Informationen zum Buch

»Aber es galten andere Gesetze, wenn man in den Wald hineinging; vorsichtig zuerst und dann immer tiefer; über die erste kleine Holzbrücke, und über die zweite; wenn immer mehr Tannen die letzten Traubeneichen verdrängten. Man konnte es auch so sehen.«

Er ist fremd. Er ist verführerisch. Er schlägt sie, betrügt sie und belügt sie. Bis sie eines Tages schwanger wird. Ein poetisches Lehrstück über Liebeswahn.

»Mit bewundernswerter Leichtigkeit erzählen Ela Angerers Bücher Verstörendes und existenziell Verunsicherndes, ohne den Leser je im Stich zu lassen.«

Thomas Glavinic

»Ela Angerers Blick auf die Welt um sie herum ist röntgenhaft.«

Volker Weidermann

So jemanden wie Bojan hat Valerie noch nie gesehen. Er ist stark und sanft zugleich, hat zahllose Frauen, macht obskure Geschäfte und bewegt sich durch Wien wie ein junger Gott. Er nennt sie Madame, weil ihm ihre vornehme Herkunft zuwider ist. Sie bemüht sich um die Gunst seiner serbischen Mutter, die an ihrem eigenen Sohn längst verzweifelt ist. Valerie liefert sich Bojan mit ihrer ganzen jugendlichen Naivität aus. Vollkommen bereitwillig begibt sie sich in Bojans Welt, in der andere Gesetze und Regeln gelten. Denn Bojan schlägt sie. Und lange Zeit denkt Valerie, sie hätte diese Schläge verdient.

30 Jahre später: Valerie lebt ein geregeltes Leben und ist bei einem großen Unternehmen angestellt. Die Geschichte von damals hat sie verdrängt – bis Bojan eines Tages wieder Kontakt zu ihr aufnimmt.

»Und die Nacht prahlt mit Kometen« ist ein Roman aus einer Zeit, als es in Wien noch Mehrfachtelefonanschlüsse gab, als man Schulterpolster und Neonfarben trug, während man zu Falco tanzte, als die Fernsehsender nachts noch Testbilder zeigten und Tschernobyl und Waldheim die Schlagzeilen dominierten. Ein Roman der beweist, dass Liebe doch falsch sein kann.

Ela Angerer

Und die Nacht prahlt mit Kometen

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Über Ela Angerer

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Ich möchte über den Frieden schreiben.

Denn der Frieden, den ich meine,

das ist der eigentliche Krieg.

Ingeborg Bachmann

1

»Du schaust dem Neger nach.«

Bojan stieg aufs Gas.

»Schaust du dem Neger nach?!«, schrie er.

Sie saß auf dem Beifahrersitz und sah aus dem Augenwinkel, dass er ihr sein Gesicht zuwandte. Die Finger ihrer rechten Hand krallten sich an den Türgriff, mit der linken Hand hielt sie sich an ihrem Knie fest.

Bojan wandte sich kurz ab, überfuhr eine Sperrlinie und ließ den Wagen auf der freien Gegenfahrbahn weiterziehen.

Die große Einkaufsstraße stimmte sich auf den beginnenden Abendverkehr ein; Autos schossen aus Seitengassen und versuchten sich in den nervösen Rhythmus einzufädeln. Auf den Gehsteigen liefen mit Taschen und Kindern bepackte Passanten um die Wette. Vor Rudis Jeans-Shop flatterten neonfarbene Schals auf Kleiderständern im Wind.

Zu Beginn der Fahrt hatte sie durch das Seitenfenster jedes einzelne dieser Bilder in sich aufgenommen. Jetzt raste der Wagen mit einer Geschwindigkeit dahin, die alles zu einer langgezogenen Fläche verwischte.

Bojan stieg weiter aufs Gas.

»Wie eine läufige Hündin!«, schrie er.

Sie spürte den ersten dumpfen Schlag.

