt, die bei jeder Bewegung klingelten und klapperten, sodass er im Schlaf mit Armen und Händen zappelte, Grimassen zog und schließlich die Worte ausrief: »Gott! Ruhe!«

»Nein, Carl, ruhe du noch ein Weilchen aus«, antwortete ich dem Schläfer, »aber dann gehts weiter mit der Hatz auf die Sauen und die Durlacher! Lass sie nicht so davonkommen!«

Mit einem Ruck öffnete er seine braunen Augen, streckte den Arm aus und zog sich an meiner Hand hoch, bis er aufrecht stand. Er schlug die Lider halb über die Augen nieder und reckte das Kinn empor, sodass er mich quasi von oben her anschaute, obwohl er einen halben Kopf kleiner war als ich.

»Carlsruhe!«, rief er aus, »so soll meine neue Residenz heißen! Leuchten soll sie wie eine 32-fache Sonne!«

Mit einer Geste verlangte er wiederum nach meiner Hand und stützte sich ab, während er auf den Eichenstumpf stieg. Ich klopfte ihm vorsichtig die Reiser und welken Blätter ab, die an seinem Jagdrock hängengeblieben waren. Mit ausladender Gebärde winkte er die herbeieilenden Hofjäger näher, die ihn mit freudestrahlenden Gesichtern umringten. Sie hätten am Vorabend erst bei Einbruch der Dunkelheit bemerkt, dass er ihnen verlorengegangen sei, beteuerten sie. Die ganze Nacht hätten sie nach ihm gesucht und seien dabei von einem tückischen Waldgeist in die Irre geführt worden.

Heftig fuhr Carl Wilhelm mit der Hand durch die Luft und unterbrach ihr Gestammel. »Hier«, rief er in die Runde, »wo ich so ruhig geschlafen habe, soll der Grundstein des Schlosses Carols Ruhe gelegt werden. Ich will’ s! Und«, bei diesen Worten reckte er das Kinn ein wenig mehr in die Höhe, »die Durlacher können mich mal in ihren dunklen Gässchen!«

Der Träumer war der Markgraf von Baden-Durlach, mein Erzeuger. Schöpfer mag ich ihn nicht nennen, um seinen herrschaftlichen Einbildungen nicht noch mehr Futter zu geben. Ein mächtiger Träumer war er wohl, ein Fürst auch, aber kein Gott, was angesichts seines rückwärtigen Malheurs jedem einleuchten muss. Dann ritt er mit seinem Gefolge davon und ließ mich im Walde stehen.

Solcherart in die Welt gespuckt, welche Lebensform eröffnet sich mir? Welche Freiheit bleibt mir als die des Herumtreibers, des Vaganten und der Vagabundin, einer Landstörtzerin und eines Landstreichers, die eines Simplex und Springsinsfelt? Alle mit mir verwandt, alle nicht weit von hier im Renchtal im Hause des Herrn von Grimmelshausen zur Welt gekommen, gebürtige Badener wie ich. Die Lebensform eines Schelmen und Pikaro (eine gewisse Grundbildung ist mir als Kopfgeburt in die Wiege gelegt) ist die einzige, die mir zu Gesichte steht.

Das Reisen ist meine Existenz, jedoch bleibe ich mit einem Bein an meiner Hebamme angebunden, sofern man einen Eichenknorren als solche bezeichnen kann. So sind mir die großen Räume versperrt und ich ziehe mit dem anderen Bein immer weitere Kreise um den Stubben herum. Bildlich gesprochen natürlich, denn am Ort meines Wirkens kann ich mich frei bewegen, aber nur dort. Weil ich im Raum wenig herumkomme, steht mir nur die Dimension der Zeit offen, worin ich vagabundieren will.

Herangewachsen bin ich nicht, sondern als Sechzehnjähriger fix und fertig an meinem Bestimmungsort erschienen. So lange hatte es gedauert, im Kopf meines Herrn heranzureifen. Die Freuden und Leiden des Familienlebens kenne ich weder als Sohn noch als Tochter. Meine Eltern leben im Reich des Abstrakten, meine Geschwister sind Kinder der Fantasie, und sobald ich die Augen aufschlage, befinde ich mich mitten unter ihnen.

Wenn einer nun hämisch lächelt und meint, er müsse mich der Lüge überführen, dem vermiese ich seine Absicht. Ich gebe zu, das ist alles erfunden. Fast alles. Nicht ganz alles. Ja, um die Wahrheit zu sagen, eigentlich recht wenig, bis auf meine Person. Erfunden, ja, aber nicht erlogen. Nach einem entfernten britischen Cousin nenne ich mich Orlando, was in Carolsruhe nicht weiter auffällt, denn dort sammelt sich allerlei Volk aus vielen Ländern, worunter die Italiener und Franzosen nicht die wenigsten sind. Doch ich beginne mein literarisches Leben nicht etwa wie mein britisches Vorbild damit, auf einen verlederten Schrumpfkopf einzusäbeln, pfui Teufel! Ich treibe mich stattdessen überall in der Stadt herum und nehme sowohl an höchst offiziellen als auch offiziösen Haupt- und Staatsaktionen teil, wie man sehen wird.

Wer nennt mich das Produkt eines Karbunkels? Ein Traumgeborener bin ich! Der Traum ist mein Vater, meine Mutter die Starrköpfigkeit der Durlacher, was, zusammengenommen, zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

Erstes Buch

Die Mutter aller Baustellen

Erstes Kapitel


Die Erde, auf der ich lag, bebte. Ein heftiger Luftzug streifte über mein Gesicht und meine Lider wie ein kühler Vorhang, wischte den Traum weg, verstopfte meine Nasenlöcher, verklebte meine Augenwinkel mit Staub und kleinen rauen Krümeln. Gleichzeitig bohrte sich ein Krachen und klagendes Splittern und Knirschen und Kreischen in meine Ohren, während die Erde nachbebte. Ich sprang auf und rieb mir die Augen.

Neben mir lag eine riesige Buche, deren unbelaubte Zweige und Äste noch heftig wogten. Meine Ohren waren verstopft mit Moos- und Rindenteilen, die ich im Schutz meines Eichenstumpfs herauspulte, hinter dem ich gelegen hatte. Während ich den Kopf noch schräg hielt, blickte ich mich um. In einem lichten Kreis aus rohen Holzpfählen, die ein großes Gelände umgaben, sah ich eine Schar von Holzfällern bei der Arbeit. Zusammen mit einem heftigen Niesreiz stieg mir der Duft nach Harz in die Nase, denn der Winter war noch nicht vorbei und der Erdfleck, auf dem ich gelegen hatte, war kalt und feucht. Verschwunden war mein Markgraf, verschwunden die noble Jagdgesellschaft, verschwunden auch mein Hofnarrenkleid. Als ich an mir hinunterblickte, sah ich, dass ich schweres grobes Zeug in braunen und grauen Farben trug.

