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Inhalt

KAPITEL 1

Transformation in eine »postkarbone Gesellschaft«

KAPITEL 2

Die Fortschreibung heutiger Energiesysteme ist nicht nachhaltig

2.1 Großstrukturen und Versorgungssicherheit

2.2 Fossile Energieträger

2.3 Energiestrukturen in Entwicklungs- und Schwellenländern

2.4 Risiken heutiger Energiesysteme

Klimawandel

Ressourcenknappheit

Nuklearisierung

KAPITEL 3

Was ein modernes Energiesystem ausmacht

3.1 Gerechtigkeit im Ressourcen- und Umweltraum

Energie – ein öffentliches Gut

Die »wahren« Kosten von Energie

Entwicklungsfaktor Energie

3.2 Die Modelle der Zukunft

Kontraktion und Konvergenz

Die Vision der 2.000-Watt-pro-Kopf-Gesellschaft

Effizienz, qualitatives Wachstum und Konsistenz

3.3 Wie lassen sich die richtigen Wege finden?

Szenarien

Globale Energierevolution

KAPITEL 4

Technologien für Nachhaltigkeit

4.1 Solarstrahlung

Photovoltaische Stromerzeugung

Solarthermische Wärmebereitstellung

Solarthermische Kraftwerke

4.2 Windenergie

4.3 Geothermie

Oberflächennahe Geothermie

Tiefengeothermie zur Wärmenutzung

Tiefengeothermie zur Stromerzeugung

4.4 Biomasse

4.5 Wasserkraft

4.6 Meeresenergie

4.7 Nutzungsstand der erneuerbaren Energien

4.8 Potenziale der Erneuerbaren

4.9 Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und ihre Potenziale

KAPITEL 5

Das Energieproblem in Entwicklungsländern

5.1 Subventionen – wirksames, aber gefährliches Politikinstrument

5.2 Energieproduktivität

5.3 Externe Kosten

5.4 Energie und Entwicklung

5.5 Energie und Armut

5.6 Energie und Gesundheit

5.7 Landflucht und Ballungsräume

5.8 Bildungs- und Entwicklungschancen für Frauen und Kinder

5.9 Entwicklung ermöglichen

KAPITEL 6

Lösungsansätze für Entwicklungsländer

6.1 Anforderungen an die Energieversorgung der Zukunft

Ressourcenschonung

Umwelt- und Klimaverträglichkeit

Umfassende Wirtschaftlichkeit

Bedarfsgerechte Versorgung

Dauerhafte Versorgungssicherheit

Internationale Verträglichkeit

6.2 Erneuerbare Energien und Energieeffizienz

6.3 Dezentrale Versorgung und zentrale Stromerzeugung auf Basis der Erneuerbaren

6.4 Umsetzungsoptionen

Globale Partnerschaften für nachhaltige Energieversorgung

Erneuerbare Energien für ländliche Entwicklung

Herausforderung Megastädte

6.5 Impulse für nachhaltige Entwicklung

Beitrag zur nationalen Wertschöpfung

Erneuerbare Energien und Armutsbekämpfung

Bedeutung erneuerbarer Energien für mehr Geschlechtergerechtigkeit

KAPITEL 7

Große Herausforderungen – neue Chancen für Enwicklungsländer

7.1 Barrieren für Erneuerbare und Energieeffizienz

Technische Barrieren

Wissens-, Kapazitäts- und Wahrnehmungsdefizite

Institutionelle und politische Barrieren

Finanzielle und wirtschaftliche Hemmnisse

7.2 Instrumente

Schaffung eines funktionierenden Energiemarktes

Förderung internationaler Zusammenarbeit

Zugang zu moderner Energie in ländlichen Regionen

Verbesserung der Endenergieeffizienz

Aufbau von lokalen Kapazitäten

Förderung von Innovationen im Energiesektor

7.3 Institutionen globaler Energiepolitik

Internationale Energieagentur (IEA)

IRENA

Klimarahmenkonvention

UN-Organisationen

Deutsche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit

GEF

Weltbank und IFC

Europäische Union

World Energy Council (WEC)

KAPITEL 8

Fazit

ANHANG

Glossar

Literaturverzeichnis

Kurzinfo zu den Autoren

Peter Hennicke, Susanne Bodach

EnergieREVOLUTION

Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien als globale Herausforderung

unter Mitarbeit von
Nikolaus Supersberger und Dorle Riechert

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Mehr Informationen finden Sie unter www.oekom.de/ueber-uns/nachhaltigkeit-bei-oekom/klimaneutraler-verlag.html

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


© 2010 oekom, München

oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH

Waltherstraße 29, 80337 München

Korrektorat: Gotlind Blechschmidt

Umschlaggestaltung: Sarah Schneider

Titelbild: Fotolia, Joerg Vollmer

Alle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-86581-381-7

KAPITEL 1

Transformation in eine »postkarbone Gesellschaft«

Dieses Buch folgt einer Dramaturgie, wie sie für einen Kriminalroman tödlich wäre: Opfer, Täter und der versöhnliche Ausgang werden gleich im ersten Kapitel vorgestellt. Das hat hier einen einfachen Grund: Im Energiesystem und beim Klima- und Ressourcenschutz sind die Zusammenhänge so komplex und teilweise auch so niederschmetternd, dass aus unserer Sicht den Leserinnen und Lesern besser von Anfang an zusammenfassend vermittelt werden sollte, wohin sie geführt werden, ehe das Buch in die notwendige Differenzierung einsteigt.

Der aufrüttelnde Titel eines im Jahr 2009 publizierten sozialwissenschaftlichen Buches zum Klimawandel lautet: »Das Ende der Welt – wie wir sie kannten.1« Für kaum einen gesellschaftlichen Bereich trifft diese Formulierung so sehr ins Schwarze wie für das weltweite Energiesystem mit seinen Folgen. Und das imdoppelten Sinn: »Weiter so« in die Katastrophe oder »Aufbruch« in eine nachhaltige Energiewelt, so lauten die energiepolitischen Alternativen, die beide die Welt, wie wir sie kannten, grundlegend verändern werden. Beide Wege sind heute möglich und mit ihnen geht die »alte Energiewelt« entweder in Trümmer oder mit neuer Hoffnung zu Ende.


