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Kooky Rooster

Kein schwuler Land

Gay Romance





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort + Glossar

 

Alle Menschen, Orte und Wirkungsstätten in dieser Geschichte sind fiktiv. Mögliche Namensverwandtschaften sind Zufall. Ähnlichkeiten von Denkweisen, Prinzipien und Reaktionen mit realen Vorkommnissen sind allerdings beabsichtigt, obwohl sie sich auf keinen konkreten Fall beziehen.

 

Glossar:

 

angreifen = auch berühren, anfassen

Autodrom = Autoscooter

bisserl = bisschen

budern = den Geschlechtsakt vollziehen

deppert = dumm, blöd, ungeschickt

fesch = hübsch, attraktiv

Funsen = eine in den moralischen und intellektuellen Niederungen beheimatete Frau.

Gehts scheißen = Handlungsvorschlag für Menschen, auf deren Anwesenheit man fürs Erste verzichten kann.

Geh,  = neben der geläufigen Verwendung: Ermunterung oder Skepsis: Ach komm schon, gelegentlich auch: bitte. Beispiele: Geh, Johan. Geh, nimmst das mit?

Kirtag = eine Art Volksfest, das Menschen in die Nähe von Kirchen bringt, und kirchlichen Würdenträgern das Autodrom.

Kraxn/Scheißkraxn = Ausdruck für ein Automobil, das nicht den momentan gewünschten Anforderungen entspricht.

LTGB, LBTG, L… = Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Bewegung im Erstversuch der Aussprache.

leicht = auch: etwa, denn, möglicherweise, vielleicht. Beispiel: Hast leicht …? = Hast du etwa …?

nackert = nackt

*s = außer für das und es auch eine Abkürzung für ihr, euch, sie …, selbst dann, wenn eigentlich nichts abgekürzt wurde. Beispiele: Seids brav. Ihr habts öfters gefeiert.

Semmel = Brötchen in Form einer geschlossenen Blende

weilst = weil du

Zuckerl = Bonbon

 

1| Sonntagsessen

 

 

I’m a man, you’re a man, let me kiss you, take my hand, don’t be shy, don’t be feared, love is love, that’s not weird …

… tönte es aus den winzigen Boxen in den Ecken des Gastraumes. Der Song kämpfte gegen das Rauschen des Radios, das Gemurmel an den Tischen und das Klappern von Besteck und Geschirr an.

»Oh, hörts …«, die Mutter hob das Messer, blickte andächtig zur Decke, kaute zwei, drei Mal und schluckte runter.

Frank, Vater, Johan und die Großeltern verstummten und starrten auf die blitzende, fettverschmierte Klinge.

»Ich liebe dieses Lied.« Die Mutter seufzte verträumt, wiegte den Kopf lieblich hin und her und sang mit piepsender Stimme an der falschen Stelle: »Love is love.«

Johan verschluckte sich an einem Stück Fleisch, hustete es hoch und spülte es mit einem kräftigen Schluck Bier runter. Sein Hals kratzte und trieb ihm Tränen in die Augen.

»Ift daff nift diefe Tranfe?«, fragte Frank mit vollem Mund und fuhrwerkte mit Messer und Gabel auf dem Teller herum. Noch ehe er vollständig runtergeschluckt hatte, stopfte er den nächsten Bissen nach.

»Consuela«, erklärte die Mutter mit einem stolzen Funkeln in den Augen, als krönte sie eine kosmopolitische Aura, bloß, weil sie den Künstlernamen eines Travestiekünstlers kannte. »Ich finde ihn – sie – es wundervoll.«

»Ihn«, nuschelte Frank. »Ift ein Kerl, der Frauenkleider anpfieht – daher er.«

»Also ich halt davon nix«, murmelte der Vater und schob eine Kartoffel durch die Soße.

»Ist das dieser …«, die Oma simulierte ein gebrochenes Handgelenk, »… Tüdlütü, von dem ihr da redet?«

»Nur, weil er auf der Bühne alf Frau rumrennt, muff er nicht gleich fwul fein«, erklärte Frank.

