Impressum

Albrecht Franke

Erstarrendes Meer

Eine Erzählung über Georg Friedrich Händels letzten Aufenthalt in Halle

 

ISBN 978-3-95655-605-0 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1995 im Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Vorspann

Es verhält sich, nebenbei, keineswegs so, dass das alte Gedächtnis einfach ein Trümmerhaufen des jungen ist. Es ist anders, Einzelheiten verblassen, vieles ist gleichgültig geworden - große Züge, frühe Erinnerungen treten hervor, mit fast halluzinatorischer Deutlichkeit. Die Fähigkeit zur exakten Unterscheidung sinkt: dafür wächst die Fähigkeit zu seniler, dementer, verblödeter, auch: grandioser Zusammenschau.

Walter Vogt

 

Der Ort: Halle an der Saale. Eine Stadt mit Garnison und Universität im Königreich Brandenburg-Preußen.

Die Person: Georg Friedrich Händel, aus England zu einem Besuch in seine Geburtsstadt gekommen. Als Komponist weithin berühmt. Ein funfundsechzigjähriger Mann.

Das Jahr: 1750, beginnender Herbst. In Europa der Zustand scheinbarer Ruhe zwischen Kriegen um Erbfolgen, Ländereien, Macht.

1. Kapitel

An einem Vormittag. Diesige Luft, eine kaum wahrnehmbare Sonne. Händel stampfte seit mehr als einer Stunde in unregelmäßigen Abständen zwischen einem Lehnstuhl und dem Fenster hin und her. An der Tür griffbereit das Gepäck: die Reisetruhe, verschnürte Bündel, ein in Tücher gehülltes Gemälde. Er wartete auf die am Morgen bestellte Kutsche. Die Ungeduld erzeugte in seinem Kopf kleine heiße Wellen, die durch seinen Körper schwappten. Er behauchte und polierte die Butzenscheiben, starrte hinunter. Auf der Straße rührte sich noch immer nichts. Er wandte sich ab, um nicht dem peinigenden Anblick von Leere und Bewegungslosigkeit ausgesetzt zu sein. Ein Mensch, der sich von äußeren Umständen, alltäglichen Misslichkeiten aus der Fassung bringen lässt, ist lächerlich. Wie zum Hohn fiel ihm ausgerechnet jetzt und hier eine Sentenz ein, die er für philosophische Tafelrunden oder musikalische Dinners in London parat hatte. Trotzdem zwang er sich, um die vermeintlichen Schrullen zu besiegen, wieder in die Beobachterposition zurück. Keine Kutsche weit und breit, die Straße menschenleer. Sehnsüchtig stellte er sich darin das Getümmel vor, das an manchen Tagen durch die Oxford Street bis an sein Haus in der Brook Street brandete. Wie oft hatte er gemeint, es müsse ihn unausweichlich zur Raserei treiben. Weder gedankliche Ausflüchte noch ein gekünsteltes Auflachen konnten die aufsteigende Wut bremsen.

Zu Hause müsste ich nicht derart lange auf ein Gefährt warten. Da werden Bestellungen prompt und pünktlich erledigt. Aber in diesem verdammten Provinznest herrscht eine maßlose Schlamperei. Eine Indolenz des Körpers und des Geistes.

Ein Zucken fuhr ihm durch den Körper, kam als Schwirren im Kopf an. Ein Vogelschwarm schien ihn zu umflattern. Die Warnung. Die Erinnerung an die Ouvertüren der Schlaganfälle. Um etwas ruhiger zu werden, sprach er weiter mit sich. Er hatte auf der Reise und während der erzwungenen Aufenthalte die Erfahrung gemacht, dass ihn Selbstgespräche besänftigen konnten.