Die Männer, die ich in meiner Nähe arbeiten sah, stöhnten und schwitzten trotz der Kälte wie ihre Gäule. Ich befand mich im Zentrum des Kreises und beobachtete sie, während ich mich langsam um die eigene Achse drehte, meinen Eichenstumpf als Stütze im Rücken.

Sie arbeiteten immer zu zweit. Die einen hatten die Baumsäge an den Stamm einer Eiche gelegt und produzierten damit kreischende Geräusche beim Hin- und Herziehen durch das jammernde Holz; die anderen trieben Keile in den großen Spalt in einem Ahornbaum; wieder andere sahen zu, wie ihr Stamm krachend fiel, wobei sie mit lauten Habacht-Rufen warnten; eine weitere Gruppe hieb mit der Axt einer bereits gefällten Buche die Äste ab und entrindete sie. Die nackten Stämme wurden von Fuhrleuten mit kräftigen Rückpferden unter lauten Hoho-, Brr-, Hü- und Hott-Rufen abtransportiert. Mir war schwindlig von all der Geschäftigkeit, da erhielt ich einen heftigen Stoß in den Rücken, sodass ich vorwärts stolperte.

»Pack an, Kerle«, brüllte mir einer ins Ohr, weshalb ich vor Schreck einen Satz hinter dem Baumstumpf hervortat. Vor mir stand ein Riese, mindestens zwei Köpfe größer als ich, das rote Haar loderte ihm wirr um den Kopf, die hellbraunen Augen zwinkerten mich an. »Der Storze muss weg«, brüllte er weiter und drückte mir das Ende einer Baumsäge in die Hände, das ich überrumpelt ergriff. Schon sah ich mich gebückt das Blatt durch den Stumpf oberhalb der Erde hin- und herziehen, sodass mir bald der Rücken wehtat und auch die Hände, denn körperliche Arbeit war ich ganz und gar nicht gewöhnt. »Der Storze muss weg«, wiederholte mein Gegenüber, »und dann auch noch der Stiel und die Wurzeln. Alles muss raus – mit Stumpf und Stiel! Anton heiß ich«, brüllte er weiter, als er einmal kurz innehielt im Sägen und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Und du?«

»Orlando«, japste ich.

Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was das hieße, mit Stumpf und Stiel, und mir über Wurzeln und Verwurzelung den Kopf zerbrechen wollte, fühlte ich mich wieder in Bewegung gesetzt. Denn gleich fuhr Anton fort, die Säge hin- und herzuziehen, sodass ich Mühe hatte, im Takt zu bleiben und mich fühlte wie ein Anhängsel des Sägegriffs, das jederzeit im Baumspalt verschwinden konnte. Den gewaltigen Stumpf samt Wurzelwerk aus der Erde ziehen musste ich nicht – das besorgte Anton mit einem kräftigen Gaul, den er mit Ketten davorspannte und welcher sich mächtig ins Zeug legte, um meine Hebamme aus dem Waldboden zu hebeln. In meinem Gedächtnis blieb sie lebendig und hält mich bis in alle Zukunft fest.

Anton ließ mich nicht gehen, er hatte wohl gesehen, dass ich allein auf der Welt und zu wenig nutze war. Also hieß er mich die kleineren Zweige von den gefällten Bäumen abschlagen und einsammeln. Frauenarbeit war das, wie ich bald merkte, denn außer mir taten das nur ein paar Tagelöhnerinnen.

Am Abend bluteten meine Handflächen aus vielen Schürfwunden und aufgeplatzten Blasen, die ich notdürftig mit ein paar von meinem Hemd abgerissenen Fetzen verband. Hierbei half mir mein Freund, der mich dann an den Schultern packte und zu einem rohen Tisch schob. Dort saß ein Aufseher, der mit Heller und Kreuzer klimperte und die Tagelöhner auszahlte. Dazwischen gähnte er immer wieder, konnte kaum die Augen offen halten und sah uns unter hängenden Lidern an. »Die frische Luft«, gähnte er erneut, »in dieser Wildnis all die frische Luft.«

Anton zwinkerte ihm zu, sprach für mich und holte einen halben Tageslohn für mich heraus, indem er meine Hände packte und dem Angestellten des Markgrafen zum Beweis meiner Anstrengungen unter die Augen hielt. »In oinerer Woch sehe d’ Fingerle ganz andaschda aus!«, sagte der, lachte träge auf, wischte sich quer über den Schnauzer und warf mir ein paar Münzen hin.

Als auch Anton seinen Lohn erhalten hatte, führte er mich in das Lager der Holzfäller und Bauarbeiter, die sich in der Nähe niedergelassen hatten, um es nicht so weit zum Rodungsplatz zu haben. Auf dem Weg erzählte er mir, dass hier ein Jagdschloss entstehen solle und viele Arbeiter gebraucht würden.

»Der Turm ist das erste, was gebaut wird«, teilte er mir mit, »ein Jagdstern soll das werden. Da sitzen dann die feinen Herren drin und halten ihre Flinte zum Fenster hinaus. Hinter ihnen stehen die Jagdknechte und passen auf, ob sich was regt auf den Wegen, denn von gegenüber treiben andere Knechte das Wild auf den Turm zu. Dann wird geballert. So wird dem wilden Viehzeug gezeigt, wohin man es mit einer noblen Erziehung bringt.«

Ich kreuzte die Arme vor der Brust, schob meine spärlich verbundenen Hände in die Achselhöhlen und sperrte Augen und Ohren auf. So stolperte ich neben ihm her, weil ich so viel Fremdes sah und hörte, dass ich nicht auf den Weg achten konnte. Anton hielt an einem Bretterstand mit dem Namen Zum Wilden Mann, der am Weg aufgebaut und schön mit verflochtenen Tannenzweigen verziert war. Wein, Bier und Schnaps gab es da zu kaufen, auch etwas zum Essen. Da merkte ich erst, wie hungrig ich war, zumal auch gekocht wurde und warme Düfte unsere Nasen umwehten.