Die energiepolitischen Alternativen, die die Welt verändern


Bleibt das Energiesystembeimderzeitigen Trend des »business as usual«, dann werden wir schon in 30 Jahren in einer Welt leben, wie wir sie uns bisher nur in Albträumen vorstellen konnten. Denn der bis 2030 im Trend weiteransteigende Einsatz fossiler und nuklearer Energieträger (vgl. IEA/WEO 2008) bedeutet: dramatischer Klimawandel, latente Ressourcenkriege, drohende zivile undmilitärische Nuklearkatastrophen. Diese nicht nachhaltige Entwicklung wäre der »harte Pfad«.

Demgegenüber steht seit Jahrzehnten die Vision eines dezentralen »sanften Pfades«2, in dem das Energiesystem natur- und sozial verträglich umgebaut wird. »Dezentral« meint hier: ökologisch und sozial verträglich, Risikominimierend, unabhängiger von Konzernmacht, förderlich für Innovationen, Wettbewerb und Demokratie sowie für den Zugang zu Energie im Süden – ein Beitrag zur Armutsbekämpfung.

Heute sind die Konturen dieser Vision bereits in einigen Regionen der Welt so sichtbar, dass es vorstellbar wird, dass die Menschheit bis zur Jahrhundertmitte tatsächlich das Ende der bedrohlichen Energiewelt, wie wir sie heute kennen, erleben könnte. Allerdings muss die Alternative »dezentral« oder »zentral« zukünftig neu gedacht werden. Zutreffender sollte es heißen »effizient und erneuerbar« oder »ineffizient und fossil-nuklear «. Denn großtechnische Stromerzeugungstechnologien mit Solar- und Geothermie oder Offshorewindparks basieren zwar auf erneuerbaren Energiequellen, können aber schwerlich als dezentral bezeichnet werden. Dennoch sind ihre Risiken so unvergleichlich geringer und ihre langfristigen Erfolgsaussichten so viel größer als bei fossil-nuklearer Energieerzeugung, dass ihre Zuordnung zum sanften Pfad gut begründet werden kann.


Dezentral – zentral?


Viele Analysen beschäftigen sich entweder mit den Energiesystemen im reichen Norden oder im armen Süden. Doch werden die globalen Abhängigkeiten in dieser Welt sowie Fragen der Macht und Ohnmacht von Ländern, Völkern und Unternehmenmaßgeblich von der Verfügungsgewalt über Energieträger bestimmt. Eine »Systemrevolution« wäre insofern kaum isoliert zu denken.


Blick auf die globale Energiewelt


Generell wirft das Buch den Blick auf eine globale Energiewelt, aber über die Chancen einer natur- und menschenverträglicheren Form der Globalisierung und über den sanften Pfad wird wesentlich auch lokal und regional entschieden. Es sind die unzähligen guten Beispiele und Projekte vor Ort, das gewaltige und kostengünstige Potenzial der Energieeffizienz und die Macht des Energiesparens sowie die ungeheure Vielfalt und Dynamik der erneuerbaren Energien, die aus der ehemaligen Utopie heute einen gangbaren sanften Pfad erkennen lassen. Die meisten dieser vielversprechenden Optionen für den Klima- und Ressourcenschutz haben einen ortsnahen Bezug. Und das gilt für den reichen Norden wie für den armen Süden. Immer wieder geht die Kraft der Veränderung von »Graswurzel«-Bewegungen oder von Akteuren dezentraler Infrastrukturen (wie z.B. Stadtwerke in Deutschland) aus, häufig sind regionale oder auch nationale politische und technologische Innovationen die Treiber globaler Entwicklungen hin zum sanften Pfad. Damit bekommt ein altes Motto eine neue Bedeutung: »Lokal handeln, umglobal zu verändern.« Es wird kein erfolgreiches weltweites Klimaschutzregime geben, wenn nicht durch lokale, regionale und nationale Beispiele demonstriert wird, dass ambitionierter Klimaschutz gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nicht hemmt, sondern im Gegenteil fördert.

Insofern kann die Analyse der Perspektiven eines nachhaltigen Weltenergiesystems auch unter die Überschrift der »gemeinsamen, aber differenzierten Herausforderungen«3 von reichen Ländern des Nordens und armen Ländern des Südens gestellt werden. Gemeint sind damit die folgenden, in diesem Buch näher ausgeführten Eckpunkte und Zielperspektiven eines nachhaltigen Weltenergiesystems:

Reiche Industrieländer müssen ihr Wirtschaftswachstum absolut vom Energieverbrauch abkoppeln, das heißt, ihren Pro-Kopf-Energieverbrauch bei gleichzeitiger Steigerung wirklicher Lebensqualität etwa auf ein Drittel senken.4 Das ist neben einer drastischen Steigerung der Energieeffizienz (»Effizienzrevolution«) und des Marktanteils erneuerbarer Energien nur möglich, wenn sich nachhaltigere Produktions- und Konsummuster sowie zukunftsfähigere (»subsistente«) Lebensstile durchsetzen. Selektives (»qualitatives«) Wachstum muss generiert werden, indem grüne Leitmärkte forciert aus- und Risikomärkte (z.B. fossil, nuklear) zurückgebaut werden.


Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum entkoppeln


Entwicklungs- und Schwellenländer sollten »von Anfang an« – imwohlverstandenen Eigeninteresse – ihre Zuwachsraten beim Energieverbrauch durch Nutzung von möglichst modernen Effizienztechniken reduzieren (»relative Entkopplung«) und bei der Hebung des Lebensstandards, der ländlichen Elektrifizierung und Armutsbekämpfung möglichst nachhaltige Produktions- und Konsummuster unterstützen. Die unmittelbare Kombinationmodernster Effizienztechnikmit erneuerbaren Energien inmöglichst vielen Projekten (z.B. Gebäuden, Gemeinden, Regionen) ist dabei ein Schlüssel, um unnötig energieintensive Entwicklungsetappen und Fehlentwicklungen der heutigen Industrieländer zu vermeiden und nachhaltige Entwicklungsmuster anzustoßen (z.B. LED-Beleuchtung mit Solarenergie; Handys statt Festnetztelefonie; Niedrigenergiehäuser statt scheinbaren Billigbau). Entwicklungsökonomen vergleichen dieses »Überspringen« von überholten Technologiemustern anschaulich mit Froschhüpfen (Leapfrogging).

