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Kapitel 1

KINDHEIT UND JUGEND
1939 BIS 1960

1945: Ein Ende, ein Anfang. Und viel vom Gleichen

»Ihr müsst auf mich warten.«

Christian Ströbele zu Spielkameraden, Schkopau, 1945

Im Jahr 1944 ist Christian Ströbele fünf Jahre alt. Er wohnt mit seiner Familie, zwei Schwestern und einem kleinen Bruder, in einer Werkssiedlung der IG Farben in Schkopau. Das Haus in der Oppaustraße ist geräumig. Der Vater Rudolf, der in der Familie Rolf heißt, arbeitet in dem kriegswichtigen Buna-Werk als hochrangiger Chemiker. Ein paar Häuser weiter wohnt Wilhelm Biedenkopf, technischer Direktor des Buna-Werkes, mit seinem Sohn Kurt, dem späteren CDU-Politiker. Es ist das bessere Viertel der Siedlung. Ströbeles Haus liegt an einem offenen, weiten Feld.

Der Krieg rückt langsam näher. Das Buna-Werk in Schkopau und vor allem das Leuna-Werk im zehn Kilometer entfernten Merseburg sind äußerst attraktive militärische Ziele für die Alliierten. Denn die deutsche Kriegsmaschinerie braucht den synthetischen Kautschuk und das synthetische Benzin, die dort produziert werden. Im Mai 1944 bombardieren 800 US-Flugzeuge das Leuna-Werk und werfen dabei 1700 Tonnen Sprengstoff ab – mit Erfolg. Sie machen das Hydrierwerk dem Erdboden gleich. Nach dieser Angriffswelle war der Krieg »produktionstechnisch verloren«, schreibt Albert Speer, Organisator der NS-Kriegsindustrie, später in seinen Erinnerungen. Die Bombergeschwader der US Air Force und des britischen Bomber Command fliegen ab 1944 zwanzig Großangriffe auf die Leuna-Werke. Am 28. Juli 1944 ist der Lauchagrund, vom Wohnhaus der Ströbeles nicht einmal zwei Kilometer entfernt, übersät mit Bombenkratern.

Wenn nachts die Sirenen heulen, fliehen die Ströbeles zu Nachbarn in den Keller. Später suchen sie bei Fliegeralarm den sicheren Werksbunker auf, der weiter entfernt liegt. Der Vater nimmt Christian und den Jüngsten, Herbert, auf dem Fahrrad mit. Helga, eineinhalb Jahre älter als Christian, fährt allein mit dem Rad. Christian schaut oft fasziniert in den Himmel auf die »Christbäume« – so tauft die deutsche Zivilbevölkerung jene an Fallschirmen befestigten Leuchtmittel, mit denen die Alliierten für nachfolgende Verbände markieren, welches Terrain schon bombardiert wurde.

Im Laufe des Jahres 1944 schicken die Ströbeles die drei jüngeren Kinder – Christian, damals fünf Jahre alt, Gudrun, eineinhalb Jahre jünger, und Herbert, noch ein Kleinkind – sechs Monate lang mit Kindermädchen Toni auf den Bauernhof der Großeltern in den Odenwald. Weil dort weniger Bombenangriffe drohen. Sechs Monate ohne die Eltern. Mag sein, dass Christian Ströbeles lebenslange Liebe zum Odenwald und zu dem auch nach Jahrzehnten spartanisch eingerichteten Holzhaus in diesem halben Jahr 1944 wurzelt.

Die Ströbeles haben Glück. Ihr Haus in Schkopau bleibt unbeschädigt, auch als ab November 1944 die alliierten Geschwader das Buna-Werk bombardieren. Niemand wird verletzt. Selbst nicht, als tagsüber Bomben fallen und 1945 Zivilisten vor den MG-Salven der Tiefflieger in Deckung gehen.

Christian begreift nicht so recht, dass Krieg Gefahr bedeutet. Dies wird ihm erst im Frühjahr 1945 bewusst, als der Krieg in Schkopau schon fast vorbei ist. Er hat in der Siedlung viele Kameraden, mit denen er oft in der Nähe seines Elternhauses spielt. Die Ströbeles haben einen Garten, verlockend ist das freie Feld hinter dem Haus. Die Jungs sammeln gern Munition, die sie irgendwie explodieren lassen. Im Mai 1945 finden sie auf dem Feld ein besonders vielversprechendes Exemplar. Christian will unbedingt dabei sein, wenn sie das Objekt untersuchen. »Ihr müsst auf mich warten«, sagt er seinen Freunden. Er muss erst kurz ins Haus, aufs Klo. Als er dort ist, hört er einen lauten Knall. »Gemein, jetzt haben die das ohne mich aufgemacht«, denkt er.

Als er wieder nach draußen will, um weiterzuspielen, hält ihn seine Mutter zurück. Ein Spielkamerad von ihm ist tot, zerfetzt von der Granate, mit der er hantierte. Als Schwester Helga nach Hause kommt, sieht sie auf der Wiese hinter dem Elternhaus eine Art Prozession. Das tote Kind ist in eine Decke gehüllt, der Vater trägt es auf den Armen, gefolgt von stummen Erwachsenen, stummen Kindern.

Diese Szene ist ein Schock, Einbruch von Gewalt und Tod in die Welt des Spiels. Aber sie ist auch eine Metapher für das Glück, das die Ströbeles 1945 haben. Dass Christian noch einmal schnell ins Haus muss, ehe die Granate genau in Augenschein genommen wird, ist ein Sinnbild. Die Ströbeles umschiffen 1945 fast alle existenziellen Bedrohungen, nicht nur, aber auch per Zufall.

Das Kriegsende verläuft in Schkopau recht glimpflich. Christian fällt auf, dass sich etwas verändert: Im Radio fehlen die täglichen Berichte über die Siege und heroischen Rückzüge der Wehrmacht.

Am 13. April 1945 besetzen US-Truppen das Buna-Werk. Rudolf Ströbele, Betriebsleiter der Butoldestillation, ist an der Übergabe an die Alliierten beteiligt. 1983 hat er seine Erinnerungen an diesen Tag fixiert.1 Die Zwangsarbeiter wohnen in einem Lager zwei Kilometer nördlich von dem Wohnhaus der Ströbeles und direkt beim Werk. Die Zwangsrekrutierten aus ganz Europa (insgesamt 17 000 in der Zeit von 1939 bis 1945) beginnen, laut Rudolf Ströbeles Erinnerung, zu plündern.

Rudolf Ströbele sucht, im Auftrag von Betriebsleiter Carl Wulff, Kontakt zu den US-Soldaten. Die Fremdarbeiter, sagt er, drohen das Werk zu stürmen. Die GIs zucken die Achseln – und halten es nicht für den Job der US-Armee, die deutsche Werkselite vor der Rache der verschleppten Franzosen, Tschechen und Niederländer zu schützen. Doch Ströbele insistiert. In dem Werk gebe es hochexplosives Material, das bei Plünderungen hochgehen könne. Außerdem könnten die Arbeiter nicht mehr versorgt werden, wenn das Werk geplündert wird. Das leuchtet den GIs ein. Die US-Besatzer sind für die Ströbeles, wie sich bald zeigt, ein Glücksfall. Die Naziflagge, die die Ströbeles im Haus haben, wird nicht mehr gebraucht. Mutter Gabriele, talentiert im Umgang mit Stoffen, näht aus dem Hakenkreuztuch im April 1945 rote Turnhosen für die Kinder.