Anton stellte mich dem Budenwirt vor, dem Josef Schöndorf aus Lothringen, und verhandelte mit ihm über den Preis für zwei Näpfe Gerstensuppe mit etwas Kohl darin, die wir gleich heißhungrig hinunterschlangen. So gestärkt begaben wir uns weiter durch den Wald, in dem es aussah, als hätte ein Sturmwind getobt, etliche Bäume herausgerissen und zu Spanholz verarbeitet.

Nach einer kurzen Weile, die Wirkung der Gerstensuppe begann schon nachzulassen, gelangten wir an einen Lagerplatz. Anton zeigte mir ein Zelt, das unter einer Buche aus Pfählen und Leinwand, auch einer alten, notdürftig geflickten Persenning zusammengestückelt war und recht viel Raum einnahm. »Darin ist mein Schlafplatz«, sagte er, »und wenn du willst, kannst du auch hier schlafen, kostet dich ein paar Heller.«

Vor dem Zelt brannte ein Feuer, daran saß auf einem Baumstamm eine junge Frau, die ein Kind stillte, das greinte und zappelte. Neben ihr kauerte ein kleiner Junge und lutschte an einem Tannenzapfen.

»Setzt euch zu mir, Anton und Duda mit den Fingerlen«, sagte die junge Frau müde, »und seid willkommen an meinem Feuer.«

Anton setzte sich neben den dreijährigen Jungen und ich neben Anton, und so hockten wir nebeneinander wie die Zapfen an der Tanne. Mir tat der Säugling leid, und ich beugte mich vor und fragte die Mutter, warum er so weine.

»Nicht genug Milch«, antwortete Anton an ihrer Stelle, »sie hat nicht genug zu essen.« Dabei zog er einen Kanten Brot hervor, den er vom Ausschank mitgenommen hatte, brach ihn sorgfältig entzwei und zögerte. Flüsternd fragte er mich: »Wem soll ich den größeren Teil geben, dem Jungen oder Mutter? Er braucht’ s zum Wachsen und sie füttert zwei.«

Beide, Mutter und Sohn, und dann auch der Säugling, der jetzt schwieg, schauten mit großen Augen auf die Brotstücke in Antons Händen. Der blickte zur Seite und streckte sie ihnen entgegen, sodass sie selbst entscheiden konnten. Hastig bissen sie ab, hastig kauten sie, und die Mutter steckte dem Säugling hin und wieder durchgekaute Bröckchen in den Mund. Sie war eine junge Frau mit braunen lebhaften Augen, über dem rechten saß eine winzige halbmondförmige Narbe, über die sie häufig mit dem kleinen Finger strich. Anton nannte sie Marri oder Mariele, als er ihr erzählte, wie er mich gefunden hatte.

»Im Zelt steht ein Krug Wein«, sagte sie, als sie das Brot gegessen hatte, »holt ihn doch, der wird nicht besser vom Stehen«.

Der Wein war sauer, die Nähe Marris und Antons umso süßer, je weiter die Nacht vorrückte. Menschliche Nähe und Freundschaft hatte ich bisher noch nicht kennengelernt. So wurde mir immer lustiger zumute, bis mir Anton einen Stoß versetzte. »Troll dich, verroll dich ins Bett!«

Im Zelt war es warm im Vergleich zur Januarluft draußen. Auf einer aufgeschütteten Erdbank lagen über einer Schicht aus Tannenzweigen mehrere Strohsäcke. Ich legte mich hin, wickelte mich in einen leeren Sack und schlief sofort ein. In der Nacht erwachte ich einmal von einem Getümmel und Gestöhn neben mir. Der Säugling greinte, der kleine Junge streckte mir einen Fuß ins Gesicht. Doch ich schlief sofort wieder ein, so müde war ich von der Arbeit und vom Wein, der mir geschmeckt hatte, als hätte ich seit eh und je nichts anderes getrunken.

Noch bei Dunkelheit wachte ich zum zweiten Mal auf und verspürte einen heftigen Drang zum Wasserlassen. Anton erhob sich mit mir, er hatte das gleiche Bedürfnis. Wir stellten uns nebenei-nander an den nächsten Baum.

»Woher hatte Mariele den Wein, wenn sie doch kein Brot hat?«, fragte ich.

»Das ist der Sündenlohn«, antwortete Anton. »Mariele ist eins von denen ledigen Menschern, die sich verkaufen, um sich und die Kinder zu ernähren und nicht vor Hunger zu sterben. Bist du noch nie so einer begegnet?«

Das verneinte ich aus vollem Herzen, denn ich war vor ihr noch überhaupt keiner Frau begegnet, und sollte sie jetzt und immer für Menschen halten.

»Wenn wir hier bleiben wollen, wird und muss sich noch einiges ändern. Wir müssen Latrinen bauen«, sagte Anton, schlenkerte ein wenig seinen Zipfel und schloss die Hose.

Da ich nicht wusste, was eine Latrine war, erklärte er mir, dass sich Menschen in einer Stadt nicht einfach an den Baum stellen könnten, um die Notdurft zu verrichten, sondern Gruben dafür anlegten, Häuschen darum bauten und was der Bequemlichkeiten mehr wären. So hatte ich am ersten Tag schon manches gelernt und zwei Freunde gewonnen, und wenn man die Kinder mitzählen wollte, waren es sogar mehr.

Jeden Tag gingen wir mit einer wachsenden Schar von Tagelöhnern, die wie wir im Lager übernachteten, zur Baustelle im Hardtwald und verdingten uns. Hin und wieder ritt auch der Markgraf aus Durlach herüber, meist guter Laune, wenn die Sonne schien, manchmal auch mit saurer Miene, denn es ging ihm niemals geschwind genug. »Ich will leicht und schnell bauen«, hörte ich ihn seinem Gefolge zurufen. »Eh der Franzos’ mir wieder alles verbrennt, will ich es noch genießen, und wenn er’ s verbrennt, dann war es nicht zu teuer!«

Als wir vorerst genug gerodet und das Holz säuberlich im herrschaftlichen Bauhof aufgeschichtet hatten, war es schon Sommer geworden. Inzwischen war ich dem Schreiber aufgefallen, der trotz anhaltender Schläfrigkeit säuberlich Buch führte über die anfallenden und schon verrichteten Arbeiten. Immer häufiger ließ er mich nicht mit den Waldarbeitern Bäume fällen, sondern behielt mich bei sich zu seiner ständigen Verfügung. Er schickte mich als Boten mit allen möglichen Aufträgen hierhin und dorthin, da ich flink auf den Füßen und im Kopf war. Ja, ich stellte mich so geschickt an, dass er meinen Lohn erhöhte und ich mit leichterer Arbeit nun mehr verdiente als zuvor. Schade war es nur darum, dass Anton und ich nicht mehr den ganzen Tag zusammen waren, aber wir sahen uns ja abends auf dem Heimweg, spätestens aber beim Ausschank Zum Wilden Mann.