Bliebe es allerdings bei diesen nur schwer gemeinsam lösbaren differenzierten Herausforderungen, wäre eine dauerhafte Technologie- und Klimaschutzpartnerschaft von Industrie- und Entwicklungsländern »auf gleicher Augenhöhe« schwierig herstellbar. Es kommt daher darauf an, beginnend mit den Inhalten des Ausbildungssystems bis hin zu den technologischen, politischen und sozialen Innovationen, gemeinsame Lösungswege für Nord und Süd zu konzipieren und mit Technologie-, Kapital- und Know-how-Transfer vom Norden in den Süden wirklich glaubwürdig zu unterstützen.


Gemeinsame Lösungswege


Gemeinsam ist vielen Ländern im Norden wie im Süden, dass

  1. ein nachhaltiges Energiesystem auf einem robusten technologischen Korridor, nämlich auf den »drei grünen Säulen« – rationelle Energienutzung, Kraft-Wärme-/Kälte-Kopplung und erneuerbare Energien – aufgebaut werden muss,
  2. keine Pfadabhängigkeiten durch spezielle Großtechniken und fossil-nukleare Primärenergiestrukturen geschaffen werden dürfen, von denen absehbar ist, dass sie aus Gründen des Klima- und Ressourcenschutzes oder der sozialen Akzeptanz nicht von Bestand sein werden,
  3. der institutionelle Wandel im Energiesystem in Richtung mehr Dezentralisierung, Liberalisierung und Demokratisierung vorangetrieben werden muss,
  4. nicht nur die Energieproduktivität, sondern die allgemeine Ressourcenproduktivität (inkl. sämtlicher biotischer und abiotischer Rohstoffe) drastisch gesteigert werden muss und nicht zuletzt,
  5. dass Energieunternehmen durch staatliche Leitplanken von »perfekten Externalisierungsmaschinen« in sozial und ökologisch verantwortliche Unternehmen umgesteuert werden müssen.

Gerade der letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit – im Norden wie im Süden. Keinem Industriezweig der Welt wird ein derartiges Ausmaß an Überwälzung von Kosten auf die Um-, Mit- und Nachwelt wie dem fossil-nuklearen Energiekomplex zugestanden, also allen Unternehmen, die direkt oder indirekt von der überwiegenden Herstellung oder Nutzung fossiler oder nuklearer Produkte und Dienstleistungen profitieren.

Zwar übernehmen auch Energiekonzerne unter öffentlichem Druck und durch neue staatliche Rahmenbedingungen inzwischen mehr Produktverantwortung. Aber die weltgesellschaftlichen Kosten für die Übernutzung der Atmosphäre als CO2-Müllkippe oder für die Versicherung exorbitanter Risiken des Brennstoffzyklus (große Nuklearunfälle bis hin zur sicheren Atommülldeponierung über Jahrtausende) werden bisher nur marginal in die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung und Strompreise internalisiert. Denn würde dies für Atom- und Kohlestrom durch eine staatliche Steuer, Abgabe oder ein mutiges Cap-and-Trade-Zertifikatesystem erzwungen,5 wäre die erneuerbare Stromerzeugung längst wettbewerbsfähig und die Energieeffizienzrevolution fände weniger in Politikerreden als in der Realität statt.

Der amerikanische Professor Mitchell hat für diesen im fossil-nuklearen Energiekomplex dominanten Unternehmenstyp zutreffend den oben zitierten Begriff der »perfekten Exernalisierungsmaschine« geprägt.6 Die akademische Formulierung von Sir Nicholas Stern, »der Klimawandel ist das größte und weitreichendste Marktversagen, das es je gegeben hat«,7 bekommt erst dann ihre industrie- und gesellschaftspolitische Brisanz, wenn Ross und Reiter bei den Verursachern klar benannt und zu gesellschaftlicher Verantwortlichkeit angehalten werden.


Ross und Reiter nennen


Mit »Manchmal könnte ich schreien« wurde das bemerkenswerte Interview mit Joachim Schellnhuber in der ZEIT (26. 3. 2009) überschrieben. Angesichts der sich häufenden wissenschaftlichen Belege über eine Beschleunigung des Klimawandels und dessen bisher unterschätzte Folgen (z.B. Abschmelzen der Polkappen, sogenannte Kippmomente; siehe auch Kapitel2/Klimawandel), werden viele Experten, Autor und Autorin dieses Buchs eingeschlossen, sich diesem stillen Aufschrei anschließen. Der dennoch besorgt-optimistische Tenor dieses Buchs speist sich aus der Erkenntnis, dass nicht nur die Strategien und Technologien für einen angemessenen Klima- und Ressourcenschutz inzwischen bekannt sind, sondern auch im Kleinen schon millionenfach praktiziert werden.

Ein bedeutender wissenschaftlicher Beleg für diese These sei hier vorangestellt: Wissenschaftler der Princeton University haben im Jahr 2004 ihren umfassenden Überblick über die technischen und ökonomischen Klimaschutzstrategienmit demüberaus optimistischen Satz zusammengefasst: »Die Menschheit kann in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts das Kohlenstoff- und Klimaproblem lösen, in dem wir nur das hochskalieren, was wir schon heute zu tun wissen (›simply by scaling up what we already know to do‹).«8


»scaling up what we already know to do«


Dieser Leitsatz – auf Industrie- und Entwicklungsländer bezogen – durchzieht dieses Buch von Anfang bis zum Ende und darin unterscheidet es sich auch von der Vielzahl vorliegender Bücher zu Energiefragen. Die Zukunftsanalyse des Buches schautmit Szenarien – dembestmöglichen wissenschaftlichen Instrument – in die Zukunft. Szenarien bilden technischwirtschaftlich mögliche zukünftige Energiesysteme unter »Wenn-dann-Bedingungen« ab, beanspruchen aber nicht, dass die Realität tatsächlich in diese Richtung steuert. Es geht also nicht um mögliche gesellschaftspolitische Überraschungen, die die Zukunft für uns sicherlich bereithält (z.B. erneute Finanz- und Wirtschaftskrisen oder Kriege), es geht nicht um das Ausmalen von Katastrophengemälden und auch nicht um denkbare neue Durchbrüche bei der Klimaschutztechnik, z.B. bei der Wasserstoffwirtschaft oder einem nachhaltigen Mobilitätsmodell auf vollständig erneuerbarer Basis. Hinsichtlich großtechnischer Visionen beschäftigt sich das Buch z.B. nicht mit der Kernfusion, weil sich Befürworter und Gegner in dem Punkt einig sind, dass die Stromerzeugung durch Kernfusion bis 2030 als Beitrag zu Klima- und Ressourcenschutz irrelevant ist.