Als ob ihr eines der großen Postpakete, die ihre Großmutter regelmäßig an sie verschickte, von weit oben, mindestens aber aus dem zweiten Stock (plus Mezzanin) auf den Kopf gefallen wäre. Dabei konnte der Schlag ja nur vom Fahrersitz gekommen sein, es war doch niemand anderer da außer ihnen beiden; und ja, jetzt hatte sie Bojans volle Aufmerksamkeit – obwohl sie gerade, sicherheitshalber, ihren Blick nur noch starr auf den roten Teppich unter ihren Schuhen gerichtet hatte. Vielleicht, so dachte sie, konnte sie den Sturm über den Wellen so noch zum Erliegen bringen.

Der Wagen raste auf eine entgegenkommende Straßenbahn zu; gut möglich, dass sie gleich mit den Verkehrsteilnehmern in den Waggons zusammengewürfelt wurden. Doch im letzten Moment bremste Bojan ab, riss das Lenkrad herum und reihte sich auf der rechten Fahrbahn hinter einem Lastwagen ein.

»Gib es wenigstens zu!«, schrie er. Und schon donnerten weitere Postpakete im Rhythmus einer Maschinenpistole auf sie herunter.

Inneres Klingeln unter der Schädeldecke, pulsierende Schläfe, Aufplatzen der Haut über dem Wangenknochen. Auf dem Asphalt zerspringende Marmeladengläser. Kuchenbrösel darüber. Die schöne Schrift der Großmutter (Pelikan-Füllfederhalter von 1931) auf weißem Karton.

All das konnte Bojan mit einer einzigen Faust, an der freilich ein dicker Ring mit kantig geschliffenem Saphir steckte. Mit der linken Hand lenkte er weiter durch den Verkehr.

Zwei Querstraßen noch, dann würden sie zu Hause sein. Jetzt schnell einen Parkplatz finden, dachte sie, während in ihrem Kopf starkes Rauschen einsetzte. Bitte lasst ihn einen Parkplatz finden, rief sie den Obersten Rat mit ihrer inneren Stimme an, dann wäre vielleicht alles wieder gut.

Möglicherweise hatte sich etwas Feuchtes auf ihrer Wange gebildet, sie wusste es nicht. Jetzt bloß nicht! Wenn sie ihm mit ihrem Blut das neue Auto versaute, würde sich der Sturm in die Länge ziehen.

»Komm runter, wir machen eine Testfahrt«, hatte Bojan vorhin oben in der Wohnung gesagt und dabei seinen schweren Schlüsselbund am Zeigefinger durch die Luft wirbeln lassen. Als er ihn mit der ganzen Hand wieder auffing, klirrte das Metall laut durchs Vorzimmer.

Dann standen sie unten in der Einfahrt, vor ihnen ein dunkelroter Sportwagen, dessen Front aussah wie die Schnauze eines riesengroßen, aggressiven Tapirs.

Bojan ging mit ihr um das Ungetüm herum, zog dabei eine herausgerissene Zeitungsseite aus seiner Jackentasche und las stolz das Inserat vor: »Chevrolet Corvette C3 mit dreistufigem Turbo-Hydramatic-Automatikgetriebe, garagengepflegt.«

»Na, was sagst du jetzt?«, hatte er sie gefragt und ihr die Beifahrertür aufgehalten.

Überraschungen wie diese waren für sie jedes Mal von einem aufregenden Zauber umgeben. Aber wie jemand, der keiner geregelten Arbeit nachging, es zu so einem Auto bringen konnte, jemand, der, genauer gesagt, gar nichts arbeitete, war ihr ein Rätsel.

Das Leben ist kein Kinderspiel. Dass der strenge Zeigefinger ihres Vaters außerhalb der hohen Parkmauern, die ihr Elternhaus wie ein steinernes Wehr umgaben, nichts galt, das hatte ihr Bojan bereits hinlänglich bewiesen. Wobei, irgendwie machte er ja doch etwas, auch wenn ihre Eltern das niemals als Arbeit gelten lassen würden: Bojan machte Geschäfte.