Als im Juni der Tag der Grundsteinlegung gekommen war, gingen Anton und ich quer durch den Hardtwald zur Baustelle. Dort suchten wir uns einen Platz, nicht zu nahe am Ort des Geschehens, um nicht vertrieben zu werden, aber doch nah genug, um alles gut sehen und hören zu können. Wir kletterten einen Baum hinauf und setzten uns nebeneinander auf einen starken Ast, so hatten wir einen guten Überblick. Über die Allee, die von Durlach nach Mühlburg führte, näherte sich mit Pauken und Trompeten und unter dem Klang von Jagdhörnern der Markgraf mit seinem Gefolge. Er hatte heute schon, wie angekündigt, in der Durlacher Carlsburg einen kriegsrechtlich zum Tode verurteilten Soldaten begnadigt, um die Gründung seiner neuen Residenz mit der rechten Gnadensonne zu überglänzen. Denn einer Sonne sollte sie gleichen und obendrein den Gang der himmlischen Sonne anzeigen. Durlach dagegen: ein finsteres Schneckenhaus mit vielen Windungen, in das sich ein Stadtgeist wohl verkriechen, sich hineinrollen konnte, um gestärkt daraus hervorzugehen. Ein Städtchen, mit seinen Gärten und Wingerten in die Arme des Turmberg und des Augustenberg wohlig hineingeschmiegt. Die Carlsburg: ein Außenskelett, eine Höhle, doch nicht unverwundbar. Und vor allem nicht repräsentativ. So oder ähnlich erklärte mir Anton, was den Herrn Markgrafen umtrieb.

Ich saß neben meinem Freund auf unserem Baum ganz nah der Stelle, wo ich einst das Licht der Welt erblickt hatte. Ein halbes Jahr war das erst her und kam mir vor wie ein halbes Leben, war doch die Zeit hinter mir eingeschnurrt und hatte mir mit der Gegenwart eine gehörige Menge Zukunft beschert.

Nun also: Sie kamen, die Jäger bliesen noch einmal die Fanfaren, man saß ab und die Feierlichkeiten begannen. Wer nun gedacht hatte, die Grundsteinlegung sei der eigentliche Festakt und Grund genug zum Feiern, der sah sich enttäuscht. Der Hofmarschall Rotberg trat vor, entrollte eine Urkunde und begann vorzulesen, dass Carl Wilhelm sich entschlossen habe, zu seiner künftigen Ruhe und Gemütsergötzung eine fürstliche Residenz aufzubauen.

Schon hier konnten Anton und ich uns das Lachen nicht verkneifen. »Künftige Ruhe, wahrscheinlich vor seiner Magdalena Wilhelminae, dem Durlacher Hofdrachen!«, zischte mir Anton ins Ohr.

Ich zischte zurück: »Gemütsergötzung? Eher wohl Leibesergötzung mit etlichen Durlacher Sängerinnen und Nähmädchen!« Über das Liebesleben unseres Fürsten war im Wald nach Feierabend gern und oft getratscht worden ...

Unterdessen verkündete der Hofmarschall, dass die Residenzgründung nicht prächtig genug gefeiert werden könne, und deshalb habe Carl Wilhelm einen neuen Ritterorden gegründet, den der Fidelitas, was, wie jeder wisse, Treue bedeute. Mein Herr, der auf einem Jagdsessel Platz genommen und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck gelauscht hatte, stand nun auf, reckte sich in die Höhe und wies Rotberg mit einem Wink der Augen und einem Ruck des Kinns an, sich etwas zu beeilen, was dessen gravitätischer Art sich zu bewegen deutlich widerstrebte. Schließlich nahm er von einem bereitgestellten Tisch ein silbernes Becken, in dem etliche Orden ruhten, die nur so blitzten vor Neuheit, und beugte vor Carl Wilhelm die Knie. Der setzte die Schale wiederum auf dem Tisch ab, entnahm ihr eines der Ordenszeichen und legte es dem ersten Fidelitas-Ritter an, seinem Bruder, dem Markgrafen Christoph. Dann dem Leopold von Rotberg, der nun schon zum zweiten Mal niederknien musste, und noch sieben weiteren Ordensrittern. Alle gelobten sie ihm mit treuem Handschlag und Augenaufschlag Fidelitas über Fidelitas und wahre Fidelitas. Und wieder Fanfaren über Fanfaren, Trommelwirbel und Hörnerklang, sodass wir uns die Ohren zuhielten auf unserem Baum.

Dies war der erste Teil der Feier, aber jetzt kam das Eigentliche. Denn alle Ritter stellten sich zur Rechten ihres Ordensherrn auf und schritten zu dem Loch und Fundament. Dort wurden von dem Herrn von Löwencron die Gegenstände präsentiert, die für alle Ewigkeit Zeugnis ablegen sollten für die Gründung: eine Medaille und wertvolle Münzen mit dem Porträt des Fürsten, eine Flasche badischen Weins und ein lateinisches Gedicht, von Johannes Malsch schön in altem griechischen Versmaß geschrieben, wie er mir später erklärte, sodass die Wörter beim Vorlesen förmlich tanzten. Mich wunderte jedoch das alte Lateinische und Griechische, hatten wir doch genug neue Franzosen, Italiener und Israeliten hier. Später übersetzte ich es mir ins Deutsche, wobei ich zweifle, ob Prorector Malsch es wirklich so gemeint hatte mit seiner Wortwahl:

Jetzt wird gesetzt, juchee!, vom Fürsten Carl der Stein,

Auf dass er zuerst dann in die aufgegrabene Erde gelange

Und trage sogleich den zu den Sternen aufragenden Turm,

Er daure, heissa, und habe Bestand in späteren Zeiten,

Und je weiter er dauert, soll auch jener erstarken

Und weiter wachsen an Größe aus eigener Kraft!

