Kurt Remele
Die Würde des Tieres ist unantastbar

Kurt Remele

Die Würde des Tieres ist unantastbar

Eine neue christliche Tierethik

Butzon & Bercker

 

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-2233-4

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4290-5

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4291-2

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4289-9

© 2016 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: © inferio – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I. Was läuft da in der Ethik?

1. Auslöschung. Über das Ende des Dodo und anderer Tierarten

„Dead as a Dodo“

Das sechste Artensterben

2. Ausschluss. Über den traditionellen moralischen Status der Tiere

Fragen der Tierethik

Vernünftige Philosophen, unvernünftige Tiere

3. Ausweitung. Über die Würde der Tiere und andere ethische Begriffe

Angemessene Begrifflichkeit

Primatt und Bentham

Zeitgenössische tierethische Ansätze

Primaten, Krabben, Insekten

Tierschutz und Tierrechte kontra Natur- und Umweltschutz?

Artensterben als Verstümmelung

Eine „natürliche“ Beziehung zu Tieren?

II. Die Bibel: Gottes Lizenz zum Töten von Tieren?

1. Gottes Wille und die Versuchung des Sakralismus

2. Gottes Wille als das Glück aller Wesen

3. Gottes Wort im historischen Kontext

Altes / Erstes Testament: Der Mensch als Ebenbild Gottes und omnivorer Herrscher über die Tiere?

Neues Testament: War Jesus Christus Vegetarier?

4. Vernünftige Argumente: Quälen nein, töten ja?

5. Resümee: Eine kleine Ethik des Tötens von Tieren

III. Das Christentum: Arroganter Anthropozentrismus?

1. Christen gegen die Kreatur: Eine Anklage

2. Kein Platz für Tiere: Kirchenväter, Ketzer, Katzen

Augustinus: Konsequenter Fleischverzicht ist der Häresie verdächtig

Père Bougeant: Tiere haben eine Seele

Todesurteil: Katzen sind Hexen

3. Metzger, Matadore, Monsignori: Katholische Ikonografie und Grausamkeit gegenüber Tieren

Gotteslamm und „Karnismus“

Heiligenfeste und Tierquälerei

4. Gequälte Hermeline, gestreichelte Katzen und andere tierethische Widersprüche

Papst Benedikt XVI.: Lieber im Pelz als nackten Hauptes

Gänsestopfleber und Päpste

Papst Franziskus: PETAs Person des Jahres 2015

Sonntagspredigt, Sonntagsbraten und theologische Ethik

IV. Ausbeutung mit Feingefühl? Christliche Tierethik konkret

1. Tiere mit Wohlwollen und Feingefühl behandeln

Heilige

Theologinnen und Theologen

Antivivisektionisten und Bible Christians

Tiertheologie: Die Qualen der Tiere und das Leiden Christi

2. Sich der Tiere bedienen?

Tiergebrauch und -verbrauch: Nahrung, Kleidung, Tierversuche, Zoos und Zirkusse

Gedankenexperiment mit Außerirdischen und irdische Alternativen

3. Tiere essen: Eine gedankenlose Völlerei?

Der lange ökologische Schatten der Viehzucht

Gewaltminimierung: „Vegetarisch-veganer Imperativ“ als Zielgebot

Lobenswerte Sonderleistung oder allgemeine Pflicht?

Wirk- und Ausdruckshandlung

Strenge Bußpredigt und wachsende Einsicht

V. Das Wohl aller Wesen, das Wohl eines jeden Wesens: Eine zeitgemäße christliche Tierethik

1. Gemeinwohl: Alle Kreaturen groß und klein

Staatliches, globales, ökologisches Gemeinwohl

Das Einzelwesen und das Ganze

2. Pro Life, Pro Animal: Eine konsistente Ethik des Lebens

3. Achtsamkeit: Dinge wahrnehmen, die wir nicht gerne sehen

4. Das Wirken des Geistes: Von anderen Religionen lernen

Interreligiöse Tierethik in Oxford

Mitgefühl aus Indien

5. Persönliche und gesellschaftliche Moralkonflikte

Vorzugsregeln und politischer Widerspruch

Zum Schluss: Ihr Kind oder der Hund?

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Wer an Tierschützerinnen und Tierrechtler denkt, an menschliche Anwälte und Fürsprecherinnen der Tiere, dem fällt nicht sofort Desmond Tutu ein. Der ehemalige anglikanische Erzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1984 ist als gewaltloser Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika bekannt, als jemand, der sich seit Jahrzehnten für die Würde des Menschen und für die Menschenrechte einsetzt. Weniger bekannt ist, dass Tutu seit einiger Zeit auch ein Ende der menschlichen Ausbeutung von Tieren fordert, dass er sich auch für die Würde des Tieres und für die Tierrechte engagiert.

Im Vorwort des 2013 veröffentlichten Global Guide to Animal Protection erklärt Desmond Tutu: „Mein ganzes Leben lang schon kämpfe ich gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit, unabhängig davon, ob es sich bei den Opfern um Schwarze, Frauen, Schwule oder Lesbierinnen handelt. […] Aber es gibt noch weitere Aspekte der Gerechtigkeit, die nicht nur Menschen betreffen, sondern auch die anderen empfindungsfähigen Geschöpfe dieser Erde. Die Probleme des Missbrauchs der nichtmenschlichen Tiere und der Gewalt gegen sie muss uns stärker bewusst werden, auch wenn die Liste der moralischen Anliegen, für die wir kämpfen, schon voll zu sein scheint. […] Ich habe selbst gesehen, wie man Fragen der Gerechtigkeit unbeachtet lässt, wenn die Opfer macht- und wehrlos sind, wenn niemand da ist, der für sie eintritt und wenn ihnen die Möglichkeit fehlt, an eine höhere Autorität zu appellieren. Das ist ganz genau die Situation, in der sich die Tiere befinden.“1