Den ganzen Tag über hatte die erste Frühlingssonne die Luft weißgewaschen. Jetzt verschwand sie als blasse Scheibe hinter den Gründerzeithäusern mit ihrem abgeblätterten Verputz. Vor der Haustür war keine Parklücke frei; wortlos lenkte Bojan den Wagen durch mehrere Einbahnstraßen, überquerte einen großen Platz und fuhr durch eine kleine Seitengasse zurück auf die Einkaufsstraße. Vom Turm der alten Kirche tönten zwei helle Glockenschläge herüber und wiesen auf halb sechs.

Was ihm plötzlich diesen Neger, wie er ihn nannte, in den Kopf gesetzt hatte, wusste sie nicht. Sie konnte es sich nur so erklären, dass sie auf ihrer Seite aus dem Fenster des Wagens hinausgesehen hatte und dabei gerade ein dunkelhäutiger Mann auf dem Gehsteig gegangen war. Was für ein dummer Zufall.

Der Oberste Rat hätte diese Explosion nach ihrem Blick aus dem Fenster verhindern können; wenn er an dieser Stelle zum Beispiel eine Gruppe von Kindern vorbeigeschickt hätte, samt Betreuerin, auf dem Rückweg von ihrem Ausflug in den Park.

Aber nein, er kann natürlich nicht an alles denken. Bojan war außerdem ihr und dem Obersten Rat immer einen Schritt voraus. Wie flink er war! Kaum glaubte man, ein Muster zu erkennen, hatte er es auch schon wieder geändert und in den Rapport neue Fehlerquellen eingewebt.

So konnte sie wochenlang nach dem Aufstehen ein Fenster in seiner weitläufigen Altbauwohnung öffnen und zu seiner großen Zufriedenheit frische Luft hereinlassen; bis er eines Tages plötzlich hinter ihr stand und mit schneidender Stimme fragte, ob sie ihn umbringen wolle, er vertrage die österreichische Zugluft nicht.

So konnte sie immer wieder Salat machen in seiner Küche – bis er ihr eines Tages vorhielt, sie koche wie ein Nazi-Bauerntrampel. Wer über Feingefühl verfüge, sagte er, würde die Salatblätter nämlich ganz klein und mundgerecht zurechtzupfen.

»Das, was du da machst, nennt man bei euch nicht ohne Grund Bletschn«, schimpfte er, »was für ein hässliches Wort. Und du, meine gute Valerie, bist leider auch nichts anderes als so eine blöde Bletschn.«

Alle nannten sie Vie. Nur Bojan rief sie, wenn er genervt war, bei ihrem offiziellen Taufnamen.

Heute also ein dunkelhäutiger Mann, der durch ihr Blickfeld wanderte, unbestellt.

Sie hätte gerne ihre Wange betastet. Aber sie wollte sich nicht bewegen, nicht mit dem linken Arm nach oben greifen und Bojan damit womöglich weiter irritieren. Sie hielt ihren Kopf geradeaus und hob nur vorsichtig die Schulter an, um mit dem Mantelstoff das Feuchte wegzuwischen. Später, allein im Badezimmer, würde sie nachsehen, was mit ihrem Gesicht los war.

Bojan drückte auf die Automatiktaste und ließ das Fenster auf seiner Seite hinunter. Abendluft wehte herein, weich wie das Seidensamt-Cape ihrer Großmutter. Hoch über dem Autodach flogen drei Glockenklänge und begrüßten den ersten Stern.

Gestern war sie zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Seit sie Bojan kannte, kam ihr jede Zeiteinheit wie eine Ewigkeit vor.

Zum ersten Mal war sie Bojan vor einem Jahr auf dem Flohmarkt begegnet, ausgerechnet zusammen mit ihrer Mutter.

»Wenn man in Wien geboren ist, mag man den Flohmarkt, trotz seines Drecks und seines Gesindels«, sagte ihre Mutter.

Sie waren vor der U-Bahn-Station Kettenbrückengasse verabredet; natürlich auch, weil sich ihre Mutter verpflichtet fühlte, nach dem Rechten zu sehen. Niemand in der Familie verstand, warum sie als einzige Tochter beschlossen hatte, noch vor der Matura von zu Hause auszuziehen. »Wo wir doch so schön wohnen!«

Die Luft unter dem grauen Himmel war dunstig.