Mehr als sechs Millionen Deutsche sterben im Zweiten Weltkrieg – davon fünf Millionen Soldaten. In den Familien fehlen Väter, Söhne, Onkel. Den Krieg, den viele deutsche Familien als Ruin oder Gewaltexzess erleiden, erleben die Ströbeles, abgesehen von Bombennächten in Schkopau und der Granate, die im Mai 1945 unweit ihres Hauses explodiert, geschützt wie durch einen Kokon. Sie werden nicht ausgebombt und nicht vertrieben. Der Vater muss nicht an die Front. Die Familie selbst erlebt keine Vergewaltigungen, keine Plünderungen. Es gibt keinen nahen, auch keinen fernen Verwandten der Ströbeles und Zimmermanns – so der Mädchenname der Mutter –, der im Krieg getötet wird.

Rudolf Ströbele gehört zur technischen Intelligenz, die die US-Armee schon im Frühjahr 1945 keinesfalls unter Stalins Herrschaft wissen will. Im Juni packen die Ströbeles ihre Sachen. Jeder darf einen Koffer mitnehmen – mehr nicht. Lastwagen der US-Armee bringen die Elite des Werkes, die Chemiker und Ingenieure, die zwei Monate zuvor noch für den deutschen Endsieg gearbeitet haben, in die amerikanische Besatzungszone ins hessische Rosenthal. In den Erinnerungen der Kinder erscheinen die GIs wie Märchenfiguren. Helga Reindel, Christian Ströbeles ältere Schwester, damals sieben Jahre alt, erinnert sich an eine Szene, die aus einem Film stammen könnte. Die GIs schenken den Kindern Schokolade und Kaugummi. Besonders begeistert sind die farbigen Soldaten von Herbert Ströbele, dem zweijährigen Bruder, und von dessen blondem, wuscheligem Haarschopf. Christian Ströbele schwärmt heute noch von Carepaketen, die ein paarmal aus den USA kamen. Und von der Hershey’s-Schokolade darin. Rudolf Ströbele bekommt schon Anfang der 50er-Jahre, nach einigem Hin und Her wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft, ein Visum für eine Geschäftsreise in die USA.

Die Ströbeles ziehen erst ein paar Monate in den Odenwald auf den Bauernhof, den der Großvater Franz Ströbele zu dieser Zeit bewirtschaftet. Christian geht dort ein paar Wochen zur Schule. Dann machen sie sich auf nach Marl am Rand des Ruhrgebietes, wo der IG-Farben-Konzern ebenfalls ein Buna-Werk betreibt. Die Chemischen Werke Hüls und die angegliederte Werkssiedlung werden die neue Heimat. Werk und Wohnung sind Schkopau zum Verwechseln ähnlich. Die Häuser sehen genauso aus, sogar die Straßennamen, die auf andere Produktionsstandorte der IG Farben verweisen, sind die gleichen. Die Ströbeles ziehen wiederum in ein großes, dreigeschossiges Haus, das in der Siedlung für die Elite reserviert ist: Kampstraße 88, Ecke Leverkusener Straße. Die Schkopauer Straße ist in Marl nur einen Steinwurf vom Haus der Ströbeles entfernt. 1945 ist für die Ströbeles nicht Katastrophe, Unglück oder Bruch mit allem Gewohnten. Sondern das Gleiche, nur anderswo.

Manches ist auch anders. In Marl muss die Mutter Gabriele, in der Familie Gaby genannt, um Brot anstehen oder per Zug ins Münsterland fahren, um dort Kartoffeln zu ergattern. Nahrung ist nach 1945 mitunter knapp, die Kinder bekommen manchmal von einer Nachbarin etwas zu essen geschenkt. »Wir Kinder haben da offenbar einen unterernährten Eindruck gemacht«, so Christian Ströbele. Im neuen Haus sind Flüchtlinge einquartiert. Es dauert eine Weile, bis die Familie die zweite Etage in Beschlag nehmen kann, die dritte bezieht die Familie erst 1952. Doch die Privilegien sind ähnlich. Ströbeles wohnen standesgemäß neben dem Grundstück des Direktors der Buna-Werke Paul Baumann, der von 1938 bis 1965 Chef des Werkes ist.

Die Ströbeles leben in der Bereitschaftssiedlung, unweit des südlichen Werkstores. Diese Siedlung, auch Akademikersiedlung genannt, bevölkert das Werkspersonal, auf das es ankommt: Direktoren, Betriebsleiter, Chemiker, Ingenieure und Meister. Die Not ist bei den Ströbeles auch deshalb vergleichsweise gering, weil aus dem Odenwald von Großvater Franz Ströbele regelmäßig umfangreiche Apfellieferungen kommen. Am Kriegsende sind gute Kontakte zum Bauern mehr wert als Geld. »Es gab bei uns jeden Tag Apfelmus«, erinnert sich Schwester Helga Reindel.

Christian findet in Marl schnell neue Freunde. Er ist sowieso kommunikativ. Viele Kinder sind neu, geflohen mit ihren Familien. Rasch bildet sich ein Trio aus drei Spielkameraden, die in der nahen Harkort-Volksschule in dieselbe Klasse gehen: Christian, Diether Heisig, Flüchtlingskind aus dem Sudetenland und Ingenieurssohn, Erwin D., Sohn eines Elektromeisters. Drei Freunde aus den drei sozialen Klassen, die die Siedlung bevölkern: oben die Direktoren und Betriebsleiter, in der Mitte Ingenieure, unten die Meister.

In Christian Ströbeles Kindheit gibt es viel Freiheit, viel Wildes, viele Möglichkeiten, die Welt auf eigene Faust zu entdecken. Nach Schule und Schularbeit können die Kinder oft tun, was sie wollen. Die drei lesen Karl May, lange Jahre Christian Ströbeles Lieblingslektüre, und spielen Indianer. Ströbele heißt Büffelkopf und bastelt sich einen Kopfschmuck aus Kaninchenfell und mit Kuhhörnern, die er von der Abdeckerei holt, und den nicht nur empfindliche Nasen für ein doch schwieriges Spielgerät halten. Erwin ist meist der Chef, Ströbele oft Medizinmann. Kleine Brüder sind dafür da, als gefangene Indianer an den Marterpfahl gebunden zu werden. Die drei verstehen es, sich Tomahawks zu schnitzen und auch Mokassins selbst zu machen. In einem mit Holzwurzeln ausgetragenen Zwist mit einer konkurrierenden Jungenbande haut Erwin ein Nachbarskind bewusstlos und erklärt, der Erinnerung von Diether Heisig zufolge, ungerührt: »So ergeht es allen unseren Feinden. Howgh, ich habe gesprochen. Folgt mir, meine Krieger!« Woraufhin das Trio die Arena verlässt.

Erwin ist der draufgängerische Chef, Christian Ströbele, körperlich schmächtig, eher der Abwartende. Als er und Freund Diether Heisig eines Abends eine der raren Birnen im Garten des Nachbarn ins Visier nehmen, geht das schief. Der Nachbar bemerkt die Tat, Diether, körperlich kräftig, flieht per beherztem Sprung über den Jägerzaun. Christian zieht es vor, erst einmal in der Dunkelheit auf dem Boden liegen zu bleiben. Und zu warten. Bis der erzürnte Nachbar ihn beim Schlafittchen packt.

