Über Max Scharnigg

Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und arbeitet als Redakteur für die Süddeutsche Zeitung. Er verwöffentlichte das Reisebuch Hotel Fatal, die Kolumnensammlungen Das habe ich jetzt akustisch nicht verstanden und Feldversuch. 2011 erschien sein Romandebüt Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe, das mit diversen Preisen ausgezeichnet wurde, 2013 der Roman Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau und 2015 Die Stille vor dem Biss. Angeln – Eine rätselhafte Passion.

I can make you put your phone down

As we cruise through the city

I can make you put your phone down

You ain’t gonna text no one when you’re with me

I can make you put your phone down

So you can show me attention

And I’ll cut mine off too

Boy that’ll help when I listen

I can make you put your phone down

Baby we don’t need it

Every time you get a message

Act like you don’t see it

Erykah Badu

Vorwort

Eine kleine Warnung an dieser Stelle. Das vorliegende Büchlein gibt weder Anleitung für den sicheren Gebrauch von Kreditkarten im Netz noch schert es sich groß um Urheberrechts- und Datenspeicherungsdebatten. Ich bin fest davon überzeugt, dass für diese drängenden und rotierenden Themen das Netz der richtige Austragungsort ist und nicht ein Buch mit der ihm angeborenen Behäbigkeit. Nein, dieses kleine Brevier will ganz im Geiste des Freiherrn von Knigge aus einiger Entfernung den Umgang der Menschen miteinander beobachten und vor allem den Veränderungen nachgehen, die dieser Umgang in den letzten zwanzig Jahren erfahren hat: im Netz und im Austausch mit den digitalen Geräten. Wie viel Knigge dabei immer noch mitreden kann, beweisen die eingestreuten Originalzitate.

Das virtuelle Leben ist fester Bestandteil unseres Alltags, ist Universalraum der Entfaltung und Begegnung geworden. Die Schwellen zwischen analogem und digitalem Erlebnis sind stark geschrumpft, man übertritt sie jeden Tag hundertfach und fast ohne es zu merken. Höchste Zeit also, die Umgangsformen und menschlichen Gepflogenheiten dieser umfassenden, neuen Welt zu erfassen und versuchsweise zu deuten.

Aus diesen Beobachtungen einfache Regeln und moralische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die dem Zweifelnden vielleicht Stütze sind oder zumindest in seinen Zweifeln Gesellschaft leisten, ist das Ziel der hier folgenden Überlegungen. Eben weil es Überlegungen sind, haben sie nicht den strikten Befehlston klassischer Benimmratgeber. Aber auch, weil Strenge nicht sehr webkompatibel ist und die Grundlagen für ein Regelkorsett sich im Web ständig verändern. Der kreative Wildwuchs und das ungezügelte Miteinander der sozialen Medien sind ja gerade deswegen so anziehend, weil sie erst mal keinen Regeln folgen und jeden Monat auf einem neuen Spielplatz ausgetragen werden. Das soll auch so bleiben.

Dennoch ist es hübsch zu sehen, wie viele der Notizen, die sich Freiherr von Knigge in seinem frühen Bestseller machte, problemlos auf die virtuelle Welt und ihre Bewohner zu übersetzen sind. Standesgrenzen und höfische Umgangsformen mögen längst der Vergangenheit angehören, aber die Gefühle beim Senden und Empfangen von zwischenmenschlichen Botschaften sind immer noch die gleichen. Knigges Grundsätze für gutes gemeinsames Auskommen haben deshalb auch nach 240 Jahren noch Gültigkeit und Notwendigkeit – gerade weil grundlegende Elemente der Höflichkeit, des Hausverstandes und des guten Stils unter virtuellen Bedingungen noch schneller erodieren als auf der Straße: Langweile nicht! Sprich nicht immer nur von dir! Respektiere die Meinungen anderer!

An wen wären diese alten Knigge-Grundsätze passender adressiert als an eine Gesellschaft von Ich-Performern, die zwar ständig in Interaktion mit anderen treten – dabei aber doch immer mit sich allein sind?