»Ist er aber«, sagte die Mutter. »War letztens beim Frühstücksfernsehen. Hat einen festen Freund. Schon seit Jahren. Da habens auch gezeigt: Vorher-Nachher. Ein bildhübscher Mann eigentlich. Hätte es gar nicht notwendig, sich als Frau zu verkleiden.«

Die Oma tätschelte Opas Unterarm und lachte. »Der Michel hat mir gar nicht glauben wollen, dass das ein Mann ist.«

»Geh, lass mich in Ruh mit dem«, winkte Opa ab.

I’m a man, you’re a man, let me kiss you, take my hand, don’t be shy, don’t be feared, love is love, that’s not weird …

»… love is love …«, piepste die Mutter mit peinlich verzögertem Einsatz und schwang verträumt das Messer im Fluss der Melodie.

Hinter dem Tresen umfasste Stefan den Griff für den Zapfhahn und füllte einen Bierkrug. Sein Blick war konzentriert, doch seine Lippen bewegten sich kaum merklich. Sang er etwa mit? Johan kniff die Augen zusammen. Doch, ja, Stefans Lippen bewegten sich, und zwar – anders als bei Mutter – synchron zum kompletten Text. Und nun bemerkte Johan auch noch, dass Stefan nicht bloß ungeduldig zappelte, bis sich der Krug füllte – er wippte! Der Schlager ergriff von ihm Besitz! Er tanzte zu einem Song, in dem es um die Liebe zwischen zwei Männern ging. Und anders, als Mutter, wusste er bestimmt auch, wovon der Song handelte.

Plötzlich rempelte ihn Frank mit dem Ellenbogen. »Schläfst du? Mama hat dich waf gefragt.«

»Hm?«

»Wie gefällt dir das Lied, Johan?« So, wie Mutter das fragte, wollte sie eigentlich wissen, was Johan von Consuela hielt.

Stefan stellte den gefüllten Bierkrug auf den Tresen, lächelte, sagte etwas zu einem Gast, pflückte einen Schein vom Tisch, wühlte in der riesigen, tausend Fächer dicken Ledergeldbörse, der Gast winkte ab, Stefan nickte dankend, beide lachten auf, er steckte die Geldbörse weg …

»Sie – er – es nervt«, sagte Johan.

Die Mutter verzog das Gesicht. »Du bist genauso verstockt, wie dein Vater.«

»Der Bub weiß halt, was sich gehört«, meinte der Vater.

»Yeah.« Frank grinste. »Der Bub weif, waf fich gehört.«

»Halts Maul«, knurrte Johan.

»Ihr seids homophobe Spinner«, beschwerte sich die Mutter. »Schämen muss ich mich, für euch.«

Frank prustete los. Johan versetzte ihm unter dem Tisch einen Tritt.

»Schau …«, der Vater legte sein Messer auf den Rand des Tellers. Ohne Hände konnte er nicht sprechen. »… mir persönlich ist das ja wurscht, wenn sich einer in den Arsch budern lassen will. Und wenn er einen Fummel tragen will, soll er, aber daheim, wo ihn keiner sieht, wo er keinen stört. Ich will so einen Kranken aber nicht in meinem Wohnzimmer haben. Radio, Fernsehen, Zeitung – sogar von den Plakatwänden grinst er runter …«, der Vater hämmerte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, »… das grenzt für mich an sexuelle Belästigung.«

Die Mutter schnappte nach Luft. »Na aber … sexuelle Belästigung! Spinnst jetzt ganz?« Die Stirn gerunzelt blickte sie zu Frank und Johan. »Sehts ihr zwei das auch so?«

Frank rempelte gegen Johans Schulter und grinste. »Siehst das auch so, Johan? Hm? Siehst das auch so?«

»Hör auf, du Arsch!« Johan versetzte Frank einen so heftigen Stoß, dass der fast auf Oma kippte.

»Jetzt reißts euch zusammen!«, schimpfte der Vater. »Wie alt seids denn!«

»Gehts doch scheißen, alle miteinander.« Johan schob seinen noch halbvollen Teller weg, sprang hoch und eilte durch den Gastraum Richtung Ausgang. Zwei Drittel des Weges marschierte er dabei direkt auf Stefan zu – die Bar befand sich neben der Eingangstür.

Stefan straffte die Schultern und lächelte, als glaubte er, Johan wollte zu ihm.