Christian Ströbeles kindliche Talente liegen weniger darin, entschlossen Jägerzäune hinter sich zu lassen, als auf Ideen zu kommen, wie man Geld verdienen kann. Zum Beispiel: Filme auf dem Projektor rückwärtslaufen zu lassen und von Nachbarskindern Eintritt zu nehmen: fünf Pfennig.

Zum freien Spiel gehört auch Gefahr. Einmal graben die drei in Ströbeles Garten – die Häuser von Betriebsleitern haben einen Garten – ein tiefes Loch, das mit Brettern verschlossen wird und nur von außen zu öffnen ist. Der kleine Bruder Herbert soll den Verschlag öffnen, aber irgendwie missglückt der Plan. Erwin hat in dem Versteck einen Erstickungsanfall, ehe Rettung naht. Aus Schaden klug, montieren die drei Freunde ein Ofenrohr zwecks Sauerstoffzufuhr.

Es ist eine Kindheit ohne Fernsehen, ohne viel Kontrolle durch die Eltern. Und mit Tieren. Im Odenwald hat Christian ein Pony, im Garten in Marl gibt es Kaninchen und Hühner. 1950 kauft Christian auf dem Markt ein paar Küken, für die er einen Stall bauen will. Um die Küken zu wärmen, befördert er sie in den Backofen, was sich als ungute Idee erweist.

Obwohl es unter den Kindern kaum Zwist zwischen Dazugekommenen und Alteingesessenen gibt, ist die Lage nicht für alle gleich. Diether Heisig wird in der Schule, als Flüchtling, abschätzig »Russe« genannt, Christian nicht. »Die Rangordnung der Kinder war durch die Stellung des Vaters vorgegeben«, so Heisig, der später als Architekt und Künstler arbeiten wird.

Spürbar sind die mehr oder weniger subtilen Klassenunterschiede durchaus. Christian Ströbele läuft stets quer über den Rasen, wenn er zu den Heisigs geht. Das ärgert Heisigs Eltern – doch sie trauen sich nicht, den Sohn eines Abteilungsleiters zurechtzuweisen. Die Ströbeles haben später standesgemäß ein Hausmädchen – Helga Bertha. »Sagt Helga Bertha« ist ein geflügeltes Wort im Hause Ströbele – wenn etwas banal ist. Es gibt bei den Ströbeles keinen Klassendünkel. Aber es gibt das selbstverständliche Bewusstsein, dass man zur gebildeten Elite gehört.

Neben den Freiheitsräumen gibt es stets drohende himmlische Strafen: Die Ströbeles sind, wenn auch ohne rechte Überzeugung, katholisch. 1948 geht Christian zur Kommunion. Zu lügen kommt für Christian nicht in Betracht. Mit zehn, elf Jahren geht er, obwohl von den Eltern dazu keineswegs genötigt oder ermutigt, in die Kirche. Und beschließt, wenn er einmal groß ist, Papst zu werden.

Ein noch härteres Disziplinierungsmittel ist die Volksschule. Bei unbotmäßigem Verhalten werden die Jungen mit dem Stock gezüchtigt. Der Lehrer greift zu einer dünnen Gerte und schlägt den Schülern mit weit ausholender Geste auf die Finger. »Gelegentlich musste der Delinquent vor den Schlägen eine neue Rute aus dem nahe gelegenen Wald holen«, erinnert sich Diether Heisig. »Die Schläge waren schmerzhaft«, so Heisig.

Aber auch in der Prügelpraxis der Schule kommen Klassenunterschiede zum Vorschein. »Bei den Kindern aus den besseren Familien waren die Lehrer viel zurückhaltender. Ich bekam es nur auf die Finger, wurde aber nicht über die Bank gelegt«, sagt Christian Ströbele. Als Herbert, der Jüngste, zu Hause erzählt, dass der Volksschullehrer ihm mit der Haselnussgerte auf die Hand geschlagen hat, stellt ihn Gabriele Ströbele, Gattin des Betriebsleiters, umgehend zur Rede. Herbert Ströbele, heute emeritierter Physikprofessor, erinnert sich, dass zu Hause halbironisch davon die Rede war, dass die Mutter, wenn sie sich für die Kinder in der Schule verwendet habe, stets erst einmal »die Krokodilledertasche auf den Tisch stellte«. Das ist der Versuch, mit sozialer Distinktion zu beeindrucken. Am meisten ist die Krokotasche für Christian in Gebrauch.

Gabriele Ströbele, geborene Zimmermann, ist die ins Auge fallende, präsente Figur in der Familie. Die Rollenverteilung ist typisch für die 50er-Jahre: Rudolf Ströbele arbeitet, Gabriele macht den Haushalt. Sie ist temperamentvoll und selbstbewusst. Und sie interpretiert ihre Rolle als Hausfrau eher unorthodox. Dem Kochen widmet sie sich mit weniger Leidenschaft als dem Klavier. Morgens schläft sie bis halb neun – Kinder und Mann bedienen sich am vorbereiteten Frühstückstisch. Christian, der von Kindesbeinen an notorisch zu spät kommt, erscheint stets als Letzter. Allerdings: Jeden Tag steht mittags um halb eins und abends um halb sieben das Essen auf dem Tisch. Wenn es einmal eine halbe Stunde später wird, gibt es Ärger mit dem Gatten. Jedes Wochenende wird Kuchen gebacken.

Die Mutter erzählt zudem, dass sie 1938 heiraten musste – weil ein Kind unterwegs war. Die Eltern hatten sich 1937 kennengelernt und setzten die Heirat gegen den entschiedenen Widerstand ihrer Eltern durch. In Marl läuft Gabriele auch gern mal nackt durch die Wohnung. Tochter Helga ermahnt die Mutter, wenn sie unbekleidet am Fenster steht. Darin drückt sich ein in den 50er-Jahren lockeres Verhältnis zu Körperlichkeit aus. Man mag bei Ströbeles auch das Unkonventionelle.

Gabriele Ströbele ist seit den 50er-Jahren Anthroposophin. Sie liest und schätzt Heidegger. In einem Lesekreis studiert sie die Werke von Rudolf Steiner, sie kauft Weleda-Produkte und Demeter-Brot. Die Kinder in eine Waldorfschule zu schicken steht nie zur Debatte: Es gibt im Umkreis von Marl keine. In der Schule sorgt sie dafür, dass Christian nicht geimpft wird, weil die anthroposophische Medizin Impfungen ablehnt. Dass sie dies in der Schule durchsetzt, zeigt, dass sie sich gegen Autoritäten zu behaupten weiß.

Die Zimmer in der Kampstraße 88 sind zeitweise in von Anthroposophen bevorzugten Tönen gehalten: Gelb, Rot, Schwarz, Grün. Die Familie nimmt die Farbexperimente und gelegentlichen missionarischen Versuche der Mutter gelassen zu Kenntnis. Tochter Gudrun interessiert sich fürs Anthroposophische, ohne überzeugt zu sein. Nur Ehemann Rudolf nähert sich später Steiner an. Als Gabriele in den späten 60er-Jahren etwas erbt, vergibt sie 100 000 DM als zinslosen Kredit an das anthroposophische Krankenhaus in Herdecke. Dass die Ströbeles 1974 an der Gründung der anthroposophischen GLS-Bank in Bochum beteiligt waren, ist möglich – Unterlagen darüber existieren indes nicht. Gabriele Ströbele hat in den frühen 50er-Jahren losen Kontakt zu den Schilys, Anthroposophen in Bochum. Tochter Gudrun lernt in den 60er-Jahren bei einer anthroposophischen Fortbildung für Studenten in Dornach Konrad, den Bruder von Otto Schily, kennen.