Der Anspruch des Buches ist vielmehr, die kühne Behauptung von Pacala und Sokolow zu verstehen. Was könnte es heißen, dass die Menschheit nur hochskalierenmuss, was sie ohnehin in vielen Bereichen beim Klimaschutz schon heute weiß und tut? Dieses Buch ist dabei kritischer als Pacala/Sokolow in der Bewertung des Hochskalierens von Atomenergie, weil dies dem Globalziel der Risikominimierung widerspricht. Denn warum sollten Problemverlagerung (vom Klima- zum Atomproblem?) oder auch Risikostreuung (nur ein Mix mit Atomenergie ist zielführend?) akzeptiert werden, solange es ausreichende und bessere Alternativen zum Klima- und Ressourcenschutz gibt?


Problemverlagerung und Risikostreuung nicht zielführend


Für die Reduktion von CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger –Hauptursache des anthropogenen Klimawandels – kommen prinzipiell vier bekannte technologische Optionen in Betracht:

  1. Die Steigerung der Umwandlungs- und Nutzungseffizienz,
  2. der Einsatz erneuerbarer Energien,
  3. die Nutzung weniger klimawirksamer Energieträger (z.B. Erdgas oder auch Uran) und
  4. die CO2-Sequestrierung (CCS: Carbon Capture and Storage).

Pacala/Socolow entwickeln aus diesen Optionen 15 Strategien (»wedges«), die jeweils eine Milliarde Tonnen CO2 bis 2055 vermeiden helfen und damit in der Summe ausreichen, einen deutlichen Trendwechsel und eine Dynamik zu ausreichendem Klima- und Ressourcenschutz einzuleiten. Derartige zielorientierte Technologiestrategien könnten skeptische Manager und Politiker zum Handeln motivieren und die Klimadiplomatie durch zielorientierte Technologieprogramme in Schwung bringen. Aber das Hauptproblem ist nicht die Technik, sondern das nur scheinbar einfache Hochskalieren (»simply by scaling up«); zumal Pacala/Socolow das Potenzial risikoarmer technischer Optionen (z.B. die Energieeffizienz) keineswegs ausschöpfen und stattdessen eine Risikoverlagerung (z.B. zur Kernenergie) als Option zulassen.


Mehr Chancen als Risiken durch Klimaschutz


Heute kann kaum noch bestritten werden, dass ein durch aktiven Klimaschutz staatlich forcierter Strukturwandel wirtschaftlich weit mehr Chancen als Risiken impliziert.9 Insbesondere der Stern-Report von 2006 hat eine erstaunliche Kehrtwendung der herrschenden Nutzen-Kosten-Analysen des Klimaschutzes eingeleitet. Vermutlich auch in Hinblick auf die für den Klimaschutz entscheidenden Jahre 2009 (Klimakonferenz in Kopenhagen) bis 2010/11 (Last-Minute-Einigung der Weltgemeinschaft auf wirklich durchgreifenden Klimaschutz!) hat eine förmliche Explosion von Studien und Analysen über eine prinzipiell positive Verbindung von Klimaschutz und wirtschaftlicher Entwicklung eingesetzt.10

Das neoliberale Credo »Ambitionierter Klimaschutz ist zu teuer, senkt den Lebensstandard und bedroht die Wettbewerbsfähigkeit« wurde so schnell und gründlich über Bord geworfen, dass heute eine andere Warnung angebracht scheint: Aus manchen Studien wird nicht klar, ob der Staat als zögernder Klimaschutzakteur exkulpiert oder ermutigt werden soll. So zeigt z.B. die Weltanalyse von McKinsey, dass 20 bis30 Milliarden Tonnen CO2e bis 203011 »profitabel« vermieden werden können, sofern die Kosten pro emittierte Tonne auf 60 Euro ansteigen. Die einzige Aufgabe der Staaten bestünde dann darin, ein weltweites Cap-and-Trade-Zertifikatesystemdurchzusetzen und die noch erlaubte Menge (»cap«) freigesetzter Emissionen so drastisch zu begrenzen, dass sich dieser Preis einstellt. Ob und gegebenenfalls wann es ein weltweites Zertifikatesystem mit dieser Wirksamkeit gibt, ist offen. Soll sich die Welt bis dahin mit steigenden CO2-Emissionen abfinden? Offenbar kann ein Zertifikatesystem nur ein, allerdings wichtiger Teil eines heute höchst dringlichen Policy Mix für verstärkte Klimapolitik sein.

Die weltweite Einigung auf wirksame Politiken ist auch deshalb schwierig und langwierig, weil Klimaschutzpolitik wegen der drastischen sektoralen, internationalen und intergenerationellen Verteilungseffekte keineswegs »einfach« umgesetzt werden kann. Es handelt sich vielmehr um revolutionäre Veränderungen im Denken und Handeln und um neue Prioritätensetzung – vor allem von Politik und Wirtschaft, aber auch bei Konsummustern und Lebensstilen. Denn es sind grundlegende Fragen politischer, ökonomischer und sozialer Natur, die gelöst werden müssen, damit das technische Scaling-Up möglich wird.


Neue Prioritätensetzung


Die Finanz- und Weltwirtschaftskrise bietet hier Chancen, weil sie nicht nur eine Pause des Anstiegs der CO2-Emissionen liefert, sondern auch eine Pause zum Nachdenken. Das wird wie in einem Brennglas deutlich, nachdemdie Finanzblase endlich geplatzt und wirkliche Wertschöpfung und die Realisierung gesellschaftlicher Ziele wieder auf die weltpolitische Tagesordnung gesetzt werden können. Durch die Finanz- und Weltwirtschaftskrise hat die Weltgesellschaft nun die Chance, nicht nur der Bereicherungsorgie im Kasinokapitalismus einen Riegel vorzuschieben. Denn die systemimmanent geförderte Gier von Finanzjongleuren ist noch nicht das bedrohlichste Problem. Die paranoide Selbstentmachtung der Politik, die fahrlässige Auslieferung von öffentlichen Gütern (»global commons«) an die scheinbar überlegene Allmacht entfesselter Märkte und die schleichende Aushöhlung von Grundwerten wie Solidarität und Gerechtigkeit sind viel gravierender. Wer die »Schlachtordnung« zwischen Arm und Reich, zwischen Groß und Klein oder zwischen Tätern und Opfern der internationalen Klimadiplomatie analysiert, wird zu dem ernüchternden Urteil kommen: Das Klimaproblem wird letztlich erst lösbar, wenn sich die Weltgesellschaft auf praktizierte Gerechtigkeit gegenüber der Weltbevölkerungsmehrheit in den Entwicklungs- und Schwellenländer verständigt.