Ich habe Zeit, viel Zeit. Ich muss weder ins Theater noch zur Orchesterprobe. Weder Kastraten noch Primadonnen lauern mir auf. Niemand kommt mit Hiobsbotschaften oder Skandalgeschichten. Halle ist ein Ort der Ruhe. Ich bin losgelöst von meinem Londoner Dasein. Jetzt will ich lediglich, wobei es auf eine Stunde nicht ankommt, dem Haushaltsregime dieses Magisters und Diakons Rotth entrinnen. Es ist wahrlich wegen der Einfachheit, dass ich ihn Cousin nenne. Ich ziehe in die Fremdenherberge um, ich habe genug von der Bigotterie des Hausherrn und der Aufräumewut seiner Gemahlin, unerträglich ist mir beider lakaienhafte Freundlichkeit. Wie in einem Sumpf verliert man in diesem Haus den Boden unter den Füßen. Ich kann mich hier nicht natürlich benehmen, ständig ist etwas Gezwungenes im Weg. Wenn ich nur an die Gesichter denke, die sie beim Essen schneiden. Trotz geschminkter Verbindlichkeit verraten sie deutlich die Verwunderung über den Gast, der nachts von musikalischen Einfällen oder Gelenkschmerzen aus dem Bett getrieben wird und dann die Treppe hinauf- und hinunterwandert. Der morgens um vier Uhr in der Küche nach Wein oder Bier sucht. Der in seiner Konfusion dem Hauspersonal in englischer Sprache Anweisungen gibt, in Gesprächen oder beim Fluchen fortwährend nach passenden deutschen Wörtern sucht Der im Salon stundenlang auf dem unschuldigen Spinett herumdrischt.

Wieder am Lehnstuhl. Sein Monolog begann zu wirken. Es gelang ihm, den nervenaufreibenden Marsch durch das Zimmer zu unterbrechen, sich zu setzen. Unter der Perücke quollen Schweißtropfen hervor. Feuchtigkeit schien über seinen Körper zu kriechen. Unvermittelt befiel ihn der heftige Wunsch, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Nicht nur Knöpfe und Ösen zu öffnen, sondern nackt durch kühle Luft zu gehen. Angeweht und erfrischt von einer Brise, wie er sie auf dem Postschiff zwischen Holyhead und Dublin an einem frühen Morgen genossen hatte. Fast zehn Jahre lag die Reise nach Irland inzwischen zurück, dieses tiefe, befreiende Einatmen war ihm dennoch ganz gegenwärtig. Vielleicht um so mehr, als er hier zeitweise das Gefühl hatte, die Luft werde ihm abgeschnürt. Kein Wunder in den niedrigen Stuben. Enge und Bedrückung als Dauerzustand. Dass die Rotths das Tag um Tag aushielten. Er floh auf die Irische See. Ringsum zerfloss alles in Weite und Offenheit. Graugrüne Wellen rollten auf ihn zu, schlugen über ihm zusammen. Er hörte nicht mehr, dass der Wagen endlich vorfuhr. Frau Rotth, gereizt durch die ansteckende Ungeduld des illustren Verwandten, schrie, im Hausflur stehend: »Herr Händel! Herr Händel!« Die Rufe reichten nicht bis in seinen Traum hinein. Auch nicht die Verwünschungen, in denen er nobler Feistling genannt wurde, dem das Haus Rotth offenbar nicht gut genug war. Er zuckte erst zusammen und sprang auf, als die Frau an seine Tür pochte. Der Fußboden schien sich aufzubäumen, dann driftete er langsam weg. Das Zimmer eine dem Wind preisgegebene Eisscholle. Er ließ sich sofort in den Sessel zurückfallen, um die Benommenheit vorübergehen zu lassen. Im Mund spürte er brennende Trockenheit, sein Blut meinte er in seinen Ohren wie einen Hochwasser führenden Fluss rauschen zu hören. Das alles jedoch verstörte ihn nicht so wie die Traumbilder kurz vor dem Aufschrecken. Sie standen immer noch deutlich vor ihm. Die Erinnerung daran würde ihn den ganzen Tag plagen. Er kannte seine Schwächen.

Jetzt blieb ihm zum Glück die kleine Flucht in die Aktivität. Er rappelte sich prustend und schnaufend auf. Die Dinge verharrten auf ihrem Platz, die Erde unter ihm schwankte nicht. Einige schwerfällige Schritte auf die Tür zu, die aufgerissen wurde, bevor er sie erreicht hatte. Noch einmal ließ Frau Rotth den schmetternden Ruf ertönen. Er hielt sich die Ohren zu. Dann, seine Gelenke begannen wieder zu funktionieren, eine Verbeugung, die fast elegant geriet. Noch besser gelangen freundliche Floskeln, tausendmal verwendete Liebenswürdigkeiten, eingeschliffenes, überall erwartetes Benehmen. Den Gentleman mit Manieren vorzuführen fiel ihm nicht schwer. Darum gleich mehrfach die Entschuldigung wegen des Umzugs in das Gasthaus. Dass es nicht persönlich gemeint sei, nicht aus Hochmut geschehe. Er müsse allein sein, nachdenken. So sei er es gewohnt. Außerdem: vielleicht ein neues Oratorium. Lange genug hätte er auf der Bärenhaut gelegen. Faulenzerei wäre seine Sache nicht. Um sich wohlzufühlen, brauche er Arbeit, Projekte, Lektüre. Darum müsse der Auszug sein. Unbedingt.