»Juchheissa!« und »Vivat!«, riefen dann alle, als der Markgraf mit einem Hämmerchen den Grundstein zurechtklopfte, und Anton und ich und viele andere warfen ihre Mützen hoch in die blaue Sommerluft. Dann aber durften wir aufwarten. Für manche begann jetzt das richtige Fest und für uns die Arbeit, denn in der Bauhütte wurde auf jägerliche Art zu Nacht gespeist mit allerlei Wildbret und Würsten von selbst erlegten Wildschweinen. Die vielen Trinksprüche, die auf den Fidelitas-Orden, auf den Grundstein, den ragenden Turm, den Fürsten ausgebracht wurden, waren nicht zu zählen. Wir schleppten Eimer um Eimer badischer, württembergischer und französischer Weine herbei und konnten kaum damit nachkommen. Im Laufe des Vespers nahmen die Trinksprüche einen immer intimeren Charakter an, die Anspielungen auf den in die Zukunft ragenden Turm vermischten sich mit Andeutungen auf die körperliche Tüchtigkeit des Fürsten, was dieser sich wohl gefallen ließ, ja mit zunehmendem Gelächter und stolzer Miene quittierte. Der Tag endete in einem so herrlichen Besäufnis, dass die Kavalkade Mühe hatte, nach Durlach zurückzufinden.

Anton und ich lagen bitzblankvoll hinter der Bauhütte, denn auch wir hatten unseren Teil an fester und flüssiger Nahrung verschnabuliert, als der Markgraf mit Gefolge abgezogen war. Noch lange sprachen wir über die prächtige Zeremonie und die neuen Ritter, wie sie so schön niedergekniet waren bei ihrem Handgang und ihrem Ordensherrn in die Hand Fidelitas geschworen hatten.

Den feierlichen Tag beschlossen wir bei der Schänke Zum Wilden Mann, wo inzwischen das Bärbele als Schankmagd aushalf und unter uns Waldarbeitern einigen Aufruhr verursachte. Sie konnte Blicke werfen, dass mir seltsam eng oben in der Brust und unten in der Hose wurde, sodass ich Anton um Rat fragen musste.

Der lachte mich aus. »Geh und hol sie dir!«, riet er mir, doch ich wusste nicht so recht, was er meinte, obwohl ich jede Nacht neben ihm und Mariele verbrachte.

Nach dem Festtag kamen die Maurer, mauerten den Turm weit hinauf und setzten viele kleine Kämmerchen hinein, immer rundherum. Doch hörte das Holzfällen nicht auf, denn das ganze Schloss bis auf den Turm wurde ganz und gar aus Holz errichtet. Aus Durlach kamen viele weitere Helfer, die mussten fronen und jammerten mächtig darüber, blieb doch zu Hause die eigene Arbeit liegen. Auch brachten sie weitere Fuhren Bauholz. Tausend sollen es gewesen sein, ich zählte sie nicht. Meine Gedanken galten den Menschen, die sich um mich her versammelten.

In einer der Nächte sah ich, wie sich vor mir auf der Lichtung ein aus Holz erbauter Saal erhob. Die Säulen, die sein Dach trugen, waren Bäume, wie wir sie jeden Tag fällten. Eine eigentümlich quäkende, schnelle und heitere Musik ertönte, ein Reigen formierte sich, der sich rundherum drehte. Kaum hatte ich Carl Wilhelm erkannt und ihm die Hand gereicht, sprangen wir schon aneinander vorüber und drehten uns dabei, und mir stand ein anderer Partner gegenüber, der mir zuzwinkerte wie Anton, und die Hofleute aus Durlach und Prorector Malsch und die Baumfäller und Tagelöhner und die Marri mit ihren Kindern reichten sich kurz die Hände, als ob sie Schwung holen wollten für ihren Drehsprung. Wie auf einer Sternenbahn drehten sich alle, denen ich bisher begegnet war, im Reigen herum und immer rundherum, sodass mir noch schwindlig im Kopf war, als ich erwachte.

Zweites Kapitel


Eine bunte Gemeinschaft entstand im Hardtwald, Scharen von Tagelöhnern und wandernden Gesellen kamen dazu. Auch etliche Frauen, die man woanders verjagt hatte, Dienstmägde mit ledigen Kindern, Tagelöhnerinnen nahm man gerne auf, und so blieb unser Mariele nicht die einzige. Da wir sie regelmäßig mit Nahrung versorgten, wohnten wir weiterhin zusammen. Sie flickte und wusch unser Zeug, kümmerte sich ums Feuer und kochte ab und zu. Nebenher nahm sie auch Kleider von anderen Tagelöhnern an, flickte und wusch sie gegen ein paar Heller Entgelt, wenn sie so zerschlissen und fleckig waren, dass man sie nicht mehr sonntags zum Gottesdienst tragen konnte. So ging das bis weit ins Jahr hinein.

Eines Morgens Ende August, ich stand neben Anton und anderen und wartete auf die Einteilung zur Arbeit, sahen wir vom Schwabesträßle her einen Wanderer kommen. Er ging hoch aufgerichtet, hatte ein ordentliches Bündel dabei und grüßte knapp, als er bei uns angelangt war. »Conrad Zwickel«, sagte er zum gähnenden Sekretarius, »von Beruf Zimmermann.« Dabei blickte er in die Runde.

»Ui, der ist was Besseres als wir«, flüsterte Anton mir zu, »der hat was gelernt.«

Der Neue trug das wellige hellbraune Haar lang und zu einem Zöpfchen gebunden, in die Stirn fielen ein paar kurzgeschnittene Locken. Ein dünner Nasenrücken bog sich über den bis in die Wangen verlängerten Schnurrbart. Die Nase schien ständig zu wittern, unablässig wendete Conrad den Kopf hin und her. Der Mund war schmal, die Lippen zusammengekniffen. Beim Sprechen näselte er, als brächte er sie nur mühsam auseinander.

Er wurde sofort als Zimmermann eingestellt, denn solche wie ihn konnte man beim Schlossbau gut brauchen, hatte er doch hervorragende Referenzen und zuvor bei drei Schlossbauten mitgeholfen. Das erste war das André’ sche Schlösschen in Kochendorf, wie er dem Schreiber mitteilte und dabei um sich sah, als wolle er sich vergewissern, dass auch alle zuhörten.

»Ein Schlösschen, da übte er wohl erst!«, sagte Anton zwinkernd zu den Umstehenden. Die Zuhörer feixten.