 

Ein lauer Aufwind empfing Johan – die erste zaghafte Umarmung des herannahenden Sommers. Die Karossen der parkenden Autos blendeten. Johan hatte keine Sonnenbrille dabei, also marschierte er um das Gasthaus herum und stellte sich in den Schatten. Ein paar Hühner staksten durch das feuchte Gras neben der Straße und gackerten vor sich hin. Johan ließ den Blick über die Hügel schweifen, in deren Täler sich Häuser drängten, als wären sie durch die Schwerkraft zusammengerutscht; dahinter erhoben sich Berge, scharfkantig wie riesige Glassplitter.

Der schummrige Gastraum wurde bereits zu einem Ort in ferner Erinnerung.

Frank war ein Idiot. Johan hätte es ihm nie sagen dürfen, nun – eigentlich hatte er es ihm nie gesagt. Frank hatte es erraten. Weil Johan, und das war der Witz an der Sache, behauptet hatte, Gerald wäre schwul.

Gerald hatte drei ältere Schwestern und seine Familie kein Geld, also erbte er Mädchenspielzeug, Mädchenschulsachen, Mädchenfahrräder und auch einige Mädchenkleidungsstücke, die die Eltern für unisex genug hielten, um sie ihrem Sohn zuzumuten. Außerdem war Gerald schmächtig und hatte mädchenhafte Locken. Er hatte verdient, für schwul gehalten zu werden, wusste doch jeder, dass ein Junge, der Mädchensachen benutzte und Mädchensachen trug, schwul sein musste. Johan hatte also nichts behauptet, was nicht früher oder später ohnehin jeder vermutet hätte. Er hatte der Sache nur vorausgegriffen. Außerdem hatte er wissen wollen, wie seine Freunde auf ein Outing reagierten. Jetzt wusste er es, und das hatte ihn in der Entscheidung bestätigt, sich sein Leben lang zu verstecken.

Innerhalb eines halben Tages wusste die gesamte Region, dass Gerald Spitz schwul war. Gerald selbst hatte es erst erfahren, als er in der Zehn-Uhr-Pause mit Hilfe der Klospülung getauft worden war. Johan war Zeuge gewesen. Wenn seine Freunde dabei waren, war er es, der am lautesten Schwanzlutscher schrie. Da kommt er ja, der Arschficker. Glotz nicht so, du schwule Sau.

Ja, Johan trieb es am schlimmsten von allen, ritt noch auf dem Thema herum, als es den anderen längst langweilig wurde. Und weil er auch daheim jeden Verdacht von sich lenken wollte, kam er mit immer neuen Geschichten an, was die schwule Sau jetzt schon wieder gemacht hätte. Bis Frank eines Tages sagte: »Wir habens kapiert, du stehst auf ihn.« Johans Herz hämmerte so laut, dass er glaubte, das ganze Haus pulsiere. Er verglühte, schmolz an seinem Stuhl fest, hörte nichts mehr, außer Pfeifen und Rauschen. Er war überzeugt davon, dass es die Eltern jetzt wussten, dass es bald alle wüssten.

Aber die Eltern ignorierten Franks Bemerkung. Frank zog seinen kleinen Bruder doch ständig mit irgendwelchen Gemeinheiten auf, warum sollte diese eine plötzlich etwas bedeuten? Nur Frank bemerkte Johans Verzweiflung, und nach dem Essen suchte er ihn in seinem Zimmer heim und versuchte, ihm ein Geständnis zu entlocken. Er bekam es nie. Lieber wollte sich Johan die Zunge abbeißen, als diese drei Wörter über die Lippen zu bringen. Frank benötigte sie auch nicht, um ihn fortan bei jeder Gelegenheit damit aufzuziehen.

Immerhin hatte Frank all die Jahre dicht gehalten. Seit September lebte er in der Stadt, um zu studieren, also hatte Johan die meiste Zeit Ruhe vor seinen Neckereien. Bis auf ein Wochenende im Monat, wenn er heimkam und auf weltmännisch machte. Zu Weihnachten hatte er sich sogar erdreistet, Johan einen Dildo und ein Buch übers Schwulsein zu schenken – aber erst, als er bereits abgereist war. Er hatte es einfach unter Johans Bettdecke versteckt und mit einem Post-it versehen, auf dem stand: Ein Königreich für deinen Gesichtsausdruck.