Gabriele Ströbeles Passion gilt der Musik. Sie singt im Werkschor und spielt im häuslichen Musikzimmer jeden Tag Klavier. Zur Familienlegende gehört, dass es auch mal passiert, dass die Bratkartoffeln anbrennen, wenn Gabriele selbstvergessen am Klavier sitzt. Mit Helga, der Ältesten, die Geige spielt, macht die Mutter Hausmusik. Gudrun, die jüngere Schwester, spielt Flöte, Herbert Klavier. Nur Christian ist, beeindruckend zweifelsfrei, unmusikalisch. Den Klavierunterricht boykottiert er aggressiv und erfolgreich.

Ihren Kindern liest die Mutter zu Hause unter anderem Gustav Freytags Die Ahnen vor, einen Romanzyklus, der eine deutsche Familiengeschichte von der Germanenzeit bis ins 19. Jahrhundert erzählt. Als ein Freund Christian zum Geburtstag einen Tarzan-Comic schenkt, erntet er böse Blicke von der Mutter. Solcher Schund ist ungern gesehen.

Die Mutter mag den neoklassizistischen Bildhauer Arno Breker, der in der Gunst der Nazis stand. Und sie ist fasziniert vom Schauspieler Gustaf Gründgens und dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler.

Gabriele Ströbele stammt aus dem Rheinland und versteht es, andere zu unterhalten. Sie ist mit dem Konzertdirektor in Marl befreundet. Vor den Konzerten, in Marl stets Gastspiele, sind nachmittags oft Orchestermusiker bei ihr, die im Musikzimmer proben. Sie war, entsinnt sich Christian Ströbele, »auf Festen oft der Mittelpunkt«. Sie ist offen, amüsant, aufgeschlossen. Alkohol trinkt sie indes nie, eine Gewohnheit, die später auch Christian Ströbele pflegen wird.

Ungewöhnlich ist bei den Ströbeles auch, dass die Söhne – anthroposophisch korrekt beziehungsweise quer zu damals vorherrschenden Idealen – auch »Weibliches« tun. Christian muss regelmäßig nach dem Essen Geschirr abwaschen und lernt mit übersichtlichem Erfolg stricken. »Der Schal ähnelte eher einem Bettvorleger«, so Ströbele im selbstkritischen Rückblick. Erfolgreicher ist für ihn das jede Weihnachten ausführlich in der Familie zelebrierte Backen von Christstollen und Plätzchen, bei dem die Söhne der Mutter helfen. Christian Ströbele produziert heute noch, wenn der Kampf für eine bessere Welt es erlaubt, jeden Dezember einen Christstollen, dessen Verfertigung sieben Stunden dauert.

Zur Mutter hat Christian eine sehr enge Beziehung – und vice versa. »Jung, wir müssen mal wieder auf den Wiesenpfad gehen«, sagt die Mutter mitunter zu ihrem Sohn. Dann gehen Gabriele und Christian spazieren und besprechen, was besprochen werden muss. Die Mutter, so Helga Reindel, »förderte alle Kinder intensiv«. Aber um Christian kümmert sie sich noch etwas mehr.

Kurzum: Christian Ströbele wächst in einem bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Die Ströbeles sind offen nach außen, in Maßen nonkonform, es herrscht der Geist eines anthroposophisch gefilterten deutschen Traditions- und Kulturbewusstseins.

Jenseits des Verdrusses mit der Schule bietet die Akademiker-Siedlung den Kindern die Möglichkeit, sich frei herumstromernd auszuprobieren. Und es herrscht auch keine Kleinfamilienenge. Es gibt die beiden Großelternpaare, die Zimmermanns, wo die Großmutter die präsentere Figur ist, und die Ströbeles. Großvater Franz, Schwabe aus Ochsenhausen, der bei BASF Karriere macht, ist von 1947 bis zu seinem Tod 1952 Präsident des Bauernverbandes in Württemberg-Baden. Franz Ströbele leitet die BASF-Forschung auf dem Gebiet der Stickstoffdüngung, ein knorriger Deutschnationaler, der Nazis verachtet. Christian und seinen Geschwistern erscheint er als Patriarch und unnahbare Autorität.

Franz Ströbele kaufte 1932 auf dem Maimarkt in Mannheim das Holzhäuschen im Odenwald, das Christian Ströbele mehr als achtzig Jahre später noch immer jedes Jahr nutzt. Es gibt viel intakten Familiensinn bei den Ströbeles. Vor allem aber existiert in Christian Ströbeles Kinderwelt eine wunderbare Erscheinung, ein schillernd leuchtendes Kontrastmittel zu allem Engen in Marl: der Onkel. Herbert Zimmermann, Gabrieles Bruder.

Der Onkel: Das Versprechen der weiten Welt

»Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt …«

Herbert Zimmermann, Bern, 1954

Christian liebt den Onkel. Wenn der mit seinem Mercedes-Cabriolet kommt, ist sofort beste Stimmung. Er ist, erinnert sich Ströbele, immer für die Kinder da, »auch wenn er mal müde ist«. Er, der berühmte Sportkommentator, spielt mit ihnen und kommentiert wie im Radio, wenn sie Fußball spielen oder um die Wette laufen. Ein festes Ritual ist die Ankunft. Der Onkel hat, wie Christian Ströbele auch, sehr kleine Füße, die mitunter schmerzen. Herbert Zimmermann legt sich als Erstes bei den Ströbeles auf die Couch, und die Kinder massieren ihm die Füße, für 50 Pfennig.

Der Onkel ist anders. Er hat keine Kinder und ist nicht verheiratet. Er liebt seine Nichten und Neffen überschwänglich, anders als der eher zurückhaltende Vater Rudolf. Er bringt Geliebte mit und vermag scheinbar jedes Publikum mit Worten für sich einzunehmen. Diether Heisig erinnert sich, dass Zimmermann bei einem von Christians Geburtstagen mit einer Livereportage die Gesellschaft unterhielt. Inhalt: Diether Heisig nimmt die Gabel und isst ein Stück Kuchen, was Zimmermann »in getragenem Ton und mit bedeutenden Worten« (Heisig) kommentierte. Wortgewandt, unbeschwert, spontan, unternehmungslustig: So ist der Onkel.