Einladung

Jens Plüm möchte dich zu Google+ hinzufügen. Heike Hortbart hat dich zu LinkedIn eingeladen. Derlei Botschaften erreichen einen heute weit regelmäßiger als Einladungen zu einem Segeltörn auf der Ägäis oder zu einem zünftigen Umtrunk. Diese Lockrufe in eine andere Plattform oder ein neues Verzeichnis sind wohl vorwiegend nett gemeint. Sie sind sozusagen Ausdruck eines digitalen Vermissens. Den Empfänger bringen sie aber oft in eine recht unkommode Zwickmühle. Zunächst mal sind sie eine unfreiwillige Unterbrechung. Um der Einladung zu folgen, muss er sich über das Medium informieren, nachlesen, Meinungen einholen, Speicherplatz freigeben, abwägen. Er muss die Registriermodalitäten durchstehen und findet sich am Ende womöglich in einer Umgebung wieder, die er weder benötigt noch begreift, aber immerhin: Er hat hier einen Freund und ist jetzt ihm zuliebe um ein paar Newsletter und sonstige Netzzwänge reicher geworden.

Es ist also eigentlich eine zutiefst egoistische Idee, derlei ohne Ankündigung oder nähere Erklärung in die Welt zu senden, in der vagen Annahme, der andere habe schon noch Kapazitäten für ein neues System oder eine neue Welt frei. Man sollte solche Absichten also immer erst mal persönlich ankündigen und die Vorteile für den anderen betonen. Besteht dann Interesse, steht der Einladung nichts mehr im Weg.

Ähnlich verhält es sich mit prämienbewehrten Einladungen auf Verkaufsseiten, von denen sich ja vor allem der Einladende und der Verkäufer etwas versprechen, der arglos Angeworbene aber zunächst wenig profitiert.

Würde man im echten Leben seinen Freund an den aufdringlichen Teppichverkäufer ausliefern? Wohl eher nicht.

Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten, keine führt so sicher dahin, uns dauerhafte Achtung und Freundschaft zu erwerben, als die: unverbrüchlich, auch in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner Zusage treu, und stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden.

Gesellschaftliche Verbindlichkeiten

Es ist sehr bequem geworden, ein Fest zu planen und anzukündigen, Facebook oder Doodle tun dabei so, als wären sie unser Privatsekretär. Man stellt dort die Gästeliste aus seinen Freunden zusammen und lädt im nächsten Schritt ein, sieht in der Vorbereitung, wer sich ankündigt – und steht am Ende wahlweise vor leeren Tischen oder aber mit der Polizei im Vorgarten, weil die Party sich zu einer Art Massenkundgebung ausgewachsen hat.

So einfach eine Veranstaltung erstellt ist, so unklar ist ihr Ausgang, es ist also eine Frage der eigenen Risikobereitschaft, ob man nicht doch vielleicht auf persönlicherem Weg oder per Rundmail einlädt. Tut man es auf Facebook halb öffentlich, so sei man sich bewusst, dass diese Einladung bei den anvisierten Gästen nur wenig Verbindlichkeit einfordert. Was ich mit einem Mausklick zusage oder sogar nur mit »vielleicht« markiere, das ist im nächsten Moment wieder aus meinem Kopf verschwunden. Zwar erinnert die Maschine rechtzeitig daran, aber bis dahin habe ich womöglich längst schon den betreffenden Abend überplant oder vergessen, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. Wer ohnehin ein eher loses Get-together plant oder eine Vernissage mit stark fluktuierendem Charakter, für den mag die Bekanntmachung auf dem Online-Terminkalender gerade richtig sein – sofern er einen kleinen Kreis noch mal auf persönlichere Art an seine Veranstaltung bindet. Wer doch Wert auf jeden einzelnen Gast legt, der sollte bis zum Termin immer wieder darauf hinweisen und aus seinen Postings eine gewisse Erwartung sprechen lassen, die auch den flüchtigen Facebook-Flaneur den Termin in seinem echten Kalender markieren lässt.

Nicht zu unterschätzen ist auch, dass diese Art Einladung weitaus öffentlicher gehandelt wird als ein diskreter Briefumschlag. Wer nicht eingeladen ist, hat gute Chancen, dennoch Wind von der Sache zu bekommen, und wer eingeladen ist, erzählt es freimütig einfach weiter, weil der klandestine Charme einer handverschickten oder eigenmündlichen Einladungsrunde fehlt.

Man kann sich also mit selektierten Gästelisten auf Facebook durchaus auch unbeliebt machen, obwohl das System einen geradezu ermuntert, eine schnelle Auswahl an Lieblingsfreunden zu treffen.