Auslieferung öffentlicher Güter


Dann wird auch das technische Scaling-up tatsächlich einfach: Ein Blick in vorliegende Technologiestudien und Weltenergieszenarien zeigt, dass »Effizienz + Erneuerbare« in der Tat die einfachste und vom technischen Potenzial her prinzipiell ausreichende Formel für die Lösung des Klimaproblems darstellt. Die Analyse von Pacala und Socolow macht jedoch klar: Wenn das Scaling-up von Effizienz und Erneuerbaren weltweit nicht rechtzeitig und nicht umfassend genug praktiziert wird, dann braucht die Menschheit für den Klima- und Ressourcenschutz ein riskanteres Technologieportfolio. Zumindest einzelne Länder werden dann auch auf umstrittene Techniken wie die Atomenergie oder auf CCS zurückgreifen. Die Frage »Sind ausreichender Klimaschutz und Risikominimierung gemeinsam möglich?« spitzt sich also zu auf die Frage: »Wie viel Energieeffizienz und Erneuerbare sind bis zu welchem Zeitpunkt, in welchen Regionen undmit welchen ökonomischen und sozialen Implikationen tatsächlich realisierbar?«


Sind ausreichender Klimaschutz und Risikominimierung gemeinsam möglich?


In seiner Rede am 25. Oktober 2009 bei der Verleihung des Deutschen Umweltpreises hat Bundespräsident Köhler ausgeführt: »Wir müssen weg vom Öl. Wir brauchen einen neuen Antriebsstoff für unsere Volkswirtschaften. Wir müssen hin zu erneuerbaren Energien und zu viel mehr Energie- und Ressourceneffizienz. Dieser Wandel ist ökologisch notwendig, und er ist ökonomisch chancenreich (...) Es geht um nichts weniger als um die Transformation in eine ›postkarbone Gesellschaft‹ (...) Diese Transformation wird uns zu einer neuen, einer besseren Lebensqualität führen.« Es ist ermutigend, wenn heute der Bundespräsident die ökonomisch und ökologisch positive Perspektive eines sanften Energiepfads so auf den Punkt bringt. Vor dreißig Jahren glaubten die herrschende Wissenschaft und Politik das Öko-Institut für diese Vision noch an den Pranger realitätsferner Fantasterei stellen zu können. Heute zeigt sich: Die damaligen Kritiker waren die Fantasten.


Transformation in eine postkarbone Gesellschaft



1 Leggewie/Welzer 2009

2 Den Begriff hat Amory Lovins erstmalig in seinem visionären Artikel »Energy Strategy: The Road not taken?« (vgl. Lovins 1976) geprägt. Vgl. auch Lovins (1978). Das Öko-Institut hat dieses Konzept erstmalig für Deutschland quantifiziert; vgl. Krause et al. (1980).

3 »Common, but differentiated responsibilities« lautet ein Kernsatz der internationalen Klimadiplomatie, der die gemeinsame Bedrohung und Verursachung des Klimawandels betont, aber implizit auch auf die besondere Verantwortung und notwendige Führungsrolle der Industrieländer hinweist.

4Vgl. hier Kapitel 3 und die Ausführungen zur »2000-Watt-pro-Kopf-Gesellschaft«

5 Das Umweltbundesamt schätzt die externen Kosten der Stromerzeugung aus Braunkohle auf 8,7 cts/kWh und aus Steinkohle auf 6,8 cts/kWh; vgl. UBA 2007.

6 Mitchell (2002)

7 Stern (2006)

8 Pacala/Socolow (2004)

9 Vgl. Stern (2006) und Hennicke (2007)

10 Vgl. hierzu UBA (Hrsg.) 2009; ISI/Roland Berger (2009); McKinsey (2009); PIK et al. (2009); WWF/Prognos/Öko/Ziesing (2009); ADAM (EU27)

11 Im Jahr 2010 liegt die voraussichtliche Emission von CO2e bei ungefähr 53 Gt CO2e/Jahr. »e« steht dabei für »equivalent« d. h. alle anderen Treibhausgase werden als Äquivalente von CO2, dem wichtigsten Treibhausgas, berücksichtigt.

KAPITEL 2

Die Fortschreibung heutiger Energiesysteme ist nicht nachhaltig

Die heutigen weltweit eingesetzten Energiesysteme basieren vorwiegend auf den fossilen und nicht erneuerbaren Energieträgern Öl, Kohle und Erdgas. Damit ist das Weltenergiesystem per se klimaunverträglich und angesichts endlicher Rohstoffe auch langfristig nicht versorgungssicher. Dagegen spielen moderne erneuerbare Energien noch keine dominante und die Kernenergie im weltweiten Durchschnitt nur eine untergeordnete und in armen Entwicklungsländern praktisch keine Rolle. Jeder einzelne Energieträger erfordert spezifische infrastrukturelle Voraussetzungen und besitzt deshalb auch eine andere Bedeutung für das Gesamtsystem und seine mögliche Richtungsänderung. In einigen Fällen kann ein Energieträger einfach ersetzt werden, in anderen Fällen wie zum Beispiel bei Öl im Transportsektor nicht; in manchen Fällen und Regionen ist eine unterbrechungsfreie Versorgung mit Strom problemlos möglich, in anderen Fällen stellt sie große Anforderungen an Planung und Netzverbundsysteme. Dies hängt nicht nur mit der Bereitstellungsstruktur an sich zusammen, sondern auchmit demjeweiligen Einsatzzweck des Energieträgers. Kohle als Primärenergieträger wird im Kraftwerksbereich für die Strom- und Wärmeerzeugung eingesetzt. Ebenso gilt dies für Erdgas, das auch zu einem immer größeren Teil die direkte Wärmenutzung im Gebäudebereich übernimmt. Erdöl dominiert im Transportsektor, seine Bedeutung im Kraftwerksbereich und für die direkte Wärmebereitstellung im Gebäudesektor nimmt rapide ab.