Erst war Johan stinksauer gewesen. Was, wenn die Mutter das entdeckt hätte? Aber dann …

Vielleicht hatte Frank ihn nur ärgern wollen, aber nach dem ersten Schock begann für Johan ein neues Zeitalter der Autoerotik. Er selbst hätte sich niemals getraut, einen Dildo zu kaufen, und in selbstmitleidigen Stunden sagte er sich, dass dies der einzige Liebhaber in seinem Leben sein würde. Für Johan stand außer Frage, seine Neigung auszuleben. Nur, weil er auf Männer stand, was er – das war ihm wichtig – niemals selbst entschieden hatte, hieß das noch lange nicht, dass er das auch ausleben musste. Wie sein Vater schon sagte: Das war krank. Das war pervers. Wenn man so etwas an sich feststellte, war man Patient, und kein Star.

Die Ironie an der ganzen Sache: Auch mit achtzehn hatte Gerald etwas abstoßend Mädchenhaftes an sich, war eine bartlose, solariumorange Tunte, die sich sogar Augenbrauen zupfte und Fingernägel lackierte, aber er war stockhetero. Sein Ruf, schwul zu sein, war der reinste Frauenmagnet – allein im Herbst musste er für drei Abtreibungen zahlen. Wohingegen Johan, die echte Schwuchtel, mit seinen neunzehn Jahren aussah wie ein fünfundzwanzigjähriger Handwerker, der nebenbei als Kinnmodel für Rasierklingen jobben könnte, und weiche Knie bekam, wenn er am Wochenende mit Mama und Papa ins Wirtshaus ging und Stefan hinter der Schank Gläser polieren sah. Außerdem war er Jungfrau – sah man von den nächtlichen Orgien mit jenem Lustkolben ab, den er vor dem Hygienefimmel seiner Mutter im Gehäuse seines Computers versteckte.

Johan fühlte sich seltsam kribbelig. Jede seiner Zellen schien unter Strom zu stehen, er konnte es richtig brrrzln spüren. Das lag am Frühling. Nachdem Johans Körper monatelang unter Daunenjacken erstickt worden war, durfte endlich wieder Wind durch die Fasern von Shirt und Sweater greifen und die Haut streicheln. Ohne fünf Schichten Kleidung fühlte sich Johan ungewohnt leicht, beweglich und stark. Beim Skifahren hatte er vermutlich weiter Muskeln zugelegt – auf jeden Fall aber durch die Arbeit im Baumarkt. Seit einigen Wochen durfte er für Kunden Holzbalken zuschneiden, was weit befriedigender war, als herumzustehen und Hobbyhandwerkern zu zeigen, wo die Flügelmuttern zu finden waren. In den ersten Tagen hatte er so heftigen Muskelkater gehabt, dass er bei jeder Bewegung aufgejault hatte – aber seine Form hatte sich eindeutig verbessert. Sein rechter Haken war nun eine richtige Waffe, bei Schlägereien musste er sich neuerdings zurücknehmen. Das war eine ganz eigene Form von Macht.

Eigentlich war er aus dem Alter heraus, die Sonntage mit Mama und Papa im Stammwirtshaus zu verbringen. Die wussten seine Kraft nicht zu schätzen, die begriffen nicht, dass er jemand war, dass man zu ihm aufblickte, dass er ein Mann war, den man respektierte, der sich verteidigen konnte – ach, vor dem sich andere verteidigen mussten; der jeden unter den Tisch saufen konnte. Ohne ihn war ein Freitagabend kein Freitagabend und eine Samstagnacht keine Samstagnacht. Ohne ihn war eine Party ein lahmes Mädchenkränzchen und eine Disco bloß ein Sammelbecken für Loser. Man schätzte an ihm, dass er sich zu Schade für eine dieser gepiercten Zicken war, die ihn doch nur an die Leine legen würde, und verlangen, dass er halblang machte, weil er fit für die Arbeit sein musste, um einen Wandschrank für die gemeinsame Genossenschaftswohnung kaufen zu können.

An diesen beschissenen Sonntagen war er immer noch der Bub, und obwohl ihm noch schlecht von der letzten Cola-Rum war, die er irgendwann gegen fünf in irgendeiner Disco gekippt hatte, während er mit ein paar Kumpels ein hochelastisches Männerthema diskutiert hatte, fühlte er sich bei diesen Essen wieder wie dreizehn. Selbst Frank, der in einer WG in der Großstadt lebte und bald sein erstes Studienjahr hinter sich hatte, verhielt sich wie der Fünfzehnjährige, der vor wenigen Tagen hinter die Homosexualität seines kleinen Bruders gekommen war. Manche Traditionen hielten jeder Rebellion stand.