Also, mit einem innerlichen Stoßseufzer, die schönsten Grüße an den Herrn Vetter. Vor der Abreise nach London hoffe er ihn noch einmal zu sehen, den lieben Christian August. Wieso duzte er den Magister Rotth, nicht aber dessen Frau? Er war froh, solche Fragen erwägen zu können. Schweigend gingen sie die Treppen hinunter. Die Frau blieb hinter ihm. Unter der Haustür »Madame Rotth.« - »Monsieur Händel.« Von ihm noch ein »Merci«. Ihrerseits ein »Gott befohlen«. Es gelang ihm nicht, die Konvention beiseitezulassen, obwohl es ihn drängte, freundlich zu sein. Nicht nur, weil sie sich wahrscheinlich nicht wiedersehen würden. In diesem Leben zumindest, wie man so schön zu sagen pflegte im frommen Hause Rotth. Natürlich, auch ein Diakon kann sterben. In ihrem Alter konnte jede Begegnung die letzte sein. In Halle segnet vielleicht ein Diakon das Zeitliche und in London wird ein Komponist vom Schlag getroffen. Oder er verliert plötzlich das Augenlicht, stolpert, stürzt, bricht den Hals oder ertrinkt in der Themse. Darum wollte er Freundlichkeit an den Tag legen, sich der Frau noch einmal zuwenden. Als Mensch, Mann und Verwandter, der er bei aller Weitläufigkeit ihrer Beziehungen doch war. Zum Glück merkte er noch rechtzeitig, dass ihm ihre Vornamen ganz und gar entfallen waren. Dabei hatte er sie in den letzten Tagen oft genug gehört. Er tappte ins Leere, denn die Frau hatte ihre Hand weggezogen und war im Hausflur verschwunden. Ihre nachdrücklichen Schritte waren noch zu hören. Nun würde sie, das hatte er sich gemerkt, das Dienstmädchen umherscheuchen, um sich die Langeweile zu vertreiben und abends ihren ordnungsliebenden Magister empfangen und hereinlassen.

Das junge Ding einen Kerl, der fast so alt ist wie ich. Einen Arsch hat das Weib. Wie eine Statue. Göttlich. Ich würde dich noch ganz anders kitzeln als dein Rotth.

Händel besann sich, versuchte, die aufsteigenden Wunschbilder wegzuwischen. Er trat zum Wagen und befahl dem nach Bier und gebratenem Fisch riechenden Kutscher, das Gepäck aufzuschnallen. Dabei klopfte er mit Nachdruck auf seine Taschenuhr. Der Mann murmelte etwas von gerissenem Zaumzeug. Händel entriss ihm das Gemälde, legte es auf den Sitz, nannte beim Einsteigen noch einmal die Herberge, fluchte, weil die Tür so schmal war. Nach einer Weile rasselte die Chaise los. Auf die Fahrt durch die Stadt hatte er sich gefreut, Erinnerungen und angenehme Gefühle erhofft. Angestrengt starrte er hinaus. Der bläuliche Dunst schien sich immer mehr zusammenzuballen, obwohl es schon auf Mittag ging. Die tischebene Ackerlandschaft, auf die man von hier einen Ausblick haben musste, war nicht zu erkennen. Undurchsichtige Nebeltücher bildeten die Kulisse für die Bilder, die er im Traum gesehen hatte, und die sich nicht länger mehr zurückhalten ließen. Schwebende, augenlose Gesichter. Eine Stimme, die wie seine eigene geklungen hatte, war noch fürchterlicher. Sie hatte das Wort »blind« gesagt. In allen Sprachen, die er kannte. Er musste sich zwingen, nicht wieder mit dem Singsang anzufangen. Die Angst vor der Blindheit quälte ihn seit Monaten. Er nahm einen Schluck aus seiner Reiseflasche. Vielleicht aber, und diese Möglichkeit bestand immerhin, war heute tatsächlich ein trüber Tag.