Alles kann, nichts muss

Eines der größten Versprechen neuer Geräte ist ihr integrativer Charakter. Was früher jeweils ein eigenes Gerät oder Nutzgegenstand war, das verbirgt sich jetzt alles in einem. Kopieren, drucken, Faxen und Scannen – heute nur eine Kiste.

Das Smartphone hat seinen beeindruckenden Siegeszug auf genau dieser Vereinnahmung aufgebaut: früher nur ein Telefon, heute in Verbindung mit Google gleichzeitig Orakel von Delphi, Taschenwerkzeug, Büro und Bürovorzimmer. Dabei wird außer Acht gelassen, dass ein Notizbuch, ein Füller, eine Uhr wunderbare und sinnliche Begleiter sind, mit denen man auch den schnödesten Momenten ein bisschen Glanz verleihen kann.

Es wäre schade, dieses Inventar einfach so der Technik zu opfern, nur weil sie sich vielfräßig alles einverleiben möchte. Selbstbewusster Umgang mit den neuen Möglichkeiten drückt sich eben auch im Verzicht auf gewisse Funktionen aus. Gerade in einer Zeit, die vieles nivelliert – alle gucken auf das gleiche Gerät, sind bei Facebook, suchen mit Google –, hat ein individueller Auftritt neuen Wert. Zudem zeigt man damit, dass man souverän abwägen kann, was man an den Computer auslagern möchte und was nicht. Eine Armbanduhr ist auch im digitalen Zeitalter praktischer, ein Füller schneller und ein Kompass genauer als ihre digitalen Derivate.

Wer seine Gepflogenheiten allzu bereit und immer neu opfert, wirkt ähnlich einseitig wie einer, der von Computern pauschal nichts wissen möchte.

R.I.P.

Weil das Netz jeden Tag eine Geschichte braucht, ein Beutetier, an dem es herumknabbern kann, rücken auch ferne Trauerfälle wieder mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Es steht jedem frei, auf seine Weise um verdiente Showmaster und Schauspieler zu trauern, aber die Frage sei erlaubt, ob man auch ohne Twitter und Facebook das Verlangen danach gehabt hätte. Kondolieren als Selbstzweck, als »Ich jetzt auch traurig«-Reflex ist eine fragwürdige Errungenschaft der Neuzeit. Und ob wirklich jeder seine persönlichen Erinnerungen an Günter Grass und Lou Reed öffentlich loswerden muss?

Über Tote redet man nur Gutes. Oder auch einfach mal gar nicht. Trauer war eigentlich mal eine Privatempfindung und kein Wettbewerb um die tiefste (und eloquenteste) Betroffenheit.

Allg. Betroffenheit

Der stete Nachschub von Nachrichten bis auf unsere Nachttische, die bis in die Hosentasche übertragene Live-Berichterstattung von Naturkatastrophen und Unglücken versetzen uns bis zu einem gewissen Grad in die Rolle von Schaulustigen auf der Autobahn, die in der Gegenrichtung einen Unfall sehen. Da die einschlägigen Nachrichtenkanäle und Timelines dabei gleichzeitig Horrormeldungen und Catcontent transportieren, kommt es nicht selten zu unpassenden Abfolgen, meist noch flankiert von grotesken Werbebannern, die der gefühllose Algorithmus beisteuert. Wenn jeder Inhalt gleich viel wert ist, wirkt das in der Zusammenschau eben schnell komisch.

Nun ist man natürlich nicht verpflichtet, emotional an jedem Schrecken dieser Welt teilzunehmen und allein an seinem Schreibtisch Betroffenheit zu mimen. Aber es gibt Ausnahmen: Wenn die ganze Welt die Nachrichten zu einem Flugzeugabsturz mitten in Europa Stück für Stück zusammensetzt und sich auf den Plattformen diese typische Mischung aus Informationsbrocken, erster Anteilnahme und Wut breitmacht, kann man seine Witzelsucht bitte schön für ein paar Stunden zähmen. Man fährt ja auch nicht jodelnd auf dem Longboard am Friedhof vorbei, wenn man sieht, dass dort gerade eine Beerdigung läuft. Und wenn offenbar ein Großteil meiner Netz-Bezugsgruppe von einer Nachricht tief berührt wird, gehört es zum Feingefühl des Selbstpublizisten, nicht genau jetzt ein neues Promi-Bashing anzuzetteln oder ein bisschen persönlichen Bahn-Ärger loszuwerden.