»Dann besserte ich Schloss Zaberfeld aus«, hörten wir Conrad mit erhobener Stimme und verstärktem Näseln sagen, »das war eine Arbeit für Fachleute, nicht für Ungelernte.« Ein weiterer Blick schweifte über die gaffende Runde. »Dann arbeitete ich am Schloss Bonfeld. Liegen alle im Württembergischen, die Schlösser.«

»Und das letzte ist eine Ruine. Ich kenne mich auch aus bei den württembergischen Schlössern!«, rief der Maurer Vinzenz Mitterauer. »Das soll abgerissen werden!«

Ihn traf ein scharfer Blick Conrads, der nebenbei die Schultern zuckte und den Schreiber herausfordernd ansah. Eingeschüchtert von solch herrschaftlichem Gehabe notierte der seinen Namen und schickte ihn weiter zum Bauhof, wo er eingestellt und ihm Arbeit zugewiesen werden sollte.

Abends beim Ausschank Zum Wilden Mann trafen wir ihn wieder. Er stand schon dort, als wir kamen und ließ sich vom Bärbele bedienen. Mit dem Becher Bier in der Hand erzählte er von Schlossbauten, vergangenen und zukünftigen, und dass man ohne Zimmerleute nichts zuwege bringen könne. »Alles fällt zusammen ohne Zimmerleute, nichts bleibt aufrecht ohne Balken und Pfosten!«, rief er und hob den Becher.

»Richtig«, riefen andere Zimmerleute, »ohne uns geht gar nichts!«

»Awwah!«, riefen die Maurer, »der steinerne Turm, der geht auch ohne euch!«.

»Aber nur ohne Stockwerk und Dach, denn da braucht’ s Verstrebungen, Gebälk, Dachstuhl und Fachwerk zwischendrin, sonst regnet’ s rein in euren steinernen Turm bis auf die Grundmauern!«

»Kommt ein Bleidach drauf«, konterten die Maurer.

So ging das fort. Anton sah mich an und tippte sich an die Stirn. »Und ohne uns hätten sie kein Holz und keinen Stein, wir haben Bäume gefällt, Steine gebrochen, Fuhrwerke beladen und alles hergefahren«, flüsterte er mir zu.

Ich hörte kaum hin, keinen Blick konnte ich vom Bärbele wenden und wurde trauriger und trauriger, denn sie hing an Conrads Lippen, nickte bekräftigend zu dem, was er sagte, und ließ die Augen nicht von ihm, bis sie das Bier neben den Becher goss. Da hätte man aber den Wirt hören sollen, Zum Wilden Mann hieß sein Ausschank nicht zu Unrecht!

»So ein Seckel!«, war Antons abschließendes Urteil über Conrad, als wir zu unserem Zelt gingen, vor dem Marri und die Kinder schon auf uns warteten. Aber wir hörten noch lange das Geschrei vom Ausschank her und ich konnte schlecht einschlafen, weil ich an das Bärbele denken musste.

Im Herbst kam die Verkündigung der Stadtprivilegien, die so viele Freiheiten gewährten, wie man sie kaum kannte, sogar eine eigene Gerichtsbarkeit, wenn auch markgräflich eingeschränkt. Sein gutes Recht, aber auch unseres! Und freie Wahl der Religion, keiner sollte sich hierin nach dem Landesherren richten müssen. Der Turm stand und ragte unter Mitwirkung aller Bauarbeiter, ob Zimmermann, ob Maurer, so weit in den Himmel hinein, dass der Markgraf von dort aus einen wunderbaren Blick über seine Schlossanlage, seine Gärten, seinen Straßenfächer hatte. Und über seine Untertanen – nichts konnte ihm entgehen, was in seiner Stadt passierte, auch wenn darin freie Bürger und keine neuen Leibeigenen wohnten. Leibeigen blieben nur die, die es vorher schon waren.

»Also nicht nur ein Schloss, sondern gleich eine Stadt!«, riefen viele, »da lohnt es sich zu bleiben! Da müssen Häuser gebaut, Straßen angelegt werden! Vivat Carolus!«

Manch einer fing an zu rechnen, ob er sich den Bürgerstand mit all seinen Freiheiten leisten könne. Große Pläne machte Conrad, denn jeder ordentliche Handwerksgeselle durfte mit dem Bürgerrecht den Meisterbrief erwerben. »Wenn ich jetzt genug verdiene und gut arbeite, werde ich gar Hofzimmermann!«, verkündete er abends im Wilden Mann. »Warum nicht?« Er blickte umher, als wolle er jeden verwarnen, der ihm diesen Titel streitig machen könnte.

Bärbel lachte ihm zu, hob die Arme weit hinter den Kopf und nestelte das Häubchen über ihren rotblonden Haaren zurecht, während ihre Zunge leicht über die Unterlippe wischte. Conrad hob den Becher und trank auf ihr Wohl. Er wird sie wohl mitnehmen, dachte ich bei mir, und mein Herz wurde eine Mördergrube.

So ging das Leben mit Rackerei und Plackerei, auch mit manchen Annehmlichkeiten weiter, und die Arbeit und der Verdienst und die Gesellschaft all der anderen machten mich manchmal ärgerlich und traurig, meist aber fröhlich. Und je länger und fleißiger wir arbeiteten, desto näher schafften wir uns an den Zeitpunkt he-ran, der uns heimatlos machte.

Im Herbst 1716 wurde uns verkündet, dass wir unsere Zelte und Hütten abreißen müssten – bald sollte der Hof umziehen von Durlach nach Carolsruhe, der Markgraf wolle das so. Schließlich ginge es nicht an, dass man das Wort von den Hintersassen allzu wörtlich nehme, hinter dem Schloss, sozusagen im Hinterzimmer des Markgrafen sitzen bleiben, konnten wir nicht. War doch das Gelände rund um den Turm ein einziger Bauplatz, die Mutter aller künftigen Baustellen.

Anton und ich beratschlagten lange, was wir tun sollten, denn da waren ja auch noch Marri und die Kinder. Ich war wegen meiner besonderen Natur an den Ort gebunden, ich konnte nicht gehen, und Anton war es zu ungewiss, sich aufzumachen mit seinem Mariele. Wie würden sie anderswo aufgenommen werden mit den Kindern?

Verbissen pflügte die Stadt sich durch den Hardtwald hindurch, das Schloss hinter sich, das kein Bollwerk war, sondern wurmzerfressen binnen kurzem, keine Festung, nur ein hölzerner Anspruch in der Ebene.

In einer neuen Siedlung am Landgraben, dem kleinen Flüsschen außerhalb des Waldes südöstlich der geplanten Stadt, hatten Leute wie wir damit begonnen, aus dem Überfluss an Holz Bretterbuden und Baracken zu bauen. Sogar kleine Häuschen standen plötzlich da, errichtet von denen, die sich das leisten konnten. So bekamen mein Freund Anton Schad, sein Mariele mit ihren Kindern und ich eine Stube bei Bartholomäus Schönberger, seiner Frau Barbara und ihren drei Kindern.