Nein. Das stimmte nicht. Johan war kein Opfer der Tradition. Er müsste nicht mitkommen. Die Rebellion war erfolgreich gewesen, von ihm wurde nicht erwartet, den braven Sohn zu mimen. Er war freiwillig hier – das war die wahre Niederlage. Und es kam noch schlimmer: Er freute sich auf diese Mittagessen. Manchmal befiel ihn sogar schon unter der Woche eine ganz eigenartige Aufgekratztheit, wenn er an das Sonntagsessen beim Seilerwirt dachte. Und gelegentlich – es kam nicht immer vor, aber doch bemerkenswert häufig in letzter Zeit – machte er samstags früher Schluss mit Party. Er wollte nicht zu fertig aussehen, nicht wie ein Cola-Rum-Zombie herumlaufen, der nur einen Rülpser vom Erbrechen entfernt war. Er ertappte sich dabei, Samstagnacht nicht das gute Shirt anzuziehen, weil er es lieber Sonntagmittag tragen wollte, und seit einigen Wochen war die Dusche am Sonntagmorgen obligat.

»Was stehst hier herum, Kleiner, komm wieder rein.« Frank kam um die Ecke, der Kies knirschte unter seinen Sohlen. Er sagte Kleiner, dabei war Johan größer als er. Ganze fünf Zentimeter.

»Keinen Bock«, murmelte Johan.

»Bist ang’fressen?«

»Ja … nein … keine Ahnung. In letzter Zeit bin ich einfach nur …« Johan seufzte und bemerkte einen Falken, der in der Luft stand.

»Verliebt?«, riet Frank.

Der Falke stürzte abwärts. Johan fuhr zu Frank herum. Sein Bruder lächelte zwar, aber er grinste nicht.

Johan zischte abfällig. »Quatsch.«

»Woher willst das wissen? Warst schon mal verliebt?«

Belustigt schüttelte Johan den Kopf. »Idiot. Du weißt genau, dass das nicht geht.«

Frank hob die Augenbrauen. »Ach! Können sich Schwule nicht verlieben, oder was?«

»Schschscht!« Johan schaute sich panisch nach allen Seiten um. »Bist deppert? Du kannst doch nicht … Scheiße, wenn das wer …«

»Jetzt krieg dich wieder ein, da ist keiner, außer uns.« Besorgt runzelte Frank die Stirn. »Bist ein bisserl paranoid, ha?«

»Du weißt genau, wie das hier läuft.«

»Ich wollt nur wissen, wie es meinem kleinen Bruder geht«, beschwichtigte Frank. »Seit ich weg bin, reden wir überhaupt nimmer miteinander.«

»Wir haben auch vorher nicht viel geredet.«

»Aber sicher.«

»Du hast mich aufgezogen, wann immer es dir eingefallen ist. Das ist nicht das gleiche wie reden.«

»Na, dann reden wir eben jetzt.«

»Ich will aber nicht. Es ist zu spät.«

Frank nickte und ließ den Blick ebenfalls über die Hügel und Berge schweifen. Er atmete ein paar Mal tief durch. »Ein bisserl vermissen tu ich das alles hier schon.«

»Ich wüsst ja nicht einmal, in wen«, sagte Johan leise. »Also falls …«

Frank grinste schief. »Wen lügst denn jetzt an? Mich oder dich?«

»Wie meinst das?«

»Das schöne Shirt. Die gemachten Haare. Riechen tust, als wärst ins Rasierwasser gefallen … und das alles nur, weilst mit uns essen gehst. Johan, ich bin nicht auf den Kopf gefallen – aber bei dir bin ich mir nicht sicher. Also stellst dich so blöd, oder bist so blöd?«

»Glaubst, ich bin in dich verknallt, oder was?«, spöttelte Johan.