Ganz abgesehen davon, dass man die erhoffte Zustimmung in so einem Nachrichtenumfeld ohnehin nicht erleben wird – sondern nur eisiges Ignoriertwerden.

Verzweifle nicht, werde nicht missmutig, wenn Du nicht die moralische oder intellektuelle Höhe erreichen kannst, auf welcher ein andrer steht, und sei nicht so unbillig, andre gute Seiten an Dir zu übersehn, die Du vielleicht vor jenem voraus haben magst – und wäre das auch nicht der Fall! Müssen wir denn alle groß sein?

Ignoriert werden

Hinter den scheinbar lässig hingeworfenen Postings, Bildmontagen und Alltagsbonmots, die das Web an einem ganz normalen Tag jedem Einzelnen vor die digitale Haustür spült, stecken jeweils persönliches Bemühen und Zeitaufwand. Schließlich sind Aufmerksamkeit, Klick- und Daumenzahlen so was wie das Währungssystem des ganzen Zirkus. Und viel bedeutet dabei viel.

Wer einmal erlebt hat, wie sein treffender Kommentar zum laufenden Fernsehprogramm oder zur politischen Großwetterlage durch die virale Decke ging und von allen Seiten weiter verbreitet wurde, der will das wieder erleben. Umso bitterer, wenn sich der gewünschte Effekt nicht einstellt und die Scheinwerferlichter ausbleiben, das sorgsam komponierte Foto kaum Herzchen sammelt und der Tweet ohne viel Federlesens in der schäumenden Gischt des Nachrichtendienstes verschwindet.

Nun, das ist eben zu ertragen. Das gehört zu dem, was ein Gentleman hinunterschluckt. Weder empfiehlt es sich, die Verweildauer des Postings künstlich zu verlängern, indem man sich selbst kommentiert und liket, beispielsweise. Noch sollte man das tote Pferd unentwegt satteln wollen, also auf der Niete aufbauen. Hat nicht funktioniert, ist schon vergessen.

Im übrigen gilt im Netz wie im richtigen Leben – wer sich kreativ und sorgfältig artikuliert, in seinem Blog gute Ideen ausbreitet und nicht immer nur nach dem schnellen Gag sucht, der wird vom Netz irgendwann genau dafür respektiert und kann befreit aufspielen. Wer hingegen immer nur den Witz der Stunde interpretiert und stets den neuesten Instagram-Filter auflegt, läuft Gefahr, irgendwann mit der Kulisse zu verschwinden.

Adabei

Papstwahl, letzte Folge Wetten, dass..?, Fußball-Endspiel, Königshochzeit – diese bunt-globalen Ereignisse sind auch online Highlights, die im Vor- und Nachhinein einen Ozean von Kommentaren und eine Flotte von selbst ernannten Live-Berichterstattern auf den Plan rufen. Dagegen ist nichts einzuwenden – eine lebhafte Anteilnahme von Informierten macht das Netz attraktiv und unterhaltsam. Man prüfe nur gelegentlich, ob man selbst wirklich immer Teil dieser Event-Entourage sein muss. Das Engagement als Fußball- und Tatort-Kommentator, Promi-Experte und Politikberater, Medienbeobachter und Universal-Schlachtenbummler in Personalunion, vermittelt in der Timeline irgendwann das Gefühl beliebiger Entflammbarkeit und man gerät in den Verdacht von Netz-ADHS.

Schaulust und Katastrophentourismus

Einige ihrer beeindruckendsten Vorzüge spielt die globale Vernetzung aus, wenn es um Anschläge, Naturkatastrophen, Revolutionen oder sonstige dramatische Ereignisse von Tragweite geht. Augenzeugen und Beteiligte werden zu Korrespondenten, die die ganze Welt mit Informationen beliefern, bevor die Nachrichtenagenturen auch nur einen Satz geschrieben haben.