In weiterer Folge kommt Tutu auf das mangelnde Engagement der christlichen Kirchen für Tierschutz und Tierrechte zu sprechen: „Es ist in vielfältiger Weise seltsam, dass meine Mitchristen nicht in der Lage sind zu erkennen, dass es sich bei der Frage, wie wir Tiere behandeln, um eine Angelegenheit des Evangeliums handelt. Denn immerhin sind auch die Tiere Geschöpfe Gottes. […] Es ist eine Art theologischer Schwachsinn zu glauben, dass Gott die gesamte Welt nur für die Menschen gemacht habe oder dass Gott nur an einer Spezies unter den Millionen Lebewesen, die Gottes gute Erde bevölkern, interessiert sei.“2

Das sind harte Worte eines verdienten und berühmten Erzbischofs. Tutus Urteil über die weitgehende Nichtbeachtung der Tiere durch die christlichen Kirchen wird heute von vielen Menschen geteilt. Es gab allerdings auch tierfreundliche Zeiten und Episoden in der Kirchengeschichte. Die Bewegung gegen Tierversuche (Antivivisectionists) und die vegetarische Bewegung im England des 19. Jahrhunderts zum Beispiel waren stark christlich geprägt. Die einflussreichste Tierschutzorganisation dieser Zeit, die Victorian Street Society, hatte ein dreiköpfiges Leitungsteam: Ihr Präsident war Lord Shaftesbury, ein prominenter Vertreter des britischen Evangelikalismus. Einer der Vizepräsidenten war William Thompson, der anglikanische Erzbischof von York, der andere war Kardinal Henry Edward Manning, der katholische Erzbischof von Westminster, London. Über Tierversuche hat Manning wie folgt geurteilt: „Meiner Ansicht nach ist ungewiss, ob die Ergebnisse [von Tierversuchen] überhaupt zu gebrauchen sind. Gewiss ist nur, dass dadurch entsetzliches und unvorstellbares Leid entsteht. Wir haben so starke Argumente dagegen, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie ein zivilisierter Mensch eine solche Praxis durchführen oder deren Fortführung unterstützen kann.“3 Die ethische, medizinische und wissenschaftliche Problematik von Tierexperimenten, die Kardinal Manning im Jahre 1882 anspricht, ist nach wie vor gegeben und hochaktuell, doch würde eine solch deutliche Kritik heute höchstwahrscheinlich keinem katholischen Erzbischof und auch keiner evangelischen Landesbischöfin über die Lippen kommen.

Aber nicht nur in England, auch hier an der Universität in Graz, gab es einen frühen christlichen Anwalt der Tiere: den Vierfachdoktor, katholischen Priester und Professor für Spekulative Dogmatik, Johannes Ude. In seinem Werk Du sollst nicht töten! aus dem Jahre 1948 erklärte Ude: „Das Mitleid mit dem Tier und der damit verbundene Tierschutz ist demnach keine bloße Gefühlsduselei, sondern das Zeichen eines edlen Herzens, das an der wahren Liebe ausgerichtet ist, an jener ewigen Vaterliebe, die Gott zu den Tieren hat. […] Wer also aus Mitleid mit dem Tier und aus Ehrfurcht vor dem Leben, also aus sittlichen Gründen – ganz abgesehen von den großen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Vorteilen einer richtigen vegetarischen Lebensweise – auf den Fleischgenuss verzichtet, bekundet entschieden eine höhere Auffassung vom Werte des Tierlebens, als [… jene, die] mitschuldig sind, dass Tiere eigens zum Schlachten gezüchtet werden, [die] mitschuldig sind an all den Qualen und Grausamkeiten, die diesen Tieren vor ihrem Tod und im Augenblick des Schlachtens zugefügt werden.“4

Das vorliegende Buch will an diese tierfreundlichen christlichen Traditionen anknüpfen und sie in die heutige Zeit übersetzen. Das ist u. a. deshalb möglich geworden, weil ich in meinem tierethischen Forschen und meinem tierrechtlichen Engagement von zahlreichen Menschen lernen durfte. Zwei von ihnen erwähne ich hier: Charlotte Probst, die unermüdliche Grazer Tierschutzlehrerin der ersten Stunde, und Andrew Linzey, der großartige Oxforder Pionier der christlichen Tierethik. Dank für ihre Unterstützung beim Schreiben dieses Buches schulde ich meiner Frau Cordula und meiner Tochter Sophie sowie Herrn Dr. Berthold Weckmann und Frau Dr. Christine Hober vom Verlag Butzon und Bercker.

Gewidmet sei dieses Buch meiner eigenen Familie in Graz und der Familie Linzey in Oxford.

Graz, im Januar 2016

Kurt Remele

I. Was läuft da in der Ethik?

„In den letzten dreißig, vierzig Jahren ist die öffentliche Diskussion darüber, wie wir Tiere behandeln, stark angewachsen, darüber, was wir ihnen schulden, welche Pflichten wir ihnen gegenüber haben, ob Tiere Rechte haben“, diagnostiziert Andrew Linzey, anglikanischer Geistlicher, Direktor des Oxford Centre for Animal Ethics und Wegbereiter der neueren christlichen Tierethik. „Manchmal wird sogar behauptet“, fährt Linzey fort, „dass es in den letzten dreißig Jahren mehr intellektuelle Debatten über Tiere gab als in den dreitausend Jahren zuvor.“5 Nach Linzey findet gegenwärtig ein Paradigmenwechsel statt, der uns von der traditionellen Auffassung wegführt, Tiere seien Sachen, Mittel zum Zweck und reine Gebrauchsartikel für die Menschen. Es wachse die Überzeugung, als fühlende Wesen hätten Tiere auch ihre eigene Würde, ihren eigenen Wert und ihre eigenen Rechte.