Sie trug ihr schwarzes T-Shirt, dazu enge schwarze Jeans, den alten beigegrauen Staubmantel ihres Großvaters, in den sie Schulterpolster genäht hatte, und ihre Lieblingsschuhe: flache Halbstiefel aus schwarz glänzendem Stretchleder, die vorne spitz zuliefen.

Wie jeden Samstag schoben sich endlose Menschenkarawanen auf den Gehsteigen vorbei. Sie verwünschte den Moment, an dem sie beschlossen hatte, das Treffen diesmal nicht abzusagen. Selbst jemand, der länger geschlafen hatte als sie heute Nacht, würde sich hier beengt fühlen. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, damit sich ihr Kreislauf stabilisierte.

Links von ihr, etwa drei Meter entfernt, ging gerade ein junger Mann in die Hocke, lange Haare, Augen geschlossen, wie in Zeitlupe, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Wahrscheinlich ein Junkie. Auch sie hatte erst gestern Abend auf der Toilette eines Clubs H genommen; nicht geschossen, nur geschnupft.

Auf dem Boden neben dem Junkie stand ein Kassettenrekorder, aus dem jetzt Heroes von David Bowie dröhnte.

»I, I will be king … And you, you will be queen …«

Der satte Gitarren- und Synthesizer-Sound flog an die gekachelten Wände, hallte von dort wieder zurück und erfüllte den gesamten oberen Bereich der U-Bahn-Station, einschließlich seiner Trafik und Toilettenzugänge.

»We can beat them, just for one day … We can be heroes, just for one day …«

»Deine Schuhe sind so spitz, dass sich dein Vater damit die Pfeife stopfen könnte«, sagte ihre Mutter, die plötzlich vor ihr stand und kopfschüttelnd ihre Stiefel begutachtete.

Sie schlenderte zwischen den Standreihen hindurch und betrachtete das Angebot an Motorradjacken und Armeemänteln, während ihre Mutter in Kartons nach Art-Dèco-Türgriffen mit den richtigen Maßen suchte.

Ihr Blick fiel auf einen Stapel alter Micky-Maus-Bücher, die auf einem Tapeziertisch neben gebrauchten Plastikspielsachen lagen. In ihrer Volksschulzeit hatte sie nichts lieber getan, als Micky-Maus-Bücher zu lesen. Nur jede zweite Doppelseite war in fröhlichen Farben gedruckt, die Schwarzweißseiten dazwischen wollte sie immer gleich überblättern. Als sie die vierte Klasse besucht hatte – daran musste sie jetzt beim Anblick der bunten Zeichnungen denken –, war ihre Mutter mit ihr in die Berge gefahren, gegen den Willen des Vaters. Dort oben, entlang der Roten Wand, hatten sie die dunstenden Blumenwiesen etwas in ihr zur Ruhe kommen lassen; an der Hand ihrer Mutter, die gesungen hatte; und überhaupt viel fröhlicher gewesen war als zu Hause neben dem Vater.

Sie ging weiter und betastete die schweren, brüchigen Lederjacken, die an einem Ständer hingen. Am liebsten hätte sie sich eine gekauft, ließ es dann aber bleiben. Sie war nur einen Meter sechzig groß und hätte das Gewicht schwer tragen können.

Seitdem sie von zu Hause ausgezogen war, trug sie meistens gebrauchte Männerkleider, die sie aus dem Lager der Volkshilfe oder vom Flohmarkt besorgte. Den ganzen Plunder von daheim, die Blusen, Schottenröcke und Samtkleider hatte sie dort gelassen. Alles, hatte sie damals zu sich selbst gesagt, nur nicht als Döblinger Hausfrau enden. Etwas anderes als dieser radikale Schlussstrich war ihr nicht eingefallen.

Die Wolkendecke riss auf.

Innerhalb weniger Minuten ergoss sich die Sonne über das gesamte Wiental.