In den 50er-Jahren kommt der Onkel, nun Sportchef beim NWDR in Hamburg, regelmäßig nach Marl zu seiner Schwester und den Kindern. Er unternimmt mit seinen Neffen und Nichten viel, Anfang der 60er machen die jungen Erwachsenen mit dem Onkel eine gemeinsame Reise durch Süddeutschland. Er nimmt sie mit in die Spielbank in Baden-Baden. Im Auto hört er Börsenkurse – und wenn die für ihn erfreulich sind, lädt er die Ströbele-Kinder gleich in ein vornehmes Hotel ein. Beim Onkel ist scheinbar alles leicht und Spiel. »Der Onkel war kein Besuch, er gehörte, mehr als die Großeltern, zur Familie«, erinnert sich Herbert Ströbele, der jüngere Bruder. Und: »Christian hatte ein gutes, nahes Verhältnis zum Onkel.«

Der Starreporter nimmt Christian mit zum FC Schalke 04, als er dort ein Spiel für das Radio überträgt. Christian bewundert, dass der Onkel »alle Details über alle möglichen Spieler vorrätig hatte, wann und wo dieser oder jener verletzt gewesen ist«. Verwundert bemerkt er, dass Reporter Zimmermann auch mal schummelt und keineswegs immer berichtet, was gerade auf dem Platz passiert. »Wenn ein Tor fiel, musste er ganz schnell wieder auf den Zeitpunkt zurückkommen«, so Ströbele.

Der Onkel ist ein Vorbild – erst recht, als er am 4. Juli 1954 das Endspiel zwischen Deutschland und Ungarn im Radio kommentiert. Ströbele, damals 15 Jahre alt, geht während der Übertragung durch die Akademikersiedlung und hört, dass aus vielen Häusern die Stimme des Onkels erschallt. Die Sentenz »Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt … Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!« wird erst nach Zimmermanns frühem Tod 1966 zum festen Inventar der populären bundesdeutschen Kollektivgeschichte. 1954 ist Zimmermann vielmehr der Mann, der Torwart Toni Turek »Fußballgott« nannte – und damit den Zorn der Kirche erregt.

Manchmal kommt auch Zimmermanns Lebensgefährtin mit nach Marl – Auguste Reuß-Barth, die bei den Ströbeles Tante Medy heißt. Tante Medy ist zehn Jahre älter als der Onkel und ebnet ihm mit robusten Mitteln den Karriereweg. Sie arbeitet in München als Filmproduzentin, unter anderem für die Operettenverfilmung Im weißen Rößl (1952) und den Spionage- und Kriegsfilm Rommel ruft Kairo (1959) und Veit Harlans Melodrama Liebe kann wie Gift sein (1958).

Auguste Reuß-Barth war schon zu NS-Zeiten äußerst gut vernetzt mit Leuten bei der UFA, auf die es ankam. Sie arbeitete als Regieassistentin bei einem halben Dutzend Produktionen, meist Unterhaltungsfilmen, auch bei dem NS-Propagandafilm Feinde (1940).

Der Onkel und Tante Medy repräsentieren für Christian Ströbele Weltläufigkeit. Herbert Zimmermann ist ein Bohemien, der neben Auguste Reuß-Barth und ungezählten Affären noch eine feste Beziehung hat – mit einer zehn Jahre älteren Kölnerin, die er auch mit nach Marl bringt. Die leitete das Restaurant des Westdeutschen Rundfunks in Köln – eine günstige Verbindung für die Ströbele-Kinder, die dort umsonst essen dürfen. Und dann gibt es noch eine jüngere Münchenerin, mit der eine Heirat erwogen und verworfen wird. Gabriele berät ihren Bruder in dessen zur Unübersichtlichkeit neigenden Liebesangelegenheiten. Die Polygamie des Onkels wird bei den Ströbeles keineswegs verschwiegen oder verhüllt.

Als Gabriele ihren Bruder 1961 in Hamburg besucht, bekommt sie mit, wie unkonventionell Herbert Zimmermann lebt. Man geht zum Pferderennen, wo Medy wettet und Weinkrämpfe bekommt, wenn sie verliert (»ist jeden Sonntag so«, notiert Gabriele Ströbele kühl in ihr Tagebuch). Abends sind sie im Café Keese auf der Reeperbahn, mit schwulen Kellnern, Sekt, Travestieshow. Herbert und Medy, das unverheiratete Paar, das eine recht offene Beziehung lebt, hat in der fleißigen, biederen Adenauer-Zeit fast etwas Exaltiertes. Der Onkel ist, so sieht es der Neffe, schlagfertig und redegewandt, ein Spieler, der seine 17-jährige Nichte Helga auf der Reeperbahn als seine neue Freundin ausgibt, ein Charmebolzen, der die Grenzen von Wohlanständigkeit und Benimm ignoriert.2

Der Onkel verkörpert die weite Welt. 1948 reist er zu den Olympischen Spielen nach London (an denen Deutschland nicht teilnehmen darf), 1956 nach Australien, 1955 nach Moskau zum Fußball-Freundschaftsspiel gegen die Sowjetunion. Der Onkel verkörpert das Abenteuerliche, Aufgeräumte, die bohemehaften Möglichkeiten, die sich bieten, wenn man Marl und das Konventionelle hinter sich lassen könnte. Christian versucht als Halbwüchsiger beim Onkel in Erfahrung zu bringen, was es mit der Reeperbahn auf sich hat.

Tante Medy und der Onkel sind auch später nützlich. Als Christian Ströbele in Berlin studiert, ist er Komparse bei Filmen – was sich Tante Medys Kontakten verdankt. Anfang der 60er-Jahre jobbt Christian in Berlin-Steglitz jeden Freitag in der Lottoannahmestelle von Werner Polz – einem Kriegskameraden von Herbert Zimmermann.

Das unaussprechbare Erbe: Die Nazizeit

»Wir haben als Kinder und Jugendliche nichts von der NS-Zeit gewusst, aber es war trotzdem anwesend.«

Bernhard Sinkel, Jugendfreund, 2015

Auch während des Krieges besucht Zimmermann seine Schwester Gabriele in Schkopau. Das war, erinnert sich Helga Reindel, »immer etwas Besonderes«. Er trägt Wehrmachtsuniform – aber die Kinder sehen nicht die Uniform, sondern nur den Onkel, lustig und begeistert von den Kindern. Der unterhaltsame Onkel wird in der Werkssiedlung von Fest zu Fest herumgereicht. Er ist nicht nur ein charmanter Plauderer, sondern auch ein dekorierter Frontkämpfer.

Zimmermann dient, zusammen mit seinem Kameraden Werner Polz, als Zugführer in der Panzereinheit 101, als die Wehrmacht die Sowjetunion überfällt. Unter anderem ist er im Sommer 1941 beteiligt an der Einkesselung der Roten Armee in Smolensk und Witebsk. Zimmermann, offenbar ein draufgängerischer Soldat, dessen Panzereinheit an vorderster Front mitkämpft, wird mit dem Eisernen Kreuz 2. und 1. Klasse ausgezeichnet. Im November 1941 wird er von einem Granatsplitter schwer verletzt – und zieht zeitlebens das rechte Bein nach. Er ist ein ehrgeiziger, zweimal schwer verwundeter Soldat. 1942 wird er vom Reserveleutnant zum aktiven Truppenoffizier befördert. Ende Juli 1942 nimmt er, wieder an vorderster Front, an der für die Wehrmacht verlustreichen Eroberung von Rostow am Don teil. Die Einsatzgruppen der SS folgen der Wehrmacht. Zwei Wochen nach der Einnahme der Stadt ermordet die SS in der Schlangenschlucht bei Rostow 27 000 Zivilisten, überwiegend Juden. Ob und was Zimmermann davon wusste, ist unklar.