Andrew Linzey ist zuzustimmen: Die Anzahl der Menschen, die keine Tiere oder weder Tiere noch Tierprodukte essen, ist in der sogenannten westlichen Welt in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Anzahl der Vegetarier und Veganerinnen6 liegt je nach Studie und Land zwischen zwei und neun Prozent der Gesamtbevölkerung. Auch wenn neben tierethischen Gründen ökologische und gesundheitliche Gründe eine wichtige Rolle für eine vegetarische oder vegane Ernährungsweise spielen, so nimmt doch insgesamt der Fleischhunger tendenziell ab, die Sorge um das Wohlergehen der sogenannten „Nutztiere“ zu.7 Es gibt in europäischen und nordamerikanischen Großstädten immer mehr vegetarische und vegane Restaurants und Lebensmittelangebote in Supermärkten. Verlage bringen eine Fülle entsprechender Kochbücher heraus, Beiträge über Tierschutz, gesunde Ernährung und die Schattenseiten des Fleischkonsums füllen die Tages- und Wochenzeitungen. Immer mehr Menschen lehnen auch die Verwendung von Tieren für menschliche Unterhaltung in Zirkussen, Stierkampfarenen und Delfinarien ab, kaufen keine Bekleidung aus Pelz, ja sogar keine Schuhe aus Leder, sind kritisch gegenüber der Jagd eingestellt, vor allem der Vergnügungs- oder Hobbyjagd, distanzieren sich von Tierversuchen in Forschung, Medizin und beim Militär, protestieren gegen das rapide fortschreitende Artensterben. Sie engagieren sich für eine artgerechte Haltung von Heimtieren (Haustieren, Kumpantieren), sie bemühen sich sogar, wie dies der bekannte österreichische Tierrechtler Martin Balluch in Bezug auf seinen Hund Kuksi8 versucht, um eine stärker egalitäre, die Autonomie der Tiere respektierende Beziehung zu ihnen. Tiere und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen, spielen in den öffentlichen Diskursen der Medien- und Zivilgesellschaft und in den privaten Gesprächen innerhalb von Familien, vor allem jenen der akademisch gebildeten (oberen) Mittelschicht, eine unübersehbare Rolle.

Auch die an Universitäten betriebene philosophische und theologische Ethik beschäftigt sich seit Mitte der 1970-er Jahre mit Tieren, mit deren moralischem Status und mit den Pflichten, die Menschen gegenüber Tieren haben. Das ist nicht selbstverständlich, ja es ist im Grunde revolutionär. Albert Schweitzer, der weltberühmte deutsch-französische Theologe und Philosoph, Kirchenmusiker und Urwaldarzt, Friedensnobelpreisträger und Tierschützer, hat in seinem 1923 erschienenen Werk Kultur und Ethik noch festgestellt: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.“9

Schweitzers bildhafter Vergleich des von der Hausfrau ausgesperrten Hundes mit den aus der traditionellen Ethik ausgeschlossenen Tieren ist zutreffend: Auch wenn es in der Geschichte immer wieder Ausnahmen gab, so wurden die Tiere in der philosophischen und theologischen Ethik westlich-abendländischer Prägung im Allgemeinen nicht berücksichtigt. Sie galten nicht, wie es in der ethischen Fachsprache heißt, als moralische Objekte. Tiere als solche hatten und haben auch heute in der klassischen anthropozentrischen, also ausschließlich auf den Menschen und sein Wohl bezogenen Ethik keinen moralischen Status, keinen Wert und keine Würde. Sie sind lediglich dazu da, damit Menschen sie für ihre Zwecke benutzen. Dieses Denken folgt, um noch einmal Albert Schweitzer zu zitieren, dem „Dogma, dass die Ethik es eigentlich nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen und zur Gesellschaft zu tun habe.“10

Trotz des geschilderten Bewusstseinswandel der letzen Jahrzehnte sind auch in der Gegenwart viele Menschen nach wie vor von dieser instrumentellen Mentalität geprägt, nach der die Tiere, aber auch die übrige belebte (Pflanzen) und unbelebte (Mineralien, Gesteine, Gase, Flüssigkeiten) Natur einzig und allein dazu existierten, um von den Menschen für ihre eigenen Zwecke verwendet und verwertet zu werden. Der 1968 verstorbene US-amerikanische Trappistenmönch und Schriftsteller Thomas Merton hat diese Haltung mit folgenden Worten exakt charakterisiert: „Es gibt Menschen, für die ein Baum nur dann wirklich ist, wenn sie daran denken, ihn umzusägen, für die ein Tier erst dann einen Wert bekommt, wenn man es in einen Schlachthof gebracht hat, Menschen, die nur jene Dinge anschauen, die sie zu missbrauchen gedenken und etwas, das sie nicht zerstören wollen, gar nicht wahrnehmen.“11

Ich erinnere mich noch gut an das Lied Weil der Mensch zählt, mit dem der Kabarettist Alf Poier im Jahre 2003 beim Eurovision Song Contest für Österreich antrat und einen passablen sechsten Platz erreichte. In seinem das Popgeschäft parodierenden und im steirischen Dialekt vorgetragenen Song beschwört Poier zunächst seine Liebe zu allen Tieren: „Die Tiere dieser Erde / die mog i[ch] ziemlich gern / Doch am allerliebsten mog i[ch] die Haserln und die Bär[e]n.“ Gleich darauf jedoch spricht er die Zerstörung tierischer Lebensräume und den fortschreitenden Verlust von Tieren und Tierarten an, die durch das menschliche Bevölkerungswachstum (mit)verursacht werden: „Es sterb[e]n bald alle Vögel / es sterb[e]n bald alle Käfer / Nur im Bett da liegt der Adam und vermehrt sich mit der Eva.“12 Aus Sicht einer rein anthropozentrischen Ethik, in der nur der Mensch zählt und die Poier hier offensichtlich anprangert, ist ein von der wachsenden Zahl der Menschen herbeigeführtes Vögel- und Käfersterben an sich kein Problem, jedenfalls solange es keine negativen Auswirkungen auf die Menschen selbst hat.