Jetzt blendete sie der Anblick des verchromten Radiozubehörs und der alten Silberkannen. Zum ersten Mal hatte die Luft jenen satten Geruch, der die Kastanienblüte und die kommenden Sommerhitzen ankündigte. Zwei Zigeunerinnen in bunten Röcken hatten auf einem Tuch am Boden Stoffballen verteilt und priesen ihre Ware an.

Sie bahnte sich einen Weg an ihnen vorbei zu den dahinterstehenden Kleiderständern. Armeejacken, Anzüge und alte Dirndl hingen dicht aneinandergedrängt. Sie strich mit den Fingern darüber. Als sie hinuntersah, fiel ihr ein Paar schwarze Herrenschuhe auf, die spitzer waren als alle, die sie bisher gesehen hatte.

»Schau, genau solche Schuhe möchte ich in meiner Größe finden.«

Sie wollte sich gerade nach ihrer Mutter umsehen, als sich die Stoffe in der Mitte des Kleiderständers wie ein Vorhang teilten und dahinter ein Mann zum Vorschein kam. Jetzt erst verstand sie, dass in den Schuhen jemand drinstand.

»Wenn du willst, kann ich dir genau solche besorgen«, sagte der Mann, und seine Aussprache erinnerte sie an Gesänge aus einem fernen, unbekannten Land.

Wo war eigentlich ihre Mutter geblieben?

Die Sonne blendete jetzt noch stärker. Sie musste den Blick abwenden, und als sie wieder hinsah, zuerst auf die Schuhe und dann weiter hinauf bis zu seinen Augen, war ihr, als hätte sich ein Fenster aufgetan, und dahinter glitzerte das adriablaue Meer.

Für einen kurzen Moment hörte sie nichts als Möwengeschrei.

Es grenzte ans Wunderbare.

Dann ging der Ton wieder an, und in dem Moment, in dem die Flohmarktgeräusche einsetzten, hörte sie parallel dazu eine Stimme in ihrem Inneren, eine Stimme, die sie nicht bestellt hatte: »Von diesem Mann wirst du ein Kind bekommen.«

Ihre Mutter stand wieder neben ihr und sah sich irritiert um.

»Komm, lass uns weitergehen«, murmelte sie und zog sie am Arm.

»Ich heiße Bojan«, sagte der Mann noch schnell und steckte ihr einen Zettel zu, auf den er mit Bleistift seine Telefonnummer geschrieben hatte.

Vom Rest dieses Tages wusste Vie nicht mehr viel. Nur, dass sie beschlossen hatte, keine dieser blöden, leichtgläubigen Gänse zu sein und ihn anzurufen. Drei Straßen weiter hatte sie den Zettel mit Bojans Nummer in den Kanal geworfen.

2

Am Morgen des 24. Dezember wachte Valerie in ihrem Bett auf und konzentrierte sich auf die entfernten Geräusche, die durch die doppelten Fenster ihrer Altbauwohnung zu hören waren. Der übliche Verkehrslärm fehlte, viele Leute im Bezirk waren schon in die Weihnachtsferien gefahren. Wer sein Auto jetzt noch unten stehen hatte, würde es heute nur von dort wegbewegen, um abends zu einer Einladung zu kommen.

Die meisten werden sich aber wohl lieber ein Taxi nehmen, dachte sie, um ohne Angst vor einer Polizeikontrolle trinken zu können.

Sie schloss noch einmal die Augen. Eine heilsame Ruhe breitete sich aus, sowohl draußen in der Stadt als auch in ihrem Inneren.

Seit gestern Abend war sie untergetaucht.

Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken und bewegte ihre Zehen. Dann ließ sie langsam ihre Füße kreisen, zuerst nach innen, dann nach außen. Ihre Physiotherapeutin hatte ihr beigebracht, dass man seinen Körper morgens am besten langsam in Schwung bringt.

»Machen Sie sich nichts draus. Diese Morgensteifheit ist ab einem gewissen Alter ganz normal.«

Sie war neunundvierzig, und wahrscheinlich musste sie sich langsam daran gewöhnen, dass sie in diesem gewissen Alter war.