Wegen der Kriegsverletzung wird Zimmermann zurück in die Etappe beordert: Er wird Ausbilder in der Panzertruppenschule I in Wünsdorf bei Berlin. Doch im Dezember 1944 fasst Zimmermann, damals 28 Jahre alt, einen Entschluss, der ihn später als Heldenfigur für Landser-Hefte tauglich machen wird. Er meldet sich freiwillig für die zusammenbrechende Ostfront, um im Baltikum gegen die Rote Armee zu kämpfen.

Auf diesen Entschluss vermag sich auch Zimmermanns Biograf Erik Eggers, der dessen Wehrmachtsakten studiert hat, keinen Reim zu machen. Ist es ideologischer Fanatismus? Blinder Glaube, dass mit der Ardennenoffensive im Dezember 1944 die Wehrmacht den Krieg doch noch gewinnen wird? Selbstzerstörerische Sehnsucht nach den existenziellen Gefahren der Front? Loyalität zu Vorgesetzten, vermischt mit Naivität? Vertrauen in die mythische Fähigkeit des Führers? Oder die eigene Unverwundbarkeit?

Zimmermann überlebt die Monate bis zum Kriegsende im Mai 1945. Ende Februar stoppt er in Lettland mit vier Panzern einen Stoßkeil der Roten Armee. Anfang April wird er dafür mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet, der höchsten militärischen Auszeichnung von Wehrmacht und Waffen-SS. Später in Landser-Heften wird er vor allem deswegen in der Bundesrepublik zum Helden stilisiert, weil er mutig und listig zahlenmäßig weit überlegene Panzerverbände der Roten Armee aus dem Feld geschlagen habe. Im Mai 1945 gelingt ihm, was fast noch unwahrscheinlicher ist, als den Kurland-Kessel zu überleben, im letzten Moment die Flucht aus Lettland nach Schleswig-Holstein.

Seinen Neffen berichtet Zimmermann in den 50er-Jahren, wie er das Kriegsende erlebte. Der Onkel, sagt Christian Ströbele, »hat oft erzählt, wie viel Glück er damals hatte: Auf dieses Schiff zu gelangen im Osten, und dann heil zurückzukommen. Gott sei Dank, hat er immer gesagt.« Auch dass er Ritterkreuzträger ist, berichtet der Onkel, ein blendender Geschichtenerzähler, seinem Neffen. Ströbele erinnert sich an eine abenteuerliche Beschreibung »in Kurland, hinter dem Berg, wie er sechs russische Panzer abgeschossen hat«. Warum er sich kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes an die Ostfront meldete, erzählt Herbert Zimmermann nicht.

Todesangst, Judenverfolgung, Einsatzgruppen, Geiselerschießungen bei der Partisanenbekämpfung, die Vernichtung der Dörfer und Städte in der Sowjetunion beim Rückzug der Wehrmacht, der berüchtigte Kommissarbefehl, nach dem die Wehrmacht alle Politkommissare der Roten Armee zu töten hatte – nichts davon kommt in den Erzählungen von Herbert Zimmermann vor. Nichts vom Hörensagen, nichts vom Augenschein, nichts Geahntes, nichts Gewusstes, nichts Getanes. Was Christian Ströbele auch mit Anfang zwanzig zu hören bekommt, wenn der Onkel mit Werner Polz über früher redet, ist das Ensemble der immer gleichen Episoden – Heldentaten, Frauengeschichten, das Glück bei der Flucht vor der Roten Armee, das Glück in britischer Gefangenschaft, Englisch zu können. Herbert Zimmermann erzählt vom Krieg, erinnert sich Ströbele, »als einer wichtigen Zeit in seinem Leben. Aber nicht in dem Sinne: Das war der schlimmste Teil meines Lebens. Es war nicht so, dass er darunter gelitten hätte, überhaupt nicht.«

Niemand will wissen, ob das alles gewesen ist. Auch Christian Ströbele nicht. »Werner Polz habe ich auch nicht gefragt, was er in Russland getan hat«, sagt Ströbele. Das wäre nicht einfach gewesen – als Anfang-20-Jähriger den schwer kriegsversehrten Exsoldaten Polz, nebenbei sein Arbeitgeber in der Lottoannahmestelle, ins Kreuzverhör zu nehmen. Oder den verehrten, wortgewaltigen Onkel.

So ein Gespräch findet auch deshalb nicht statt, weil erst vierzig Jahre später in das öffentliche Bewusstsein rücken wird, dass die Wehrmacht nicht Hitlers Opfer, sondern aktiver Akteur des deutschen Vernichtungskrieges im Osten war. So ein Gespräch ist kaum möglich, weil auch die Jüngeren sich als Teil des deutschen Opferkollektivs fühlen. In den 50er-Jahren finden im Albert-Schweitzer-Gymnasium in Marl, das Christian Ströbele besucht, Gedenkfeiern für die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 statt. Schüler Ströbele schaut sich das skeptisch an. »Wir dachten: Das muss wohl sein. Wir haben ja den Krieg verloren. Stauffenberg galt vielen als Verräter. Die Demontagen im Buna-Werk in Marl empfanden alle, nicht nur die Rechten, als eine weitere Ungerechtigkeit. Jetzt nehmen sie uns auch noch die Maschinen weg.«

Der Sozialphilosoph Hermann Lübbe hat dieses Phänomen »kommunikatives Beschweigen« der NS-Zeit in der frühen Bundesrepublik genannt. Die Eliten lernen langsam, die Vorteile der westlichen Demokratie zu schätzen, und verurteilen öffentlich das nationalsozialistische Regime – der Preis dieses reibungslosen Übergangs ist, dass die eigenen Anteile am NS-System aus dem Selbstbild gestrichen werden.

Bei den Ströbeles passiert das Gleiche wie in fast allen deutschen Familien in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren. Es herrscht eine Art des Redens, das viel ausklammert und wenig offenbart.

Die Jüngeren sind in den 50er-Jahren oft ein Echo dieses nach außen undurchdringlichen, nach innen aber fragilen Bewusstseinszustandes. Sie fragen kaum nach, was ihre Eltern und Lehrer getan haben. Antworten bekommen sie fast nie. Die Vergangenheit erscheint den Jüngeren als abgedunkelter, schwer durchschaubarer Raum voller Gerüchte. Christian Ströbeles erster Klassenlehrer war, so die Erinnerung von Diether Heisig, während des Krieges Privatlehrer in Spanien gewesen. Im Lehrerkollegium galt er daher manchen als Drückeberger. Der schneidige, für Bösartigkeiten gefürchtete Lateinlehrer soll, so Heisig, im Unterricht nebenher die Bemerkung fallen gelassen haben, dass man noch mehr Juden hätte vergasen sollen. Die Klasse nahm das widerspruchs- und sprachlos hin. »Solche Sprüche hörte man öfter«, so Heisig.

Die Autoritätspersonen – das sind Gymnasiallehrer in der jungen Bundesrepublik – stammen offenbar aus einer Erfahrungswelt, die vom befriedeten, zivilen Alltag der Schüler im Marl der 50er-Jahre Lichtjahre entfernt scheint. Der Deutschlehrer Erwin Denker, ein Mann »mit starrem Gesicht« (Heisig), kehrte Mitte der 50er nach zehn Jahren aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heim. Bei ihm müssen Ströbele und seine Mitschüler Friedrich Schillers »Bürgschaft« auswendig lernen. Ungewöhnlich war die persönliche Begründung: Ohne das Memorieren der »Bürgschaft« hätte der Lehrer das sowjetische Gefangenenlager nicht überlebt. Bei einer Debatte über die Bundeswehr erklärt der Deutschlehrer einem der wenigen pazifistisch eingestellten Schüler, dass er ihn persönlich mit dem Maschinengewehr gegen den Russen verteidigen werde.