Seit Schweizers Feststellung über den Ausschluss der Tiere aus der traditionellen Ethik hat sich, wie bereits festgestellt wurde, einiges verändert. Heute werden Fußböden bisweilen auch von Männern gescheuert, und seit Mitte der 1970er Jahre läuft eine wachsende Anzahl an Tieren in der akademischen Ethik herum, im angloamerikanischen Raum vor allem, aber zunehmend auch im deutschsprachigen. In Philosophie und Theologie tummeln sich auf einmal alle möglichen Tiere. Und diese Tiere werden nun ethisch berücksichtigt, werden als moralische Objekte gesehen. Diese neu entstandene, tierfreundlichere Ethik hat die ausschließliche Orientierung am Menschen und seinen Interessen hinter sich gelassen und anerkennt, dass auch Tiere und die übrige Natur einen Eigenwert besitzen und um ihrer selbst willen geachtet werden sollten. Ich bezeichne Ethikansätze, in denen auch Vögel und Käfer, Blumen und Bäche eine Rolle spielen, zunächst einmal ganz allgemein als post-anthropozentrische Ethiken. Unter den verschiedenen post-anthropozentrischen ethischen Ansätzen besteht keine Einigkeit darüber, welchen genauen Wert und welchen genauen moralischen Status Vögel, Käfer, Blumen, Bäche, Pflanzen, Ökosysteme und natürlich auch Menschen haben und wie dies zu begründen ist. Die wichtigsten dieser unterschiedlichen ethischen Ansätze werden im Laufe dieses Kapitels vorgestellt.

Um die Entwicklung hin zu post-anthropozentrischen Ethikmodellen besser zu verstehen, wird zunächst einmal die klassische, konsequent anthropozentrische Ethik mit ihrer Tiervergessenheit und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber tierischem Schmerz, Leid und Tod genauer betrachtet. Diese Ethik ist noch längst nicht ausgestorben. Ausgestorben dagegen sind unzählige Tierarten, darunter ein außergewöhnlicher Vogel namens Dodo, dessen Schicksal hier im Folgenden den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zum menschlichen Umgang mit Tieren bildet. Dem amerikanisch-britischen Autor Bill Bryson zufolge handelt es sich bei der Ausrottung bzw. beim Aussterben (biologischer Fachbegriff: „Extinktion“) des Dodo um einen „Meilenstein“13 der Menschheitsgeschichte und zwar um einen, der die aus menschlicher Grausamkeit und Gedankenlosigkeit begangenen Vergehen gegenüber Tieren eindrucksvoll dokumentiert. In seinem Buch Eine kurze Geschichte von fast allem beschreibt Bryson dieses historische Ereignis lapidar wie folgt: „Weit draußen im Indischen Ozean, auf der Insel Mauritius … hetzte ein … Seemann oder sein Hund den letzten Dodo zu Tode, jenen berühmten flugunfähigen Vogel, der mit seinem einfältigen, aber zutraulichen Wesen … ein unwiderstehliches Ziel für gelangweilte Matrosen auf Landurlaub war.“14

1. Auslöschung. Über das Ende des Dodo und anderer Tierarten

„Dead as a Dodo“

Dodos, auch Dronten genannt, waren truthahngroße, bis zu zwanzig Kilogramm schwere Vögel, die zur Familie der Tauben gehörten. Sie waren höchstwahrscheinlich auf Mauritius im Indischen Ozean endemisch, das heißt sie kamen nirgendwo sonst vor als dort. Der flugunfähige Dodo wurde innerhalb von acht bis neun Jahrzehnten von niederländischen Seeleuten, die Ende des 16. Jahrhundert auf der Insel landeten, ausgerottet. Dead as a Dodo ist eine englische Redewendung, für die wir im Deutschen die Übersetzung mausetot verwenden, was ziemlich inadäquat ist, weil Mäuse ja gar nicht mausetot sind. Im Gegensatz zum Dodo, der ausgerottet wurde, sind die meisten Mäusearten weit verbreitet und nicht gefährdet. Was viele nicht wissen: Die „Maus“15 in der Wortzusammensetzung „mausetot“ kommt vom niederdeutschen Wort „mūs“, was „ganz“ bedeutet. „Mūsdōd“ heißt demnach einfach „ganz tot“.

Auf der Website des zur berühmten englischen Universität gehörenden Naturgeschichtemuseum in Oxford (Oxford University Museum of Natural History) wird der Dodo als „Symbol der Ausrottung und des unwiederbringlich Verlorenen“16 bezeichnet. Vor knapp zwei Jahrzehnten hat der „Dodo von Oxford“ mein Interesse für diese ausgestorbene Vogelart und die mit ihrem Schicksal verbundenen Fragen geweckt. Das Museum bewahrt nämlich zwei der bedeutendsten Relikte des verschwundenen Dodo-Vogels auf: einen mumifizierten Kopf, der als einziger Dodo-Überrest noch Weichteilgewebe vorzuweisen hat, und ein Bein. Das Naturhistorische Museum in Wien17 besitzt sowohl ein vollständiges Dodoskelett, das vermutlich aus den Resten mehrerer Vögel zusammengesetzt wurde, als auch seit 2011 die modernste Rekonstruktion dieses ausgerotteten Vogels. Nach dem Schweizer Zoologen Vincent Ziswiler18 besitzen heute sieben Museen mehr oder weniger komplette Skelettrekonstruktionen des Dodo und 13 weitere vereinzeltes Knochenmaterial.