Zum Abschluss streckte sie ihre Arme, dann drehte sie sich noch einmal auf die Seite. Unten fuhren zwei Autos im Schritttempo durch die Gasse; vielleicht parkte eines davon auch ein. Irgendwo fiel eine Haustür ins Schloss.

Sie hätte es gemütlich gefunden, wenn jetzt ein Schneepflug zu hören gewesen wäre. Das gleichmäßige Schaben der Schneeschilde verlieh dieser Jahreszeit etwas Feierliches; in diesem Winter hatte es allerdings noch nicht geschneit, und den ausführlichen Wetterberichten in Radio und Fernsehen zufolge würde es auch in den nächsten Tagen so bleiben.

Offiziell befand sie sich seit gestern auf den Kanarischen Inseln, genauer gesagt auf Fuerteventura, zu Besuch bei einer Freundin, die sie über die Feiertage eingeladen hatte. Aus diesem Grund konnte sie heute ungestört liegen bleiben, wenn sie wollte, den ganzen Tag.

Bis zum zweiten Jänner würde sie niemand vermissen.

Für ihre angebliche Urlaubsreise wurde sie im Büro von vielen beneidet.

»Einmal nicht den üblichen Familienwahnsinn rund um Weihnachten durchstehen müssen. Mein Güte, muss das schön sein! Aber so mutig bin ich nicht, es würde meinen Eltern das Herz brechen«, sagte ihre Assistentin, während sie noch einmal gemeinsam den Jahresabschlussbericht durchgingen, der Anfang Jänner fertig gedruckt an alle Vorstandsmitglieder und Aktionäre verschickt werden musste.

Um fünf Uhr am Nachmittag hatte Valerie endlich alles abgearbeitet, was vor ihrem Urlaub erledigt werden musste. Sie war gerade dabei, ihr Büro zuzusperren, als ihr René Welsch, Immobilien Developer und ihr Vorgesetzter, auf dem Gang entgegenkam.

»Aber du wirst dort hoffentlich erreichbar sein«, rief er ihr zu.

Sein Mobiltelefon, das er wie immer in seiner rechten Hosentasche mit sich trug, klingelte. Er nahm es heraus, sah kurz auf das Display und drehte den Ton ab. Dann erst blieb er stehen und sah sie fragend an.

»Es wird mit dem Empfang etwas schwierig sein, aber grundsätzlich ja«, sagte sie.

Die Zusammenarbeit mit ihrem Chef war in den letzten Wochen so anstrengend gewesen, dass sie es jetzt nicht über sich brachte, ihm schöne Feiertage zu wünschen. Valerie zwang sich zu einem kurzen Lächeln, dann ließ sie ihn vor ihrer Bürotür stehen und ging zum Lift.

Als sie mit ihrem Wagen aus dem Parkhaus kam und die Rampe hinauffuhr, um sich in die vierspurige Straße einzureihen, musste sie bremsen. Auf dem Gehsteig tauchte ein alter Mann aus der Dunkelheit auf und begann, ohne sein Gesicht nach links oder rechts zu wenden, die Fahrbahn zu überqueren. Mehrere Autos wichen hupend aus. Offensichtlich konnte er nicht anders – Valerie sah, dass er beim Gehen sein linkes Bein nachzog. Wie in Zeitlupe schleifte er nach jedem Schritt seinen linken Schuh über den Asphalt. Der Mann trug einen schwarzen Anorak, auf dem hinten in großen goldfarbenen Buchstaben Roy stand, darüber waren die Überreste einer Krone zu erkennen, zwei Zacken waren schon ganz abgewetzt. Unter dem Anorak leuchtete ein weißes Hemd hervor, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Die spärlichen grauen Haare hatte er zu einem Knoten zusammengebunden. Er könnte beides sein, dachte Valerie, ein Alt-Hippie oder ein Moslem-Fundi, wie ihre Tochter diese neuen Fanatiker nannte.

Ob sie irgendwann auch so langsam gehen würde? Ob auch sie im Laufe der Zeit vertrocknen würde? Endlich war der alte Mann auf der anderen Hälfte der Straße angelangt. Sie verwarf den Gedanken und fuhr los.