Die Zeit vor 1945 ist ein fremdes, oft nur halblaut angesprochenes Rätsel, eine Welt, in der ein diffuser Gewaltorkan herrschte. Wie verspannt das Verhältnis zur NS-Zeit auch im sozialdemokratischen Marl in den 50er-Jahren ist, illustriert der Versuch der Rektorin des Mädchengymnasiums, die Schule nach den Geschwistern Scholl zu benennen. Das Begehren scheitert 1957 am Einspruch des von der SPD beherrschten Marler Rates der Stadt.

Bernhard Sinkel besucht von 1955 bis 1957 mit Christian Ströbele dieselbe Klasse. Sinkels Vater ist kaufmännischer Direktor in den Chemischen Werken Hüls und gehört mithin zur Oberschicht der Akademikersiedlung. Die Ströbeles und die Sinkels kennen sich recht gut, 1956 machen die Familien gemeinsam Urlaub an der Nordsee. Bernhard und Christian sind mit 15, 16 Jahren eng befreundet.

»Wir haben als Kinder und Jugendliche nichts von der NS-Zeit gewusst, aber sie war trotzdem anwesend«, sagt Sinkel. Als Regisseur hat er sich 1985 professionell mit der IG Farben und seiner eigenen Familiengeschichte in dem TV-Vierteiler Väter und Söhne befasst – einem aufwendigen, viel gelobten Historiendrama, bei dem Sinkel für Recherche, Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnete.

»Die NS-Zeit war bei uns zu Hause kein Thema«, sagt Christian Ströbele. Mit einer Ausnahme – eine Episode aus dem Leben der Mutter. Gabriele Zimmermann studierte in den 30er-Jahren Jura. 1935 machte sie das erste Staatsexamen. Sie wollte Jugendrichterin werden. Der Prüfer ist ein junger Jurist, strammer Nationalsozialist, wie bei Juristen damals üblich. Friedrich Karl Vialon nimmt Fräulein Zimmermann nach der Prüfung zur Seite und gratuliert – sie ist die einzige Frau des Jahrgangs. Allerdings sei dies natürlich das Ende der Karriere von Fräulein Zimmermann. »In diesen Zeiten braucht der Führer keine Juristinnen, sondern Mütter, die ihm Kinder schenken«, sagt Vialon.

»Diese Geschichte hat die Mutter«, entsinnt sich Christian Ströbele, »bestimmt hundert Mal erzählt.« Friedrich Karl Vialon ist später an der finanziellen Ausplünderung der Juden im Baltikum beteiligt. In den 50er-Jahren steht der Name Vialon manchmal in der Zeitung. Er bringt es in der Adenauer-Republik zum Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium, in den 60er-Jahren zum Staatssekretär.

Und der Vater? Rudolf Ströbele hat in den 30er-Jahren Verbindungen zu NS-Organisationen. Bis 1937 ist er Rottenführer der SS-Reiterstandarte, SS-Nummer 200 200. Er trägt die berüchtigte schwarze SS-Uniform – allerdings ist die Reiter-SS vor Kriegsbeginn eher von Adligen und Deutschnationalen geprägt als von NS-Aktivisten. 1933 wandeln sich die meisten Reitervereine in einem Akt freiwilliger Gleichschaltung in SA- und SS-Reiterverbände um. Im Juli 1933 meldet der Reichsverband Warmblut an Adolf Hitler, dass die »250 000 Reiter, Fahrer und Züchter mit ihren Herzen und Pferden hinter Ihnen stehen«.

Die SS-Reiterstandarte ist zudem die einzige SS-Abteilung, die die Alliierten 1946 nicht zur verbrecherischen Organisation erklären. Ströbele verlässt auf eigenen Wunsch am 21. Juni 1937 die SS – und tritt in die NSDAP ein, der er rückwirkend seit dem 1. Mai 1937 angehört (Mitgliedsnummer 4 463 653). Die NSDAP hatte im April 1937 den seit Mai 1933 geltenden Aufnahmestopp gelockert – eine Chance, die Ströbele sofort wahrnimmt.3

Beides kann man als Hinweis deuten, dass Rudolf Ströbele keine Karriere in NS-Organisationen anstrebt. Er tritt vielmehr in die NSDAP ein, um als Chemiker Karriere machen zu können.

Denn 1937 beginnt auch sein beruflicher Aufstieg. Er hat Chemie, Physik und Physiologie in Freiburg, München und Heidelberg studiert. Sein Doktorvater ist Richard Kuhn, der 1938 den Nobelpreis für Chemie erhält. 1938 melden Kuhn und Ströbele ein gemeinsames Patent für ein »Verfahren zur Darstellung von Abkömmlingen von Phenylendiaminen« (Veröffentlichungsnummer DE664 048 C) an. Kuhn ist später in NS-Verbrechen verstrickt. 1944 nimmt er an einer Tagung im Rüstungsministerium teil, bei der Ernährungs- und Menschenversuche ausgewertet werden.

Rudolf Ströbele geht 1937 nach Schkopau, wo das Buna-Werk der IG Farben aufgebaut wird. Das NS-Regime braucht Buna, synthetischen Kautschuk, für den geplanten Krieg, für Infanterie und Luftwaffe. Das Werk in Schkopau ist ein großes Projekt, mit neu gebauter Werkssiedlung. Die IG Farben pumpt von 1937 bis 1940 einen Großteil ihres Kapitals nach Schkopau und Leuna – insgesamt 400 Millionen Reichsmark.

Das Buna-Werk ist eine aufstrebende Fabrik, Ströbele verlässlich und kompetent. Er arbeitet zuerst mit SS-Öl, einem synthetischen Schmiermittel. Rasch wird er zum Betriebsleiter der Butoldestillation befördert.

Das Buna-Werk in Schkopau ist mit den anderen IG-Farben-Werken verbunden – Marl, Ludwigshafen und ab 1942 mit der Buna-Produktionsstätte in Monowitz, die ein paar Kilometer entfernt von Auschwitz entsteht. Monowitz ist kein Vernichtungslager, sondern ein vor allem mit Zwangsarbeitern betriebenes Werk und darin Schkopau ähnlich. Allerdings unterscheiden sich die Bedingungen für die Zwangsarbeiter gravierend. Wer in Schkopau die Arbeit verweigert oder rebelliert, wird in das Arbeitserziehungslager Spergau verschleppt. 1944 werden in Schkopau 144 Zwangsarbeiter wegen Widerstand verhaftet. Doch Zwangsarbeiter, die sich anpassen und nicht alliierten Bombardierungen zum Opfer fallen, überleben. In Monowitz ist das grundlegend anders. 1944 werden bei Selektionen mehr als 7200 Häftlinge für arbeitsunfähig erklärt und nach Auschwitz geschickt.

Die Zwangsarbeit in Schkopau ist 1944 nichts Besonderes. Sie unterscheidet sich nicht von dem, was in fast allen größeren Betrieben in Deutschland in den letzten zwei, drei Kriegsjahren geschieht. Sechs Millionen Fremdarbeiter gibt es damals im Reichsgebiet.