Dodos waren in der Regel nicht so fett und plump wie sie auf älteren Gemälden dargestellt werden. Diese Bilder zeigen nämlich nicht freilebende Dodos, sondern haben gefangene, kranke, in engen Käfigen eingepferchte Exemplare als Vorlage, die die niederländischen Seeleute auf ihren Schiffen nach Europa mitnahmen. Zweifellos aber waren Dodos flugunfähig und freundlich, zwei Eigenschaften, die ihnen nicht gerade nützlich waren, als im Jahre 1598 niederländische Seefahrer als erste menschliche Wesen auf Mauritius landeten. Die Vögel waren auf die Seeleute und auf die Ratten, Hunde und Schweine, die mit ihnen auf die Insel gelangten, nicht vorbereitet. In einem zeitgenössischen Bericht ist zu lesen: „Da die Insel nicht von Menschen bewohnt war, fürchteten sich die Vögel nicht vor uns und saßen still, sodass wir sie ohne Mühe totschlagen konnten.“19 Das taten die Menschen ohne zu zögern und mit großer Intensität. Reiner Spaß und bloßes Vergnügen, die leutseligen Tiere umzubringen, spielten dabei zweifellos eine Rolle, der Nahrungsaspekt, vor allem der Verzehr von Fleisch, nach dem die Matrosen nach der wochenlangen Seefahrt ein starkes Verlangen hatten, stand aber wohl im Vordergrund.

Nach dem US-amerikanischen Wildbiologen und Naturschutzexperten Stanley Temple von der University of Madison-Wisconsin spielten die Dodos im Ökosystem von Mauritius eine wichtige Rolle.20 Das Faktum, dass die Zahl der tropischen Calvaria- oder Tambalacoque-Bäume auf Mauritius im Laufe der Zeit drastisch zurückgegangen ist sowie seine profunde Kenntnis der Anatomie des Dodo bewogen Temple im Jahre 1977 zur Formulierung der Hypothese, dass zwischen der geringer werdenden Zahl der Bäume und dem Aussterben des Dodo ein Kausalzusammenhang bestehe. Zwischen Calvariabäumen und Dodos existierte nach Temple eine symbiotische Beziehung, die wie folgt ausgesehen hat: Dodos fraßen die Früchte des Baumes und damit auch deren Samen. Die von einer dicken harten Schale umgebenen Samen wurden im Verdauungstrakt der Dodos abgeschliffen oder sogar partiell aufgesprengt und damit auf die Keimung vorbereitet. Nach dem Ausscheiden war es für den Keimling nicht schwierig, die Schale zu durchstoßen. Zur Untermauerung seiner These fütterte Temple einigen Truthühnern Calvaria-Samen. Die ausgeschiedenen Kerne begannen tatsächlich zu keimen, nach Stanley Temple das erste Mal seit etwa dreihundert Jahren.

Vielleicht schon 1681 oder 1683, mit ziemlicher Sicherheit aber 1693 war der Dodo ausgestorben, für immer mausetot, „as dead as a dodo“. Der Mensch rottete in weniger als hundert Jahren ein zutiefst friedfertiges Lebewesen aus, das ihm nie den geringsten Schaden zugefügt hatte und das keinen anderen Anspruch an den Menschen stellte, als in Ruhe gelassen zu werden.

Der Dodo und sein Schicksal wurden zum Sinnbild für den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur und für die sinn- und achtlose, mutwillige und rasante Auslöschung zahlreicher Tierarten. Zu den bekanntesten Artenverlusten allein in den letzten 350 Jahren gehören neben dem Dodo noch die Stellersche Seekuh, die im Jahre 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung auf den Kommandeurinseln im Fernen Osten Russlands ausgerottet wurde, und der Beutelwolf oder Tasmanische Tiger, dessen letztes Exemplar 1936 in einem Zoo nahe Hobart, der Hauptstadt der australischen Insel Tasmanien, starb. Des Weiteren zu nennen sind Säugetiere wie etwa der Falklandwolf (Falklandfuchs, 1876 ausgestorben) und das dem Zebra ähnliche Quagga (1883), Vögel wie Riesenalk (1844), Koafink (1896) und der Karolinasittich (Carolina-Papagei, 1918) und Reptilien wie der Rodrigues-Riesengecko (1842) und der Kawekaweau-Gecko (1870).21

Das sechste Artensterben

In der Geschichte der Erde gab es bisher fünf große Massensterben, die auf geologische Veränderungen und Naturkatastrophen zurückgingen.22 Bis zu 90 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten starben im Zuge dieser Ereignisse aus. Im Unterschied dazu ist das gegenwärtige sechste Massensterben, das seit dem 17. Jahrhundert im Gange ist, durch menschliches Handeln verursacht und geht weit über natürliche Aussterberaten hinaus: ein Verlust an Biodiversität durch Überfischung der Meere, gnadenloses Abschlachten von Landtieren, Umweltverschmutzung und anthropogenem (vom Menschen verursachten) Klimawandel. Menschen jagen unzählige Tiere und ganze Tierarten zu Tode, sie zerstören riesige (tierische) Lebensräume (Tropen- und Auwälder, Moore und Wiesen), schlachten gefährdete Tierarten aus finanzieller Gier ab oder aus Lust an kulinarischen Spezialitäten („Bushmeat“) und fragwürdigen medizinischen Traditionen (das Horn des Rhinozeros gilt als Heil- und Potenzmittel), beuten die Meere aus, vergiften Nahrungsmittel und betreiben eine Form von industrieller Viehzucht, die den Tieren eine artgerechtes Leben verwehrt, wertvolle Ressourcen verschwendet und den Klimawandel vorantreibt.

Wir wissen nicht genau, wie viele Tier- und Pflanzenarten es auf der Erde gibt. Wir können auch nicht präzise sagen, wie viele davon in jedem Jahr von dieser Erde verschwinden. Die meisten Experten sind der Ansicht, dass zwischen 0,01 und 0,1 Prozent aller Arten im Jahr ausstirbt. Je nachdem, wie hoch man die Zahl der Arten ansetzt, sterben demnach jedes Jahr zwischen 200 und 10.000 Tier- und Pflanzenarten aus. Auch wenn die Bandbreite der Schätzungen groß ist, machen diese deutlich, dass selbst bei der allerniedrigsten Annahme an mindestens jedem zweiten Tag eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt. Hier ein Beispiel jüngeren Datums zur Illustration: Im November 2015 ist im Zoo von San Diego ein Nördliches Breitmaulnashorn, das 41-jährige Weibchen Nola, gestorben.23 Jetzt leben nur noch drei Exemplare dieser Nashorn-Unterart in einem Reservat in Kenia, zwei Nashornkühe und ein Nashornbulle. Aufgrund ihres Alters und wegen Schwierigkeiten bei der Reproduktion ist eine Vermehrung auf natürlichem Wege sehr unwahrscheinlich.