Vielleicht. Ich bin wie immer mein eigener Tröster. Was sonst bleibt mir übrig? Die Herren Doktoren der Stadt Halle konsultieren? Das sind Schwätzer und Quacksalber wie ihre Kollegen in London. »Die Augen, Sir, lassen im Alter nach. Eine ganz natürliche Erscheinung. Jünger werden wir nun einmal nicht. Leider, leider.« Ganze Gespräche kann ich inzwischen auswendig: »Eine ernsthafte Erkrankung? Grund zur Besorgnis? - Ich bitte Sie, Mister Handel, wohin denken Sie?« Und wenn ich couragiert frage: »Star?« - »Steigern Sie sich auf keinen Fall in Wahnideen, Sir. Schaffen Sie sich Bewegung. Leben Sie mäßig. Verdünnen Sie den Wein. Unterlassen Sie das Komponieren bei Nacht. Schlafen Sie mindestens sieben Stunden.« Auf alles gibt es eine Antwort. Nur die Wahrheit nicht. Keiner macht sich die Mühe zu prüfen, in welchem Grade und in welcher Geschwindigkeit meine Sehkraft nachlässt. Ich spüre doch die Verschlechterung. Da sie nicht fähig sind, den Patienten zu helfen, tischen sie ihnen Lügengeschichten auf. Jedem das, was er hören möchte. Als wäre Wahrheit etwas Unerträgliches.

Händel begann, das Gemälde aus den Tüchern zu wickeln. Es war sein Porträt. Von Thomas Hudson in London gemalt. Er kannte alle Details des Bildes. Ein Versuch, eine Augenprobe zur Beruhigung. Aber gerade hatte die Kalesche die dunklen kleinen Gassen in der Nähe des Marktes erreicht. Offensichtlich hatte sich hier seit fünfzig Jahren nichts verändert. Die Häuser bildeten wie eh und je abwehrende, bedrückende Wälle und Schluchten. Hier fiele das Experiment auf jeden Fall schlecht aus. Der Wagen polterte in zunehmende Dämmerang hinein.

Wenn es mich wirklich trifft, wenn ich blind werde, muss ich mich beizeiten darauf einstellen, Maßnahmen ergreifen für das Leben unter solchen Umständen. Daran habe ich zuerst zu denken, nicht an sorgfältig formulierte Testamente.