»Okay, dann bist so deppert.«

Johans Bauch kitzelte. Natürlich wusste er, auf wen Frank anspielte, aber er gestattete sich nicht, es auch nur zu denken. Außerdem, ja, außerdem war er ein wenig wild darauf, es von einem anderen zu hören. Die Spekulation aus fremdem Mund würde die fast berstende Bodenklappe zum Keller öffnen, in den Johan seit Wochen jedes Gefühl stopfte und stopfte und stopfte. Unterirdisch, verborgen selbst vor den eigenen Gedanken, durfte brodeln, was brodeln musste. Aber wenn davon irgendetwas hochkroch und von einem Gedanken entdeckt wurde, würde dieser damit spielen, würde es den anderen Gedanken zeigen, und dann würden die Gedanken wissen wollen, was noch alles im Keller verborgen lag und dann würde er immer mehr Raum einnehmen, er, der am Ende aber doch bloß Hirngespinst bleiben würde. Flausen säßen in Johans Seele, würden ihm zuflüstern, was er wollen könnte, was er kriegen könnte, was er aber niemals wollen durfte und noch weniger kriegen konnte – doch dann wäre die Büchse der Pandora geöffnet und es gäbe keinen Weg zurück. Er würde leiden, er würde seines Lebens nicht mehr froh, er würde seine Kraft verlieren, könnte nichts mehr tun, ohne dass es von ihm eingefärbt würde.

Deswegen erlaubte sich Johan nicht, selbst zu spekulieren. Aber wenn ein anderer es täte, wenn ein anderer es ausspräche, dann war da vielleicht etwas dran. Dann … dann war zumindest Johan nicht schuld. Er könnte, wenn es ihn denn vernichtete, Frank die Schuld zuschieben – immerhin hätte er damit angefangen. Andererseits … wenn Frank, der bisher als Einziger Johans Homosexualität entdeckt hatte, etwas witterte, dann hatte das etwas zu bedeuten. Vielleicht.

Nein … vergiss es … Johan schüttelte den Kopf und drängte die aufwallenden Gefühle in den Keller zurück.

»Hast gewusst, dass es ums Wirtshaus echt schlecht steht?«, fragte Frank.

Fast. Er hatte fast an der Bodenklappe gerüttelt.

»Ja. Sie kämpfen schon eine ganze Weile«, bestätigte Johan und dachte an ihn, wie er – weißes Hemd, aufgekrempelte Ärmel, schwarzes Samtgilet – hinter der Schank stand.

»Der Seiler hat vorhin erzählt, dass sies jetzt mit Themenabenden versuchen. Samstagabend immer. Er will die Jugend kriegen. Achtzigerjahre-Party, Karaoke, Fete Blanche.« Frank runzelte die Stirn.

»Ich weiß. Ich seh die Plakate immer. Ziemlich peinlich, wennst mich fragst.«

»Ja …« Frank blickte gedankenschwer ins Nichts. Schließlich holte er Luft: »Ich hab mir gedacht …«, er seufzte, als gefiele ihm selbst nicht, was er gleich sagen wollte. »Die anderen folgen dir ja überall hin …«

»Vergiss es!«, stieß Johan aus. »Ich schlepp die nicht hierher. Das kannst vergessen.«

»Es tät dem Seiler echt helfen. Ihr seids eine Partie von … dreißig, vierzig Leut …«

»Ausgeschlossen! Hast eine Vorstellung davon, wie … wie … trostlos das wär? Erinnere dich an den Vierziger vom Pauli. Nach so einem Elend steuern mir die Leut freiwillig den nächsten Baum an. Nein, kommt nicht in Frage.«

Frank blickte Johan streng an. »Ein bisserl ein Arschloch bist schon, gell?«

»Ich bring die nicht alle her …«, wiederholte Johan. Das Herz stolperte über einen Gedanken. Was, wenn einer sieht, wie du ihn anschaust? »Nein, Frank, echt … bei aller Freundschaft mit dem Seiler …«

»Und der Stefan?«, fragte Frank und funkelte Johan wissend an.

Wums. Der Magen kitzelte und mit einem Moment wurde Johan die Luft knapp. »Was ist mit dem?«, krächzte er. Seine Wangen begannen zu brennen. Scheiße. Johan wandte den Blick ab. Genau deswegen will ich die nicht hier haben!