Wusste Rudolf Ströbele, was Monowitz war? War er dienstlich dort? Was wusste er von Kollegen? Dass sich Angehörige der Leitungsebene für andere Werke, auch für Monowitz, bewarben, weil dort mehr Geld oder Aufstiegschancen lockten, war üblich.

Wir wissen es nicht. Es ist mit Archivmaterial nicht rekonstruierbar. Bernhard Sinkel hat bei den Recherchen für Väter und Söhne Anfang der 80er-Jahre mit Rudolf Ströbele ein biografisches Interview geführt, von dem keine Aufzeichnungen mehr existieren. Es ist möglich, dass Betriebsleiter Ströbele von dem, was in Monowitz geschah, nichts wusste.

Im Familiengedächtnis der Ströbeles gibt es Monowitz als schattenhaftes Gerücht, an das sich Christian Ströbeles Schwester Gudrun Behrens-Hardt, die als Ärztin und Psychoanalytikerin arbeitete, erinnert. Ein deutscher Chemiker war dort und verletzte sich. Ein Zwangsarbeiter half ihm – er war Arzt. Es ist eine Geschichte vom Hörensagen, die dem Vater zugetragen worden sei. Eine in Kinderohren irritierende Geschichte: Ärzte als Hilfsarbeiter. Gudrun Behrens-Hardt sagt im Rückblick: »Wir wussten nicht, was wir den Vater hätten fragen können.«

Christian Ströbele hat später in den 70er- oder 80er-Jahren mit seinen Schwestern die Mutter gefragt, ob der Vater in Monowitz gewesen sei. Nein, Gott sei Dank, nie, lautete die Antwort. Der Vater habe mit Judenverfolgung, so Gabriele Ströbeles Auskunft, nichts zu tun gehabt und nur im Werk gearbeitet. Die Fremdarbeiter in Schkopau seien zudem, nachdem die US-Armee das Werk besetzt hatte, freundlich zu ihnen gewesen. Das zeige, dass der Vater sie gut behandelt habe.

Den Vater direkt fragen die Kinder nicht.

Steiler Aufstieg, frühes Leid

»Die Schule war vor allem Qual.«

Christian Ströbele, 2015

Die Ströbeles sind nach 1945 nicht reich. Das Haushaltsgeld ist oft vor Monatsende verbraucht. Aber der Aufstieg, der folgt, ist steil. Der Vater verdient gut. Schon 1950, als nur jeder hundertste Deutsche ein Auto besitzt, haben die Ströbeles einen VW, später einen Opel Rekord. Rudolf Ströbele meldet in den 50er- und 60er-Jahren ein halbes Dutzend Patente an. Die Gehälter in den Chemischen Werken Hüls steigen in den Adenauer-Jahren teilweise um zehn Prozent jährlich. 1955 wird Ströbele Leiter der organischen Chemie, der größten Abteilung des Werkes, ab 1957 hat er Prokura, ab 1961 ist er (Titular-)Direktor der Chemischen Werke Hüls.

Die Bereitschaftssiedlung wird Ende der 30er-Jahre auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampft und folgt architektonisch einem Konzept, welches das ästhetisch Avancierte des Bauhaus-Stils zurücknimmt. Schon der Name Bereitschaftssiedlung gibt die Richtung vor: Alles ist auf das Werk ausgerichtet, auf Produktion, Wachstum und Gewinn. Weiße Handtücher werden auf der Wäscheleine nicht nur trocken, sondern auch schwarz. Das Werk liegt zwischen zwei Zechen, die eine – Auguste Victoria – wird erst Ende 2015 als vorletzte in Deutschland ihren Betrieb stilllegen.

Marl erscheint mit dem prosperierenden Werk, den außerhalb gelegenen Arbeitervierteln und der Akademikersiedlung für die Werkselite wie eine am Zeichenbrett entworfene Skizze der bundesdeutschen Klassengesellschaft. Allerdings regieren in Marl keineswegs nur Elitenkontinuität zur NS-Zeit und postfaschistisches Schweigen. Es existiert ein Nebeneinander von Revanchismus, das unter der demokratischen Oberfläche köchelt, und schwungvollem sozialdemokratischem Aufbau. Die prägende Figur ist der SPD-Bürgermeister Rudolf-Ernst Heiland, Extrotzkist, 1936 von den Nazis eingesperrt, Widerstandskämpfer. Schlagzeilen macht er 1950, als er zusammen mit Herbert Wehner im Bundestag einen Parlamentarier, der Nazisprüche von sich gibt, kurzerhand die Treppe hinunterwirft. Heiland holte die Moderne nach Marl. Hans Scharoun, der die Philharmonie in Berlin entwarf, baut in Marl eine Schule. 1946 wird mit »die insel« eine Volkshochschule gegründet, für die, ein Novum in der Bundesrepublik, 1955 eigens ein aus dem Geist der architektonischen Moderne gespeistes Gebäude errichtet wird. Ströbele hört dort 1958 eine Lesung von Heinrich Böll. Auch das Theater der Stadt Marl ist neu – ein Gastspielort, ohne eigenes Ensemble, in dem aber die Größen des Landes haltmachen. Christian Ströbele sieht dort mit Bernhard Sinkel Gustaf Gründgens und Oskar Werner, mit Diether Heisig im Theater in Recklinghausen Hardy Krüger und Claus Biederstaedt. Marl ist in manchem typisch für die frühe Bundesrepublik, auch in der Suche nach neuen Formen, die mitunter retortenhaft wirkt.

Christian Ströbele hat in Marl in den 50er-Jahren zwei Probleme: die Schule und den Vater. Schon in der Harkort-Volksschule tut er sich mit dem Schreiben schwer und bringt öfter Diktate mit zwanzig Fehlern nach Hause. Helga und Gudrun, seine Schwestern, absolvieren die Schullaufbahn reibungslos. Das macht das Ungemach für ihn nicht kleiner. Helga Reindel hält es im Nachhinein für wahrscheinlich, dass ihr Bruder unerkannter Legastheniker war – eine Symptomatik, die in den 50er-Jahren noch weitgehend unbekannt ist. Die Mutter übt mit ihm fast jeden Nachmittag. Sie engagiert sich energisch für seine schulische Karriere, redet mit Lehrern und kämpft für den Sohn, wo es nur geht. »Sie ist wie eine Löwin ins Lehrerzimmer gestürzt, wenn uns Unrecht geschehen war«, so Christian Ströbele. Denn Christian soll natürlich auf das Gymnasium – damals noch die Eliteschule – und zu den wenigen gehören, die Abitur machen und studieren. Doch das missglückt erst einmal. Ausgerechnet der älteste Sohn, im patriarchalen Bild Stammhalter, droht zu versagen. Als Christian nach vier Grundschuljahren auf das Albert-Schweitzer-Gymnasium wechseln soll, scheitert er an der Aufnahmeprüfung. Daher besucht er fünf Jahre lang die Volksschule und wechselt dann. Als er die Prüfung besteht, bekommt er von den Eltern als Belohnung einen Hund geschenkt, Erla, einen großen Airedale Terrier. Das Problem Schule – vielmehr Sprachen in der Schule – bleibt bestehen.