Er tastete dennoch nach der Kopie des Schriftstückes in dem Ledertäschchen mit den Reisepapieren. In diesem Land, sogar innerhalb der Stadt, musste man ständig einer Ausweiskontrolle gewärtig sein. An jedem Tor ein Wächter, der etwas zu prüfen und zu bemängeln hatte. Dabei wurde er als Ausländer schnell und mit einer gewissen Höflichkeit abgefertigt. Desto mehr Schikanen musste der nächste preußische Untertan über sich ergehen lassen. Ein Königreich mit Eigentümlichkeiten. Für ihn jedoch gab es keinen Grund zur Sorge. Alles war vorhanden, alles in Ordnung. Blieb nur die Eingangsfloskel seines Testaments, die ihm beim Berühren des Skriptums einfiel. Considering the Uncertainty of human Life. In Anbetracht der Unbeständigkeit des menschlichen Lebens. Ihn schauderte plötzlich vor seinen eigenen Worten, ein innerliches Zittern setzte ein. Was er in London ehrlich gemeint hatte, um geordnete Verhältnisse zu hinterlassen, nahm sich hier kalt und spöttisch aus. Er schnallte die Tasche zu und rückte zum Fenster. Die Gasse erweiterte sich zu einem kleinen Platz, der Wagen hielt vor der Herberge. Sofort erschien der Wirt, gefolgt von einem Hausknecht. Das Gepäck wurde abgeschnürt und vor der Tür abgestellt Händel hörte, als der Wirt den Schlag öffnete und sich verbeugte, Fetzen des Gesprächs zwischen Kutscher und Knecht Die Bedienten redeten über das unfreundliche Wetter. Sie waren sich einig, dass derart nebligem Frühherbstmorgen in genau hundert Tagen Schnee folge. Obwohl sie schnell und mit starkem halleschen Akzent sprachen, hatte er das auf Anhieb verstanden. Augenblicklich schlug seine Stimmung um. Er atmete tief durch, auf einmal schien die Luft selbst hier würzig wie am Meer zu sein. Er stieg aus, ohne anzustoßen oder sich einzuklemmen. Der Boden schwankte nicht mehr, die trüben Ahnungen schienen in dem leichten Wind zu zerflattern, der sich aufgemacht hatte. Händel fühlte sich erlöst, in ihm brodelte Fröhlichkeit. Er schritt auf den Wirt zu. Herrschaftliche Gebärden. Der mit Silber beschlagene Spazierstock, Werbegeschenk der Südsee-Aktiengesellschaft. Der elegante Hut. Die feinen Schuhe. Der dunkelblaue Samtrock. Die Achtung gebietende Korpulenz. Der in ganz Europa bekannte Komponist und Virtuose. Er sah, dass sich der Wirt noch einmal verbeugte, meinte, ihn etwas von großer Ehre und Dienstbeflissenheit des gesamten Personals murmeln zu hören. Ohne weitere Umstände drückte er dem sich eben Aufrichtenden und gleich wieder Erstarrenden die Hand wie einem alten Bekannten, wünschte einen guten Tag. Dann zog er den Geldbeutel hervor, entlohnte den Kutscher, steckte dem Knecht ein Trinkgeld zu. Dem Wirt zählte er mehrere Geldstücke vor und ordnete an: Warmes Wasser an jedem Morgen. Das Zimmer zu alleiniger Verfügung. Keine lärmenden Nachbarn. Frische Bettwäsche nach Bedarf. Reinigung und Pflege seiner Garderobe. Kräftige Mahlzeiten. Guter, möglichst importierter Wein. Das Bier kühl, aber nicht kalt. Tägliches Erscheinen eines Friseurs. Hin und wieder eine Zeitung. Nachmittags Tee oder Kaffee. Zutaten befänden sich im Gepäck, falls sie hier nicht vorrätig wären. Eine Magd habe zu erscheinen, die ihm das Auspacken und Ordnen seiner Sachen besorge. Schleunigst müsse jemand nach Notenpapier, einfachem Schreibpapier, Federn geschickt werden, diese Dinge habe er durch verschiedene Umstände eingebüßt. Er stockte, es fehlte noch etwas, das er zum Schreiben benötigte. Es fing an, wie es im Rotthschen Haus aufgehört hatte. Ihm fehlten immer öfter die Worte. Er formte aus den Händen ein Gefäß und sagte: »Inkpot!« Der Wirt hatte aufgepasst und meldete: »Tinte«. Händel begann zu lachen. Richtig. Tinte. So ein einfaches Wort, dachte er. Aber es fehlt schon. Für Sekunden war ihm, als rückten Mauern auf ihn zu. Er drehte sich weg und schritt würdevoll durch die vom Hausknecht aufgehaltene Tür.

2. Kapitel

Am gleichen Tag, kurz nach dem Mittagsläuten. Händel bei einem Diner. Zuerst Gemüsesuppe, dann Schweinebraten mit Kohl. Dazu Roggenbrot und Braunbier. Von allem reichlich. Der Wirt hatte ihm angeboten, das Essen auf dem Zimmer servieren zu lassen. Bei besonderen Gästen wäre das eine Gepflogenheit des Hauses. Obwohl er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, allein zu essen, verlangte er für die Dauer seines Aufenthaltes nicht mehr als einen separaten Tisch in der Schankstube. Er spürte das Bedürfnis, unter Menschen zu sein, sie zu sehen und zu hören. Nach dem bedrückenden Morgen mit den trübseligen Gedanken erschien ihm das als gutes Omen. »Nichts ist mit der Wärme zu vergleichen, die von einem gut gefüllten Magen aufsteigt«, sagte er zu dem Wirt, der noch mehr Bier bringen musste. Der Mann stimmte eifrig zu und polierte die Tischplatte.