Heutzutage ist Mauritius übrigens nach China der größte Exporteur von Affen, vor allem Langschwanzmakaken.24 In Versuchslabors in den USA und Europa, vor allem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, werden diese für invasive, das heißt mit dem Eindringen von medizinischen Geräten oder Apparaturen in den Körper des Tieres verbundene Tierversuche verwendet. Bei Giftigkeitsprüfungen von Substanzen werden zum Beispiel Chemikalien mit einem Schlauch in den Magen der Affen gepumpt. Für Hirnexperimente werden Elektroden über ein Bohrloch im Schädel in die Affengehirne eingeführt. Durch Flüssigkeitsentzug gefügig gemacht, müssen die Tiere mit angeschraubtem Kopf jeden Tag stundenlang Aufgaben an einem Bildschirm erfüllen. Anfang 2015 war das Max-Planck-Institut in Tübingen in die Schlagzeilen geraten, nachdem Undercover-Fotos aus einem Labor blutverschmierte Tiere mit Implantaten im Kopf zeigten.25

2. Ausschluss. Über den traditionellen moralischen Status der Tiere

Fragen der Tierethik

Blicken wir zunächst noch einmal auf den Dodo und auf das, was der Mensch ihm angetan hat. Die meisten heute lebenden Menschen sind zumindest intuitiv davon überzeugt, dass die Abschlachtung und Ausrottung dieses Vogels ein massives moralisches Übel darstellt. Für manche würde es zynisch klingen, wenn jemand die Frage stellte, warum dies eigentlich so sei. Ethisches Nachdenken jedoch bedingt, einer solchen Frage nicht auszuweichen. Darüber zu reflektieren, worin denn im Fall der Ausrottung des Dodo das konkrete moralische Unrecht besteht, kann die scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und stillschweigend vorausgesetzten Annahmen aufdecken, die hinter tierethischen Überzeugungen stecken. Traditionell war die Tötung eines Tieres ausschließlich dann verboten, wenn es sich dabei um das Eigentum eines anderen handelte. Wer ein Tier, das einem Mitmenschen gehörte, mutwillig verletzte oder tötete, beging ein Eigentumsdelikt. Diese Begründung zählt beim Dodo nicht: Als die niederländischen Seeleute auf Mauritius landeten, gehörten die Dodos niemandem. Warum also sollte es dann ethisch falsch gewesen sein, sie zu töten? Auch diverse andere Fragen stellen sich: Beginnen die ethischen Probleme erst dann, wenn man erkannt hat, dass eine bestimmte Tierart komplett ausgerottet wurde? Oder vorzugsweise knapp davor, damit man noch etwas gegen das Aussterben tun kann? Bedarf nicht schon die Tötung jedes einzelnen Tieres einer hinreichenden Begründung, unabhängig davon, ob die Art, der es angehört, eines Tages ausstirbt oder nicht? Macht es einen Unterschied, ob ein Matrose einen Dodo aus Vergnügen und Übermut oder aus Ernährungszwecken tötet? Wäre die Tötung eines Dodo ethisch anders zu bewerten, wenn für die Matrosen die Möglichkeit bestanden hätte, sich auf Mauritius ohne das Essen von Tieren, also vegetarisch oder vegan, gut und gesund zu ernähren? Besteht diese Möglichkeit heute nicht für sehr viele Menschen, zumindest in den meisten wohlhabenden Ländern dieser Erde? Was folgt ethisch daraus?

Man könnte auch die Frage stellen, ob die Ausrottung der Dodos vor allem deshalb schlimm war, weil sie – zumindest nach Meinung einiger Forscher – das Ökosystem der Insel aus dem Gleichgewicht brachte, zur drastischen Reduzierung der Calvaria- oder Tambalacoque-Bäume führte und damit auch den Menschen, die zu diesem Zeitpunkt schon auf Mauritius lebten, Schaden zufügte. Wäre die Ausrottung der Dodos weniger bedenklich gewesen, würde der behauptete Zusammenhang zwischen totem Vogel und totem Baum gar nicht existieren, das heißt wenn für andere Lebewesen keine negativen Folgen eingetreten wären?

Tierethik zu betreiben beinhaltet, sich diesen und anderen Fragen zu stellen. An dieser Stelle können solche Fragen jedoch nur erwähnt werden, um die ethische Neugier zu wecken und zu ermutigen, sich eigene Gedanken zu machen. Ethisch verantwortliche und einsehbare Antworten werden sich nach und nach im Laufe der Lektüre dieses Buches erschließen. Das sind jedenfalls die Absicht dieses Buches und die Hoffnung, mit der es geschrieben wurde.

Vernünftige Philosophen, unvernünftige Tiere

Die Ausrottung des Dodo geschah aus menschlicher Unwissenheit und Fahrlässigkeit. Sie stellt aber auch eine Folge der bis in die Gegenwart verbreiteten Auffassung dar, der Mensch als Vernunftwesen sei die Krone der Schöpfung und alle Tiere stünden unter seiner Herrschaft.26 Der griechische Philosoph Aristoteles27 (384 – 322 v. Chr.) war davon überzeugt, dass die Pflanzen um der Tiere willen geschaffen wurden und die Tiere um der Menschen willen; die zahmen Tiere für die Arbeit und die menschliche Ernährung, die wilden Tiere zum größten Teil ebenso für die Ernährung oder auch für andere Dinge, die uns nützen, wie z. B. Kleidung. Aristoteles lehrte übrigens auch, dass Männer den Frauen übergeordnet seien, und manche Menschen aufgrund ihrer Körperkraft die Bestimmung hätten, Knechte oder Sklaven zu sein.