Dominanz fossiler Energieträger


2.1 Großstrukturen und Versorgungssicherheit

Im Kraftwerksbereich konnten über Jahrzehnte Größeneffekte genutzt werden, was dazu führte, dass Infrastrukturenmit großskaligen Erzeugungseinheiten sowie ebenso großmaßstäbliche Leitungs- und Verteilungseinheiten entstanden. Ein hoher Grad an technischer Zentralisierung und ökonomischer Vermachtung von Märkten war die Folge. Das führte eine Zeit lang zu spezifischen Kostensenkungen (»economies of scale«), erweist sich jedoch auf liberalisierten Märkten und angesichts der nicht nachhaltigen Primärenergiestruktur zunehmend als eine Innovationsbremse und als massive Behinderung von Wettbewerb und Strukturwandel. Hinzu kommt, dass an lokale Bedingungen angepasste dezentrale Energiesysteme häufig schon jetzt kostengünstiger sind, wenn auf großtechnische Antransport- und Verteilungsnetze sowie Reservevorhaltung verzichtet werden kann.


Zentralität und großmaßstäbliche Strukturen


Moderne Energiesysteme müssen eine unterbrechungsfreie Rund-um-die-Uhr-Versorgung liefern, d.h. Versorgungssicherheit garantieren. Eine unvorhergesehene Unterbrechung kann für moderne Wirtschaften katastrophale Auswirkungen haben. Das gilt vor allem beim Strom, von dessen unterbrechungsfreier Versorgung z.B. alle weltweiten Informations- und Kommunikationssysteme wie etwa das Internet abhängen. Anders als bei den Primärenergieträgern Kohle oder Erdöl ist die Speicherung von Strom ein weit schwierigeres Problem. Effiziente Technologien für die großmaßstäbliche Stromspeicherung sind derzeit noch nicht im ausreichenden Umfang marktreif. Deswegen müssen Kraftwerke ständig bereitstehen, umden schwankenden Strombedarf ausgleichen zu können oder bei Ausfall größerer Kraftwerkseinheiten Reserven vorzuhalten. Dies macht ein Großkraftwerkssystemprinzipiell verwundbarer als eine Vielzahl miteinander verbundener Kleinkraftwerke. Die Speicherung von Stromzum Beispiel durch sogenannte Pumpspeicherkraftwerke kann zur Problemlösung beitragen, wenn die regionalen Bedingungen vorliegen. An weiteren Speichertechniken für Strom, aber auch für Wärme wird intensiv gearbeitet.


Bedarf nach konstanter und ausfallsicherer Versorgung


Die Notwendigkeit, eine konstante Versorgung zu garantieren, ist der bestimmende Faktor für die Verletzlichkeit der modernen Energiesysteme. Zu unterscheiden sind zwei Ebenen, die unterschiedliche Problemkreise ansprechen: einerseits die Ebene konkreter Gründe oder Auslöser von Versorgungsunterbrechungen (z.B. Terrorismus, Streiks und politische Interventionen) und andererseits die übergeordnete Ebene der Systemabhängigkeiten wie z.B. Knappheit nicht erneuerbarer Energien, Importabhängigkeit, stark wachsender Verbrauch, Zentralisierung. Im Bereich der Stromproduktion wird das Problem zentralisierter Strukturen besonders augenfällig: Große Erzeugungseinheiten mit entsprechenden Transportstrukturen (Hoch- und Höchstspannungsnetze) sind potentielle Ziele für terroristische Angriffe. Moderne Großverbundnetze erlauben zwar zu einem gewissen Grad die Kompensation ausfallender Erzeugungskapazitäten durch andere Kraftwerke am Netz. Die überregionalen Stromausfälle in den USA, in Italien, Frankreich und anderen Industrieländern in den Jahren 2001 bis 2004 zeigten jedoch einen neuen Typ systembedingter überregionaler Verletzlichkeit. Je stärker Stromerzeugung und Netzsysteme zentralisiert sind, desto gravierender und flächendeckender können die Folgen von Störungen entlang der Bereitstellungskette sein. Zudemsteigt die Ausfallwahrscheinlichkeit, je weniger Erzeugungsblöcke ins Systemintegriert sind. Bei Unfällen oder Terroraktionen gegen Atomkraftwerke können aufgrund der austretenden radioaktiven Strahlung massive Schadensdimensionen auftreten, die die beträchtlichen ökonomischen Schäden von fossilen Kraftwerksausfällen um viele Größenordnungen übersteigen.

Ein weiteres Charakteristikum der heutigen Energiewirtschaft ist der global weitersteigende Energieverbrauch, sofern man die historischen Trends und die systemimmanente Expansionsdynamik großtechnischer Systeme unhinterfragt in die Zukunft fortschreibt. In diesem Zusammenhang muss jedoch betont werden, dass ein parallel ansteigender Energieverbrauch kein unverrückbares Naturgesetz ist, wie immer wieder der Eindruck erweckt wird. Es wird gezeigt werden (Kapitel3), dass eine drastische Effizienzsteigerung und eine absolute Entkopplung – steigendes Wirtschaftswachstum und deutlich sinkender Energieverbrauch – z.B. in Deutschland technisch und wirtschaftlich möglich sind.


Stetig steigender Energiebedarf


Gerade auch in Entwicklungs- und Schwellenländern existieren besonderes große Energiesparpotenziale. Zudem bestehen hier große Chancen, den Neuaufbau von Infrastrukturen von Anfang an z.B. bei Gebäuden, Geräten, Fahrzeugen und Produktionsprozessen möglichst energiesparend zu konzipieren. Im Falle fossiler Energieträger sind weitere geostrategische Systemmerkmale erkennbar: Die Zahl global relevanter Öl- und Gasproduzenten nimmt ab, die Zahl der Öl- und Gasverbraucher und ihre globale Nachfrage nimmt hingegen im Trend exponenziell zu, wenn die Entwicklungs- und Schwellenländer vermehrt auf den internationalen Energiemärkten als neue Großakteure auftreten. Die verbleibenden Energieproduzenten und Öl- bzw. Gas-Eigentümerstaaten steigern ihre weltweite Marktmacht, ebenso ihr politisches Gewicht. Importabhängigkeiten entstehen bei immer mehr Ländern in der Welt. Der Aufwand, die verbleibenden Ressourcen zu fördern, wird höher und die Transportentfernungen nehmen zu.