Ich hätte nicht ohne Begleitung fahren sollen. Sie grinsen, lächeln, nicken und schweigen. Ich verstehe sie nicht. Gleichgültig bin ich ihnen allen. Dem Wirt und den Rotths. Ein gut zahlender Gast. Ein berühmter, aber entfernter Verwandter. Die brauchen weder mich noch meine Musik. Niederschmetternd, aber wahr. Hausarbeit, Ackerbau und Viehzucht, Schifffahrt, Liebesverhältnisse, Ehen, Geburt und Tod - alles geht vonstatten auch ohne die Opern, Oratorien und Anthems eines Georg Friedrich Händel, aus dem in London ein George Frederic Handel, Esquire, geworden ist. Esquire! In Halle ein Dickwanst, der nach den unbekömmlichen Mahlzeiten im Hause Rotth, von Magenschmerzen gepeinigt, im Laufschritt auf den Hof stürzte. Wahrscheinlich zum Gaudium von Herrschaft und Personal.

»Nicht jammern, Händel«, sagte er in den irdenen Krug hinein. »Stand round, my brave boys«. Für solche Anwandlungen gab es Trost. Er konnte sich Erinnerungen wie Bilder heraufrufen und sah, wie sich Hunderte in London drängten, um seine Musik zu hören. Er hörte das Wutgeheul der Abgewiesenen. Wer das Eintrittsgeld nicht zahlen kann, bleibt draußen. Tickets ... at half a Guinea each. Darunter wurde keine Taste gerührt, wenn es nicht gerade ein Benefizkonzert war. In London musste man seinen Wert kennen, wenn man nicht hoffnungslos untergehen wollte. Arme und invalide Musiker gab es mehr als genug. In Albträumen sah er sich manchmal als blinder Bettler vor seinem eigenen Haus. Essengerüche drangen heraus und das Gelärme Tafelnder. Die Tür öffnete sich nicht, soviel er auch pochte. Sie war glatt und hart und ohne Klinke. Solche Gedankengespenster schienen sich besonders gut aus der dunstigen Luft Halles formen zu lassen. London war viel nebliger. Davon hatte der Magister gern geredet, der Zuhörer, keinen Gesprächspartner brauchte. Der war noch nie im Ausland gewesen, meinte aber, in Halle gehe es vielleicht im Vergleich zur Weltstadt London (das mit abfälliger Betonung gesagt) weniger freizügig, dafür um so gebührlicher zu. Es wäre ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil, wenn man nicht ständig fürchten müsse, überfallen, ausgeraubt, niedergeschlagen, betrogen oder vergewaltigt zu werden. Seine Einwendungen, dass dies Randerscheinungen seien, Auswüchse einer hierzulande unbekannten und unerreichten Freiheit, waren an den Rotths abgeprallt. Sie hatten die Journale gelesen, Berichte von Reisenden gehört. Besonders eifrig war die junge Frau gewesen. Er hatte sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren können, sie betäube damit eine Sehnsucht, ihre Wünsche und Träume.

Schon wieder denke ich an sie. Die Namen! Wie hieß sie nur? Es muss mir endlich einfallen. Ihre Brüste streiften mich manchmal, wenn sie sich über den Tisch beugte, um die Kerzen anzuzünden.