»Das ist ja auch seine Zukunft. Wenn der Seiler zusperrt … Der Stefan soll doch das Wirtshaus von seinem Vater übernehmen, aber wenn das alles die Bank kriegt …«

»Und du glaubst, wenn wir einmal hierherkommen, dann reißen wir ihn raus aus den Schulden?«

Frank grinste. »Kommst halt öfter.«

Johans Herz galoppierte los. Etwas in ihm fand diese Idee fan-tas-tisch. »Das machens mir nicht mit. Ein Mal geht vielleicht, aber …«

»Schau an«, Franks Grinsen wurde noch breiter, »auf einmal verhandeln wir, wie oft dass du hierher kommst.«

Johans Kiefer klappte runter.

»Scheiße, dich hats echt erwischt, ha?«, meinte Frank und lachte.

»Nein«, kiekste Johan und räusperte sich. »Lass mich in Ruh mit dem Scheiß. Das ist nicht witzig.«

»Hast recht, ich hör schon auf.« Frank kontrollierte auf seinem Handy die Uhrzeit. »Tät mir aber gefallen.«

»Was tät dir gefallen?«

»Na du und der Stefan. Ihr täts ein liebes Paar abgeben.«

Eine Bemerkung wie ein Faustschlag. Johan wankte rückwärts, stolperte fast über seine eigenen Füße. Paar. Liebes Paar. So hatte Johan über sich und Stefan noch nie gedacht. Das zündete ein Bild, das entfachte eine ganze Welt. Tät mir gefallen. Ein liebes Paar, das mit der Familie sonntags mittagessen ging. Klappe zu, Klappe zu, Klappe zu. Drauftrampeln. Bleibt unten, das ist ein ganz gefährlicher Gedanke. »Du spinnst ja!«

»Ich sag nur, wie es ist.« Frank steckte das Handy wieder weg.

»Aber der … Stefan ist nicht …« Die Gedanken schlichen um die berstende Bodenklappe herum. »Ist er doch nicht, oder?« Wusste Frank vielleicht etwas?

»Vielleicht«, meinte Frank. »Fragst ihn halt. Lass uns reingehen. Mein Kaffee ist sicher schon kalt.«

Fragst ihn halt … Ha, ha, sehr lustig. Wie stellte sich Frank das vor? Dass Johan zu Stefan hinging und fragte: Hey, bist du schwul? Die Stadtluft tat ihm wohl nicht gut. Andererseits … würde er solche Andeutungen machen, wenn er hundertprozentig sicher wäre, dass da nichts laufen könnte?

Laufen … Seit wann dachte Johan in Kategorien wie: Etwas laufen haben? Da lief nichts. Da würde nie etwas laufen.

Johan betrat hinter Frank das Lokal. Stefan stand hinter der Schank und stopfte gerade ein Geschirrtuch in einen Bierkrug. Erwartungsvoll blickte er hoch – neue Gäste? – dann erkannte er Frank und Johan und nickte zum Gruß. Johan wurde heiß. Fragst ihn halt. Plötzlich stolperte er über eine nullkommanullnulldrei Millimeter hohe Bodendiele und fing sich im letzten Moment. Scheiße. Hundert Schweißtröpfchen quollen aus seinem Rücken. Wieso auch immer suchte er Stefans Blick.

Stefan zuckte alarmiert, als sähe er Johan bereits zu Boden stürzen, dann entwich ihm ein erleichtertes Lächeln. »Aufpassen.«

Johan verzog den Mund, und als er hastig weiterlief, sah er im Augenwinkel, wie sich Stefan das Geschirrtuch ins Gesicht warf. Zu Recht.

»Wo warst denn?«, fragte die Mutter, als sich Johan zu Tisch setzte.

»Auf den Bahamas«, murmelte Johan.

Sie verdrehte die Augen und wandte sich an Oma. »War er …«, sie deutete auf den Vater, »… in dem Alter auch so schwierig?«

»Der ist noch immer schwierig.« Die Oma lachte auf. »Mannsbilder halt.«

»Und wie hältst das aus?«

»Bringst ihn unter die Haube und schaust zu, wie sich seine Frau mit ihm abplagt.«

Mutter und Oma gackerten drauflos. Auf dem Tisch vor ihnen standen einige leere Schnapsgläser. Alles klar. Opa und Vater schüttelten den Kopf. Frank grinste. Eine Frechheit lag ihm auf den Lippen. Johan funkelte ihn düster an. Untersteh dich!