Auf dem Nachhauseweg parkte sie im Halteverbot und kaufte im Supermarkt Nudeln, Reis, Gläser voller Suppen und verschiedener Saucen, dazu mehrere Flaschen schwerer italienischer Rotweine sowie Äpfel, Nüsse, Zimtsterne und Schokolade ein.

Die gesamte Stadtbevölkerung schien hysterisch letzte Vorräte zu besorgen, sie musste an der Kassa in einer langen Schlange warten. Als sie endlich dran war und die Sachen eilig aufs Band legte, rutschte ihr ein Glas mit Tomatensauce aus der Hand. Es zersprang mit einem dumpfen Knall auf dem Steinboden vor ihren Füßen. Erschöpft sah die Frau an der Kasse durch sie hindurch und drückte auf eine rote Taste neben dem Kassenband, darauf ertönte über Lautsprecher in der ganzen Halle ein schriller Klingelton. Ein Mitarbeiter erschien und kam kurz danach mit einem Wasserkübel und einem Wischmop zurück.

Valerie murmelte mehrere Entschuldigungen, während sie bezahlte und ihre Einkäufe in drei Bananenschachteln packte. Dann verstaute sie alles in ihrem Kofferraum und fuhr nach Hause.

Natürlich hatte es viele gut gemeinte Einladungen für die Zeit zwischen den Feiertagen gegeben. Aber darauf konnte sie gerne verzichten. Der Grund für ihre Lüge war, dass sie keine Lust hatte, das fünfte Rad am Wagen zu sein, wenn gut gelaunte Menschen zwischen Heiligabend und Silvester ihr Beziehungs- oder Familienleben zelebrierten.

Bea, ihre Tochter, studierte seit drei Jahren in Washington. Der Kontakt zwischen ihnen war immer schwierig gewesen, doch nach einem weiteren Streit vor zwei Monaten wollte Bea endgültig nichts mehr von ihr wissen.

»Es war für uns noch nie möglich, ein wirkliches Gespräch miteinander zu führen. Deshalb verzichte ich lieber gleich darauf, genauso wie auf dein Geld«, hatte Bea in den Hörer geschrien. Dann hatte sie aufgelegt, und Valerie hatte einen kurzen Stich in der Brust verspürt. In Wirklichkeit jedoch war sie nicht überrascht, und das erschütterte sie am meisten daran.

Valerie hörte, wie der Boiler im Badezimmer hochfuhr und sich die Heizung einschaltete. Sie döste noch ein paar Minuten vor sich hin, dann stand sie auf, schlüpfte in ihren Bademantel und ging in die Küche.

Für ihre Auszeit hatte sie sich nichts Besonderes vorgenommen. Sie wollte einfach zur Ruhe kommen und von niemandem belästigt werden.

Außerdem, dachte sie, wäre es eine gute Idee, ein paar Tage lang das Internet auszuschalten. Wenn man als Single lebte, lief man Gefahr, jedes Mal enttäuscht zu sein, wenn keine Mails oder Facebook-Nachrichten von Menschen reinkamen, die einem etwas bedeuteten. Oder von vielversprechenden Bekanntschaften, die einem in Zukunft etwas bedeuten könnten.

Bea würde ihr ohnehin nicht schreiben. Und von Clemens, mit dem sie seit fünf Jahren ein sporadisches Verhältnis pflegte, würde sie wohl auch nichts mehr hören. Vor einigen Monaten hatte sie ihm zum Geburtstag eine SMS geschickt: »Ich denke an Dich und wünsche Dir von ganzem Herzen alles Gute.« Drei Stunden später bekam sie ein Mail von ihm: »Ich habe mich mittlerweile zu oft nach Deiner Gunst gesehnt. Spar Dir in Zukunft bitte Deine bedeutungslosen Wünsche.«

Vielleicht war es besser so. Herzklopfen oder weiche Knie hatte sie in seinen Armen nie gehabt.