Diese Erinnerung erregte ihn mehr als vor einigen Tagen die Anwesenheit der Frau. Nicht einmal das Zurückdenken an das immer fade Essen, die meist ebenso schalen Tischgespräche oder an den Abend, als sie ihm bei saurem Saalewein seine Arie »Mi restano le lagrime« vorgeträllert hatten, konnte die plötzliche und deutliche Erregung dämpfen. Es war offenbar eine zynische Tatsache seiner Reise, dass ihm Alterserscheinungen immer mehr zusetzten, während er gleichzeitig wieder zu fast jünglingshaften erotischen Wünschen fähig war. Es wurde so schlimm, dass er nicht vom Tisch aufstehen konnte. Obwohl er gern vorgab, gegen Spott und Sticheleien unempfindlich zu sein, fürchtete er doch insgeheim das allgemeine Gelächter auf seine Kosten. Auch mit fünfundsechzig Jahren und nach Sturzfluten von Schmähungen, Hetzreden und gemeinen Karikaturen, die sich in London schon über ihn ergossen hatten. Er versuchte sich abzulenken, überlegte, wo die Rotths hier in Halle die Noten seiner »Alcina« aufgetrieben haben mochten. An jenem Abend war es ihm völlig gleichgültig gewesen. Auch, dass im Verhalten der beiden etwas Rührendes lag. Ihn hatte das Eingeständnis Christian Augusts erstarren lassen, dass diese Oper zwar mit wundervoller Musik ausgestattet sei, es ihm jedoch erst bei den Märschen der preußischen Grenadiere richtig warm ums Herz werde. Händel dampfte jetzt auch, die innerliche Hitze stieg zu Kopfe. Der exaltierte Zustand ging in Luftknappheit über. Trotzdem stopfte er sich eine Pfeife und begann zu rauchen. Er war glücklich, dass er zu so viel Erregung noch imstande war, er fühlte sich, als hätte er während einer Opernaufführung am Cembalo gesessen und sich von der Gewalt der Musik und der Stimmen aufreizen lassen. Tabakrauch und Musik umwallten ihn. Erst nach geraumer Zeit drangen wieder andere Geräusche in sein Bewusstsein. Am Ecktisch zechten Studenten. Sie hatten sich Branntwein kommen lassen und tranken schnell. Händel störte es, dass sie den Schnaps hinuntergossen, um betrunken zu werden. Allenthalben war er in diesem Land auf Menschen getroffen, die sich dieser stumpfsinnigen Art und Weise des Saufens hingaben. Es mangelte in allen Schichten an Genussfähigkeit. Die Studenten ließen die Flasche kreisen und begannen zu lamentieren. Händel erkannte es am Tonfall, der wehleidig und aggressiv zugleich war. Nur mit Mühe konnte er der Unterhaltung der jungen Leute folgen, ihre Ausdrucksweise war ihm fremd. Immerhin konnte er Bruchstücke aufschnappen: Die hohen Steuern. Die Dickfelligkeit der Professoren. Die allgemeine Frömmelei. Die Teuerung bei nachlassender Qualität der Waren. Das infame Verhalten der Militärs. Das dürftige Angebot an Büchern hier am Rande des Königreiches. In Sachsen lebe es sich besser. Freier und lustiger. Aber in Preußen. Ein Jammer. Nur dünner Schnaps und Bravheit überall. Mit der nächsten Lage begannen die politischen Witze und Sauigeleien. Händel verstand nur Friedrich, Preußen, Habsburg, Maria Theresia, Flötenspiel. Dann versank alles in Gejohl. Um nicht aufs Neue in Traurigkeit über das Nachlassen seiner Sinneskräfte zu verfallen, formte er sich aus den Stimmen, dem Schreien und dem Gläserklingen eine Melodie. Das gelang. Sie gefiel ihm so gut, dass er sie sogar notieren wollte. Wer konnte wissen, ob sie nicht demnächst zu verwenden wäre.

Komponieren, ich muss komponieren. As soon as possible. Sofort anfangen, den klaren Blick ausnutzen. Was sonst bleibt mir übrig? Hoffnung muss ich mir schon selbst machen, das nimmt mir keiner ab. Das ist im Alter der Preis für ein unabhängiges Leben.

Er rief den Wirt, erkundigte sich nach dem bestellten Schreibzeug, wobei er das Wort »Tinte« betonte, um überwundene Sprachschwierigkeiten zu demonstrieren. Der Wirt grinste, pfiff nach dem Knecht, schrie ihm den Befehl des gnädigen Herrn zu. Die Studenten sprangen daraufhin auf, warfen Geld auf den Tisch und verließen fluchtartig den Schankraum. Dieses Verhalten begriff Händel erst nach einer Weile, er hatte mit seinen Notizen schon angefangen.

Zuerst amüsierte es ihn, dass man ausgerechnet ihn für einen bezahlten Lauscher gehalten hatte. Jäh dann der Umschlag des Lachens in Wut. Er knirschte mit den Zähnen.

Ich habe in London wahrscheinlich mehr als nur ein paar deutsche Wörter und Wendungen vergessen. Ich bin Ausländer geworden. Endgültig.

Stumpf brütend saß er vor dem Bierkrug. Die Pfeife schmeckte nach verbranntem Perückenhaar. Verflogen die Hochstimmung. Vergessen die Tatsache, dass in London jede Partei, jede Person, die sich für bedeutend hielt und reich genug war, ihre Spitzel ausschickte. Er fühlte, wie der Hass gegen Halle wieder aufbrodelte.

Was will ich denn hier? Ich sollte zurückfahren. Meine Zeit ist kostbar. Ich sollte zurückfahren. Ich sollte zurückfahren.