Aristoteles’ Auffassung über das Verhältnis von Menschen und Tieren wurde von den großen christlichen Theologen weitertradiert und durch die Berufung auf die Bibel abgesichert, allen voran von Thomas von Aquin (1225 – 1274), dem Doctor angelicus, dem engelgleichen Lehrer, wie einer seiner Ehrentitel lautete. Zwischen Doktor Thomas und dem lieben Vieh bestand ein weiter Graben, denn nach Thomas von Aquin ist nur der Mensch als göttliches Ebenbild geschaffen und mit Verstand ausgestattet worden. Die vernunftlosen Tiere dagegen würden ausschließlich zum Wohle des Menschen existieren und seien zum Gebrauch durch ihn bestimmt. Der Mensch habe zwar das Eigentumsrecht an Tieren zu respektieren, an sich allerdings bestünden keine Verpflichtungen eines Menschen gegenüber Tieren, sondern das umfassende Recht, sie zu töten und nach Belieben zu verwenden: „Aus der Göttlichen Vorsehung nämlich werden sie [die Tiere] durch die natürliche Ordnung zum Gebrauch des Menschen geordnet, weswegen der Mensch sie ohne Unrecht gebraucht, sei es, indem er sie tötet, sei es auf irgendeine andere Weise.“28

Die sich im 17. Jahrhundert anbahnende Aufklärung brachte keinen tierethischen Fortschritt, ganz im Gegenteil. Der einflussreiche französische Philosoph René Descartes29 (1596 – 1650) beschrieb die Tiere als Maschinen oder Automaten ohne Gefühle des Schmerzes und Wohlbefindens, als Geschöpfe ohne Vernunft und ohne Seele. Descartes und seine Anhänger hatten von Anfang an keine Probleme, brutale Tierversuche zu rechtfertigen. „Wissenschaftlich interessierte Cartesianer konnten … lebende Hunde an Bretter nageln, aufschneiden und davon überzeugt sein, dass sie ihnen keine Schmerzen zufügen und dass die Laute, die die Objekte ihrer Forschung von sich gaben, nichts anderes wären als das Quietschen einer Maschine. (Manchmal wäre es allerdings von Vorteil gewesen, die Stimmbänder der Hunde zu durchschneiden, um das lästige Winseln nicht mehr zu hören.)“30 Immanuel Kant31 (1724 – 1804), der große Aufklärungsphilosoph des 18. Jahrhunderts, sprach Tieren ebenfalls keinen Eigenwert und keine Würde zu. Wie für Thomas von Aquin war auch für Kant Tierquälerei ethisch nur deshalb problematisch, weil sich aus der Grausamkeit gegenüber Tieren eine allgemeine Neigung zur Grausamkeit entwickeln könnte, die auch vor Mitmenschen nicht haltmacht.

3. Ausweitung. Über die Würde der Tiere und andere ethische Begriffe

Angemessene Begrifflichkeit

In Jonathan Safran Foers Buch Tiere essen ist folgender Bericht eines Arbeiters in einem amerikanischen Schlachthof abgedruckt:

„Im Tötungsbereich, wo immer viel Blut fließt, macht einen der Blutgeruch ganz aggressiv. Wirklich. Du kriegst die Einstellung, dass wenn ein Schwein nach dir tritt, du es ihm heimzahlst. Eigentlich tötest du es ja schon, aber das reicht noch nicht. Es muss leiden. … Du gehst hart ran, setzt ihm zu, schlägst ihm die Luftröhre kaputt, lässt es in seinem eigenen Blut ertrinken. Spaltest ihm die Nase. Da rennt also ein lebendes Schwein durch die Wanne. Es guckt zu mir hoch, und wenn ich gerade den Job als Stecher habe, dann nehme ich das Messer und – krrrk – schneide ihm ein Auge raus, während es einfach dahockt. Und dann schreit das Schwein wie am Spieß. Einmal habe ich mein Messer genommen – es ist ziemlich scharf – und einem Schwein ein Stück von der Nase abgeschnitten, als wär’s eine Scheibe Mortadella. … Dann … nehme ich eine Handvoll Salz und reibe es ihm in die Nase. Da ist das Schwein richtig ausgeflippt. … Ich war nicht der Einzige, der solche Sachen gemacht hat. Ein Schlachter, mit dem ich zusammenarbeite, treibt die Schweine manchmal noch lebend in das Brühbad.“32

Mein hier vorliegendes Buch handelt von der kontrafaktisch unantastbaren Würde der Tiere. Faktisch ist sie, wie dieser Bericht drastisch zeigt, antastbar und verletzlich. Die beschriebene Schlachthofszene legitimiert und provoziert den Gebrauch des Begriffes der Tierwürde in einem expressiven Sinn und wegen seiner appellativen Wirkung. Es mag aus ethischer, juristischer und rechtsphilosophischer Sicht Vorbehalte gegen diesen Begriff geben – ähnlich wie es Vorbehalte gegen den Begriff der Menschenwürde gibt – und selbstverständlich kann man ihm Vagheit und Allgemeinheit vorwerfen. Seine fehlende Konkretheit oder „Dünnheit“33, um die Diktion des US-amerikanischen Moralphilosophen Michael Walzer aufzugreifen, ist jedoch nicht primär Schwäche, sondern Stärke: Nahezu jeder, der diesen Begriff hört, wird etwas wahrnehmen, was er wiedererkennt. Wer über Tierwürde und deren Verletzung spricht, evoziert Bilder von Schlachthöfen und Tierfabriken, Tiertransporten und Gänsestopfleber, abgehackten Haifischflossen und in den Müll geworfenen Hundewelpen. Der Begriff der Tierwürde wird also in diesem Buch nicht philosophisch-ethisch analysiert und reflektiert, sondern als Ausdruck eines intensiven Protestes gegen all diese und andere Grausamkeiten verstanden sowie als Appell an christliche Gemeinschaften und alle Menschen guten Willens, etwas Konkretes dagegen zu tun. Was genau getan werden sollte, wird sich im Laufe dieses Buches erschließen.