Wir fühlten uns nach dem Leben im Wald wie die Fürsten in unserer engen Stube. Marri lachte und sang nur noch, die kleine weiße Narbe über dem rechten Auge war sehr verblasst, denn sie bekam nun mehr zu essen und konnte auch ihre Kinder besser füttern. Betten, einen Tisch und Hocker schreinerten wir uns aus Holzabfällen selbst zusammen. Auch der Schönberger arbeitete beim Bau wie fast alle aus unserer Siedlung, allerdings in der Stadt, am Zirkel und an den Bürgerhäusern. In den vergangenen Monaten waren so viele neue Siedler zugezogen, die sich vom Schlossbau Lohn und Brot erhofften, dass wir unsere Siedlung Klein-Carolsruhe nannten. Viele sagten aus Bequemlichkeit Dörfle, denn der andere Name schien gar zu pompös für das Kreuz und Quer an Baracken, Hütten, Erdlöchern und Zelten, zwischen denen halbnackte Kinder herumliefen, auch Hunde, Schweine und Hühner.

Wenn es regnete, war in dem Matsch kaum ein Durchkommen, und wenn es lange trocken war, wirbelte der Wind den Staub umher, dass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Aber so war es nicht nur bei uns, sondern auch in Groß-Carolsruhe, das noch kleiner war als unser Dörfle, wo aber prächtigere Häuser entstanden. Denn es gab mehr arme Leute in der Gegend, die Arbeit suchten, als reiche, die sie zu vergeben hatten. Im Gegensatz zur Stadt hatte unsere elende Siedlung sogar einen dritten Namen, nämlich Kalabrich wegen der vielen zugewanderten Italiener. »Herg’ loffene!«, lästerten die Durlacher und verdächtigten uns der Briganterie, was nichts anderes bedeutete als Straßenraub und Wegelagerei. Immer noch hatte der Markgraf Schwierigkeiten mit jenen widerspenstigen Untertanen. Er sorgte dafür, dass in Carlsruhe ein willfähriger Stadtrat gewählt wurde, der vom Hof wirtschaftlich abhängig war und nicht aufmucken würde.

Ein Innenskelett bauten wir der Stadt mit den Radialstraßen, quergestützt durch Inneren und Äußeren Zirkel, doch ungeschützt auch diese. Müssen Sonnenstrahlen gestützt werden, fragte ich mich. Ausgänge und Eingänge waren die Tore der Stadt, offen für Freund und Feind, Nachrichtenwege eher als Kontrollpunkte oder Bastionen.

Conrad Zwickel hatte es tatsächlich geschafft, ein Modellhaus auf Raten zu kaufen und sah damit in absehbarer Zeit das volle Bürgerrecht vor sich. Das verkündete er an einem der letzten Abende im Wilden Mann, bevor er seinen Becher austrank, in alle Richtungen grüßte, sein Bündel nahm und sich in Richtung Lange Straße aufmachte.

»Der Zwickel, der Zwackel«, sagte Anton versonnen, »der bringt es zu was. Bald kennt er uns nicht mehr«, und er legte den Arm um sein Mariele.

Immer noch gingen Anton und die anderen Tagelöhner jeden Tag zum markgräflichen Bauhof, um sich den Tagedienst zuweisen zu lassen. Ich bekam immer häufiger Aufträge als Bote. Sobald die Hofleute aus Durlach zugezogen waren, gab es zusätzliche Bedürfnisse zu erfüllen. So schnell, wie hier die Handwerke und die Häuser aus dem Boden schossen, konnte ich mich kaum umdrehen. Jedes Mal, wenn ich durch die Stadt ging, sah ich eine neue Baustelle, ein neues Haus oder Häuschen errichtet, ein neues Gärtchen angepflanzt. Ebenfalls aus dem Boden schoss, was von der Baustelle und dem Wilden Mann im Hardtwald herübergewuchert war wie junges Gras – die Wirtshäuser, für eine so junge Stadt bemerkenswert viele.

Manchmal machte ich in der Wirtschaft Zum Kreuz Rast, obwohl die knorrigen Hocker im Schankraum mehr als unbequem waren. Der neue Wirt war nämlich ein alter Bekannter, der Metzger Josef Schöndorf, der schon den Ausschank Zum Wilden Mann betrieben hatte. Er hatte den Zug der Zeit erkannt und sich rechtzeitig einen Bauplatz gesichert, den er wie alle Neubürger umsonst bekam, ebenso das Bauholz und den Sand, den man zum Bauen brauchte. Zur Untermiete hatte er den Maurer Vinzenz aufgenommen, der im Hardtwald den Streit mit Conrad Zwickel angefangen hatte.

Neben der Metzgerei und der Wirtschaft betrieb der Hauswirt einen gut gehenden Handel mit Metzelsupp, Würsten, Brat- und Siedfleisch und zusätzlich eine Fleischbank auf dem Wochenmarkt. Aber der unfreundliche Kerl war nicht der Grund für meine Besuche, obwohl das Essen bei ihm gut war. Das Bärbele arbeitete noch immer als Magd für ihn, ich hatte ihr geholfen, ihr schmales Bündel aus dem Wald in das Wirtshaus zu schaffen. Nun hatte sie einiges zu besorgen, nicht nur den Ausschank, sondern auch den Haushalt und musste noch beim Schlachten und Wursten helfen, denn des Metzgers Frau war gestorben und hatte drei Kinder hinterlassen.

Dort traf ich den Conrad Zwickel wieder, als ich nach einiger Zeit dem Bärbele einen Besuch abstatten wollte. Ich hatte mir etliche gute Worte überlegt und wieder verworfen und überließ es dem Zufall, wann ich ihr was und wie sagen wollte. Mir wurde es immer noch eng an allen möglichen Stellen, wenn ich nur an sie dachte.

Als ich die Wirtsstube betrat, waren außer einem grinsenden Conrad nur der Wirt und der Vinzenz Mitterauer anwesend. Alle drei regten sich gewaltig auf, schrien herum und bezichtigten einander gegenseitig einer ominösen Vaterschaft, wobei sie immer wieder in Gelächter ausbrachen und sich gegenseitig die Ellenbogen in die Rippen stießen. Als ich so laut auf den Tresen klopfte, dass es ihnen einen Moment lang den Atem verschlug und sie mich mit offenen Mäulern anstierten, konnte ich sie endlich fragen, wo denn das Bärbele sei.