In diesem Rhythmus trampelte er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Den Zettel mit seiner Musik zerkrümelte er dabei.

3. Kapitel

Die diesem Tag folgende Nacht. Händel allein in seinem Herbergszimmer. Die Fenster mit weißen Tüchern verhängt. Er dachte über die Stille in Halle nach. Sie erschien ihm hier noch bedrückender als im Rotthschen Hause. Das Hotel befand sich in der Mitte der Stadt, aber davon war nichts zu spüren. Nur das gellende Abendläuten, die Schritte einer Militärpatrouille, selten das Geräusch vorbeifahrender Kutschen. Wieder quälte ihn die Sehnsucht nach dem Londoner Lärmgetümmel. Er war es nicht gewohnt, Einsamkeit und Ruhe als etwas Bedrückendes zu erfahren. Er überlegte, ob es ein Zufall sein konnte, dass es ihm ausgerechnet in Halle zum ersten Mal geschah.

Vielleicht hat es mich dermaßen dringlich hergezogen, weil ich etwas meinen Erfahrungen hinzufügen musste. Einsichten und Erkenntnisse, die einem nur kommen können, wo man einst seinen Lebensweg begann. Ausgerechnet in Halle? Städte können einen umbringen. Halle hätte mich in meiner Jugend getötet, wenn ich geblieben wäre. Jetzt, an der Schwelle des Alters, geht vielleicht Gefahr von London aus. Die Gefahr, zuerst seelisch, dann körperlich blind zu werden.

Wieder war er bei diesen von unklaren Befürchtungen durchsetzten Gedanken. Dennoch fühlte er sich gelöst. Er schrieb es der Wirkung des Bades zu. Fast eine Stunde lang hatte er nach dem sinnlos verdösten Nachmittag in einem großen Bottich gesessen. Zuerst kühles, zum Schluss kaltes Wasser. Das beste Mittel gegen allerlei Gedankenspuk und Zwangsvorstellungen. Dem unguten Gefühl in der Herzgegend zum Trotz musste der Hausknecht Eimer auf Eimer hereintragen und ihn mit Schwung begießen. Vor Kälte zitternd und mit prickelnder Haut hatte er sich endlich in vorgewärmte Tücher wickeln lassen. Wohlige Gefühle hatten ihn überflutet, die schnell in Sentimentalität umgeschlagen waren. Allen Ernstes hatte er sich eingeredet, dass von den Leinentüchern ein Geruch ausgehe, von dem er sich an seine Mutter erinnert fühlen müsste. Sogar ein Bild war vor ihm aufgetaucht: eine Frau mit einem frisch gebadeten, lächelnden Kind auf dem Arm. Warmes Sonnenlicht dazu. Fröhliche Gesichter. Das Aneinanderschmiegen. Wärmende Geborgenheit. Er hatte dergleichen Szenen gesehen. In Familien, deren Gast er gewesen war, mochte sich vor seinen Augen so etwas abgespielt haben. Es waren Bilder. An seine frühe Zeit hatte er kaum Erinnerungen. Versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, sah er endlose graue Streifen, die aus dem Hinterkopf aufzutauchen schienen. Die Schlaganfälle, die nervlichen Zusammenbrüche, das Herauspressen der Musik, all das musste vieles ausgelöscht haben. Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten waren der Rest. Blitzte doch einmal etwas auf wie am Vormittag, als er Maria Sophia Rotth gegenüberstand, war das ein Glückstreffer. Erschrocken konstatierte er, dass aus dem von ihm vermuteten Nichts die Vornamen der Madame aufgetaucht waren, die er einen Tag lang vergeblich und mit an Verzweiflung grenzendem Eifer gesucht hatte. Eine bedrückende Vision, künftig auf derartige Zufälle mehr und mehr angewiesen zu sein. Dazu kam das Problem, wie Gerettetes zu registrieren und festzuhalten wäre.

Ich sollte ein Tagebuch der Erinnerungen anlegen. Eine Arbeit leisten, bevor alles in Dunkelheit und endlose Nacht versinkt. Ganz ruhig kann ich das denken. Gewöhne ich mich langsam an Ungeheuerlichkeiten? Es ist immerhin mein Leben, das in Splitter zerstoben ist unter der Gewalt der Zeit.