Nach post-anthropozentrischen Ethiken steht fest: Wer einzelne Tiere quält oder willkürlich tötet, wer Tierarten ausrottet und den tropischen Regenwald großflächig abholzt, handelt ethisch falsch. Richtig oder falsch zu handeln ist – in der ethischen Fachsprache ausgedrückt – nicht dasselbe wie gut oder schlecht / böse zu handeln. Während es bei den Begriffen sittlich richtig und falsch um die unter Menschen intersubjektiv auszuweisenden und argumentativ darzulegenden Gründe für die Qualität einer ethischen Handlung geht, beziehen sich die Begriffe sittlich gut und schlecht / böse auf die einem Menschen innerliche Disposition und Motivation.34 An einem Beispiel erklärt: Man kann eine ausgeprägte Liebe zu Hunden und die besten Absichten haben, Hunden Freude zu bereiten, aus veterinärmedizinischen Gründen ist es dennoch nicht ratsam, die Tiere dadurch erfreuen zu wollen, indem man sie mit Schlagsahne oder Schokolade füttert. Wer immer solches tut, handelt ethisch zwar gut (Motivation), aber dennoch im Sinne des umfassenden Wohls der Tiere nicht richtig bzw. ausgesprochen falsch. Wer dagegen aus Abneigung gegenüber Hunden Giftköder auslegt, handelt sowohl ethisch schlecht oder böse (Motivation) als auch ethisch falsch (objektive Schädigung der Hunde). Motivation und Sachgerechtigkeit zu unterscheiden ist analytisch hilfreich, darf aber nicht dazu führen, beide strikt zu trennen. Denn an sich ist beides notwendig: eine auf Mitgefühl aufbauende gute Motivation und eine auf Sach- und Fachkenntnis gestützte ethische Entscheidungskompetenz.

Es legt sich nahe, an dieser Stelle noch zwei weitere begriffliche Klarstellungen vorzunehmen. Die erste weist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Begriffen Moral und Ethik hin: Vor allem in der Alltagssprache werden diese Begriffe weitgehend synonym verwendet. Dagegen ist nichts einzuwenden. In der akademischen Ethik bezieht sich der Begriff Moral allerdings im Allgemeinen auf die in einer Gesellschaft vorherrschenden Moralvorstellungen und sittlichen Regeln, der Begriff Ethik dagegen auf die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion über eben diese Moralvorstellungen und Regeln, „mit der Absicht, diese Ansichten auf die eine oder andere Art zu verbessern, weiter zu entwickeln oder zu präzisieren“35. Eine dritte begriffliche Klarstellung bezieht sich auf die Sprache, mit denen wir die Tiere und ihre Welt benennen. Das Anliegen von Tierethik und Ökolinguistik36, in der Rede über Tiere keine Wörter und Begriffe zu verwenden, die diese abwerten oder die die menschliche Grausamkeit gegenüber Tieren euphemistisch verschleiern, wird in diesem Buch voll unterstützt. Die durchaus zu respektierende Empfehlung von Tierrechtlern, nicht von Menschen und Tieren, sondern stattdessen von menschlichen Tieren und nichtmenschlichen Tieren zu sprechen, wird hier allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht übernommen. Für viele Leserinnen und Leser ist diese Sprachregelung sowohl ungewöhnlich als auch ungewohnt und wirkt eher verstörend als zum Denken anregend. Zudem wird durch den Begriff nichtmenschliche Tiere trotz der Intention, die evolutionäre Kontinuität allen Lebens dadurch sprachlich sichtbar zu machen, das Faktum nicht aus der Welt geschafft, dass es sich beim Begriff der Tiere um eine undifferenzierte Sprachregelung handelt, „die die Wirklichkeit dessen, war sie vorgibt zu beschreiben, verdeckt, nämlich ein breites Spektrum von höchst unterschiedlichen Wesen von erstaunlicher Vielfalt und Komplexität.“37 Anders gesagt: Menschen und Schimpansen sind sich in vieler Hinsicht ähnlicher als Schimpansen und Seegrasquallen, dennoch werden beide, Menschenaffen und Quallen, mit dem einheitlichen und undifferenzierten Begriff Tier bezeichnet.

Primatt und Bentham

Zwei Jahrhunderte bevor der Dodo ausstarb, hatten die europäischen Eroberer der so genannten Neuen Welt begonnen, die indigene Bevölkerung Nordamerikas auszurotten. Wie der Historiker Howard Zinn darlegt, flohen die amerikanischen Indianer nicht, als sie Christoph Kolumbus und seinen Männern das erste Mal begegneten, sondern verhielten sich lange Zeit äußerst gastfreundlich. Kolumbus selbst beschrieb das Zusammentreffen wie folgt: „Die Indianer sind so naiv und so freigebig, das niemand es glauben würde, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn man sie um etwas bittet, das ihnen gehört, sagen sie niemals nein. Ganz im Gegenteil, sie sind bereit, mit allen zu teilen.“38 Doch diese Freundlichkeit der indigenen Bevölkerung wurde von den europäischen Eroberern mit Geringschätzung und Verachtung beantwortet, mit Völkermord, nicht mit Völkerverständigung. Die amerikanischen Indianer wurden gefangen genommen, gequält, versklavt und niedergemetzelt.

Im Jahre 1776 verabschiedete der Zweite Kontinentalkongress der dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika die Unabhängigkeitserklärung und proklamierte damit die Loslösung des neugegründeten Staatenbundes von Großbritannien. In der Unabhängigkeitserklärung wird festgehalten, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit angeborenen, unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet seien.39