Damit vergrößert sich mit einer Politik »business as usual« praktisch zwangsläufig das politische Konfliktpotenzial umdie Energieressourcen. Der sogenannte Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine im Dezember 2005 und Januar 2006 offenbart eine neue Qualität von politischem Risiko und ist symptomatisch für die energiebedingte Erpressbarkeit und die politischen Konflikte, die sich ohne eine Energiewende in der Zukunft häufen werden. Der konkurrierende Zugriff auf die noch verbleibenden Ressourcen und Fördergebiete kann, wenn hier nicht früh gegengesteuert wird, in ein »Zeitalter der Ressourcenkriege« (Michael Klare) einmünden.


Politisches Konfliktrisiko


2.2 Fossile Energieträger

Die fossilen Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle decken zusammen gut 80 Prozent des derzeitigen weltweiten Primärenergiebedarfs. Ihre Merkmale im Hinblick auf den Einsatz und die Verknappung der Ressourcen sollen im Folgenden näher diskutiert werden.

Der größte Teil des globalen Primärenergiebedarfs (34 Prozent, Stand: 2007; 1980: 43 Prozent) wird derzeit durch Erdöl gedeckt. Nach Trendprognosen der IEA wird die Ölnachfrage in der Zukunft weitersteigen (jährliche Rate ein Prozent), wobei der größte Anstieg in Entwicklungs- und Schwellenländern zu verzeichnen sein wird.1 Erdöl ist zudem ein wichtiger industrieller Rohstoff (z.B. für Kunststoffe, Chemie, Medizin, etc.), wird aber weltweit immer noch zu mehr als einem Drittel für die Wärmeerzeugung genutzt.


Erdölnachfrage ungebremst hoch


Der Transportsektor ist weltweit fast vollständig abhängig vomÖl. Bereits eine kurzfristige Versorgungslücke oder ein massiver Ölpreissprung hätten daher auf das weltweite Transportsystem katastrophale Auswirkungen, ganz zu schweigen von einer dauerhaften Verknappung des Ölangebots. Da dies in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr ausgeschlossen werden kann, stellt sich die Frage, warum die geschaffene Ölabhängigkeit der letzten 50 Jahre nicht schon längst systematisch und vorsorgend zurückgebaut wurde.2

Der größte Teil der Erdöllagerstätten konzentriert sich auf nur sieben Länder und fünf davon liegen im Mittleren Osten (Abbildung 1). Die OPEC-Länder vereinten 2002 etwa 80 Prozent der gesamten Erdölreserven auf sich. Die Vorkommen in der Nordsee beschränken sich dagegen auf nur 2,5 Prozent. Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass sich bei stetig wachsendem Verbrauch die Schere zwischen immer mehr Nachfragern und immer weniger Anbietern in politisch sensiblen Regionen weiter öffnet.

Auch Erdgas wird weltweit immer begehrter und gilt vielfach als Substitut für Öl: Die Erdgasvorräte sind zwar ergiebiger als die von Öl, aber ebenfalls begrenzt, hier steigen im Trend gerade auch in Europa die Nachfrage und die Importabhängigkeit überproportional. Weltweit hat ein hektischer Ansturm auf Kraftwerksgas als scheinbar billigste Formder CO2-Reduktion bei der Stromerzeugung eingesetzt, weil in modernen Gas-GuD- (Gas und Dampf) Kombi-Kraftwerken der Wirkungsgrad selbst bei reiner Stromerzeugung auf über 58 Prozent und als Kraft-Wärme-/Kälte-Kopplungsanlage auf über 90 Prozent gesteigert werden kann. Doch wegen der Kopplung an den Ölpreis werden die Gaspreise dessen Preisanstieg zeitverzögert folgen. Darüber hinaus wird verdrängt, dass Erdgas eigentlich viel zu kostbar ist, umes quasi imhistorischen Schweinsgalopp in den Industrieländern für die reine Stromerzeugung zu verfeuern. Der Entwicklung von Alternativen und der Streckung der Öl- und Gasressourcen müssen daher nicht nur wegen des Klimaschutzes viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Auch als langfristige Basis für die weltweite Petrochemie und als Entwicklungsoption für nachfolgende Generationen sowie für die Weltbevölkerungsmehrheit in den Entwicklungsländern sind diese Ressourcen zu schonen und der übermäßige Zugriff der Industrieländer einzuschränken.


Erdgas – begrenzt und kostbar


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Abbildung 1
Verteilung des globalen Ölverbrauchs sowie der vorhandenen Reserven im Jahr 2000 (Aspo, 2004; Esso, 2004)

Kohle ist zwar relativ versorgungssicher, aber, da im zunehmenden Umfang verfeuert, hochproblematisch für das Klima: Auch effizienteste Kohlekraftwerke emittieren etwa doppelt so viel Kohlenstoffdioxid pro Kilowattstunde wie moderne Gaskraftwerke. Die Abscheidung und Lagerung von Kohlenstoffdioxid (engl. Carbon Capture Storage: CCS) ist noch in der Entwicklung und viele Fragen sind diesbezüglich noch offen. CCS wird im günstigsten Fall um 2020 für die breite Einführung reif sein, und sie verteuert den Kohlestrom um etwa zwei bis drei Euro pro Tonne und Kilowattstunde. Ob für CO2-Transporte und Speicherung soziale Akzeptanz möglich ist und eine Langzeitsicherheit garantiert werden kann, ist derzeit offen. Es wäre daher fahrlässig, den heutigen Bau von (zu) vielen Kohlekraftwerken, die über 40 bis 50 Jahre einen Emissionssockel von CO2 zementieren, mit dem »Prinzip Hoffnung« auf die Verfügbarkeit von CCS zu begründen. Notwendig ist eine intensive Forschung zu CCS. Sie darf aber die Entwicklung und Markteinführung heute bereits verfügbarer und weitgehend risikofreier Techniken (Effizienz; Erneuerbare) nicht bremsen.