In diesen Momenten, in denen aus dem vergnüglichen Gefrotzel einer Twitter-Timeline oder eines Periscope-Angebots Schauplätze elementarer Vorgänge werden, sollten einige Verhaltensweisen eigentlich selbstverständlich sein:

Ist die Nachricht ganz frisch, darf jeder sie verbreiten. Es ist wie der Griff zum Warnblinker, wenn man an ein Stauende oder einem Hindernis ankommt. Man weiß nicht, ob die anderen es gesehen haben, und gibt deshalb die Nachricht weiter. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Sobald der Hintermann auch den Warnblinker anhat, sobald also die Informationskette funktioniert, schaltet man selber aus.

Auf Twitter übersetzt: In der sehr kurzen Zeitspanne, in der die Nachricht von Tragweite ins Netz sickert und von Multiplikatoren hundertfach verstreut wird, hat man die Aufgabe, seine Follower in Kenntnis zu setzen. Kommt man zwei Stunden später an den Rechner, gilt das nicht mehr, man kommt gewissermaßen über eine Auffahrt auf eine bereits komplett verstopfte Autobahn – keine Notwendigkeit mehr für den Warnblinker.

 

Wer danach nichts Wesentliches beizutragen hat, hält die Klappe oder geht ins Bett. Wer frei von Sensationslust ist, braucht nach einem Unglück nicht minütliche Updates. Der Feed sollte jetzt frei für diejenigen sein, auf deren Botschaften die ganze Welt wartet, weil sie vor Ort sind oder wichtige Entscheidungen treffen können.

Die große Mehrheit derjenigen, die nur empfangen, sollte sich verhalten wie Autofahrer, wenn ein Blaulichtfahrzeug ankommt: Rechts ranfahren, durchlassen, froh sein, dass es nicht um sie geht. Der eine oder andere hält diese Untätigkeit erfahrungsgemäß nicht aus und schlüpft in die Rolle des Dokumentars und digitalen Hilfsarbeiters, verweist auf andere Quellen oder fasst zusammen, und das mag im Einzelfalle hilfreich sein.

Nicht hilfreich ist die Sitte, bereits nach wenigen Minuten Interpretationen des Geschehens in Umlauf zu bringen oder es gleich zum Anlass für hausgemachte Verdächtigungen und Weisheiten zu nehmen. Als würde man im Stau nach einem Unfall auf das eigene Autodach klettern und den anderen Wartenden per Megaphon seine Theorie zum Unfallhergang schildern. Das verhöhnt alle Betroffenen und setzt den Emittenten in das unschmeichelhafte Licht desjenigen, der in jeder Katastrophe nur nach der eigenen Bestätigung sucht.

 

Wer hingegen einfach weitertwittert und instagrammt, als wäre nichts geschehen, nur weil ihn das Thema der Stunde nicht unmittelbar betrifft, beweist erschreckend wenig Feingefühl. Die Weltgemeinschaft, die immer anwesend ist, wenn man auf Plattformen kommuniziert, verdient die gleiche Rücksicht wie der eigene kleine Bekanntenkreis. Und den würde man kurz nach einem Trauerfall ja auch nicht mit witzigen Fußballvideos beglücken.

 

In den Stunden nach einem Absturz, Anschlag oder einer Naturkatastrophe ist das Netz noch unübersichtlicher als sonst – es hagelt Links, Vermutungen, vermeintliche Zusammenhänge. Unter dem Vorwand der Chronistenpflicht werden Videos und Bilder in Umlauf gebracht, die weit jenseits der natürlichen visuellen Tabus von Nachrichtensendungen liegen.

Der Gentleman hat jetzt eine besondere Sorgfaltspflicht, wenn es darum geht, was er weiterleitet und sich auch selbst zumutet. Nur weil Aufnahmen existieren, muss man sie nicht selbst in Augenschein nehmen, um sich eine Vorstellung von den Ereignissen machen zu können. Wer mit Neugier und Schaulust ringt, versetze sich in die Lage eines Angehörigen, der erfährt, dass das Video, in dem ein geliebter Mensch zu Schaden kommt, hundertfach verlinkt und tausendfach nebenbei beglotzt wurde, von Menschen, die den gleichen Gesichtsausdruck haben wie bei einem Actionfilm und dabei eine Jogginghose tragen.

Nein, es gilt, was auch bei einem Unfall auf der Straße gilt. Wer nicht Hilfe leistet, hat dort nichts verloren.

 

Aus dem Unglück Profit im Dienste der eigenen Marke zu schlagen ist ein Eindruck, den man tunlichst nicht erwecken sollte.