»Darfs noch was sein?« Eine flaschengrüne, knöchellange Schürze wand sich um schmale Hüften. Stefan streckte sich über den Tisch und sammelte leere Gläser ein. Johan wich dem Ellenbogen mit dem aufgekrempelten Hemdsärmel aus, der Duft von Spülmittel, Bier und Schweiß drang in seine Nase. Stefan stand direkt neben ihm, seine Oberschenkel drückten gegen die Tischplatte, als er weiter entfernte Gläser einsammelte. Die dünnen Bänder der Schürze waren am unteren Rücken fest verknotet und betonten die schön geschwungene Rückenpartie darüber und den knackigen Hintern in Jeans darunter. Stefan war so nah, dass Johan, ohne seine Position zu verändern, die Arme um seine Hüften hätte schlingen können. Das Verlangen, genau das zu tun, bekam er kaum noch in den Griff. Verschwinde. Verschwinde. Verschwinde. Bleib.

»Mah, ’tschuldige«, Stefan legte eine Hand auf Johans Schulter. »Hab ich dir mit dem Ellenbogen ins Gesicht …?«

»Nicht so schlimm«, platzte Johan heraus. Nicht so schlimm? Stefan hatte ihn doch überhaupt nicht erwischt. Wieso dachte er das überhaupt? Er hätte das doch selbst spüren müssen.

»Kriegst was aufs Haus«, brabbelte Stefan sofort los. »Was willst denn? Bier? Schnaps? Was anderes? Kaffee?«

»Nein … ich … äh … Bier.« Johans Ohren spielten Meerestosen.

»Bring ich dir gleich«, sagte Stefan, hob das mit leeren Gläsern gefüllte Tablett an und eilte davon.

Oh, diese elegante Haltung, diese Körperspannung, dieser Arsch!

»Äh … Bier«, äffte Frank Johan nach und lachte.

»Du bist echt deppert.«

»Na, das ist aber nett vom Seilerbub«, meinte Oma.

»Jetzt weißt, warum dass’ Pleite gehn, wenn er ständig irgendwas verschenkt«, brummte Opa.

»Hast schon gesehen, Johan, nächsten Samstag machens da einen Karaokeabend.« Die Mutter deutete auf ein Plakat. »Wär das nicht mal was für dich und deine Leut?«

»Bemüh dich nicht, der Frank hat mich schon überredet«, sagte Johan. Und es ist doch eine schlechte Idee.

»Ach so?«, verwundert blickte die Mutter zu Frank.

»War total schwer, ihn zu überzeugen«, behauptete Frank fröhlich und zwinkerte Johan zu.

Geht es noch auffälliger?

Johan drehte sich nach Stefan um. Der kam bereits auf ihn zu, in der Hand ein einzelner Bierkrug. Schaum lief über den Rand und tropfte zu Boden.

»Bitteschön.« Stefan schob einen Pappuntersetzer zurecht und stellte den Krug darauf ab, dann lächelte er Johan an und legte wieder kurz eine Hand auf seine Schulter. »Tut mir leid, gell.«

Es ist überhaupt nichts passiert. »Passt schon«, brummte Johan und trat unterm Tisch vorsorglich gegen Franks Knöchel.

»Der Johan kommt euch nächstes Wochenende besuchen«, sagte die Mutter zu Stefan.

Stefan runzelte irritiert die Stirn und blickte Johan fragend an. »Besuchen?«

»Zum Karaokeabend«, erläuterte die Mutter.

Johan verglühte. Frank kicherte in sich hinein.

»Ach so! Okay …« Stefan wirkte ein wenig ratlos, dann zuckte er mit den Schultern.

»Mit der ganzen Partie kommt er«, ergänzte Frank. »Dreißig, vierzig Leut Minimum.«

Johan fuhr zu Frank herum und starrte ihn wild an.

»Ah ja … Na … freut mich …«, sagte Stefan ohne die geringste Freude in der Stimme. Die Information schien ihn entweder zu überfordern – oder er glaubte sie nicht – und Letzteres packte Johans Ehrgeiz. Er war doch kein Schwätzer! Auf ihn war Verlass! Doch noch ehe er etwas versprechen konnte, eilte Stefan zur Schank und stolperte an derselben Stelle, wie Johan vorhin.

Aufpassen, dachte Johan und musste grinsen.