Kohle – relativ versorgungssicher, aber problematisch für die Umwelt


Problematisch für Klima und Umwelt ist darüber hinaus die Tatsache, dass nach Angaben der Kohleindustrie ab einem dauerhaften Ölpreis von oberhalb 40 US-Dollar pro Barrel die Verflüssigung von Kohle zu Öl wirtschaftlich wird, und selbst unter Einbeziehung von CCS enorme zusätzliche Mengen von Kohlendioxid freigesetzt würden. Das Gleiche gilt für die Ausbeutung von Ölsanden (z.B. in Kanada), die ab etwa 35 US-Dollar pro Barrel wirtschaftlich wird und nicht zuletzt wegen des hohen Wasserverbrauchs und wegen des notwendigen Energieeinsatzes bei der Gewinnung zu gravierenden Umweltproblemen und zu erhöhten CO2-Emissionen führt. Darüber hinaus wird darüber nachgedacht, den Einsatz von Erdgas für die Aufbereitung der Ölsande durch die Verwendung von Atomkraftwerken zu ersetzen. Mehr Versorgungssicherheit würde so durch signifikant höhere Risiken anderer Art erkauft.

Dass die Kernenergie mögliche Versorgungsengpässe auf den Öl- und Gasmärkten nicht lösen kann, zeigt sich inmehrfacher Weise. Die Kernenergie hatte weltweit zwischen 1970 und 1990 – dank massiver staatlicher Förderung und Subventionen – ihre eigentliche Aufschwungphase bereits hinter sich. Die nukleare Stromerzeugungskapazität stieg von 16.000 Megawatt (1970) auf 328.000 Megawatt (1990) an, umdanach nur noch moderat auf 369.000 Megawatt in 2005 zuzulegen. Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass »die Nuklearstromproduktion um 2015 ihren Höhepunkt erreicht und dann allmählich zurückgehen wird«.3 Im Jahr 2005 wurden weltweit nur in Finnland und in Pakistan mit Bauarbeiten an zwei neuen Kernkraftwerken begonnen. Die Bauzeitverzögerung und drastische Kostenüberschreitung beim Bau des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) in Finnland haben der Hoffnung der Industrie auf eine Renaissance der Kernenergie einen erheblichen Dämpfer versetzt. China hat mit 31 zusätzlichen Atomreaktoren bis 2020 die weltweit ambitioniertesten Ausbaupläne, aber es bleibt – wie bei anderen Ausbauprojekten – abzuwarten, was hiervon tatsächlich realisiert wird. Das gilt z.B. auch für Indien, das seine Nuklearkapazität von 3.000 Megawatt ebenfalls bis 2032 auf 60 Gigawatt erhöhen will.4 Aber langfristig zweifeln viele Experten an einem nuklearen Aufschwung im großen Stil. In beiden Ländern bleibt der Anteil des Nuklearstroms seit Jahrzehnten unter drei Prozent, Tendenz gleichbleibend. Ob die teilweise hochfliegenden Ausbaupläne in wenigen anderen Ländern (z.B. Japan, Russland, USA) Realität werden, ist eher unwahrscheinlich.5 Wer die Dringlichkeit des Klimaschutz ernst nimmt, sollte daher alle Kraft auf die Energieeffizienz und die erneuerbaren Energien konzentrieren, statt auf den unsicheren und auf den weltweit – selbst bei optimistischen Bedingungen – geringen Beitrag der Kernenergie zu setzen. Mit einem Satz: »Wir erwarten bis 2030 keine Renaissance der Kernenergie.«6


Kernenergie – Aufschwungphase schon vorbei


2.3 Energiestrukturen in Entwicklungs- und Schwellenländern

Der globale Primärenergieverbrauch stieg im Jahr 2007 um 2,4 Prozent;7 eine Trendprognose bis 2030 liegt bei einer jährlichen Steigerung von 1,6 Prozent.8 Dabei ist anzumerken, dass z.B. der Verbrauch in China im Jahr 2007 um 7,7 Prozent und in den USA um 1,6 Prozent anstieg, während in der EU 2007 im Durchschnitt 2,2 Prozent weniger Energie als im Vorjahr verbraucht wurde. Das heißt, schon heute findet die Energiebedarfssteigerung vorrangig in Entwicklungs- und Schwellenländern statt. Grund dafür sind zum einen ein bedeutendes Bevölkerungswachstum in diesen Ländern und ein steigender Pro-Kopf-Verbrauch, der auf wirtschaftliche Entwicklung und Erhöhung des Einkommens zurückzuführen ist. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass die Nachahmung nicht nachhaltiger Produktions- und Konsumstrukturen und damit die Wiederholung der Fehlentwicklungen der reichen Ländern in den noch jungen Ländern einen unnötig hohen Energieverbrauch für die Zukunft vorprogrammiert. Das wäre nicht nur aus Gründen des Klima- und Ressourcenschutzes für die Welt und insbesondere auch für diese Länder tragisch, sondern stünde auch im Gegensatz zu ihrer innovativen und nachhaltigen Entwicklung. Denn dann wären es wieder nur Industrieländer, wie z.B. Deutschland, die jetzt den Strukturwandel aus dem fossilen und nuklearen Großverbundsystem der Vergangenheit zu einer klima- und ressourcenverträglicheren neuen Versorgungslandschaft beschleunigen. Die Entwicklungsländer würden dann in die fatale Lage geraten, den Aufbau heute bereits überholter Industrialisierungsstrukturen mit zukünftigen unnötig hohen Kosten von Rohstoffknappheit und verstärkten Klimalasten einer fossilen Wirtschaft bezahlen zu müssen.


Steigender Energiebedarf


Während das Bevölkerungswachstum in den meisten Industrieländern stagniert, verzeichnen Entwicklungsländer immer noch einen starken Zuwachs. Die UNO schätzt die Bevölkerungszahl der Entwicklungsländer für das Jahr 2050 auf 7,7 Milliarden Menschen gegenüber 4,1 Milliarden im Jahr 1990 und die der Industrieländer auf 1,2 Milliarden gegenüber 1,1 Milliarden (1990). Daraus folgt, dass bereits bei der Annahme eines unveränderten Pro-Kopf-Verbrauchs der Energiekonsum in Entwicklungs- und Schwellenländern enormsteigen wird. Dieser Trend würde sich katastrophal beschleunigen, wenn diese Länder sich den verschwenderischen Pro-Kopf-Verbräuchen der Industrieländer, allen voran der USA, annähern wollten.