»Das Bärbele? Das Bärbele?«, wurden sie nicht müde zu wiederholen, »er fragt nach dem Bärbele?« Wieder hielten sie sich die Seiten vor Lachen, das aus ihren Hälsen heraussprudelte wie die Gülle aus dem Ochsen.

»Er fragt nach dem Bärbele!«, rief Conrad wiederholt, hielt dabei einen Zeigefinger in die Höhe und wackelte damit hin und her, was den anderen beiden wieder unmäßige Lachsalven entlockte. Den Lothringer Schönberg hatte ich überhaupt noch niemals so lachen sehen wie jetzt. Ein ungutes Gefühl schlich in meinen Magen, der sich zusammenzog, und in mein Herz, das sich unmäßig zu erweitern schien.

»Willst du etwa auch Ansprüche anmelden?«, brüllte Vinzenz in das Gelächter hinein, wackelte ebenfalls mit dem Zeigefinger und drehte ihn Richtung Hinterhof.

Schnell stürzte ich zur Hintertür hinaus und blickte mich im Hof um. Auf dem Abtritt, dessen Tür offen stand, saß das Bärbele fest in seine Röcke gewickelt und heulte, als wolle es sein Inneres nach außen kehren. Als ich sie beim Namen rief, verursachte das einen neuen Anfall, der sich in lauten Schreien entlud, die eher wütend als traurig klangen. Sie stand auf, und während sie auf mich zu stolperte, erkannte ich zu meinem großen Schrecken, dass sie einen dicken Bauch vor sich her trug. Ich öffnete den Mund, doch keins der wohlpräparierten Worte wollte sich einstellen. Ich wich zurück, während sie auf mich zukam und der Matsch unter unseren Füßen schmatzte. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken an der Hauswand stand. Ihr gedunsenes und verschmiertes Gesicht lag an meiner Schulter, während sie mir ins Ohr heulte und schrie, dass das Kind drei Väter habe oder keinen. Was hätte ich noch gestern dafür gegeben, sie so nah bei mir zu haben! Jetzt wurde es mir unangenehm eng und ich schalt mich innerlich aus, dass ich nicht auch rechtzeitig zugelangt hatte wie der Vinzenz, der Schönberg oder der Conrad Zwickel.

»Du magst mich doch«, heulte das Bärbele, »ich hab dir doch immer gefallen. Mach du mich zur ehrlichen Frau, ich bin doch keine Hur!« Ihre Stimme war heiser, wurde beim Sprechen immer leiser und versagte beim letzten Wort völlig. Nur noch geröchelt kam es heraus, als sei ihr jetzt erst bewusst geworden, was sie sagte, und dass ihr Bauch bestätigte, was ihr Kopf nicht wahrhaben wollte.

Als die anderen auch auf den Hinterhof kamen und sich immer noch die Seiten hielten, richtete sich Bärbel auf, und jetzt war es die blanke Wut, die aus ihr sprach. Sie ergriff den Reisigbesen, der an der Wand lehnte, ging damit auf den Schönberg los und beschimpfte ihn nach Strich und Faden, obwohl er ihr Brotgeber war. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schützte ihn mit den Armen. Selbst der Hofhund kniff den Schwanz ein und presste sich seitwärts gegen die Mauer. Da sah ich, dass sie gut für sich selbst sorgen konnte, und verließ schnell das Anwesen. Hinter mir drückten sich die beiden anderen hinaus, während Bärbels Schimpfereien noch so laut hinter uns her schallten, dass in der Gasse alle Hunde anschlugen.

Zur Ehefrau konnte und wollte ich sie nicht machen, auch nicht der Vinzenz Mitterauer, auch nicht der Conrad Zwickel. Die heirateten nicht viel später auf unterschiedliche, aber jeder auf erfolgversprechende Weise. Mit Einwilligung des Stadtrats nahm Vinzenz die 25 Jahre ältere Maurermeisterswitwe Dorothea Kleinin zur Frau, die das Geschäft trotz vieler offener Aufträge nicht ohne Ehemann fortführen konnte. Ihr Mann war auf der Ritterstraße vom Gerüst gestürzt und hatte sich den Hals gebrochen. Vinzenz baute mit Hilfe der Witwe, nunmehr seiner Ehefrau, einen florierenden Betrieb auf und wurde, weil sie das Aufnahmegeld zahlen konnte, ein geachtetes Mitglied der Maurer- und Steinmetzzunft.

Conrad Zwickel dagegen, mit seinem Drang zum Höheren, heiratete, nachdem er das Bürgerrecht erworben hatte und in die Schreinerzunft aufgenommen worden war, eine Garderobenmagd. Sie hatte am markgräflichen Hof gearbeitet und folglich eine bessere Erziehung genossen, jedenfalls was ihre Manieren, ihren Umgang mit Nadel und Faden und ihre gesellschaftlichen Ansprüche betraf. Als ich ihn viel später wiedertreffen sollte, stand der hochfahrende Conrad völlig unter ihrem Pantoffel, den sie ihm bei jeder Gelegenheit um die Ohren schlug. Das Näseln war ihm vergangen.

Das unglückliche Bärbele jedoch setzte, als sie merkte, dass weder ich noch ein anderer sich breitschlagen lassen wollte, ihren Hauswirt und Chef unter Druck. Sie drohte, ihn mit dem Haus, den Kindern, auch dem ungeborenen, der Wirtschaft und der Metzgerei im Stich zu lassen. Da hatte er ein Einsehen und eine tüchtige Arbeitskraft gratis dazu, wenn auch um den Preis der Eheschließung, was ihn seines guten Rufes wegen bitter ankam. Doch das Bärbele hatte Haare auf den Zähnen, sie wehrte sich gegen die üble Nachrede. Nach Jahren hörten die Leute damit auf und zeigten hinter dem Rücken der Eheleute nicht mehr mit den Fingern, denn diese führten ein fleißiges Leben, bekamen viele Kinder und wurden wohlhabend, was immer am meisten überzeugt.

Ich aber schlug mir das Bärbele aus dem Kopf und schwor mir, mich nie wieder zu verlieben und das Herz aus dem Spiel zu las-sen, wenn mich auch meine Bedürfnisse hin und wieder zu den käuflichen Frauen trieben. Das war vielleicht nicht recht, weil ich ihre Notlage ausnutzte, aber jeder musste sehen, wo er blieb. Jeder war an seinen Platz gestellt.