Sie füllte gemahlenen Kaffee in die kleine italienische Espressomaschine und stellte sie auf die heiße Herdplatte. Als es zu zischen begann, zog sie die Kanne herunter und goss den dampfenden Kaffee in eine Tasse. Sie schaltete den Herd ab, dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich mit der wärmenden Tasse zwischen den Händen auf das Sofa. Ihr Laptop stand vor ihr auf dem Couchtisch. Sie fand, dass die Internetpause, die sie sich selbst auferlegt hatte, ihr auf jeden Fall guttun würde. Aber ein letztes Mal konnte sie wohl nachsehen, was sich draußen in der Welt so tat.

Die Aufmachergeschichte auf Spiegel online war eine Reportage über den Tempelberg in Jerusalem. Sie klickte die ORF-Seite an. Die Wettervorhersage für Wien war unbestimmt – von trocken bis nasskalt war in den nächsten Tagen alles möglich.

Sie machte Facebook auf. Eine ganze Reihe von Leuten hatten Weihnachtswünsche auf die Pinnwand gestellt. Oben in der Leiste leuchtete eine Freundschaftsanfrage auf. Sie war von einem Mann namens Boj – Keine gemeinsamen Freunde stand darüber.

Hinter der geschlossenen Wohnungstür bellte der Hund ihrer Nachbarin.

Sie klickte mit dem Cursor auf den Namen und kam auf die Seite von diesem Boj. Ihr Blick fiel auf das Profilfoto. Obwohl sie das Gesicht seit sechsundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie seine Augen sofort.

Täuschte sie sich? Nein, es bestand kein Zweifel: Die Freundschaftsanfrage kam von Bojan.

3

Nach ihrem Besuch auf dem Flohmarkt hatte sie Bojan vergessen.

Sie kam zurück in die Wohnung, in der sie ein straßenseitiges Zimmer zur Untermiete bewohnte; Mobiliar aus glänzendem Kirschholz; handbemaltes Porzellan; fremde Portraits in Goldrahmen an der Wand. Die Besitzerin der Wohnung, deutscher Adel, ohne Geld, war ständig auf Reisen, auf der Flucht vor ihrer eigenen Herkunft, quer durch Uruguay, Sardinien und den Peloponnes.

Unbeobachtet hätte sie sich, als ihre Untermieterin, auf der ganzen Etage mit zwei Salons, Küche, Speisekammern und großem Marmorbad ausbreiten können; wie eine Schlingpflanze, die nach immer mehr Raum und Sauerstoff verlangt, um sich innerhalb eines Sommers tausendfach zu teilen und über den ganzen See auszudehnen. Aber sie verfügte über keinen inneren Kern.

Alles auf den kleinsten Nenner heruntergerechnet.

Sie kam zurück in die Wohnung, und das Fernsehgerät, das sie nie einschaltete, war umgeben von einem Lichtschein.

Sie kam zurück in die Wohnung, und der Topf leuchtete in der Kochnische; seine flimmernde Aura deutete darauf hin, dass er mehr war als ein bloßer Festkörper; ein Topf und etwas Brennendes, Unversöhnliches.

Und es gab Tage, da musste man das alles ausmerzen, hinter die Sperrlinie zurücktreten. Kleine gelbe Pillen, die sie aus der Medikamentenlade ihrer Mutter entwendet hatte, halfen ihr dabei. Fleischloses Essen (brauner Reis, Knoblauch, Karotten, Sojasauce, unfermentiert) half ihr dabei. Heroin half ihr dabei.

Ein ständiges Flüstern war in ihr:

»Ich bin allein.«

»Du musst zuerst die Matura nachholen«, hatten ihre Eltern gesagt und überwiesen ihr dafür monatlich Geld.

»Ohne Matura bist du nichts.«

Zu Beginn des Semesters fuhr sie in die Abendschule. Sie sprang auf Straßenbahnwaggons und wieder ab; stolperte auf den letzten Metern über ihre zu großen Herrenschuhe. Sie betrat das Gebäude, ging in das Klassenzimmer hinein und setzte sich mit Kugelschreiber und Heft in eine Bank.